Verborgen - Tobias Hill - E-Book

Verborgen E-Book

Tobias Hill

4,9
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine ungewöhnliche Mischung aus spannungsgeladener Handlung und historischen Fakten

Der junge Archäologe Ben Mercer ist Spezialist für Sparta, für den legendären Staat, der den Terror perfektioniert hat. Ben hat Frau und Kind verlassen und sich in einer griechischen Kleinstadt verkrochen. Dort trifft er eines Tages einen Kollegen aus Oxford wieder. Eine folgenschwere Begegnung: Bald arbeitet er an einer Ausgrabung mit, einem weiteren Versuch, hinter die Geheimnisse Spartas zu kommen. Ben spürt, dass seine Kollegen aber noch andere Motive haben, dass die Grabung vielleicht nur eine Tarnung für etwas ganz anderes ist. Bens Wunsch, zu dieser Gemeinschaft dazuzugehören und dieses Geheimnis zu teilen, hat einen ungeheuer hohen Preis.

Tobias Hill hat mit »Verborgen« einen enorm spannungsgeladenen Roman über unser Zeitalter des Terrors geschrieben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 544

Veröffentlichungsjahr: 2011

Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
16
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

I - Aufzeichnungen für eine DoktorarbeitII - MetamorphosisIII - Aufzeichnungen für eine DoktorarbeitIV - UngeheuerV - Aufzeichnungen für eine DoktorarbeitVI - LakedaimonienVII - Schaufelaffe Nummer fünfVIII - Aufzeichnungen für eine DoktorarbeitIX - BegräbnisseX - Aufzeichnungen für eine DoktorarbeitXI - BallerspieleXII - Aufzeichnungen für eine DoktorarbeitXIII - Die HöhleXIV - Aufzeichnungen für eine DoktorarbeitXV - VerborgenXVI - Die sorgsame Anwendung von TerrorDanksagungCopyright

Ich habe etwas in der inneren Kammer verborgen Und den Deckel des Sarkophags versiegelt Und einen Granitblock gegen die Tür gestemmt Und das Geröll hat sie so vollkommen verdeckt Dass du, obwohl du täglich darübergehst, nichts von ihr ahnst.

Anthony Thwaite

Die Macht, uns vor anderen zu verbergen, ist uns gnädig geschenkt, denn Menschen sind wilde Tiere und würden einander ohne diesen Schutz verschlingen.

Henry Ward Beecher

Alles Geheime entartet.

John Dalberg-Acton

I

Aufzeichnungen für eine Doktorarbeit

Die Geschichte, so sagt man, wird von den Siegern geschrieben. In einem Fall ist dieser Gemeinplatz falsch. Die Spartaner waren einst Herren über alles, was sie überblickten, sie herrschten über Griechenland durch Schrecken und Krieg, doch sie vertrauten ihre Macht nicht Geschriebenem an.

Das geschriebene Wort ist uneigennützig. Bereitwillig gibt es seine Geheimnisse preis: Es richtet sich gleichermaßen an Freund und Feind. Die Spartaner überließen deshalb nur wenig seiner Obhut. Sie waren ein verschwiegenes Volk. Sie schrieben wenig, und auch von diesem Wenigen ist nur wenig erhalten. Die Schriften der Spartaner, die uns überliefert sind – Alkmans freudige Mädchenlieder, Lysanders prahlerische Inschriften –, sind nicht die fehlenden Teile des Puzzles, sie sind dessen einzige noch vorhandene Teile; das Puzzle selbst fehlt, und so wurde das Wesen des Puzzles – das Wesen Spartas – an sich zum Rätsel.

Es ist gewagt, über ein so wortkarges Volk fast ausschließlich Mutmaßungen anzustellen. Man könnte (beispielsweise) mutmaßen, dass unsere Ungewissheit den Spartanern Genugtuung bereiten würde, aber selbst darüber gibt es keine Gewissheit. Dass sie der Welt keine Erklärungen hinterlassen haben, würde sie nicht übermäßig bekümmern, denn was die Welt dachte, hat sie kaum interessiert. Sie waren ein Volk, das vieles tat und wenig sagte, und es wäre ihnen vermutlich angemessen erschienen, nicht nach ihren Worten, sondern nach ihren Taten beurteilt zu werden. Und dass die Geschichtsschreibung über sie auf wenig mehr beruhen würde als auf vagen Vermutungen, ähnlich meinen eigenen hier – dass ihre Geheimnisse gewahrt bleiben würden, auch über die zweieinhalbtausend Jahre hinaus –, das hätte sie vielleicht auch gefreut.

Würde es sie freuen, dass man sich überhaupt an sie erinnert? Wer mit ihnen umging, beschrieb sie als ein stolzes Volk. Niemand gerät gern in Vergessenheit. Die Neugier der Geschichte aber kennt kein Pardon, und Sparta ist so bedeutend, dass für den guten Historiker kein Weg daran vorbeiführt. Was überliefert ist, wird endlos nach dem Gold der Wahrheit abgesucht. Die Motive der Feldherren und Könige werden überprüft und nochmals überprüft, in Zweifel gezogen und zerpflückt. Die spärlichen Funde der Archäologie werden in ihrer Bedeutung überschätzt, zuweilen über jedes Maß hinaus. Und die uns bekannten Taten der Spartaner nehmen das Gewicht von Sagen an, so dass die Mythologie der Stadt heute von größerem Einfluss ist, als es ihre Archäologie vielleicht je sein wird.

Da ist zum Beispiel die Sage von der Schlacht bei den Thermopylen. Sie lautet folgendermaßen:

Vierhundertachtzig Jahre vor Christus zogen die Perser aus, Griechenland zu erobern. Ihr Heer war so groß wie ihr Reich, das sich vom Nil bis zum Indus erstreckte. So unvermeidlich war ihr Sieg, dass sich der Großkönig Xerxes mit seinen Leuten aufmachte, um seine Eroberungen selbst in Augenschein zu nehmen. Und so erdrückend war seine Macht, dass große Teile Hellas’, noch ehe er griechischen Boden betrat, Frieden schlossen und ihm Erde und Wasser darboten, Persiens Symbole der Unterwerfung.

Jene, die Widerstand leisteten, wurden von den Spartanern angeführt. Doch nur wenige wollten von einem Krieg gegen das Reich sprechen, und noch weniger waren bereit, ihren Worten Männer folgen zu lassen. Die Perser waren bereits weit nach Süden vorgedrungen, bis zum Thermopylenpass dreihundert Kilometer vor Sparta, ehe sich ihnen auch nur ein einziger Hellene entgegenstellte.

Die Thermopylen: Die heißen Tore. Seinen Namen verdankt der Pass schwefelhaltigen vulkanischen Quellen und drei Engstellen, den Toren. Es war eine tief liegende Straße, im Süden von Felsen überragt, im Norden zum Meer hin offen. Landeinwärts gab es nur endlose Berge, hohe Wälder und Felswände, Land, das für Ziegen taugte, aber für wenig mehr. Die Perser hätten andere Wege nach Süden finden können, hätten sie den Wunsch gehabt, danach zu suchen. Doch sie hatten ihn nicht. Sie brauchten ihn nicht zu haben. Sie wollten durch die Thermopylen, wo ihre Feinde sich gesammelt hatten.

Xerxes’ Feinde wurden von Leonidas befehligt, dem König der Spartaner. Er führte fünftausendzweihundert Griechen an, unter ihnen dreihundert Homoioi, jene Spartiaten, die ihr Leben ausschließlich der Übung und Praxis des Krieges widmeten.

Dreihunderttausend Perser standen den Griechen gegenüber. Über den Hellespont und westwärts hatte Xerxes eine noch größere Streitmacht aufmarschieren lassen: Seiner Vorhut folgte ein Heer von achthunderttausend Mann. Der Großkönig sah keine Notwendigkeit, seine volle Million gegen die wenigen an den Thermopylen aufzubieten. Seine Unsterblichen waren ja bei ihm, die zehntausend besten Soldaten seines Reichs.

Xerxes war gnädig. Drei Tage wartete er darauf, dass die Griechen den Pass freigeben würden. Doch sie taten es nicht. Seine Späher berichteten ihm, dass die Fremden eine verfallene Mauer instand setzten, die eines der Tore überspannte. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit glaubten die Hellenen, an den Thermopylen Widerstand leisten zu können. Und noch etwas war da, etwas weitaus Verblüffenderes. Unter den Griechen gab es Männer in roten Umhängen, Männer, die sich keineswegs für die Schlacht rüsteten, wie die anderen es taten. Sie machten Leibesübungen. Man sah sie ihr Haar kämmen. Von seinen Kundschaftern erfuhr der Großkönig, dass es Spartaner waren. Sie schmückten ihr Haupt, so die Kundschafter, um sich auf den Tod vorzubereiten.

Als Xerxes dies vernahm, gab er den Befehl zum Angriff. Sein Zelt war im Hochland oberhalb der Thermopylen aufgeschlagen. Dort saß er, um dem Untergang seiner Feinde beizuwohnen.

Die Schlacht bei den Thermopylen währte drei Tage. Am ersten Morgen schickte der Großkönig seine Meder und Kissier aus, mit dem Befehl, die Griechen lebend gefangen zu nehmen. Die Griechen aber drängten die Perser zurück. Am Nachmittag zog Xerxes die regulären Truppen ab und schickte seine Unsterblichen vor. Auch sie wurden zurückgeschlagen. Dreimal sah man den König von seinem Thron aufspringen. Als die Nacht hereinbrach, stand die Mauer der Griechen noch immer.

