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Neun Monde sind vergangen, seit sich Valerian davongemacht hat, um der drohenden Gefangennahme durch die Hüter zu entgehen. Verbena zürnt ihm, dass er den Heilerinnen die Drachenzahnessenz stahl, aber sie vermisst auch seine Nähe. Ein Gang in die Nebelschlucht lässt sie eine grausige Entdeckung machen. Auch führen Steckbriefe mit dem Konterfei Valerians und ein Schreiben, das sie verbotenerweise liest, der jungen Heilerin vor Augen, wie bedrohlich ihre Lage als magisch Begabte inzwischen geworden ist. An ihrem 18. Geburtstag überschlagen sich die Ereignisse.
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Seitenzahl: 390
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RUTH ANNE BYRNE
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© 2021 Fabulus Verlag, Fellbach
www.fabulus-verlag.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
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Lektorat: Joachim Güntner
Landkarte »nordöstliches Rohnland«: Ruth Anne Byrne
Umschlaggestaltung: Fabulus Verlag in Zusammenarbeit mitr2 | röger & röttenbacher, büro für gestaltung, Leonberg
Satz und Herstellung: r2 | röger & röttenbacher, büro für gestaltung, Leonberg
ISBN Print: 978-3-944788-99-9
ISBN E-Book: 978-3-944788-98-2
Für Grazyna,eine Oma, wie sie im Buche steht.
PROLOG
DIE NEBELSCHLUCHT
TROPFENTRÄNEN
GESEGNET DIE UNWISSENDEN
DIE TRAURIGE BOTSCHAFT
GEBURTSTAG
SCHALL UND RAUCH
KATZENJAMMER
DIE HÖHLE DES DRACHEN
ABSCHIED
EIN LETZTER BLICK ZURÜCK
KALT, SO KALT
SPIEL MIT DEM FEUER
GRAU IN GRAU
IN DIE ENGE GETRIEBEN
BLUTSPUR
DER DUFT VON FRISCHEM BROT
AM PRANGER
GÄNSEHAUT
VERGESSENE GEISTER
VOR DEN TOREN
SALBEN, TEES & GEFÄHRLICHE TRÄNKE
DAS FESTMAHL
SCHREIE IN DER NACHT
IN DIE ECKE GEDRÄNGT
NARRENFREIHEIT
DURCH DAS NADELÖHR
MITTEN IM WALD
MORGENROT, SCHLECHTWETTERBOT
LICHT IN DER DUNKELHEIT
DIE STADT AUF DEM WEISSEN FELSEN
BLINDE VERABREDUNG
SCHÖNE AUSSICHT
VERZEICHNIS DER PERSONEN UND GUTEN GEISTER
DANK
ÜBER DIE AUTORIN
Hufe klackerten über das Kopfsteinpflaster des Burghofs. Korvinus sprang auf. Mit raschen Schritten war er beim Fenster und schob die schweren Vorhänge beiseite. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Endlich! Der Bote aus Kronenburg.
Wie lange hatte er darauf gewartet, einen Reiter mit schwarzem Wams und weißem Emblem zu sehen? Monde!
Wie immer, wenn Besuch kam, kreisten die Krähen vor Aufregung um die Zinnen von Burg Seggensee. Korvinus sah verächtlich zu ihnen hinauf. Konnten die Biester nicht einmal ihren Schnabel halten? Unten liefen ein Page und ein Stalljunge auf den Reiter zu und übernahmen Gepäck und Pferd.
Er musste den Boten willkommen heißen, bevor der Herr Vater gegen ihn ausfällig werden konnte. Nicht auszudenken, wenn sich das in Kronenburg herumspräche …
Auf dem Weg zur Tür warf Korvinus einen Blick in den Spiegel und strich dabei sein langes Haar über die Schulter. Dann schritt er die steinernen Stiegen der Burg hinunter.
Unten im Hof klopften sich die beiden Männer gegenseitig auf den Rücken. Was spielte es für eine Rolle, dass er den Ankömmling noch nie gesehen hatte. Sie beide waren Hüter und das war es, was zählte.
»Willkommen! Wie war die Reise?«
»Noch kein Schnee. Hoffe, das bleibt so für den Rückweg.«
»Erholt Euch, macht Euch frisch. Matts wird Euch Eure Kammer zeigen. Am Abend werden wir gemeinsam speisen.« Korvinus winkte den Pagen heran und nahm ihm eine Schriftrolle ab.
Sie war in einem ledernen Köcher verwahrt, der seinem eigenen zum Verwechseln ähnlich sah. Es gab nur einen Unterschied: die Prägung.
Korvinus ließ die Finger darüber gleiten. Das Siegel der Hüter, das Auge und das brennende Schwert, prangte dort. Lieber wäre ihm gewesen, sein Familienwappen zu erblicken.
Verdammt, Ulrik, wo steckst du nur?
Den Köcher am Riemen über die Schulter gehängt, stieg Korvinus die Treppen wieder hinauf. Der Brief des Großmeisters war sein, endlich! Das letzte Schreiben nie erhalten zu haben, war eine Schmach gewesen. Nun aber würde er in seinem Gemach die Worte der Exzellenz lesen und die neuen Aufträge entgegennehmen, alle erteilt im Namen der Mutter des Lebens.
Im ersten Stock öffnete sich die Tür zum Speisesaal. Zuerst eine Pfote, dann eine Schnauze schoben sich durch den Spalt.
Korvinus presste die Lippen aufeinander. »Nathan.«
»Komm herein!«, schallte es aus dem Raum dahinter.
Nathan sah ihn eindringlich an und legte den Kopf schief, als würde er warten.
Zum Henker!
Korvinus trat ein. Was blieb ihm anderes übrig?
Der Baron saß dem Feuer im Kamin zugewandt. Sein üppiger Körper wirkte wie in den Lehnsessel gegossen. Doch die Augen waren wach.
»Ein Bote ist angekommen?« Es klang nicht nach einer Frage. Der Blick des alten Burgherrn war auf den Köcher gerichtet.
Nathan setzte sich neben ihn und betrachtete Korvinus aufmerksam.
»Ja, Herr Vater, ein Schreiben aus Kronenburg.«
»Von deinen Hüterfreunden?« Wie verächtlich er dieses Wort ausspuckte. Er sollte lieber vorsichtig sein. Sich den Hütern entgegenzustellen war nicht weise, selbst als Baron nicht – das war doch wohl spätestens seit der Hinrichtung des Königs, dieses elenden Begabten, klar.
»Von seiner Exzellenz Helleborus von Resede, Großmeister der Hüter und seit dem Frühjahr, wie Ihr wisst, rohnländischer Regent.« Vielleicht half das dem Alten auf die Sprünge, den gebührenden Respekt zu haben.
»Umso besser! Weiß er etwas zu Ulriks Verbleib? Lies vor!« Der Baron setzte sich auf, einen Funken Hoffnung in seinen Augen.
»Aber …«
»Ist Ulrik wohlauf in Kronenburg?«
»Dann hätte er uns das doch sicher geschrieben. Er hätte vor fünf Monden zurück sein sollen.«
»Lies vor, habe ich gesagt!«
Korvinus biss die Zähne zusammen. Trotzdem öffnete er den Köcher und zog die Schriftrolle heraus. Er brach das Siegel und entrollte das Pergament.
»Werter Freund!
