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England Anfang bis Mitte des 20. Jahrhundert. Das Waisenkind Scarlett wächst in einem Kloster auf. Während des 1. Weltkrieges lernt sie den jungen verwundeten Soldaten Adam kennen. Später entsteht in ihr eine Liebe zu Adam, der zu dieser Zeit aber bereits verheiratet ist. Ihr wiedergefundener Bruder Jacob bringt seinen besten Freund Gordon in ihr Leben. Gordon verliebt sich unsterblich in Scarlett. Sie aber lehnt seine Liebe ab. Der 2. Weltkrieg verändert alles. Es gibt Entbehrungen, auch Enttäuschungen, aber auch neue Erkenntnisse in Scarletts Leben.
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Seitenzahl: 205
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Prolog
1912
Kapitel 1
Buckfast Abbey, 1914
Kapitel 2
Waisenhaus Dr. Barnard o’s Homes in London, 1914
Kapitel 3
Scarlett im Haus der Austins, 1914 bis 1917
Kapitel 4
Zwei unzertrennliche Freunde, 1917 bis 1937
Kapitel 5
Scarlett zurück in der Buckfast Abbey, 1917 bis 1936
Kapitel 6
Die Ankunft in England, 1937
Kapitel 7
Jacobs Suche nach Scarlett, Herbst 1937
Kapitel 8
Scarletts neues Leben bis zum Sommer 1936
Kapitel 9
Die große Liebe, 1937 bis 1938
Kapitel 10
Zwei Jahre später – 1940 bis Anfang 1946
Epilog
Die Autorin
Trauer herrscht im Herrenhaus der Hailshams in der Nähe von Plymouth im Westen Englands.
Die Hausherrin und Großmutter, Lady Mary Hailsham, trauert nicht nur um ihren Sohn und ihre Schwiegertochter, auch ihr lieber Ehegatte Jacob ist von ihr gegangen.
Die Sorge um die beiden Enkelkinder bereitet ihr große Kopfschmerzen und auch ihr eigener Gesundheitszustand, der sie quält. Seit Tagen fühlt sie sich nicht mehr gesund.
»Liebe Anna, kommen Sie und bringen Sie die Kinder in den Garten, meine Beine wollen nicht mehr so recht«, sagt die Großmutter. »Bitte rufen Sie meinen Verwalter zu mir«, wendet sie sich an den Butler, der sich daraufhin verbeugt und hinausläuft, um ihren Auftrag auszuführen.
Als der Verwalter den Salon betritt, in dem die Großmutter in ihrer Trauerkleidung sitzt, deutet sie ihm, sich zu setzen. Mr Toyler findet seine Arbeitgeberin und gute Freundin, die sie ihm geworden ist, mit eingefallenen Wangen und blass aussehend vor. Er geht zu ihr und verbeugt sich: »Meine liebe Mary, womit kann ich dir behilflich sein?«
»Mein lieber Freund, bevor mir etwas zustößt, muss ich alles geordnet haben. Du musst mir dabei helfen. Bitte sag dem Chauffeur, dass wir morgen früh sehr zeitig nach London fahren müssen.«
Man schreibt das Jahr 1912, die Kinder, Jacob, vier Jahre alt, und die kleine Scarlett, gerade mal zwei Jahre, weilten bei den Großeltern.
Die Großmutter Mary und der Großvater Jacob wurden, bevor die Eltern der beiden Kinder England verließen, beauftragt, diese bis zu ihrer Rückkehr zu versorgen.
Aber leider kam alles ganz anders.
Scarlett wurde im Jahr 1910 in Plymouth, West England, als Kind reicher Eltern geboren. Der Vater war ein Diplomat und die Mutter die einzige Tochter eines Bankbesitzers aus Oxford und dessen Frau. Im Jahr 1911 kamen die Eltern von Scarletts Mutter durch einen Brand in der Oxford University Bank ums Leben.
Scarletts Eltern heirateten 1907 in Oxford und lebten nach der Trauung in Plymouth im herrschaftlichen Anwesen der Großeltern von Scarlett, der Eltern ihres Vaters, des Lords und der Lady von Hailsham. Zwei Jahre nach Scarletts Geburt begab sich das junge Ehepaar von Hailsham, Scarletts Eltern, auf eine Schiffsreise nach Amerika. Scarletts Bruder Jacob war zu dieser Zeit vier Jahre alt.
Der junge Ehemann hatte den diplomatischen Auftrag erhalten, dort mit Politikern die neuste Lage in Europa zu erörtern. Von Southampton aus liefen sie mit dem modernsten Passagierschiff aus, das je gebaut wurde.
Das Schiff mit Namen Titanic erreichte nie sein Ziel. Die Eltern von Jacob und der kleinen Scarlett waren seitdem verschollen. Die Großeltern, schon betagte Leute, nahmen den kleinen Jungen, den Erstgeborenen ihrer Kinder, und das kleine Mädchen liebevoll auf.
Als die Großeltern erfuhren, dass die Eltern der Kinder nicht mehr nach Hause kommen würden, wurde der Großvater sehr krank und verstarb innerhalb weniger Wochen.
Die Großmutter versuchte allein, mit Hilfe der jungen Anna, eines Kindermädchens, die kleinen Kinder zu behüten. Es fiel ihr von Tag zu Tag schwerer, bis auch sie krank daniederlag.