Der zweite Tag begann, wie der erste geendet hatte. Der Großkönig saß auf seinem Thron und sah seine Männer sterben. Die Thermopylen wurden zum Schauplatz eines Gemetzels. An den Engstellen konnten die Perser ihre Soldaten nicht wirkungsvoll einsetzen. Die Schützen hatten Bogen, die so lang waren wie sie selbst, doch als sie anrückten, lagen die Griechen flach hinter ihrer behelfsmäßigen Mauer. Die persischen Fußtruppen waren wendig und geschickt, aber die Speere der Hellenen flogen weiter. Manchmal griffen die Männer mit den roten Umhängen in den Kampf ein. Manchmal schien es, als brächen ihre Linien, und sie stoben im Schrecken der Schlacht auseinander, um sich dann unvermittelt neu zu formieren – wie Trommelwirbel klang das Aneinanderstoßen ihrer Schilde – und die anstürmenden Perser mit ihren Speeren zu durchbohren.

Es war die Zeit der Sommergewitter. Die Tage waren heiß und unerträglich schwül. Nachts schimmerte der fast volle Mond durch den Regen. Die Perser waren weit weg von daheim. Ihre Haut war schlammverkrustet, ihr Haar verfilzt. Weiß blickten ihre Augen aus den geschwärzten Gesichtern hervor. Die Luft roch nach Urin, Schwefel und Ozon.

Am Nachmittag des zweiten Tages wurde ein Einheimischer zum Großkönig geführt. Er kenne, sagte er, einen Pfad durch die Berge. Über diesen Pfad könne der Großkönig, wenn er es wünsche, Männer ans andere Ende der Thermopylen schicken. Die Griechen würden in der Falle sitzen wie Wachteln im Netz.

Als die Dunkelheit hereinbrach, befahl der Großkönig seinen Unsterblichen, den Bergpfad einzuschlagen. Leonidas wusste von dem Pfad, und da er dessen Entdeckung befürchtete, hatte er tausend Mann zu seiner Bewachung abgestellt. Doch sie konnten der zehnfachen Übermacht nicht standhalten. Sie wichen in die Wälder zurück und sandten ihren Verbündeten die Botschaft, die Thermopylen seien verloren.

Alle, die heimkehren wollten, ließ Leonidas ziehen. Die meisten wünschten sich nichts sehnlicher und brachen, bevor der Feind sie umzingeln konnte, im Schutz der Dunkelheit auf. Die Spartaner aber gaben den Pass nicht preis. Und sie waren nicht die Einzigen. Vierzehnhundert Griechen kämpften unter dem König von Sparta weiter.

Als am dritten Tag der Morgen graute, kamen die Perser erneut von Westen herab. Die Schlacht war schon eine Weile im Gange, da sichteten die Griechen im Osten die Unsterblichen. Sie fanden nun nirgendwo mehr Schutz und zogen sich auf eine kleine Anhöhe zurück. Die meisten ihrer Speere waren bereits zerbrochen. Sie kämpften, bis ihnen die Schwerter aus der Hand geschlagen wurden. König Leonidas fiel. Dreimal brachten sie den Toten in Sicherheit. Sie kämpften mit Dolchen, Händen und Zähnen. Doch die Barbaren begruben sie unter ihren Geschossen. Bis zum letzten Mann wurden sie niedergemacht.

Nach der Schlacht befahl Xerxes, das Schlachtfeld nach dem Leichnam des Königs abzusuchen. Als man ihn fand, ließ er ihn schänden: Der Kopf des Leonidas wurde abgeschlagen und auf einen Pfahl gesteckt. Ohne Bestattung würde seine Seele niemals ins Totenreich eingehen. Dann zog der Großkönig mit seinen Truppen, seinen achtzigtausend Reitern und zwanzigtausend Wagenlenkern weiter ins Innere Griechenlands.

Die Schlacht, für die Sparta am besten in Erinnerung geblieben ist, war kein großartiger Sieg, sie war eine grandiose Niederlage. Und sie ist eines der frühesten Beispiele für die Macht des Märtyrertums. Als sich die Geschichte des Opfergangs bei den Thermopylen herumsprach, fassten die Griechen frischen Mut. Nur wenige ließen Xerxes von Neuem Erde und Wasser überbringen. Stattdessen rückten die Hellenen zusammen. Die persische Invasion ging weiter, und sie war fürchterlich – Athen wurde dem Erdboden gleichgemacht –, aber noch im selben Jahr, in dem die Thermopylen fielen, wurde die persische Flotte zerstört, und ein Jahr nach dem Tod des Leonidas sammelten sich die restlichen griechischen Truppen unter dem Oberbefehl der Spartaner. Bei der Schlacht von Plataiai stellten sie sich vereint den Persern entgegen und vernichteten sie.

Die Thermopylen. Eine gute Geschichte. Aber nur eine Geschichte. Boten fünftausend Mann dreihunderttausend Soldaten drei Tage lang die Stirn? Sprang der Großkönig dreimal von seinem Thron auf? Vertrieben die Spartaner dreimal die Perser vom Leichnam ihres gefallenen Königs? An all dem ist etwas Wahres, doch es bleibt vage. Herodot von Halikarnassos, der Chronist der Thermopylen, war nicht nur Historiker, sondern auch Geschichtenerzähler. Sein Bericht weist alle Merkmale eines Märchens auf. Wir finden darin nicht die Antworten, die die Geschichte verlangt. Was bewog die Spartaner, so fern der geliebten Heimat zu sterben? Warum gab ihr König sein Leben hin? Worin liegt die Bedeutung, die politische Bedeutung, worin liegt der menschliche Sinn der Inschrift, die sie hinterließen?

Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten,Du habest uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.

Das Sparta der Thermopylen ist uns durch eine Geschichte überliefert, nicht durch die Geschichte. Ein guter Historiker ist auch Skeptiker. Mit Geschichten kann er sich nicht zufriedengeben. Als einer, der eine Geschichte hört, muss er seinen Unglauben zurückstellen; aber als einer, der die Geschichte studiert, muss er vor allem den Glauben zurückstellen. In der Geschichte von der Schlacht bei den Thermopylen stirbt König Leonidas für die Freiheit Griechenlands. Die Historie aber zeichnet von niemandem ein so klares Bild. Die reine, einfache Wahrheit, so sagt man, ist selten rein und niemals einfach.

Würde es die Spartaner freuen, dass sie Fiktion geworden sind? Herodots Spartaner sind so radikal, so unergründlich, dass sie jede menschliche Proportion verlieren; sie werden zu einem einzigen monolithischen Ganzen, ohne Furcht und Hoffnung: Sparta.

So viele Fragen lässt Herodot unbeantwortet. Doch die Spartaner mochten es nun einmal nicht, Rechenschaft über ihr Tun abzulegen. Sie gaben keine Antworten. Sie kannten den Wert der Fiktion. Sie wären zufrieden.

Mitschrift eines öffentlichen Vortrags,Cherwell Historical Society,Ben Mercer, Oxford, 2003.

II

Metamorphosis

Er reiste am Abend ab und kam vor dem Morgen an. Es war Februar, und Athen war so nass wie jede Stadt im Norden. In jenen ersten Tagen genoss er den Regen. Er fand eine Pension am Lykabettos, den er jeden Tag erklomm; sein Herz hämmerte während des Anstiegs, nasse Zypressen und Kiefern durchweichten ihn, wenn der Wind in sie hineinfuhr, und die Luft unter den Bäumen war von Harzduft geschwängert.

Doch plötzlich begann ihn das Wetter niederzudrücken. Es erinnerte ihn an Oxford und an alles, was mit Oxford zusammenhing. Es wurde zu einer Bürde, die er von Ort zu Ort schleppte, den Kopf gesenkt, als strafte ihn der Regen.

Denen, die er verließ, hatte er gesagt, es warte Arbeit auf ihn. Drei Monate als Lehrer an einem privaten College. Eine Lüge, um sie zu beruhigen oder um unliebsamen Fragen zuvorzukommen, je nachdem, wem er es sagte. Nur Emine hatte ihm nicht geglaubt.

Sooft es ihm möglich war, verlor er sich im Gehen. Die Stadt hieß ihn nicht willkommen. Im Winter gab es in Athen nur wenige Touristen und nicht genug Arbeit. Die Zeitungen waren voll von schlechten und immer noch schlechteren Nachrichten. In Istanbul beharrte die Front der Vorkämpfer für den Islamischen Großen Osten darauf, den britischen Generalkonsul getötet zu haben. Die Bauarbeiten für die Olympischen Spiele in Athen hinkten dem Zeitplan acht Monate hinterher, die Kosten waren auf das Vierfache gestiegen, und wer würde am Ende die Zeche zahlen, wenn nicht der kleine Mann? Auf Symi waren drei junge Männer umgekommen, als sie auf einer Hochzeitsfeier mit Dynamit hantierten, das sie aus einer Straßenbauarbeiterhütte gestohlen hatten; die Explosion hatte nichts übrig gelassen, die Leichen waren verdampft. In Lavrio war ein pensionierter General von seiner Jacht gekidnappt worden; das Boot hatte man auf dem Meer treibend gefunden, wie ein aus Seemannsgarn gesponnenes Geisterschiff. Anarchisten hatten Brandbomben auf das Gebäude eines Fährunternehmens in Piräus geworfen, und der Verband der Kioskverkäufer drohte wegen der Lizenzvergabe an albanische Händler mit Streik; Konzessionen hatten bisher nur invalide Kriegsveteranen erhalten, und ihr populäres Anliegen trübte die allgemeine Stimmung mehr als alles andere. Die Stadt war weder gastlich noch ungastlich, sie nahm schlicht keine Notiz von ihm und strahlte eine schimmernde, eilige Kühle aus, die ihn an die schlimmsten Seiten Englands erinnerte. Er saß allein unter dem sparrenlosen Dachvorsprung des Parthenon, der Regen tropfte auf die Stufen, und er dachte daran, was er zurückgelassen hatte.