Die Kunde, dass Euer Bruder verschollen ist, hat mich schwer getroffen. Ich teile Eure Sorge und Trauer. Auch meine Familie fiel den Machenschaften einer Begabten zum Opfer.«
»Wenn ich das höre, wird mir schlecht!«, polterte der Baron. »Lies weiter!«
»Zuletzt sah ich Ulrik von Seggensee, als ich ihm mein vorhergehendes Schreiben an Euch übergab. Ich habe mich unterrichten lassen, dass Euer Bruder wie geplant drei Viertelmonde vor der Sommersonnenwende Kronenburg verließ. Sollten mir Neuigkeiten zu seinem Verbleib zu Ohren kommen, werde ich diese selbstverständlich unverzüglich an Euch weiterleiten. Meine besten Wünsche an Euch und Eure Familie.«
Korvinus ließ das Pergament sinken.
Eine Hand auf Nathans Stirn, schmolz der Baron wieder tiefer in den Sessel, hing einige Zeit seinen Gedanken nach.
»Steht da noch mehr?«, fragte er schließlich.
»Nichts, was Ulrik betrifft. Darf ich mich empfehlen, Herr Vater?« Korvinus wandte sich zum Gehen.
»Bleib! Ich will wissen, was die in Kronenburg treiben.«
»Herr Vater, das Schreiben ist an mich adressiert.«
»Schämst du dich vielleicht für die Machenschaften deiner Hüterfreunde? Solltest du auch. Such dir lieber endlich eine Frau, als dich mit diesem Pack zu befassen. Was aus denen geworden ist, ist eine Schande! Du bist ein von Seggensee. Deine Treue gebührt in erster Linie unserer Familie. Also lies!«
Korvinus schnaubte. Er grub die Nägel ins Pergament. Schnell überflog er die nächsten Zeilen und verkniff sich gerade noch ein Grinsen. Die Mission war erfolgreich gewesen! Aber das durfte der alte Sack nicht wissen, um keinen Preis. Er würde sein blaues Wunder schon noch erleben – wenn er überhaupt so lange lebte.
Korvinus räusperte sich. »Seine Exzellenz berichtet von einer Reise auf die Insel Tempesta. Es soll sehr schön gewesen sein.«
Ich war wirklich zu gutmütig!
Allen im Dorf war die Nebelschlucht unheimlich, nicht nur, weil es dort nach faulen Eiern stank. Ich aber war wieder einmal dorthin unterwegs, um Nebelkröten zu fangen. Und das nur wegen Wickes winziger Warze.
Je näher ich dem Eingang der Schlucht kam, umso dichter wurde der Nebel. Der warme Dampf schlug sich im Gesicht nieder, machte die Kleidung feucht. Ekelhaft!
Malve landete auf meiner Schulter, schmiegte sich um meinen Nacken. Er keckerte.
»Ich weiß, ich will auch nicht. Aber wir müssen!«
Vorsichtig kletterte ich das Ufer des Baches entlang in die Schlucht hinein. Weit oberhalb von mir musste die Brücke sein, die die Klippen miteinander verband. Ich sah hinauf in den milchigen Schein der Sonne. Ein Stück weiter hinten war ein dunkler Schatten im Nebel auszumachen. Das musste sie sein, die Brücke. Dort oben waren der Raubüberfall auf Valerian, die Treibjagd, der Einsiedler gewesen. Ein Schauer lief meinen Rücken entlang. Gut, dass die Hüter den gefährlichen Mann gestellt hatten, es ihn nicht mehr gab.
Malve war unruhig, kratzte mich am Nacken. Ich hielt den Atem an, lauschte.
Ein Ast knackte. Der Bach gluckerte. Weiter weg schrie ein Vogel.
»Beruhige dich!«, sagte ich leise und strich über seinen Kopf – mehr, um mich selbst zu entspannen.
Drinnen in der Schlucht roch es heute noch grauenhafter als sonst. So schlimm hatte ich es nicht in Erinnerung. Und wie still es hier auf einmal war, als ob der Nebel mich einpackte in ein dichtes Bündel Stoff.
Mein Marder beruhigte sich nicht. Er grummelte, zwickte mich ins Ohrläppchen, zog es nach hinten, als wollte er mich abhalten, weiterzugehen.
»Schluss jetzt! Hilf mir lieber, Kröten zu finden«, zischte ich. Laut zu sprechen, wagte ich nicht in dieser unwirklichen Stille. Ich tastete die Felsen ab, fuhr in die Spalten. Wie meine Finger zitterten …
Jetzt hab dich nicht so! Es ist doch nur ein bisschen Nebel.
Wieder fühlte ich in die Ritzen, blies den warmen Dampf davon. Nur eine Kröte finden. Dann nichts wie weg von hier!
Ein kalter Hauch strich über meinen Nacken.
Malve plusterte sich auf, raunte tiefe Drohungen.
Stand jemand hinter mir?
Ich drehte mich um, sah im Nebel nichts, was weiter als eine Armeslänge entfernt war. Den Rücken an den Fels gepresst, nahm ich all meinen Mut zusammen.
»Ist da wer?«
Ein Luftzug. Nebel wirbelte auf mich zu, strich über meine Wangen.
Ich schrie.
Malves Krallen gruben sich in meinen Nacken, dass es schmerzte. Er flüchtete auf einen Felsvorsprung, fauchte herunter.
Ich spürte eine Berührung, an meinem Arm. Eiskalt.
Bei Mavanja!
Eine Hand in meiner … aber niemand stand vor mir.
Ich riss mich los, lief, stolperte über Steine, tastete durch den Nebel, rutschte aus, rappelte mich auf, rannte, bis die Nebelschlucht weit hinter mir lag.
Keuchend erreichte ich die Heilerei. Die Tür stand offen, Stimmen drangen von drinnen heraus. Leute waren da. Die brauchte ich jetzt beim besten Willen nicht!
Ich nahm den Eingang ins Haupthaus und ließ mich in der Stube auf die Ofenbank fallen. Mein Herz schlug immer noch viel zu schnell. Mutter des Lebens, was war das gewesen?
Ich strich über meinen Arm. Dort hatte ich es gespürt. Allein bei der Erinnerung daran stellten sich wieder meine Nackenhaare auf. Ich fuhr mir über das Gesicht, durch meine verfilzten Strähnen und atmete durch. Ich war jetzt zu Hause, weit weg von dort!
Alraune sah durch die Tür. Ihre Augen weiteten sich. »Kind, was ist mit dir?«
Die Stimmen hinter ihr verstummten. Ich schluckte. »In der …« Mein Blick fiel auf die offene Tür.
Alraune verstand sofort. »Entschuldigt mich einen Moment!«, rief sie über ihre Schulter, zog die Tür ins Schloss und humpelte zu mir. Auf ihren Stock gestützt ließ sie sich neben mir nieder. »Also?«
»In der Schlucht … da ist etwas«, flüsterte ich, konnte es immer noch nicht fassen. Hatte ich mir das nur eingebildet? Aber Malve – er hatte mich gewarnt, lange bevor ich es gefühlt hatte.
»Was?«
Wie sollte ich es erklären? »Wirbel im Nebel. Eiskalte«, flüsterte ich.
Alraune warf mir einen schiefen Blick zu.
Schon gut, ich wusste selbst, wie dämlich das klang, und in Zeiten wie diesen machte man den Mund lieber nicht zu weit auf. Unerklärliche Wahrnehmungen brachten einen schnell auf den Scheiterhaufen.
Nun sah sie die Kratzer an meinem Hals und zog den Riemen der Tasche weg.
»Wie schaust du denn aus?«
Ich tastete nach den Wunden, verzog das Gesicht. Blut hatte sich in den Ausschnitt meines Kleides gesogen. »Das war Malve. Er hat sich auch erschreckt.«
»Das muss versorgt werden. Komm!« Alraune zog mich hoch.
»Aber die Leute …«
»Die können warten.« Selbst mit Stock war sie manchmal erstaunlich schnell. Wie sehr ich mir wünschte, dass sie wieder genauso rüstig wäre wie letzten Sommer noch.
Schon öffnete sie die Tür zur Heilerei wieder und winkte mir, ihr zu folgen.
Ich rollte die Augen. Konnte sie mir die Pechsalbe nicht stattdessen hier in der Stube auftragen? War mir doch egal, ob die Leute warteten; Hauptsache, ich musste mich nicht erklären.
»Bring warmes Wasser mit!«, rief sie.
Mit einer Schüssel voll kam ich in die Heilerei. Am großen Tisch hatte die Moosbacherin ihre gichtigen Hände in Topfenwickel eingepackt. Auf der Bank saßen Pater Guntram, hustend, und die Bäckerin, mit geschwollener Backe, und warteten. Sie alle beäugten mich. Ob es auffiel, dass ich immer noch eine Wolke Faule-Eier-Geruch mit mir herumtrug? Bedacht, ihnen nicht zu nahe zu kommen, drängte ich mich an der Kredenz vorbei und murmelte: »Mavanja sei mit euch!«
»Die weise Mutter des Lebens lege ihren Segen über dich und auch Escha stehe dir bei!«, schniefte Pater Guntram. Die Bäckerin nickte nur.
»Was ist passiert, Verbena?«, fragte die Moosbacherin.
Alle starrten mein blutiges Kleid an.
Alraune bedeutete mir, mich an den Tisch zu lehnen.
»Ausgerutscht und in einen Busch gefallen bin ich in der Nebelschlucht.«
Wie ich es hasste, ständig zu lügen!
»Hast du wenigstens Kröten mit?«, fragte Alraune.
Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir leid.«
Sie kniff die Lippen aufeinander. Kam jetzt gleich ein Donnerwetter? Schickte sie mich erneut hin? Keine zehn Pferde konnten mich ein weiteres Mal an diesen verfluchten Ort zerren.
Doch sie sagte nichts. Stattdessen sah sie besorgt auf meinen Ausschnitt, tupfte mit dem feuchten Tuch auf meiner Haut herum, anstatt die Wunden ab. War sie blasser geworden? Kaum hörbar flüsterte sie: »Dein …«
Ich tastete um meinen Hals, fand das Lederband nicht … strich über mein Kleid, spürte keinen Anhänger …
Mutter des Lebens!
Malves Krallen.
Hatte er das Band durchtrennt?
Hatte sich der Knoten gelöst?
In mir schnürte sich alles zusammen. Mein Amulett … in der Nebelschlucht!
Alraune warf mir einen beschwörenden Blick zu. »Bleib ruhig!« Sie griff nach der Schnapsflasche: »Jetzt brennt es gleich ein bisschen.«
Und wie es brannte – die Blicke der anderen, die alte Angst, Malve ohne das Ebereschenholz, meine Verbindung zu Alvar, nicht unter Kontrolle zu haben. Am liebsten hätte ich aufgeschrien!
Alraune legte ihre Hand auf meine Schulter. »Schon vorbei. Bin gleich fertig.« Sie schmierte Pechsalbe auf die Wunden.
Was sollte ich nur tun ohne Alvars Hilfe? Ich brauchte den Geist der Magie immer in meiner Nähe! Es war die einzige Möglichkeit, meine Gabe geheim zu halten.
Alraune drückte mir die Schüssel mit dem rötlich gefärbten Wasser in die Hand. »Hier, Eschas Opfer!«
Wie gelähmt stand ich da, konnte meinen Verlust nicht fassen.
Alraune schubste mich Richtung Tür. »Geh. Zieh dich um und bitte Escha.«
Auf der kleinen Brücke hielt ich inne und sah dem Moosbach beim Fließen zu. Ich schüttete das rötliche Wasser aus der Schüssel in die Fluten. »Escha, ich bitte dich, schicke deine Kraft, um meine Wunden zu heilen! Hier, nimm mein Blut, lass es fließen in deinem ewigen Fluss!«
Das Leben war wirklich ein ewiger Fluss. Wie schnell manche Dinge davontrieben, die einem wichtig waren. Zuerst Valerian, dann das Amulett. Ihn hatte ich ziehen lassen müssen – unfreiwillig und schweren Herzens. Aber diesen Anhänger brauchte ich! Die Hüter nahmen ihre Arbeit ernster denn je. Die Kreuzdorner Hexe war letztes Jahr nur der Anfang gewesen. Nichts im Vergleich zu dem, was sich jetzt in Kronenburg und den umliegenden Baronien abspielte.
Auch wenn sich in mir alles sträubte: Ich musste noch einmal in die Nebelschlucht, musste zumindest versuchen, das Amulett zu finden – und zwar so schnell wie möglich. Die Sonne war schon über Mittag und es zogen dichte Wolken hinter den Hügeln im Westen auf. Malve schlief wieder friedlich in seinem geheimen Fach meiner Tasche, als wäre nichts passiert. Ich ließ ihn zurück und nahm nur den Korb mit.
Bei der Wegkreuzung Richtung Dorf blieb ich stehen. Wenn ich wenigstens Begleitung hätte … Wen konnte ich fragen? Ludek oder einen der anderen Jungs? Nein, das würde Finn sofort erfahren und sich dann aufdrängen.
Fria? Sie redete immer davon, mehr erleben, aus unserem kleinen Dorf ausbrechen zu wollen. Aber sie meinte sicher eher ein Abenteuer mit einem Adeligen, der sie dann zu einer der Tanznächte nach Kronenburg mitnahm. Trotzdem gingen meine Beine wie von selbst Richtung Dorf.
Zwischen zwei Häusern lugte ich zum Dorfplatz hinüber. Die Jungs saßen beim Brunnen und natürlich war Finn mitten unter ihnen. Was machte er hier? Sollte er nicht auf der Burg sitzen und studieren? Korvinus wollte ihm doch alles beibringen, was ein guter Hüter brauchte. Wie man Begabte fing und mit welchem Holz der Scheiterhaufen am besten brannte. Na ja, viel wissen musste man dafür sicher nicht.
Konnte Finn nicht endlich das Interesse an mir verlieren?
Letztes Jahr in der Mittsommernacht hatte ich ihn wieder ermutigt, notgedrungen, damit Valerian fliehen konnte. Und in den Wochen danach war mir nichts anderes übriggeblieben, als auf Finns Werbung einzugehen. Sonst hätte er Nachforschungen angestellt. Aber inzwischen … es waren doch nun schon neun Monde vergangen, in denen ich mich ihm immer mehr entzog. Wie blind war er? Noch viel blinder als Valerian jedenfalls!
Ich konnte kaum erwarten, dass Korvinus Finn endlich mit nach Kronenburg in das Konvent der Hüter nahm. Dann hatte dieser Spuk endlich ein Ende. Zu schade, dass sie erst in einem Mond aufbrechen wollten.
Um der Gruppe nicht aufzufallen, lief ich hinten herum über die Wiese zum Gasthof Drei Linden. Fria war meistens in der Küche anzutreffen.