Er brauchte Arbeit. Er musste unter Menschen sein, musste mit ihnen arbeiten, aber es gab keine Arbeit. Sein Geld ging bereits zur Neige, doch er brauchte nicht so sehr den Lebensunterhalt als vielmehr das Leben selbst. Schon immer war dieser Drang in ihm gewesen. Mit anderen zusammen zu sein, dazuzugehören. Er war kein Mensch, der für sich allein glücklich sein konnte.

Die Pensionswirtin hob ihm die Stellenanzeigen aus der Zeitung auf. Er fand zwei Angebote, die vielleicht in Frage gekommen wären, wenn auch beide unter seinem Niveau, eine in Piräus, die andere weit außerhalb im industriellen Ballungsraum von Megara. Doch die Stellen waren schon besetzt, als er anrief, und andere waren nicht in Aussicht.

Die Tage waren substanzlos, sie veränderten sich rasch, stets drohte Regen, aber immer wieder brach die Sonne durch und ließ Alleen und Plätze in plötzlicher Klarheit wie verzaubert aufleuchten, so dass er in einer Straße mit geschlossenen Geschäften oder unter struppigen Orangenbäumen abrupt stehen blieb und sich fragte, wie diese Pracht an einem solchen Ort möglich war.

Er träumte von den Frauen in seinem Leben. Sie saßen mit ihm im Flugzeug. Irgendwie – er wusste nicht, wie oder warum – waren sie mitgekommen.

Emine saß am Fenster und blickte zu den Sternen hinaus. Ihre Augen waren nicht ihre, es waren auch gar keine Menschenaugen. Sie waren groß und grausam wie die eines Vogels. Vanessa schlief in Emines Armen. Anfangs wünschte er sich, es wäre Wirklichkeit, trotz dieses unmenschlichen Blicks und obwohl er in irgendeiner Windung seines Gehirns wusste, dass es nicht sein konnte. Dann überschwemmte ihn eine Welle der Klaustrophobie.

»Ihr seid nicht hier«, sagte er zu ihnen. »Ihr solltet nicht bei mir sein. Fahrt nach Hause. Fahrt nach Hause!«

Doch Emine lächelte nur und schüttelte den Kopf, und Nessie wachte auf und fing an zu weinen. Ihre Lippen waren zugenäht. Die losen Fadenenden waren blutverkrustet.

Am Montag, als er in seinem antiquierten Griechisch Röstkastanien zu kaufen versuchte, kamen ihm zwei Studentinnen aus Korinth zur Hilfe. Bei Kaffee und Zigaretten fragten sie ihn über England aus, zeigten ihm Bilder von London, wie sie es kannten – eine Studentenkneipe, eine regentrübe Dönerreklame –, und als er sagte, dass er Arbeit suche, wollten sie ihm unbedingt helfen.

Mit dem glitzernden Handy eines der Mädchen riefen sie ihren Onkel an, den Inhaber eines Grillrestaurants im Vorort Metamorphosis. Er akzeptierte die Bedingungen unbesehen: Ja, er würde kellnern und Geschirr spülen (ob er spülen könne. Ja, er denke schon), gegen die Trinkgelder und noch etwas obendrauf, plus Unterkunft und Verpflegung. Ob er ein Steak braten könne. Sehr gut. Ben heiße er, nicht wahr? Ein guter biblischer Name. Die Gäste seien ein bisschen ungehobelt diesen Winter, Bauarbeiter aus dem Norden, er solle keine Goldgrube erwarten. Aber sein Griechisch würden sie lustig finden, meinte der Onkel, und als alles geklärt war, wollte er noch einmal seine hübschen Nichten sprechen.

Die Pensionswirtin war enttäuscht von ihm.

»So schwere Arbeit für so zarte Hände.« Sie beugte sich weit über den Empfangstresen und hob die nachgezogenen Brauen, und er sagte, es sei gute Arbeit, nichts, wofür man sich schämen müsse.

Als Abschiedsgeschenk zeichnete sie ihm eine Wegskizze auf die Rückseite eines Wahlflyers. Ein X markierte das Grillrestaurant wie einen vergrabenen Schatz. Er ging zum Syntagma-Platz und bestieg den Bus nach Metamorphosis.

Er war schon dreimal in Athen gewesen, zweimal um einen Vortrag zu halten und einmal zu Ausgrabungen, aber noch nie hatte er sich in die Vororte hinausgewagt. Sie schienen komplett aus Nachkriegsbeton und Glas erbaut zu sein, als sei die Stadt eine reine Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts. Bald schon drohte sich der Motor des Busses zu überhitzen, und der Fahrer stieg aus, um mit dem Schuh die heiße Kühlerhaube aufzuhämmern, während die Fahrgäste murmelnd auf ihren Sitzen hin und her rutschten. Die Fenster waren mit Staub- und Sandpartikeln zugesetzt, und als sie weiterfuhren, baute sich Wärme auf, angenehm zunächst, dann immer unangenehmer und schließlich geradezu beängstigend; die Metallrahmen der Sitze wurden so heiß, dass man sie nicht mehr anfassen konnte. Niemand stieg aus, bis sie am Ziel angekommen waren. In Metamorphosis, so schien es, war selbst ein Bus, der fast schon in Flammen stand, besser als gar kein Bus.

Als er einen Straßennamen von seinem Plan sah, stieg er aus. Es gab kaum Wegweiser, und er orientierte sich am Licht. Die höhlenartigen Läden rechts und links – alles Tierhandlungen und Traktorgeschäfte – waren groß genug, um die orangen und grünen Traktoren zu beherbergen, so groß, dass sie das Zwitschern der Kanarienvögel und Nymphensittiche zurückwarfen und vervielfachten, als tobten ganze Vogelschwärme durch die Tiefen der Gebäude.

Er durchquerte einen im Regen menschenleeren Park, nur auf einer Bank neben einem Uhrturm saß eine einzelne Frau, eine Schwarze mit Rastazöpfen, den Kopf in den Händen vergraben. Er erreichte das Restaurant mit einer Stunde Verspätung, und der Besitzer, Herr Adamidis, bedachte ihn mit einem finsteren Blick und schob ihn rasch außer Sicht, ehe die Gäste ihn in Augenschein nehmen konnten.

In dem Zimmer im ersten Stock roch es nach Männern und Kakerlaken. An der Wand neben der Tür gab es ein Waschbecken, einen Spiegel und den Kalender der griechischen Landwirtschaftsbank. In der Ecke stand eine ausrangierte Fritteuse. Auf dem Boden lagen in größtmöglichem Abstand voneinander vier Matratzen, die Laken in unterschiedlichen Stadien der Zerwühltheit, neben einer ein Koffer, neben einer anderen eine Sporttasche. Auf der Matratze am Fenster lag rauchend ein langgesichtiger Mann. Er sah Ben an, als er hereinkam, und wandte sich dann desinteressiert wieder ab.

»Du kannst schlafen, wo du willst«, sagte Herr Adamidis mit starkem Akzent und zeigte auf den Mann und die Matratzen. »Wertsachen kannst du mir geben. Wenn du dich frisch gemacht hast, komm runter.« Er musterte Ben von Kopf bis Fuß. »Hast du Wertsachen? Gut. Möchtest du was trinken? Wasser?«

»Nein, danke.«

»Okay, schon gut. War nur ein Angebot. Wir sehn uns in einer halben Stunde unten, okay?«

Die Hand schon auf der Türklinke, musterte er Ben noch einmal flüchtig. Er sah aus, als bedauerte er schon, auf seine Nichten gehört zu haben. Fleischgeruch und Gelächter wehten herein, bevor er die Tür hinter sich schloss.

Nur eine der Matratzen war nicht von irgendwelchen persönlichen Habseligkeiten umgeben. Er nahm seinen Rucksack ab und legte ihn hin. Die Bettwäsche schien sauber, aber alles war von einem Geruch nach Schweiß und Insektizid durchtränkt.

Was mache ich hier eigentlich?

Er hatte England mit kaum einem anderen Wunsch verlassen, als einfach nur wegzugehen. Wohin, war ihm mehr oder weniger egal gewesen, Hauptsache, er brachte Raum und Zeit zwischen sich und das Leben, das er irreparabel beschädigt hatte. Er hatte sich für maximal drei Monate von seinen Verpflichtungen freimachen können, und Athen kannte er, Athen war für seine Kollegen und Freunde ein plausibles Reiseziel.

Und nun war er hier. Der Schweiß an seinem Rücken erkaltete. Er zitterte förmlich. Das triste Zimmer störte ihn nicht, aber nun war er zum Stillstand gekommen, und ihm war beklommen zumute. Es beunruhigte ihn, dass er aus seinem alten Leben herausgetreten und dann so schnell hier gelandet war. In einem Zimmer über einem Grillrestaurant, in den Außenbezirken einer fremden Stadt.

Als hätte er irgendwo den Weg verfehlt. Als wäre er an irgendeiner Ecke in die falsche Straße abgebogen, ohne es zu merken, und steuerte nun auf einen dunklen, unerwarteten Ort zu.

»Ist nicht so schlimm.«

Als er sich umdrehte, sah der Mann ihn an. Er hatte ihn auf Englisch angesprochen. Er nahm seine Zigarette in die linke Hand und streckte ihm die rechte entgegen.

»Kostandin.«

»Ben.«

»Engländer, ja?«

»Woher weißt du das?«

»Du siehst englisch aus.« Kostandin lächelte. Es war ein angenehmes Lächeln, schief und ironisch. »Vielleicht der Boss hat auch gesagt.«

»Wie ist der so?«

»Wie ein Boss. Setz dich, setz dich!«

Er winkte Ben heran, zog seine Beine aus dem Weg und schubste ihm seine Zigarettenpackung über das Laken zu. Seine Augen lagen tief in den dunklen Höhlen.

»Ist meistens in Urlaub. Wenn ist hier, traut niemand.« Er deutete mit dem Kinn auf Bens Rucksack. »Nicht mir, nicht dir, nicht seiner Frau. Nur seinem Sohn. Bei dem du musst aufpassen. Bei mir in Heimat man sagt, Gib einem Griechen die Hand, dann zähl deine Finger. Beim Boss du sie zählst, beim Jungen du schaust, ob sie bluten.«

Ben nickte verlegen und suchte nach einer passenden Antwort.

»Wie lange bist du schon hier?«

»Zu lange. Zwei Jahre. Bezahlung ist scheiße, Essen ist gut, Zimmer … du siehst. Viel Arbeit. Besser, wenn viel zu tun, dann die Zeit vergeht schneller. Aber der Boss ist okay. Zimmer ist gratis.«

Ben fror noch immer. Seine Sachen waren nass. Die Zigarette des Mannes wärmte ihn.

»Wo kommst du her?«

»Albanien.«

»Apollonia liegt in Albanien.«

Zu Bens Freude wurden die Züge des Mannes weicher, sie nahmen einen unverhofft zärtlichen Ausdruck an, und die Traurigkeit schwand aus ihnen.

»Unsere schöne Römerstadt. Du warst da?«

»Ich hab was drüber gelesen.«

»Warum?«

»Weil ich das mache. Archäologie.«

»Arkeologdschi«, wiederholte Kostandin und nickte. »Ruinen, klar. Wir haben viel Ruinen in Albanien.«

Als Ben seine Zigarette aufgeraucht hatte, erhob er sich, nahm ein Handtuch aus seinem Rucksack und ging zum Waschbecken. Ein grünes Stück Seife lag wie geronnen zwischen den Wasserhähnen. Das Wasser wurde nur langsam warm. Er zog sein Hemd aus, wusch sich Gesicht, Hände und Achselhöhlen und trocknete sich Haar, Kleider und Haut ab.

»Jetzt du machst das nicht. Die Archäologie.«

»Im Moment nicht.«

»Warum dann du kommst?«

»Ich musste irgendwohin.«

»Aber warum Griechenland?«

»Das ist mein Gebiet. Hier kenne ich mich am besten aus.«

»Klar, in Archäologie. Aber England ist altes Land. Buckingham Palace, Windsor Palace. Mach Archäologie in England. Ist besser.«

Er nahm die Seife aus dem Abfluss, legte sie wieder zwischen die Hähne und spülte sich die Hände ab. Der Landwirtschaftskalender zeigte Februar. Unter dem Bild stand auf Englisch und Griechisch Schlachthof Auster GmbH, Kalamata. Auf dem Foto schnitt eine unendlich gelangweilt wirkende junge Frau ein Schwein vom Rüssel bis zum After auf.

»Warum du bleibst nicht in England?«, beharrte der Mann, und Ben zuckte die Achseln, um nicht gleich antworten zu müssen, die Antwort vielleicht auf später zu verschieben. Seine Nackenhaare stellten sich auf. »Hier du machst Archäologie?«

»Nein. Ich sag doch, ich musste einfach irgendwohin.«

»Was du bist dann, Lehrer? Student?«

»Beides.«

»Du siehst aus wie ein Student. Aber Studenten haben eigenes Zimmer. Vielleicht du bist was anderes.«

Von unten drang lautes Töpfeklappern herauf, und die Stimmen wurden einen Moment lang lauter. Ben zog sein Hemd wieder an. »Vielleicht bin ich so was anderes wie du.«

»Nein.« Kostandin hatte seine Zigarette ebenfalls aufgeraucht. Sein magerer Körper lehnte an der Wand, die Arme ruhten auf den angezogenen Knien, und er sah Ben unverwandt an. »Nicht wie ich. Gar nicht. Du bist was ganz anderes.«

Archäologie. Vom griechischen archaiología – Erzählungen aus der alten Geschichte.

Er sah es anders. Erforschung von Geheimnissen, das bedeutete es für ihn. Die Art und Weise, wie man die Vergangenheit wieder zusammenfügen konnte, Stück für Stück, durch Einfallsreichtum und rationales Denken. Die Art und Weise, wie man Geschichte freilegen konnte.

Der Tote in der Grabgrube und die Kerbe in seinem Schädel, die Bedeutung seines Schmucks und die Art seiner Opferung, der Pollen im Gift in dem Weinschlauch zu seinen Füßen… All das konnte man entdecken. Konnte es wiederentdecken. Alles würde am Ende antworten, wenn man wusste, wie man es zu befragen hatte. War man geduldig und hörte zu, dann sprach die Erde selbst.

Er dachte an Nessies Stimme an dem Tag, als er sie verlassen hatte.

Der Morgennebel hatte sich langsam gelichtet. Der Himmel darüber war makellos grau gewesen, als läge Oxford unter einem nördlichen Meer. Vorsichtig wie ein Stalker hatte er auf dem Platz, an dem Foyt wohnte, gehalten und den Motor abgestellt. Zwischen den Kiefern hindurch sah man das Haus. Im Erdgeschoss brannte Licht. Foyts Auto stand noch in der Einfahrt.

Er wollte sie sehen, ein letztes Mal, aber als es so weit war, konnte er Foyt nicht noch einmal gegenübertreten. Wie ein Feigling blieb er im Auto sitzen und wählte auf seinem Handy die Nummer. Die Straßenlaternen, noch auf Winterzeit eingestellt, brannten noch und waren von einem Hof aus erleuchtetem Nebel umgeben. Er wartete und schaute durch die Bäume zum Haus hinüber.

Das Au-pair-Mädchen hob ab, eine unscheinbare Person, deren Namen er immer wieder vergaß. Foyt hatte sie über eine der zahlreichen Oxforder Sprachschulen engagiert.

»Hier ist Ben.«

»Ben?«

»Vanessas Vater. Kann ich sie sprechen?«

Eine Stimme im Hintergrund. Das Mädchen hielt die Sprechmuschel zu, doch er hatte seinen Namen und Foyts Stimme gehört. Sag ihm…

Dann sprach wieder das Au-pair-Mädchen. Foyt wollte offenbar nicht mit ihm reden, schickte sie vor.

»Sie können später anrufen? Jetzt sie frühstückt, und dann wir gehen in den Kindergarten…«

»Nur ganz kurz. Oder nein, ich bin hier gleich um die Ecke, ich kann vorbeikommen…«

»Jetzt? Nein, jetzt passt nicht.«

Sunniva, so hieß sie. Sie hatte schon immer einen mürrischen Eindruck auf ihn gemacht, wenn er Ness besuchte, und sie klang auch jetzt verdrossen, als hätte sie den Anruf einer Freundin erwartet und stattdessen einen Werbeanruf in der Leitung.

»Sie können im Kindergarten anrufen?«

»Wie? Nein. Hören Sie, Sunniva…«

»Sunniva.«

»Sag ich doch…«

»Sie fahren weg, ja? In Urlaub. Griechenland. Sagt Emine.«

»Das ist kein Urlaub.«

»Das wird schön für Sie.«

Er schloss die Augen. Dann wallte Zorn in ihm auf, sinnlos und hoffnungslos. Das passierte jetzt oft. Es war, als wären seine Zornreserven in den Monaten seit der Trennung angewachsen. Es war, als hätte er ein ganzes Meer davon in sich, kalt, wogend und unfreundlich. Das machte ihm Angst. Er wurde so schnell wütend, manchmal auf völlig Fremde wie den Albaner Kostandin, öfter aber auf die, die er liebte, am häufigsten auf Emine, so dass er sich selbst, sosehr er sich auch wünschte, sie zu sehen, im Umgang mit ihr nicht mehr trauen konnte. Er hatte schreckliche Träume. Brach ihren Schädel auf und stemmte die Teile auseinander, um herauszufinden, was darin für ihn noch übrig war.

Doch das waren nur Gedanken. Nie hätte er sie angerührt. Obwohl, einmal hatte er es schon getan, wie unter einem Zwang. Und dieses eine Mal war für sie beide mehr als genug gewesen.

»Hallo?«

Die Stimme des Mädchens hatte sich verändert. Sie klang jetzt streng und förmlich, als spräche sie mit einem störrischen Kind.

»Ich möchte mit meiner Tochter sprechen.«

»Wir kommen zu spät in Kindergarten, und sie ist noch nicht angezogen.«

»Ich brauche sie nicht angezogen, ich brauche nur…«

»Wenn Sie wollen, Sie können mit dem Professor sprechen.«

»Um Himmels willen…«

Von irgendwo weiter weg drang verzerrt eine andere Stimme an sein Ohr, hoch und schrill. Ein Seufzen war zu hören, dann das Aufschlagen des Telefons, ein sich nähernder lautstarker Wortwechsel und schließlich heftiges Atmen.

» Daddy.«

»Zwerglein.«

»Ich heiß nicht Zwerglein.«

»Nein? Dann hab ich mich wohl verwählt. Wer spricht denn da?«

»Ich, aber ich heiß nicht Zwerglein.«

Ein Schatten am Küchenfenster. Die Jalousie wurde dunkel, seine Feinde tauchten auf und verschwanden wieder.