Ich klopfte an und trat ein.
»Verbena!« Fria saß am großen Küchentisch neben zwei Köchinnen und schälte Rüben. Sobald sie mich sah, ließ sie ihr Messer fallen. Die anderen beiden betrachteten mich argwöhnisch.
Ich begrüßte sie freundlich, aber auch das schien nicht zu helfen. Danke Korvinus! Vor seiner Hetzrede letztes Jahr waren Alraune und ich im Dorf gerne gesehen gewesen. Jetzt glaubten alle, wir wären Begabte, Hexen, und senkten ihre Blicke, sobald sie unsere Heilerhaare sahen – obgleich der alte Baron seinen Sohn in die Schranken gewiesen hatte.
Aber es gab auch Freunde, die sich davon nicht anstecken ließen. Fria fiel mir um den Hals. »Schön, dass du vorbeikommst! Wäh, wonach riechst du denn?« Sie schob mich wieder hinaus.
Ich ließ sie gewähren – draußen zu reden, war mir nur recht. In der Küche von der Nebelschlucht zu erzählen, half meinem Ruf sicher nicht.
»Brauche deine Hilfe!«, murmelte ich.
»Was ist los? Warum stinkst du nach …« Sie schnupperte noch einmal und verzog das Gesicht. »… faulen Eiern?«
Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte. »Wicke hat eine Warze«, sagte ich.
Fria prustete los. »Sonst noch Neuigkeiten?«
Sie war so ansteckend, dass ich mitlachte. Ernster fuhr ich fort: »Weißt du, Warzen behandeln wir mit dem Schleim der Nebelkröten.« Ich bohrte meinen Fuß in den Boden. »Und so eine brauche ich jetzt.«
»Aus der Nebelschlucht?«
»Ja … könntest du mich begleiten, bitte?« Hoffentlich, hoffentlich.
»In die NEBELSCHLUCHT?!«
Ich kaute auf der Unterlippe. Das hier war eine schlechte Idee gewesen.
»Vergiss es, wird schon gehen.« Ich wandte mich ab.
»Verbena, warte!« Sie hielt mich an der Schulter fest. »Natürlich komme ich mit, wenn du mich brauchst.«
»Sag, schickt der Baron immer noch so oft Kutschen, um Alraune abholen zu lassen?«, fragte Fria, als wir die Landstraße unter den Felsen, auf denen Burg Seggensee gebaut war, entlang gingen.
»Zu Fuß schafft sie den Weg nicht mehr.«
»Wird das wieder?«
»Glaube nicht. Der Bruch ist nicht gut verheilt.«
»Kannst nicht du das übernehmen? Morgen wirst du volljährig!« Sie stieß ihren Ellenbogen in meine Seite.
Ich grinste in mich hinein. Morgen war mein Geburtstag! Aber warum Alraune mich nicht zum Baron schickte, das hatte ich mich auch schon oft gefragt. Mehr, als ihm einen Magenbitter zu bringen, tat sie ja nicht. Außerdem, was für einen unglaublichen Aufwand der Baron betrieb, um seine Heilerin zu sehen. Direkt nach Alraunes Unfall war er sogar das eine oder andere Mal in die Heilerei gekommen und hatte sich hinter verschlossener Tür mit ihr besprochen. Seit sie wieder halbwegs gehen konnte, ließ er sie für Hausbesuche mit der Kutsche abholen, mindestens einmal jeden Viertelmond.
»Ich habe ihr angeboten, das zu übernehmen. Aber sie sagt, der Baron wünscht nur sie.« Mir gegenüber war er äußerst reserviert, behandelte mich wie Luft. »Die beiden verbindet etwas, ich kann mir das auch nicht erklären.«
»Und wie! Sonst hätte er euch wohl kaum letztes Jahr vor den Hütern gerettet. Das ganze Dorf hat sich darüber gewundert.«
Nicht nur die – auch ich!
»Alraune sagt, sie hat bei ihm etwas gut. Aber du kennst sie ja, sie ist hart wie Stein, wenn sie nicht über etwas reden will.«
Fria rümpfte die Nase. »Jetzt werde ich auch gleich so stinken wie du.«
Wir waren bei der Abzweigung zur Nebelschlucht angekommen. Die Brücke über den Abgrund lag ein Stück vor uns auf der Landstraße. Nebel waberte von unten herauf. Am Himmel schoben sich die dunklen Wolkentürme weiter voran, verdeckten die Sonne und machten alles noch viel düsterer, als es am Vormittag schon gewesen war.
Trotzdem ging ich voran, nahm den Serpentinenweg hinunter zum Nebelbach, tauchte ein in den warmen, stinkenden Dampf.
Was tat ich bloß hier?
Mein Amulett!
Ich berührte die Stelle an meiner Kehle, wo es hängen sollte, und biss die Zähne zusammen. Ich durfte es nicht aufgeben.
Die kalten Wirbel … Waren sie immer noch da? Packten sie mich diesmal fester, ließen mich nicht mehr los?
Vor dem Eingang der Schlucht blieb ich stehen, konnte mich nicht überwinden weiterzugehen. Die Panik vom Morgen flackerte wieder auf. Ich hätte Fria nicht hierherbringen dürfen. Wie eigennützig war ich gewesen? Was, wenn ihr etwas zustieß? Wegen mir …
Auch sie war still, hielt sich einen Ärmel vors Gesicht.
»Warte auf mich – hier, wo man noch ein bisschen was sieht«, flüsterte ich. Dann war wenigstens jemand in der Nähe, jemand, dem ich zurufen, der Hilfe holen konnte.
»Warum? Wir machen das gemeinsam! Wie findet man diese blöden Kröten?«
Fria war die Beste! Sie hatte nur leider keine Ahnung, worauf sie sich hier einließ. »Sie sitzen in den Ritzen der Felsen. Wenn du etwas Glitschiges spürst, hast du eine gefunden.«
»Ernsthaft?« Sie sah mich angewidert an. »Bin ich froh, dass ich keine Heilerin geworden bin!«
Dabei waren die Kröten das geringere Übel. »Du brauchst sie nicht zu suchen, ich mache das. Es ist nur …« Wie sollte ich es ihr sagen, ohne, dass sie mich für verrückt hielt und das gleich jedem erzählte? Solche Geschichten verbreiteten sich im Dorf wie ein Lauffeuer und als Schankmaid bei den Drei Linden war Fria nicht zum ersten Mal der Span, der alles zum Lodern brachte.
Sie sah mich erwartungsvoll an. »Jetzt drucks nicht so herum.«
»Heute Morgen … da war etwas dort drinnen, im Nebel … und es stinkt noch fürchterlicher als sonst.«
»Geht das überhaupt?«, murmelte sie durch ihren Ärmel hervor. Einen Moment sah sie zum Himmel hinauf. »Komm schon, bringen wir es hinter uns, möglichst, bevor es dunkel wird.«
Sie hatte recht – wie finster die Wolken inzwischen aussahen! Ich nahm all meinen Mut zusammen. »Ja, bringen wir es hinter uns.«
Wir gaben uns die Hände und gingen voran, hinein in die Schlucht und den dichten Nebel. Ich starrte in den warmen Dampf, suchte nach den Wirbeln. Jeden Moment erwartete ich die kalte Berührung. Wäre doch Malve hier. Er hätte mich wieder gewarnt. Ich umschloss Frias Hand fest, war ihr unendlich dankbar, dass sie mitgekommen war.