»Wie denn dann?«

»Das weißt du doch, du hast doch meinen Namen ausgesucht. «

»Heißt du Nessie?«

»Ja.«

»Hallo, Nessie.«

Bis er ihren Namen ausgesprochen hatte, war bereits all sein Zorn verflogen.

»Daddy, wie alt bist du?«

»Wie alt? Ach, uralt. Warum?«

»Marks Dad ist fünfzig.«

»Welcher Mark?«

»Wir waren doch auf seiner Geburtstagsparty, du Dummi!«

»Ach ja. Ich hab ein Gedächtnis wie ein Sieb. Hast du gut geschlafen? «

»Mhm. Wir frühstücken gerade. Ich und Sinny. So nenne ich Sunniva jetzt, Sinny, das ist ein Spitzname, wie Zwerglein, aber besser.«

»Du klingst gar nicht so, als würdest du was essen.«

»Jetzt gerade nicht. Danach und davor. Warum lachst du?«

»Nur so. Mami sagt, du willst mit mir sprechen? Du willst mich was fragen?«

»… Ja, aber ich hab’s vergessen.«

»Ah ja. Also, ich fand’s schön gestern. Du auch?«

Keine Antwort. Er hörte sie noch atmen, aber irgendetwas lenkte sie ab. Er verlor sie bereits.

»Hallo? Hallo, Nessie. Ich will mit dir reden. Hallo? Ich will mit dir reden, Nessie.« Er versuchte, ruhig zu bleiben, und plötzlich war sie wieder da, lauter und viel näher als vorher, wie ein Funkspruch, der durch eine Interferenz dringt.

»Daddy, gehst du weg?«

Er hatte es ihr immer wieder gesagt, seit er sich sicher war, dass es sein musste, aber sie schien es nicht zu verstehen. Jetzt bedauerte er fast, dass sie es doch noch begriffen hatte. Er fragte sich, wer es ihr erklärt haben mochte oder ob das Wissen darum die ganze Zeit da gewesen war und nur geschlummert und darauf gewartet hatte, akzeptiert zu werden.

»Gehst du weg?«

»Ja. Ja. Wir haben uns doch gestern verabschiedet. Schon vergessen? «

»Wir verabschieden uns doch immer.«

»Aber gestern war’s anders.«

»Das hab ich nicht gemerkt.«

»Es ist nur für eine Weile. Ist das okay?«

»Du sollst nicht weggehen.«

»Ich muss.«

»Warum?«

»Wegen der Arbeit.«

Eine glatte Lüge. War es eine Notlüge? Es war so leicht gewesen, sein Kind anzulügen.

»Wo fährst du hin?«

»In eine Stadt, die Athen heißt.«

»Athen ist ein blöder Name.«

»Es ist ja nur für kurze Zeit, Schatz.«

»Wann kommst du wieder?«

»Im Sommer.«

»Wann ist Sommer?«

»Das weißt du doch. Nach dem Frühling.«

»Ist jetzt Frühling?«

»Fast«, sagte er. »Fast Frühling.«

Kein Laut. Ein Auto fuhr durch das Grau vorbei, dann war es wieder still auf dem Platz.

»Nessie?«

»Okay. Du kannst fahren.«

»Ich bin schneller wieder da, als du denkst.«

»Nein, bist du nicht. Ich geh jetzt.«

»Moment noch …«

»Ich muss los. Wir haben’s eilig.«

»Nessie?«

Aber sein Kind war schon weg, und nur das Mädchen, das er bald wieder vergessen würde, kam noch einmal ans Telefon und sagte Auf Wiedersehen.

Sie waren zu neunt in dem Grillrestaurant. Die Rangniedrigsten waren Modest und Florent, zwei albanische Brüder, die in diesem Winter über die Grenze gekommen waren. Dann folgten aufgrund ihrer kulinarischen Fähigkeiten und ihres Alters Kostandin und Ben. Am Wochenende kellnerten manchmal Herrn Adamidis’ Nichten, um ihr Taschengeld aufzubessern. Adamidis und seine Frau behielten alle im Auge; gemeinsam führten sie das Restaurant seit achtunddreißig Jahren. Die Krone vom Ganzen aber war ihr Sohn Nikos, der Chef der Grillrestaurantkette.

Kostandin hatte sich Adamidis’ Vertrauen erworben, mehr, als er zugeben wollte. Die Besitzer waren oft unterwegs, geschäftlich oder zum Vergnügen, und dann wurde die Leitung des Betriebs Kostandin übertragen. Er kochte nicht nur, er eilte auch nach vorn, um Gäste zu begrüßen, mit ihnen zu plaudern und dem einen oder anderen ein Glas Drei-Sterne-Weinbrand zu spendieren, wenn zu erwarten war, dass diese Geste später Früchte tragen würde. Die Küchenarbeit und der Großteil der Bedienung blieben, ob Adamidis da war oder nicht, Ben und den albanischen Brüdern überlassen.

Es herrschte immer viel Betrieb. Das Restaurant füllte sich mittags mit Bauarbeitern und noch einmal spät abends mit Paaren, die nach einem Ecktisch Ausschau hielten, mit trübsinnigen Handlungsreisenden, die zu ihrer einsamen Mahlzeit Zigaretten rauchten, Studenten der nahe gelegenen Hochschule und gelegentlich einer Familie mit Kindern, die Adamidis mit Sirupfrüchten und Pepsi verwöhnte. Ausländer kamen selten nach Metamorphosis, aber das Grillrestaurant brauchte sie auch nicht.

Es war Knochenarbeit. Ben hatte den Job nur auf Zeit angenommen, als Notlösung, aber so fühlte er sich nicht an. Schon am Ende des ersten Abends hatte er Schrammen und Brandwunden an Händen und Unterarmen. Die Verbrennungen kribbelten und schmerzten, als hätte sich etwas Lebendiges unter den Blasen eingenistet, und sie heilten nur langsam und unvollständig. Sie hatten eine Hartnäckigkeit an sich, die ihn beunruhigte.

Dann war da noch der Geruch. Kaum hatte er den Fuß in das Restaurant gesetzt, waren dessen Gerüche in seine Kleider und in ihn selbst hineingekrochen – Salmiakgeist, gebratenes Fleisch, rohes Fleisch –, und selbst an seinen freien Vormittagen, wenn er las oder im Park spazieren ging, haftete etwas wie Hunger an der Peripherie seines Bewusstseins.

Er war nicht immer unglücklich. Es war schwere Arbeit für zarte Hände, aber er wusste, er würde sie überstehen. Er verstand genug von Scham, um sich ihrer nicht zu schämen. Wenn er den unersättlichen Appetit der Gäste sah und das Essen, das als Abfall in die Küche zurückging, widerte ihn das Restaurant an, und auch wenn er sich nicht dort aufhielt, hasste er die Stumpfsinnigkeit der Arbeit. Manchmal aber war es anders. Die Schichten waren mörderisch, doch sie hatten einen Rhythmus, in dem er sich gefangen sah, wenn er am wenigsten daran dachte, es gab regelmäßige Abläufe, die seine ganze Aufmerksamkeit erforderten, er brauchte das Gespür eines Tänzers für alle, die um ihn herum waren, er musste Rudelverhalten an den Tag legen; er wendete Fleisch, erteilte Anweisungen, nahm Anweisungen entgegen, und wenn er aufsah, stellte er überrascht fest, dass Stunden vergangen waren und die Sonne draußen schon in der Abenddämmerung versunken war.

Mit anderen zusammen sein. Dazugehören.

Am deutlichsten war das, wenn im Restaurant die größte Hektik herrschte, wenn die Hitze und die zermürbende Nervosität in der Küche kaum noch auszuhalten waren. Dann trat er aus diesem Backofen in die Kühle und die gedämpfte Geräuschkulisse des Gastraums, ohne jedoch in der kurzen Zeit Linderung zu erfahren. Kostandin hatte recht gehabt: Die Arbeit fraß die Zeit auf. Sie verschlang nicht nur Stunden, sie verschlang ganze Tage – wenn man es zuließ, vielleicht sogar Jahre –, und eines Morgens, als er in der Neun-Uhr-Stille erwachte, blieb er reglos liegen, zählte die Tage und stellte fest, dass er bereits seit zwei Wochen in Athen war. Sein Geburtstag war vor zwei Tagen sang- und klanglos verstrichen. Er war fünfundzwanzig geworden, ohne es zu merken.

Wieder träumte er von seiner Frau und seinem Kind. Sie sahen genauso aus wie beim ersten Mal, erstarrt, als warteten sie in einem angehaltenen Film auf ihn. Im Fenster hinter ihnen blinkten die Sterne. Gemeinsam flogen sie durchs Dunkel ins Dunkel.

Wie falsch es gewesen war, sie zu verlassen. Seine Träume offenbarten es als den Fehler, der es war. Er hätte nie aus Oxford weggehen dürfen. Er hatte zu schnell aufgegeben, so viel er und Emine auch falsch gemacht hatten, so viel Unrecht er ihnen auch angetan hatte.

Nessies Gesicht war tränennass. Der Faden in ihren Lippen löste sich. Ihr Mund bewegte sich, suchte sich von seinen Fesseln zu befreien.

Er sah sie an und schüttelte seinen Traumkopf. Seine Tochter wollte ihm etwas sagen. Sie lag da wie immer, wenn sie schlief, eine Hand in ihrem Haar vergraben. Der Arm ihrer Mutter hielt sie von ihm fern. Er beugte sich zu ihr hinab, um ihre Worte zu verstehen. Die groben Fäden streiften sein Ohr. Ihre Hand kroch wie schutzsuchend in seine.