Sie erwiderte meinen Griff. »Wie weit willst du gehen?«, flüsterte sie.
Ich drehte mich zu ihr, sah sie kaum noch im Nebel.
Spürte sie es auch? Dass hier etwas nicht stimmte …
»Ein paar Schritte noch. Dort sollten Kröten sitzen.« An der Felswand, die ich im Nebel nicht sah. Zaghaft streckte ich meine Hand aus, hoffte, Stein zu spüren – und nicht irgendetwas anderes.
Endlich. Der Fels, feucht und unnatürlich warm. Ich lehnte mich mit dem Rücken dagegen. »Wir sind da«, wisperte ich. Hier war es heute Morgen passiert. Die kalte Berührung. Ich starrte in den Nebel, fühlte mich wieder beobachtet.
Wo waren sie, die Wirbel?
»Bleib genau hier stehen. Ich suche nur schnell eine Kröte.« Und mein Amulett!
Wie viel Überwindung es kostete, Frias Hand loszulassen. Ich sah gerade noch ihre Umrisse. Mich umzudrehen und an der Wand nach den Kröten zu tasten, schaffte ich nicht – selbst, wenn ich wusste, dass meine beste Freundin direkt neben mir stand. Konnte sie nicht fröhlich vor sich hinplappern, so wie sonst immer?
Ich rutschte die Wand hinunter und hockte mich hin, tastete den Boden ab, fuhr zwischen die Steine hinein. Mit ein bisschen Glück stießen meine Finger ja nicht nur auf eine Kröte, sondern auch auf das Amulett.
»Verbena?«
»Ja.«
»Bei Mavanja, du bist ganz nahe.« Hörte ich da Angst in ihrer Stimme?
Ich hob den Kopf, sah hinauf – dorthin, wo ich sie vermutete. »Ich hätte dich nicht bitten sollen, entschuldige. Aber ich bin so froh, dass du da bist.«
Da spürte ich es. Es klatschte auf meine Stirn. Eiskalt.
Ich schrie.
Und Fria mit mir.
Ich schirmte meinen Kopf mit den Armen ab, kauerte am Boden. Mein Herz pochte.
Weitere Tropfen prasselten auf uns herab. Es begann zu regnen.
Hatte ich mich wegen eines Wassertropfens so erschrocken? Ich lachte auf, erhob mich und umarmte Fria. »Tut mir leid, ich dachte, es wäre … etwas anderes.«
»Verbena …« Es klang vorwurfsvoll. Doch auch sie ließ sich in die Umarmung fallen, sichtlich erleichtert.
Der Nebel wurde vom Regen weggewaschen. Nun sahen wir die enge Schlucht. Feuchtschwarze, zerklüftete Felswände zu beiden Seiten und dazwischen der Nebelbach, recht schmal, sodass beiderseits ein wenig Ufer blieb. Das war das Beste, was passieren konnte! Lieber pitschnass nach Hause kommen, als hier länger blind herum zu tasten.
Doch aus dem Augenwinkel bemerkte ich eine Bewegung. Vielleicht drei Schritte entfernt. Da war sie wieder, die Gänsehaut, die meinen Nacken entlang lief.
Ich schaute genauer hin. Nichts.
Oder doch?
»Siehst du das?« Zaghaft streckte ich einen Finger aus.
Fria erstarrte.
Ich wollte laufen, aber meine Beine gehorchten mir nicht. Da war etwas, ganz sicher, auch wenn ich mehrmals hinsehen musste, um es zu erkennen.
Durchscheinend, aber doch sichtbar stand da jemand. Direkt vor uns.
Er tat einen Schritt auf uns zu. Mein Schrei versiegte in der Kehle. Fria klammerte sich an mich. Ich wich nach hinten aus, prallte gegen die Wand.
Er streckte die Hand nach uns aus.
Ich packte Fria, zog sie den Fels entlang, rannte los und rutschte aus, fiel auf eine glatte Steinplatte. Fria konnte sich gerade noch halten, presste sich gegen die Wand.
Eine eiskalte Hand griff nach mir, glitt durch mich hindurch. Mich fröstelte.
»Weg von mir!«, zischte ich.
Der Geist ließ von mir ab, seine Hände erhoben.
Ich wischte mir über das nasse Gesicht, konnte nicht glauben, was ich sah.
Er streckte mir eine Hand entgegen. Wollte er mir hochhelfen?
Diese Nase, woher kannte ich diese Nase?
»Ulrik?«, flüsterte Fria.
War das wirklich …? Ich sah genauer hin.
Er drehte sich Fria zu und verbeugte sich.
Sie hielt den Atem an, stand wie gelähmt an der Wand.
Er ließ die Schultern sinken und wandte sich wieder mir zu. Ich spürte die kalte Berührung seiner Hand, als er versuchte, mich hochzuziehen.
Auch ich wich aus. Konnte das wahr sein? War ich mitten in einer Schauergeschichte? Ein Geist stand vor mir!
»Seid das wirklich Ihr, Euer Hochgeboren?«
Er kniff die Lippen zusammen, nickte.
Mir schossen die Tränen in die Augen. »Es tut mir so leid! Wir haben nach Euch gesucht.«
Fria stimmte ein: »Wir alle. Aus beiden Dörfern.«
Ich rappelte mich auf. So gerne er wollte, er konnte mir nicht helfen, der Schemen, der er nun war. Er ging einige Schritte weiter in die Schlucht hinein. Seine Lippen bewegten sich, aber wir hörten ihn nicht.
Fria griff wieder nach meiner Hand, sah mich fragend an.
Ich hob die Schultern.
Dann winkte er uns, ihm zu folgen.
»Er will uns etwas zeigen«, sagte Fria.
»Mutter des Lebens, was ist ihm passiert? Hier an diesem schrecklichen Ort …«
Frias Griff um meine Hand wurde fester. Unsere Blicke trafen sich wieder. In ihren Augen spiegelte sich die Angst, die ich selbst empfand.
Aber wir waren es ihm schuldig. Er war einer von uns – selbst, wenn er der Sohn des Barons war. Er war der Einzige der von Seggensees, der sich nicht zu gut gewesen war, sich mit uns abzugeben.
Er wartete an einer Biegung des Bachs. Wie viel Zeit hatte er hier verbringen müssen, gefangen im Nebel, nicht einmal ein Schatten seiner selbst? Neun Monde war es her, dass Korvinus den jüngeren Bruder gesucht und nie gefunden hatte.
Fria und ich folgten ihm zaghaft in die Schlucht hinein. Dorthin, wo der Gestank noch unerträglicher war.
Als wir ihn erreichten, zeigte er hinauf und wir sahen die Brücke, die sich über die Klamm spannte, von unten. Dann ging er weiter um die Kurve, bedeutete uns mitzukommen.
Entsetzen durchfuhr mich. Eine Kutsche, nein zwei, vielleicht sogar drei. Zerborsten zwischen den Felswänden. Räder und Holzplanken lagen verstreut. Dazwischen die Körper derer, die hier in den Tod gestürzt waren. Tränen liefen meine Wangen hinunter, vermischten sich mit den Regentropfen. So viele. Ein Schlachtfeld.
Fria schluchzte auf, vergrub ihr Gesicht in meinem Nacken. Ich umarmte sie, weinte mit ihr und mit Ulrik.
»Wir sagen es Eurem Herrn Vater, heute noch!«, versprach ich. »Findet Ihr dann Eure Ruhe?«
Er hob die Schultern.
Hoffentlich.