Du hast nichts falsch gemacht, Ben. Du hast uns nicht verlassen. Irgendwann wirst du’s tun, sagte sie, aber es war nicht ihre Stimme. Aber nicht jetzt.

Er begann die Zeit in Arbeitsschichten zu messen. Seine Welt verengte sich auf die des Kochens und Kellnerns. Auf den erhöhten Teil und die tückische Stufe. Das Aufflammen von Fett. Das Brutzeln und Spritzen von Fleisch. Die ölvergoldeten Stahltöpfe. Den Fisch so grün wie Seladon, so matt glänzend wie Blei, so rosa wie aufgeschürfte Haut. Das seltene Lachen der Albaner. Das Vier-Liter-Gurkenglas, das im Küchenhof zerbrach, die Essiggurken, die in der Sonne schrumpften, so dass sie aussahen wie tote Eidechsen. Die ordentlichen Schalottenbündel. Weiße Fliesen mit Hühnerblut in den Fugen. Die Ausgüsse voller Innereien. Die grölenden Betrunkenen auf der Straße draußen, denen die ganze dunkle Nacht offenstand.

Als Ben in dem Grillrestaurant anfing, war Nikos gerade mit Freunden zum Skilaufen in den Bergen gewesen. Er lernte ihn erst später kennen. Sein Vater war ein beleibter Mann, auf den alten Fotos über dem Tresen noch auf träge Weise kampflustig, jetzt aber milder und nach Jahrzehnten im Geschäft fett geworden. Nikos war anders. Er war intelligent und hatte als Erster in der Familie eine Spitzenuniversität besucht. Seine Augen waren ständig in Bewegung, nie verweilten sie länger auf einem Punkt. Er war gertenschlank. Er trank nicht. Er liebte Haschisch, wie Ben feststellte, und Sex, sofern man seinen Worten glauben konnte. Manchmal kam er mit einem Mädchen im Schlepptau ins Restaurant, doch er behandelte sie unfreundlich und mit einer Kälte, die Ben abstieß; seine Cousinen Demi und Chara beachtete er kaum. Er trainierte im Fitnessstudio eines internationalen Hotels nahe dem Syntagma-Platz, wo er Ausländerinnen kennenlernen konnte. Muskeln waren an ihm nicht einmal ansatzweise zu erkennen. Kostandin meinte jedoch, er sei kräftiger, als er aussehe, und es klang so, als wüsste er, wovon er redete.

Einmal zeigte der Albaner Ben, wie man Tintenfische ausnimmt – man zieht den Schulp aus dem weichen Körper wie eine Glasfeder aus einem Tintenfass –, und erzählte ihm dabei von Nikos. Mit siebzehn war der Junge mit Freunden zu einem Fußballspiel gegangen und anschließend in eine Schlägerei mit drei Engländern verwickelt worden. Er selbst war unverletzt geblieben, aber ein Freund hatte eine Schnittwunde an der Hand davongetragen, die genäht werden musste.

Irgendwie fand Nikos heraus, wo die Männer wohnten. Am Abend ging er allein zu ihrem Hotel. Die Männer saßen im Restaurant, natürlich (so Kostandin) sturzbetrunken. Nikos trat an ihren Tisch und gratulierte ihnen zum Sieg ihrer Mannschaft. Er nahm ein Paar Motorradhandschuhe aus der Tasche, die er dabeihatte, und streifte sie, noch immer lächelnd, über: Dann griff er erneut in die Tasche und zog eine Motorradkette daraus hervor. Damit schlug er auf den Mann ein, der ihm am nächsten saß. Bei dem Versuch, sich zu schützen, wurde dem Mann die Hand halb abgetrennt. Er wäre fast verblutet.

Mehrere Leute waren nötig, um Nikos von ihm wegzuzerren. Der Engländer strengte eine Zivilklage gegen ihn an, doch die Familie Adamidis regelte die Sache außergerichtlich. Nikos kam eine Woche vor seinem achtzehnten Geburtstag aus dem Gefängnis frei, ein mustergültiger Ersttäter, wegen guter Führung vorzeitig entlassen.

Im Sommer durchstreifte er nach eigener Darstellung die Stadt, um Touristinnen aufzureißen, die angeblich immer scharf darauf waren, rittlings auf seiner Honda und dann auf ihm selbst zu sitzen. Im Winter aber war die Ausbeute mager. Meist kehrte er noch vor Mitternacht bleich und missgelaunt nach Metamorphosis zurück, aß eine Kleinigkeit, starrte die ausländischen Arbeitskräfte seines Vaters an und unterhielt sich manchmal mit ihnen.

»Du bist also Engländer?«

»Ja.«

»Ich mag Engländer.«

»So?«

»Ja. Weißt du, was deine Großväter für meine Großmütter getan haben?«

Samstagabend, zehn vor neun. Kurz vor dem abendlichen Ansturm. Nikos lungerte an der Tür zum Hof herum. Er rauchte – Hasch, immer Hasch, nie Tabak – und hielt den Joint in die klare Abendluft. Auf dem Gelände des Restaurants tat er das nur, wenn seine Eltern nicht da waren. Hin und wieder unterstrich er seine Worte, indem er mit dem Joint in die Küche zeigte, auf das Personal oder auch auf die immaterielle Kraft seiner eigenen Worte, und das durchdringende Aroma blieb in der Luft hängen und vermischte sich mit den Küchengerüchen.

»Das weißt du nicht? Ihr Engländer seid schon komisch. Vergesst ständig eure eigene Vergangenheit. Ihr habt uns doch von den Nazis befreit! Ihr und die Amerikaner. Ist das nicht toll? Da denkst du doch sicher, ich bin euch dankbar.«

»Ja, klar.«

Besser, man spricht nicht zu viel mit Leuten wie Nikos. Besser, man hört nicht so genau hin und redet selbst weniger.

»Aber ich sag dir, ich bin nicht dankbar. Meine Großmutter ist dankbar – da hast du deine Dankbarkeit. Aber meine Großmutter ist Bäuerin. Ich selber, ich hab mich mit unserer Geschichte befasst. Ich weiß, was die Engländer erstens für mein Land getan und zweitens meinem Land angetan haben. Erst habt ihr uns geholfen, dann wolltet ihr uns kontrollieren. Ich will ja nicht unhöflich sein, aber wir sind hier unter Männern, da kann ich Klartext reden. Ihr habt uns gesagt, wir sollen uns vorbeugen und es nehmen wie Transen. Ihr seid zu kapitalistischen Einmischern geworden und dann zu arschkriechenden Kriegsverbrechern, nicht besser als die Amerikaner. Ja, klar, ihr habt unsere Dankbarkeit verdient, aber dann habt ihr sie verschleudert, als gäb’s davon unbegrenzte Mengen. Wie heißt es in dem Song von den Guns N’ Roses? Nothing lasts forever. Stimmt doch, oder? Ihr tut immer noch so, als wären wir Freunde, aber ihr habt nur die guten Zeiten im Kopf. Ihr vergesst, dass ihr uns die Obristen beschert habt. Ihr habt uns diese Monster beschert, aber das blendet ihr einfach aus. Weißt du überhaupt, wovon ich rede? Ihr kommt immer noch zu uns, aber wie uralte, geistig weggetretene Gäste, die vergessen haben, wie ihre Gastgeber heißen. Und ihr kommt in Scharen! Ihr schnüffelt in unserem Land herum wie Hunde, die anderen Hunden nachlaufen. Was ist los mit euch? Ist es in England so scheußlich, dass ihr hierher flüchten müsst? Gut, ich versteh das, mein Land ist schön, keine Frage. Alle Ausländer lieben Griechenland. Alle wollen ein Stück davon haben. Die kaufen sich ein Häuschen auf einer Insel, mit einem Swimmingpool, den sie nie benutzen. Aber ihr Engländer… Du erwartest hier hoffentlich keine Vorzugsbehandlung. Unsere Großmütter haben sich schon bei euren Großvätern bedankt. Von mir kriegst du keine Siegesparade.«

An anderen Abenden schnappte er sich die Albaner. Mit Florent redete er lange Zeit kein Wort, aber er unterhielt sich mit Kostandin und Modest. Manchmal plauderte er freundlich mit ihnen, etwa über die Sportergebnisse des Vorabends, doch er konnte auch unvermittelt aggressiv werden. Kostandin zeigte wenig Interesse für ihn. Nikos’ Favorit war Modest, Modest mit dem Blick eines geprügelten Hundes. Vor allem ihm gegenüber konnte sein Ton gefährlich scharf werden.

Tsiknopempti, der rauchige Donnerstag, war der Fleischtag im Karneval, eine letzte Ausschweifung vor der siebenwöchigen Fastenzeit. Das Restaurant machte zeitig auf und blieb bis in die frühen Morgenstunden des folgenden Tages geöffnet. Frau Adamidis arbeitete mit den Nichten vorn, ihr Mann, in einem T-Shirt mit der Aufschrift ZUR VOLLKOMMENHEIT GEREIFT, warf sich wieder auf die gewohnten Küchenabläufe und trieb die anderen mit der Aussicht auf Zulagen an, und dann, als ihm niemand mehr seine Versprechungen abnahm, mit kaltem Bier, Kognak und Zigaretten. Am nächsten Morgen schlief Ben bis elf, und die Albaner ließen ihn in Ruhe. Schließlich kamen Chara und Demi herauf, blieben in der Tür des Männerzimmers stehen und lockten ihn nach unten.

Sie aßen zusammen, zu viert, in der Flaute nach dem Mittagsbetrieb, die Küche geputzt und bereit für den Abend. Es gab Reis, eine Schüssel Gemüse und mehr Hammelkoteletts, als sie vertilgen konnten. Nikos war schon früher gekommen und hatte sich einen Stuhl und eine Zeitung mitgebracht, um im Warmen zu lesen. Die Kochherde hielten ihre Hitze den ganzen Tag über. Sie unterhielten sich, und alle fünf fühlten sich einigermaßen wohl. Nach dem Essen räumten sie den Tisch ab und machten Kaffee. Es war ruhig im Restaurant, und nachmittags gab es nie so viel zu tun, dass die Zeit schneller vergangen wäre.

»Na, Engländer, wie geht’s heute?«

Nikos, noch in seiner ledernen Motorradkluft, streckte die Beine zum Herd hin. »Nicht viel zu tun, wie ich sehe. Im Gegensatz zu mir, ich war die ganze Nacht zugange. Das glaubst du nicht? Zwei deutsche Mädels. Wollten beide mit mir ins Bett, und ich hab mein Bestes gegeben.«

»Woher wusstest du das?«

»Woher? Sie haben’s mir gesagt.«

»Haben sie Griechisch gesprochen?«

»Deutsch. Das Deutsche kommt vom Griechischen, das ist kein Problem für mich. Ich weiß, was die gemeint haben. Manches versteht man auch ohne Worte. Machst du dich lustig über mich?«

»Nein.«

»Gut. Sag mal, bist du verheiratet?«

Das Gespräch dauerte schon zu lange. Ben trug seinen Ehering nicht. Als Antwort hob er die unberingte Hand. Nikos brummte anerkennend.

»Dann bist du Junggeselle, wie ich. Ein freier Mann auf der Suche nach dem Abenteuer. Brichst du auf gen Ithaka, wünsch dir eine lange Fahrt voller Abenteuer und Erkenntnisse. Kennst du das? Griechische Dichtung.«

»Ich hab nicht viel für Dichtung übrig.«

»Du hast nichts für unsere griechische Dichtung übrig? Warum bist du dann hier, frag ich mich. Nein, ich kann’s mir denken. Die Mädchen bei euch in England, die sind wie die deutschen. Auf die Entfernung sind die blonden Haare so schön, aber wenn man in die Nähe kommt – o Gott! Dann merkt man, wie ungepflegt die sind. Deswegen kommt ihr in das einzige Land, in dem ihr wahre Schönheit findet. Und wie ist es mit dir, Albaner? «

Beide sahen auf, Modest an der Spüle und Florent, der rauchend an der Tür zum Hof lehnte. Nur Kostandin arbeitete weiter; mit gesenktem Kopf beinte er ein Kaninchen aus. Er war fast fertig, nur noch kleine Klumpen lösten sich von den Knochen.

»Ja, dich mein ich. Wie heißt du noch mal?«

»Modest.« Modest war der Jüngste. Neunzehn, hatte er zu Ben gesagt, als sie sich kennenlernten, aber er wirkte viel jünger.

»Wetten, du bist verheiratet. Du siehst so aus. Mit einer Albanerin?«

»Ja.« Modest drehte sich wieder dem Spülbecken zu und schwenkte Geschirr in dem grauen Wasser. Ben sah von seinem Platz aus, dass er lächelte.

Es wurde still in der Küche, und es blieb still. Draußen dämmerte es bereits. Sobald Nikos aufhörte zu reden, merkte man, was für ein schöner, friedlicher Abend es war. Eine Amsel fing an zu flöten. Wenn er nicht zu genau hinhörte – wenn Ben die Augen halb schloss –, konnte er beinahe verstehen, was sie sang, erwartungsvolle Silben, die sich zu Worten fügten.

Spät dran spät dran spät dran

Mach schnell! Mach schnell! Mach schnell!

»Sie heißt Flutura«, sagte Modest in das Gezwitscher hinein. Ben wurde es mulmig.

»Wie?«

»Flutura.«

Nikos lachte. »O Gott, was ist denn das für ein Name?«

»Er bedeutet ›Schmetterling‹«, sagte Kostandin, ohne von seiner Arbeit aufzuschauen, und Modests Lächeln breitete sich über sein ganzes Gesicht aus. Florent lachte.

»Weil sie tanzt wie Schmetterling«, sagte er, und sein Bruder fing an zu kichern. Florent war größer und älter als Modest. Seine Gestalt hielt das Licht der Straßenlaterne ab.

»Na, das freut mich für dich. Dann bist du ja ein glücklicher Mann.«

»Glücklich.« Modest nickte und zuckte die Achseln. »Ich vermisse meine Frau.«

»Aber du hast Glück, dass du eine Albanerin gefunden hast. Und sie hat auch Glück, ja?«

»Ja?«

»Weißt du, warum?«

»Nein?«

Selbst noch im letzten Tageslicht sah Ben, wie die Röte über Modests Gesicht kroch. Als wäre der Schlag schon erfolgt. Kostandins Gesicht im diffusen Schatten des Dunstabzugs ließ nichts erkennen.

»Weil keine Frau außer einer Albanerin dich zwischen ihren Beinen nuckeln lassen würde. Und kein Mann außer einem Albaner ihr den Gefallen tun würde. Oder was meint ihr?«

Niemand antwortete. Gleich darauf wechselte Nikos das Thema und redete über Basketball, über die Lotterie, über Belanglosigkeiten. Florent regte sich in der Tür. Kostandin und Modest schauten zu ihm hinüber. Erst als er die Zigarette in den Hof warf, die Stufen hinunterging und sie mit dem Rücken zu den Männern in der Küche austrat, wandten die anderen Albaner den Blick ab.

»Ärger«, sagte Kostandin. Sie waren allein, die Arbeit des Abends war getan, der Grill zum tausendsten Mal gesäubert und bereit für den nächsten Tag. Sie saßen im Park und tranken kaltes Bier aus dem Kühlregal. Sie hatten sich das zur Gewohnheit gemacht – der leere Park ein Mittel gegen die Schlaflosigkeit, der kleine Bierdiebstahl ein Ausgleich an Freiheit. Die Brüder schliefen immer schon im Stehen ein, bis die Küche geputzt war, Ben aber konnte nicht so leicht einschlafen, auch nicht, wenn er hundemüde war. Das Adrenalin in ihm ebbte nur langsam ab. Kostandin ging es genauso. Oft waren sie zu erschöpft, um noch zu reden, und dann saßen sie nebeneinander auf der Bank neben dem Uhrenturm und tranken nur. Manchmal brachte Ben dem älteren Mann Englisch bei, dann wieder verbesserte Kostandin Bens Griechisch.

»Was hast du gesagt?«

»Es wird Ärger geben, hab ich gesagt.«

»Wegen Nikos?«

»Wegen Florent! Nicht dass es irgendjemand hier leicht hätte«, sagte Kostandin. »Aber er hat’s schwer.«

»Weil er hier ist?«

»Weil er hier ist. Und sich dummes Zeug anhören muss.«

Er saß mit vornüberhängendem Kopf da und ließ sein Mythos-Bier zwischen den Händen baumeln. Seine Stimme klang so müde, dass Ben überzeugt war, sie würden beide einschlafen, der eine vom Reden, der andere vom Zuhören.

»Ein mutiger Mann würde die andere Wange hinhalten«, sagte Kostandin.

»Ist er das nicht?« Er versuchte sich Florent vorzustellen, aber er sah nur dessen Silhouette in der Küchentür vor sich. »Ich hab schon den Eindruck.«

»Nein, er ist nicht mutig, dafür ist er zu jung. Er ist genauso schlimm wie der verrückte junge Grieche.«

»Wie meinst du das?«

»Zu Hause ist er in Schwierigkeiten geraten. Das hat mir Modest erzählt. Irgendwas in ihrem Dorf. Frag mich nicht, was, ich weiß es nicht. Es gibt Dinge, die sind unverzeihlich, egal was die Pfarrer sagen. Jedenfalls ist es so schlimm, dass er das Dorf verlassen muss. Er ist das Familienoberhaupt, deshalb kommt die Familie mit. Die Alten sind tot, nur er, zwei jüngere Schwestern und Modest und Flutura sind noch übrig, da ist es nicht so schwer wegzugehen. Florent findet eine neue Bleibe weit weg von daheim, in der Nähe der griechischen Grenze. Eine neue Stadt wird dort gebaut, und es gibt jede Menge Arbeit. Dann ist die Stadt fertig, und plötzlich gibt’s keine Arbeit mehr. Da sind die zwei hierher gekommen.«

Ben legte den Kopf zurück, nahm einen Schluck aus der Flasche und versuchte zuzuhören. Das Bier war süß und kühl wie Regen, und seine Gedanken bewegten sich betäubend langsam.