»Ich brauche ein Beweisstück … sonst glauben die hohen Herren mir nicht.«
Ob der Baron diese Nachricht verkraftete? An Korvinus’ Rage wagte ich gar nicht erst zu denken.
Ulrik ging weiter vor, blieb neben einem der Körper stehen. Ich wollte ihm nach, doch Fria verkrampfte. Sie war blass geworden, drehte sich zur Wand und übergab sich. Ich hielt ihr die Locken hinter den Kopf.
»Kann nicht«, raunte sie und winkte ab.
»Warte«, sagte ich zu dem Geist.
Sie sackte auf einen Stein. »Mach schnell«, hauchte sie und vergrub den Kopf zwischen den Armen.
Ulriks Schemen hockte neben einem Körper. Seinem Körper. Er lag am Ufer des Baches, einen Köcher mit Deckel im Arm. War das ein Behältnis für Schriftrollen? Das Wams war vergilbt und zerfetzt, sein Gesicht zur anderen Seite gedreht. Mavanja sei Dank! Am Hinterkopf waren noch Haare, ehemals dunkelblond, nun überzogen mit gelblichem Staub. Haut war nur noch teilweise über die Gebeine gespannt. Ein Bein hing ins Wasser. Aus dem Unterschenkel stand der Rest eines Knochens hervor, der Fuß war verschwunden.
Ich schluckte, verhinderte mit Mühe, dass nun auch mir alles hochkam.
Ulrik deutete auf einen Ring an einem der Finger – einen Siegelring mit dem Wappen der von Seggensees.
Den würde ich erst abziehen müssen. Brach der fragile Finger dann ab? Nein, das war zu viel verlangt! Selbst für mich. Mein Blick fiel auf den Köcher. Ehemals musste er aus dickem Leder gearbeitet gewesen sein. Denn die Prägung auf ihm hob sich nach wie vor ab. Sie zeigte das gleiche Wappen wie der Ring.
»Den Köcher, darf ich den mitnehmen?«
Ulrik nickte.
Ich hockte mich neben ihn, spürte seine Eiseskälte. Wie gerne hätte ich ihn getröstet, ihn, der immer so fröhlich und mitreißend gewesen war. Doch meine Hand wischte durch ihn hindurch.
Vorsichtig zog ich den Köcher unter dem toten Körper hervor, fürchtete bei jedem Zoll, dass das mürbe Gewebe des Arms zerfallen würde. Der Verschluss verhakte sich an einem Stein und der Deckel sprang auf. Es waren tatsächlich Schriftrollen darin.
Endlich war es vollbracht. Schnell verschloss ich den Köcher wieder und steckte ihn unter meinen Umhang, um das Pergament vor dem Regen zu schützen.
Ulrik geleitete mich zurück.
Ich zog Fria hoch von ihrem Stein, nahm sie mit, weg von diesem traurigen Ort.
Zum Abschied verbeugte sich der Geist des Baronssohns vor ihr. Er ging vor ihr auf die Knie und streckte ihr die Hand entgegen. Zaghaft legte sie ihre in die seine und es mutete an, als küsste er sie.
Sofort kullerten wieder Tränen über ihre Wangen. »Wie oft ich von Euch geträumt habe, Euer Hochgeboren«, wisperte sie.
Er presste die Lippen aufeinander und legte eine Hand auf sein Herz.
Der Regen wurde schwächer und Ulriks Konturen verschwammen im wiederkehrenden Dunst.
Er wandte sich mir noch einmal zu, bedeutete mir mitzukommen. Doch ich konnte nicht mehr ausmachen, wohin er ging. Da spürte ich es kalt an der Hand und folgte der Berührung. Er führte mich zu der Stelle, von der ich am Morgen in Panik geflohen war. Vor mir an der Felswand saßen gleich mehrere …
»Nebelkröten!« Ich packte eine davon in den Korb.
Doch war es nicht das gewesen, was er mir zeigen wollte? Noch immer ließ er mich seine kalte Berührung spüren. Ich sah mich um, suchenden Blicks, bis ich das zerrissene Lederband am Boden liegend fand.
Das Amulett! Es war in eine Ritze zwischen zwei Steinen gerutscht. Ohne Ulrik hätte ich es nie wiedergefunden.
»Danke, Euer Hochgeboren! Ihr wisst ja gar nicht, was mir das bedeutet!« Ich knickste in die Richtung, in der ich ihn vermutete. Dann band ich es mir erleichtert um den Hals und ließ es unter meinem Kleid verschwinden.
Vor der Schlucht ließ Fria sich auf einen Baumstumpf fallen. »War das wirklich Ulrik?« Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Was hat er dir am Schluss gezeigt?«
Ich zog das Amulett unter meinem triefend nassen Kleid hervor. »Habe es heute Morgen verloren … als ich vor ihm davongelaufen bin.«
»Ist das nicht der Anhänger, den Valerian für dich geschnitzt hat?«
Ich nickte und ließ ihn wieder verschwinden, presste ihn mit der Hand fest auf mein Herz. Durch die Berührung spürte ich umso deutlicher, dass Malve in der Heilerei inzwischen erwacht war. Bleib wo du bist!, schickte ich ihm in Gedanken zu und hoffte inständig, dass er auf mich hörte. Mit dem Baron zu sprechen, würde auch ohne ihn schwierig genug werden.
Die Sonne näherte sich inzwischen dem Horizont. Der Himmel war für den Moment nicht ganz so finster. Aber neue graue Wolken schoben sich bereits hinter den Hügeln hervor. Nicht mehr lange und es würde weiterregnen. Mich fröstelte.
»Bringen wir das schnell zu den von Seggensees!« Ich holte den Köcher unter meinem Umhang heraus und versuchte, den Deckel wieder besser zu befestigen. Die hohen Herren brauchten nicht zu wissen, dass ich ihn verbogen hatte.
Neugierig stand Fria auf. Die Farbe in ihrem Gesicht kehrte langsam zurück. Ihre Finger glitten über das Wappen am Leder. »Hat Ulrik den aus Kronenburg mitgebracht?«
»Ja, es sind Schriftstücke darin.«
Sie sah zu mir auf, hatte ein Blitzen in den Augen. »Lass uns nachsehen!«
Das ließ mich schmunzeln. Da war sie wieder, die Fria, die ich kannte! »Aber wir können doch nicht die Post der von Seggensees lesen!«
»Ulrik hätte das letzten Sommer hierher bringen sollen. Für die ist das bestimmt ein alter Hut!«
War es das? Der Winter war hart gewesen und nicht einmal die Postkutschen waren wegen des vielen Schnees ihre gewohnten Strecken gefahren.
»Vielleicht weiß Korvinus das hier noch gar nicht.«
»Umso spannender!« Schon war der Deckel offen und Fria beäugte die eingerollten Schriftstücke.
Schnell zog ich ihr den Köcher aus den Händen. »Seit wann kannst du lesen?«
»Ich nicht, aber du!«, warf sie schmollend zurück.
Ich biss mir auf die Unterlippe.
Gemeinsam zogen wir die dicke Rolle aus dem Köcher. Mehrere Pergamente waren ineinander gerollt. Deren äußerste Schicht war so brüchig, dass sie unter unseren Fingern zerbröselte.
»Sei vorsichtig!«, hauchte ich. Korvinus würde außer sich sein – noch viel wütender, als er sonst immer war – wenn das Pergament nicht unberührt aussah.
Fria stöhnte. »Diese Bögen liegen seit neun Monden in der Schlucht. Natürlich zerfallen sie! Es wird schon niemand bemerken, dass wir kurz einen Blick darauf werfen.«
Ich stellte den Lederbehälter ab und half Fria, die großen Pergamente auseinander zu rollen. Ein mit einer Schleife eng zugebundener und versiegelter Brief segelte auf den nassen Boden.
»Mist!« Ich ließ die Ecken der Rolle los, um ihn möglichst schnell aufzuheben, und wischte die Kleckse feuchter Erde wieder ab. »An Korvinus von Seggensee«, las ich. Mich fröstelte. Was taten wir hier bloß? Ich steckte den Brief vorsichtig in den Köcher zurück.
Fria hatte die großen Schriftstücke inzwischen selbst aufgerollt.
»Steckbriefe!«, rief sie.
»Pssst!« Die Landstraße war nicht fern. Wenn uns jemand erwischte!
Mein Blick fiel auf das Bild des Gesuchten. Es verschlug mir den Atem. Sogar sein immer leicht nach oben gezogener Mundwinkel, dieses wissende Schmunzeln, war perfekt getroffen.
»Lies vor!«
Ich brauchte einen Moment, meine Stimme zu finden.
»Gesucht. Tot oder lebendig. Belohnung 2000 Kronen.«
»2000 Kronen? So viel war es noch nie! Wer ist das?«
»Valdemar von Vernon.« Ich sah noch einmal hin. Diesen Namen hatte ich noch nie gehört … aber das Bild! Neben dem gezeichneten Kopf war ein rundes Siegel abgebildet, eines mit drei Bäumen.
Hatte Alraune recht gehabt? War er doch adelig? Es war das gleiche Wappen, das auch den Griff von Valerians Dolch zierte. Genau der Dolch, der in meiner Kammer unter dem Bett lag.
»Ein Familienerbstück«, hatte er gesagt, als er ihn mir, knapp nachdem er schwer verletzt bei uns erwacht war, beschrieben hatte. Und direkt davor hatte er mir offenbar eiskalt ins Gesicht gelogen und sich unter falschem Namen vorgestellt.
Mein Blick wanderte hinunter zur Beschreibung. Mit belegter Stimme fuhr ich fort: »Angeklagt wegen Hochverrats. Begabt und gefährlich! 20 Winter, mittlere Größe, dunkelbraunes Haar, braune Augen.« Ich las es wieder und wieder. Es musste er sein. Wer sonst?
»Was ist mit dir?«
Ich sah zu Fria auf. »Erkennst du ihn nicht?«
»Valdemar von Vernon? Nein.« Sie sah noch einmal genauer hin, schüttelte den Kopf.
Ach, Fria hatte ihn nie ohne die Augenbinde gesehen! Seit er bei seinem Unfall erblindet war, hatte er sie in der Öffentlichkeit immer getragen. Aus gutem Grund, offenbar!
Ich streckte zwei Finger aus und verdeckte die Augenpartie des Bildes.
»Valerian!« Schon wieder viel zu laut.
»Pssst!«
»Aber er hieß doch Gundermann … von diesem teuren Geschäft in Kronenburg?«
Ich nickte langsam. Hatte irgendetwas von dem gestimmt, was er uns erzählt hatte?
»Und überhaupt … Valdemar!? Was für ein unpassender Name!«
Fria sprach mir aus der Seele.
»Moment, stand da ›begabt‹? Hast du das gewusst?«
Ich erstarrte. Dieses Detail war nicht gelogen. Er hatte sich lange bemüht, es zu verbergen, aber ich war ihm auf die Schliche gekommen. Unsicher, wie ich antworten sollte, starrte ich zu Boden.
Fria warf mir einen schiefen Blick zu. Zum Henker, sie erkannte sofort, was ich dachte. »Wirklich? Er ist begabt? Was kann er? Warum hast du es mir nicht erzählt?«
»Er war nicht gefährlich. Und über Begabungen spricht man nicht!« Wenn Alraune und später auch Valerian mir etwas eingebläut hatten, dann das.
»Deshalb war er auf einmal weg? Ist er geflüchtet?«
Es zu leugnen ergab keinen Sinn mehr.
»Du wusstest es und hast es nicht gemeldet?«
»Ist dir nicht klar, was das bedeutet hätte?«, zischte ich sie an. »Dann hätten gleich drei Scheiterhaufen gebrannt – nur weil Alraune und ich ihn beherbergt haben. Korvinus sucht doch nur nach einer Ausrede, uns auflaufen zu lassen.«
Schmallippig betrachtete sie mich. »Und Alraune und du?«
»Was ist mit uns?«
»Du bist auch begabt, richtig?«
Redlich bemühte ich mich, so empört wie möglich auszusehen. Dabei wäre es ein Wunder gewesen, wenn sie mein Herz nicht klopfen hörte, so laut wie es gerade pochte. »Wie kommst du denn darauf?«
»Lüg nicht! Du bist so komisch, seit … seit letztem Jahr.«
»Danke aber auch!« Ich stemmte die Hände in die Hüften, wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.
»Ich meine das ernst! Was ist los mit dir? Du bist so verschlossen, hast ständig Ausreden. Ich dachte, wir sind beste Freundinnen. Mir kannst du alles sagen!«
»Dir? Du erzählst doch alles im Dorf herum!« Meine Güte, hatte ich es jetzt zugegeben? Schnell fügte ich hinzu: »Valerians Begabung geheim zu halten war – und ist immer noch – nötig, weil die Hüter sonst wieder vor unserer Tür stehen! Verstehst du das nicht?«
Ihr Gesichtsausdruck versteinerte. »Glaubst du das wirklich?«
»Das glaube ich nicht nur, das weiß ich!« Leider. »Sag mir irgendetwas, was du nicht sofort weitererzählt hast.«
Sie schwieg.
Ihre Augen wurden glasig. »Wenn du das so siehst … gehab dich wohl!« Damit drückte sie mir die Steckbriefe in die Hand und stapfte davon.
»Fria, warte!«, rief ich ihr nach.
Doch sie drehte sich nicht um.
Ingrun, bewahre mein Geheimnis. Wenn sie all das nun im Dorf verbreitete! Ich warf die Rolle neben den Köcher und lief ihr nach.
»Fria, bitte, erzähl nichts über den Steckbrief. Dass wir Ulrik gefunden haben, in Ordnung, aber nichts über Valerian, bitte.«
Sie schnaubte und rannte davon.
Ich sah ihr nach, bis sie hinter einer Biegung verschwand, konnte nicht glauben, was gerade geschehen war. Dann kehrte ich um und hob die Schriftrolle auf, wischte den Schmutz außen ab. Noch einmal rollte ich sie auf, starrte auf das Bild in meiner Hand.
Den ganzen Winter hatte ich mir wieder und wieder vorgestellt, wie es gewesen wäre, wenn wir gemeinsam aufgebrochen wären. Aber er war weg, hatte mich zurückgelassen, uns belogen, die Drachenzahnessenz gestohlen! Trotzdem wurde mir bei seinem Anblick so warm ums Herz wie schon lange nicht mehr, und tief in mir hoffte ich für ihn, dass er es tatsächlich bis in die Baronie Hellenfels geschafft hatte.
Schnaubend schüttelte ich den Kopf. Das musste ein Ende haben! Weder Finn noch er waren gut für mich.
Mit klammen Fingern blätterte ich durch die Bögen. Es waren fünf, alle über Valdemar von Vernon oder wie auch immer er wirklich hieß.