»Und was finden sie hier vor? Eine Scheißarbeit, eine Scheißbezahlung und einen herzlosen Kerl, der Blut sehen will.«

»Das ist doch nur Gerede. Der macht sich einen Spaß, der tut nichts.«

»Von wegen Gerede! Wenn du das glaubst, dann red nicht von Gerede. Du hast doch keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Ich weiß genau, wovon ich spreche. Ich muss mir ja genug von Nikos anhören.«

Kostandin lachte und seufzte im Dunkeln neben ihm. »Nein, du weißt es nicht. Ich meine nicht Nikos. Die Jungs sind neu in Athen. Wo die herkommen, da würde kein Mensch einem Mann so etwas über seine Frau ins Gesicht sagen. Die sind in einem Bergdorf aufgewachsen. Das sind Gegen. Die Gegen sind ein sehr stolzes Volk. Dort oben passen sie auf, was sie über ihre Nachbarn sagen. Mit Fremden sprechen sie überhaupt nicht. Sie wissen, dass Reden gefährlich ist. Florent ist ein altmodischer junger Mann. Er liebt seine Familie. Und er sorgt für sie, wenn auch vielleicht nicht sehr gut. Vielleicht will er’s jetzt besser machen. Er ist der älteste Sohn. Hast du jüngere Geschwister?«

»Ich bin der Jüngste.«

»Wie schön, den Jüngsten lieben alle. In Albanien ist es eine große Sache, der Älteste zu sein. Wenn der Vater stirbt, muss er für die Familie sorgen.« Kostandin klopfte sich an die Brust. »Ich war auch der Älteste, aber in der Stadt nimmt man das nicht so ernst. Für Florent ist es ernst.«

»Und was passiert jetzt?«

»Hab ich doch gesagt. Es gibt Ärger.«

»Weiß Adamidis das?«

»Nein.«

»Du könntest es ihm sagen.«

»Oder du.«

Er sah Kostandin von der Seite an. Im Dunkeln wirkte das Profil des Mannes nicht mehr ganz menschlich. Es wurde zu dem eines Maultiers, so lang war es, so gewohnheitsmäßig traurig waren Wangenknochen und Augenhöhlen.

»Nein, nein, lass es besser bleiben. Es kommt, wie’s kommen muss. Und dann schnappen sie uns, und wir müssen alle zurück nach Hause.«

»Ach was, so schlimm wird’s schon nicht werden. Noch ist nichts passiert«, sagte er, aber Kostandin schüttelte den Kopf, und eine Weile saßen sie schweigend da.

Die Nächte wurden wärmer. Durch die Wolken und den Dunst konnte er den Mond und einzelne Sterne erkennen. Ein Flugzeug kroch dazwischen durch. Er versuchte sich in diese Ferne zurückzuversetzen, aber sie erschien ihm noch ferner als England. Kostandin räusperte sich und spuckte aus.

»Wie spät ist es da oben?«

Sein Blick wanderte vom Himmel zu dem Uhrenturm. »Drei vorbei.«

»Spät.«

»Willst du nach Hause?«

»Eigentlich nicht.«

»Vielleicht kriegen wir irgendwo noch was zu trinken.«

»Ja, vielleicht. Wir haben nur kein Geld.«

»Stimmt.«

Erneutes Schweigen.

»Vielleicht fahre ich auf jeden Fall nach Hause. Komm doch mit. Morgen geht ein Bus nach Vlora. Das Bier ist billiger dort. Löcher kannst du auch in Apollonia graben. Einen Schatz finden. Was hält dich hier noch?«

Nichts, dachte er wie betäubt und sagte schließlich: »Nichts.«

»Nichts. Vielleicht lernt der Grieche noch, wann er den Mund halten muss«, sagte Kostandin und stand auf.

Er dachte daran, wie Emine für ihn gekocht hatte, so wie er jetzt für fremde Menschen kochte. Sie hatte es nicht oft getan. Sie war ein großzügiger Mensch, aber auf dem Gebiet hatte sie ihm immer einen Teil von sich vorenthalten, ein Talent. Es war etwas, dem sie misstraute, schon bevor sie sich kennengelernt hatten: Sie war zu dem Schluss gekommen, dass es demütigend für sie wäre, für einen Mann zu kochen. Ihre Mutter habe jahrelang für ihren Vater gekocht, hatte sie ihm einmal erzählt, und trotzdem hätten sie sich gehasst, also was soll’s?

Besser, man lernt etwas Sinnvolles, hatte sie gesagt. Wie man sein täglich Brot verdient, zum Beispiel, das vor allem. Und um der Sache den Stachel zu nehmen, hatte sie ihn geküsst.

Sie hatte ihr Können für sich behalten, als wäre es eine Schwäche. Bevor sie zusammenzogen, hatte sie ihm nur einmal eine Kostprobe davon gegeben. Er war länger bei ihr gewesen, und sein Bruder war zu Besuch gekommen. Sie hatte noch niemanden von seiner Familie kennengelernt und wollte unbedingt Eindruck machen. Sie hatte Coq au vin gekocht, nach allen Regeln der Kunst, hatte über einen verliebten Metzger im Covered Market einen Junghahn ergattert und den ganzen Nachmittag in der Küche gestanden.

Er half ihr, das blutige Zeitungspapier von dem Hahn abzulösen. Es war ein hässliches Tier mit rotem Kamm, mächtiger bleicher Brust und gewaltigen narbigen Krallen, schwarz geschuppt, reptilienartig, zum Kämpfen genauso gut geeignet wie zum Scharren. Blut, Herz und Leber hatte man Emine in einer Art Styropor-Kanope gesondert mitgegeben. Der Anblick der Krallen gefiel ihm nicht, aber das Essen schmeckte so gut, dass es ihm die Sprache verschlug. Ted lachte sie beide aus.

Wieso seid ihr denn so baff? Man könnte ja meinen, ihr hättet noch nie zusammen an einem Tisch gesessen.

Damals war sie noch etwas Ungewöhnliches gewesen, diese momentane Verblüffung. Erst gegen Ende hatte die Befangenheit mehr und mehr ihr ganzes Leben erfasst. Oft war das Gespräch dann in Smalltalk und verlegenes Schweigen abgeglitten. Sie hatten sich nur noch umeinander herumbewegt wie Magnete, die man mit ihren Nordpolen aneinanderlegt, und alle Anziehung von einst war zu Bestürzung und Abneigung geworden.

Am Ende hatten sie sich zweimal bei einem Anwalt in Cowley getroffen – nicht in Emines Kanzlei, in einer anderen, billiger und neutraler eingerichteten; der fensterlose Raum war irgendwie noch von einem winterlich grauen Licht erfüllt, das Emine und die Anwälte niederzudrücken schien, ebenso wie Ben selbst. Keines der beiden Treffen war gut verlaufen, und beim zweiten Mal war er im Zorn weggegangen, zitternd wie ein alter Mann, vor Wut wie gelähmt. Trotzdem hatte er allem zugestimmt, was man von ihm verlangte. Emine hatte nicht viel gefordert. Um das Scheidungsgesetz hatte sie immer einen Bogen gemacht, und was die praktischen Details anging, schien sie fast genauso ahnungslos wie er. Sein Geld hatte sie nie gebraucht, und was sie sich sonst einmal von ihm gewünscht haben mochte, darauf wollte sie ihn nicht mehr verpflichten. Mit dem gemeinsamen Sorgerecht war sie einverstanden. Eine kirchliche Annullierung der Ehe würde es nicht geben, aber die Zivilscheidung sollte spätestens bis zum Sommer durch sein.

Nach Meinung der Anwälte war er gut weggekommen, das wusste er. Glimpflich davongekommen, so hatte sein Anwalt es ausgedrückt. Relativ. Hätte auch unerfreulich werden können, so wie sie gelagert ist. Religiös, meine ich. Und geschäftlich. Ein sauberer Schlussstrich, von dem Kind mal abgesehen.

Manchmal traf er sie zufällig im archäologischen Institut oder am College, mit Foyt im Schlepptau oder allein. Sie waren in beiden Einrichtungen zu Hause gewesen, doch irgendwie war er enteignet worden. Und auch nach ihrem Weggang war Emine in den Augen der anderen noch immer bei ihm, der Geist einer Ehefrau. Da waren die Seitenblicke, die Gespräche, die plötzlich abbrachen, wenn er einen Hörsaal oder den Aufenthaltsraum betrat. Dieses unerträgliche englische Verstummen.

Er hatte daran gedacht, sich aus Oxford zu verabschieden, die Stadt Emine und Foyt zu überlassen und nach Hause zurückzukehren, was immer er in London vorfinden würde. Er hatte angefangen zu trinken, nicht mit Genuss, sondern mit einer wilden, bodenlosen Begierde, die er nie zuvor verspürt hatte. Aber sie war ihm nicht fremd: Sein Vater hatte so getrunken. Als Kind hatte er das gefürchtet und gehasst, und umso mehr widerte es ihn bei ihm selbst an. Er hatte gemerkt, wie brüchig seine Normalität geworden war. Seine geistige Gesundheit war von einer Zerbrechlichkeit, die er nie zuvor zur Kenntnis genommen hatte. Sie war so verletzbar wie die Oberflächenspannung von Wasser.

Doch er konnte nicht für immer weggehen. Er war nicht bereit, so viel aufzugeben. Sein Leben war zu tief verwurzelt für einen so radikalen Schnitt. Dennoch war er gegangen. Er war davongelaufen wie ein Feigling.

Und vor wem war er davongelaufen, wenn nicht vor sich selbst? Als ob das möglich wäre. Als ob er sich selbst entkommen könnte.

Auch wenn Nikos nicht da war, konnte es in dem Grillrestaurant gefährlich werden. Weniger wegen des ganzen Drum und Drans – die Messer, das im eigenen Blut schwimmende Fleisch: potenzielle und stattgehabte Gewalt –, als vielmehr deshalb, weil all das an einem solch spannungsgeladenen Ort stets in Reichweite war. Die kleinste Kleinigkeit konnte einen Wutausbruch auslösen: eine falsch abgelesene Bestellung, die an einem anderen Tag nur für Erheiterung gesorgt hätte, ein ausgeliehener Löffel oder ein unbeaufsichtigter Topf mit Bohnen. Wann immer es passierte, was immer es war – es war, wie wenn man eine Prise Salz in kochendes Wasser gibt.