Valdemar.
Fria hatte recht, dieser Name passte nicht zu ihm. Vielleicht machte es das einfacher, ihn zu vergessen.
Ich sah hinauf zur Burg. Würde Korvinus den Bezug zwischen dem Steckbriefbild und dem Blinden aus der Heilerei herstellen? Valerian war über alle Berge, aber Alraune und ich mussten dafür geradestehen, dass wir einen Verräter beherbergt hatten, egal ob wir das damals wussten, oder nicht.
Diese Post durfte Korvinus nie erreichen, zumindest nicht in leserlicher Form.
Gesteuert von dieser Gewissheit, gingen meine Beine hinüber zum Nebelbach. Ich tunkte jeden Bogen einzeln in die gelbe Brühe, egal wie brüchig das Pergament schon war. Valerians Bilder zerflossen vor meinen Augen. Genauso wie ich seine Bilder vom Pergament wusch, musste ich es mit meinen Gefühlen für ihn tun. Es hatte keinen Sinn, ihm noch länger nachzuhängen.
Ich rollte die verschwommenen Pergamente wieder ein und steckte sie zurück in den Köcher. Doch sie wollten nicht hineingleiten. Etwas verkeilte sich.
Ach, der Brief!
Ich drehte den Behälter um, bis die kleine Rolle mir entgegen rutschte, wendete sie in meinen Händen. Das Siegel war durch die Hitze in der Nebelschlucht geschmolzen. Das Wachs hatte sich als dünnes, rotes Rinnsal ins Papier gesogen. Sollte ich wirklich?
Egal! Genauso wie die Steckbriefe würde auch dieses Schriftstück ein Bad im Nebelbach nehmen müssen.
Ich zog das Band ab und rollte den Brief auf.
Kronenburg, den 27. Tag des 5. Mondes 765
Werter Freund!
Schön, Euren Bruder kennengelernt zu haben. Bestimmt wird er bald genauso für unsere Sache brennen, wie Ihr es tut!
Anbei übersende ich Euch Steckbriefe eines besonders gefährlichen Begabten. Der flüchtige Valdemar von Vernon ist Gedankenleser und wird nichts unversucht lassen, unseren Zielen zu schaden. Es ist dringend, ihn zu finden und auszuschalten. Zögert nicht, seine Vergehen unmittelbar zu ahnden. Ebenso alle Personen, die er mit dem falschen Gedankengut angesteckt hat.
Für die kommenden Monde werde ich mich auf Reisen begeben und zur Insel Tempesta segeln. Dort wurde mir ein Alchimist empfohlen, der in der Lage sein soll, einen Trank herzustellen, mit dem es möglich sein wird, Begabte von Nicht-Begabten zu unterscheiden. Wenn das gelingt, steht einem reinblütigen Rohnland im Namen Mavanjas nichts mehr im Wege!
Es fällt mir schwer zu glauben, dass es in Eurer Baronie weniger Begabte gibt als anderswo in unserem Reich. Aber ich bin überzeugt davon, dass Ihr alles in Eurer Macht Stehende tut, um unser Land zu reinigen.
Seine Exzellenz Helleborus von Resede,Regent zu Rohnland,Großmeister der Hüter undergebener Diener der Mutter des Lebens
Ich ließ den Brief sinken, stolperte auf den Baumstumpf zu, musste mich setzen. Meine Gedanken schwirrten durcheinander. Valerian, freigegeben, um standrechtlich getötet zu werden. Die Begabten – also auch ich! – sollten flächendeckend ausgemerzt werden.
Wir mussten flüchten.
Aber Alraune … Wie konnte ich sie mitnehmen? Angespannt stand ich auf, raufte mir die Strähnen.
Ich fühlte den Schmerz an meiner Kopfhaut, als wäre es eben erst geschehen. Der verfluchte Hüter – Aurelio hatte er geheißen – hatte mich an den Haaren quer durch unser Haus geschleift. Ich lief auf und ab, drehte und wendete mich, wusste nicht wohin.
Es fing wieder an zu regnen. Dicke Tropfen klatschten auf das Papier, ließen die Tinte verrinnen. Gut so! Diese grauenhaften Worte sollten davon geschwemmt werden. Ich tauchte das Blatt tief in die Fluten, schaute zu, wie die Schrift verschwand.
Fein säuberlich mit der Schleife wieder zugebunden, steckte ich auch dieses Schriftstück zurück in den Köcher. Was jedoch, wenn Korvinus auffiel, dass die Pergamente nass waren, aber der Lederbehälter zumindest innen gut erhalten?
Heilfroh war ich, dass Fria mich dazu gebracht hatte, die Rolle zu öffnen. Nicht auszumalen, was geschehen wäre, wenn Korvinus diese Schreiben letzten Sommer bekommen hätte! Wir wären gefangen genommen worden – alle drei!
Ulriks Tod hatte uns das Leben gerettet.
Ich hockte mich ans Ufer und füllte kleine Steine in den Köcher, ließ sie zwischen den Pergamenten hinunterrieseln. Dann warf ich die Rolle in die Fluten und sah zu, wie sie unterging.
Den nassen Umhang eng um mich gewickelt stieg ich zur Burg hinauf. Regen prasselte durch die kahlen Buchen entlang des Weges. Lieber wäre mir gewesen, es hätte geschneit. Kalter Nieselregen war wirklich das Letzte. Sehnlichst wünschte ich mir, mich in unserer Stube an den warmen Kachelofen zu lehnen.
Doch die hohen Mauern blitzten schroff durch die Äste, sahen in der Abenddämmerung noch düsterer aus als sonst.
Der Weg führte mich zur Zugbrücke, die einen felsigen Graben überspannte. Zwei Wachen lehnten gelangweilt am von Fackeln erleuchteten Tor.
Ich wischte mir den Regen aus dem Gesicht und straffte meine Schultern. Als ich die Brücke betrat, standen sie auf.
»Was willst du so spät?«, bellte mich einer an.
»Mavanja sei mit Euch! Ich muss den Baron sprechen, bitte!« Vielleicht ließ es sich ja doch vermeiden, Korvinus zu treffen.
»Den hohen Herren will sie sprechen?« Die beiden lachten.
»Es ist wichtig … und ich muss es ihm selbst sagen!«, setzte ich nach.
»Behaupten sie das nicht alle«, lachte er weiter. »Wer bist du und was willst du?«
Der Andere lehnte sich vor, um mich genauer zu betrachten. »Ist das nicht die Heilerin aus Spelzendorf?«
Ich nickte.
»So, so, und was will sie?«
»Ulrik … es geht um Ulrik.«
Die Augen der beiden weiteten sich. Dann kam Bewegung in sie. Der eine lief durch den Hof in eines der Gebäude hinein, während der andere mich wenigstens aus dem Regen unter den Torbogen bat. Schweigend stand ich neben ihm, hielt den Korb mit der eingewickelten Kröte fest vor meiner Brust.
In die Burg kam Bewegung. Im Burghof und auf Balustraden rannten Leute umher.
Ein schmächtiger Mann mit schütterem Haar kam mir entgegen. Den kannte ich – Ingar. Er war immer dabei, wenn Alraune abgeholt wurde.
»Verbena.« Er musterte mich von oben bis unten, rümpfte die Nase.
Schmallippig knickste ich. »Seid gegrüßt. Es ist dringlich.«
Er seufzte. »Komm mit mir.«