Es dauerte nicht lange und auch die Großmutter schloss für immer ihre Augen.
Der Tag, ein verregneter und kalter. Der kleine Junge spielt in seinem Zimmer mit einer Holzeisenbahn, da steht eine fremde Frau vor ihm und schaut zu dem Kind herab: »Komm, mein Kleiner, du wirst jetzt mit mir gehen und dann kannst du mit vielen Kindern gemeinsam spielen.« Sie hebt dabei Jacob zu sich hoch und sagt noch: »Ich bin deine Tante aus Plymouth. Ich werde mich ab sofort um dich kümmern.«
Scarlett wird zur gleichen Zeit von einer Zisterzienserschwester abgeholt.
Die Schwester nimmt Scarlett an die Hand und will sie mit sich nehmen. Der Kleinen gefällt das nicht, und sie löst sich von ihr mit großem Geschrei. Dann rennt sie fort, die Treppen zu ihrem Zimmer hinauf. Dort versteckt sie sich. Plötzlich steht Anna, das Kindermädchen, vor ihr und sagt: »Meine kleine süße Scarlett, komm bitte mit mir. Du musst mit dieser Schwester gehen, denn es wird keiner mehr da sein, der auf dich achtgeben kann. Deine liebe Großmutter ist doch auch nicht mehr da.«
Das Kind kommt langsam, mit gesenktem Köpfchen und dieses schüttelnd, zu ihr und weint hemmungslos. Anna nimmt das verstörte Kind auf ihren Arm und trägt es nach unten zur Schwester.
Keiner der Bediensteten, auch nicht Anna oder der Verwalter der Lady, wussten, wo man die Kinder hinbrachte. Sie kannten diese Verwandte der Familie nicht und auch in welches Kloster Scarlett brachte wurde, erfuhren sie nicht.
Die Kinder wurden, jedes in ein anderes Waisenhaus, gebracht. Die kleine Scarlett brachte man in die Buckfast Abbey in Buckfastleigh, Grafschaft Devon, und ihr zwei Jahre älterer Bruder Jacob in ein Waisenhaus in London, das Dr. Barnard’os Homes. So wurde es angeblich vom Anwalt der Lords von Hailsham bestimmt, da nur eine entfernte Verwandte bekannt war. Die kleine Scarlett konnte sich nach den zwei Jahren Aufenthalt im Waisenhaus kaum bis gar nicht an ihren Bruder erinnern und so kam es, dass nur noch ein Name in ihrem Gedächtnis blieb: Jacob.
»Scarlett, wo steckst du wieder? Komm sofort zu mir! Wenn du nicht augenblicklich kommst, wirst du wieder ins Verlies gesteckt. Hörst du?«
Schwester Elsa rief es aufgebracht und ihre Augen waren dabei weit geöffnet und eine leichte Zornesröte bedeckte ihre Wangen.
Scarlett hatte immer Angst vor diesem Zimmer, in das sie Schwester Elsa zuvor gebracht hatte. Doch diesmal überwog die Furcht vor dem Neuen, den Herrschaften, die sie von hier wegbringen wollten, und somit hatte sie die Kraft, sich in diesem dunklen Raum zu verstecken.
Leise, sich aus einer dunklen Zimmerecke lösend, kam Scarlett, das vierjährige zierliche Mädchen mit rötlichem Haar. Sie trug ein hellgraues Kleid mit einer dunkelgrauen Schürze und blieb vor dem wuchtigen Sessel stehen. Ihren Kopf hielt sie gesenkt, ihre kleinen Hände zitterten und mit zierlichem Stimmchen sagte sie: »Ich bin doch hier, liebe Schwester Elsa.«
»Setz dich auf den Stuhl und rühr dich nicht von der Stelle!«, sagte diese energisch und zeigte dabei auf einen einfachen dunkelbraunen Holzstuhl ohne Polsterung, der neben einem massiven Schreibtisch stand.
Scarlett kletterte auf den Stuhl, ihre Beinchen reichten nicht bis zum Fußboden. Ihren Kopf hielt sie immer noch gesenkt und ihre Hände hielt sie gefaltet im Schoß.
»Ich komme in ein paar Minuten wieder, und du bleibst sitzen!«, sagte Schwester Elsa und verließ durch eine hohe, dunkle Eichentür den Raum.
Das Zimmer befand sich in einem Seitenflügel des Klosters und wirkte durch die Holzvertäfelung an den Wänden und der Decke recht dunkel. Durch die beiden hohen, mit buntem Bleiglas verzierten Fenster fiel sehr wenig Licht in den Raum.
Im hinteren Teil standen über Eck Bücherregale, die bis zur Decke reichten, und in der Mitte des Raumes befand sich der Schreibtisch. Rechts vor diesem stand der breite braune Ledersessel und links der einfache Holzstuhl, auf dem Scarlett saß. Die Tür war direkt vor ihren Augen und sie schaute auf das große Holzkreuz an der Wand. Von der Decke hing ein großer Kronleuchter, der ein wenig Licht in den Abendstunden abgab. Sie zitterte und dabei rutschte sie auf dem harten Holzstuhl hin und her. Ihre kleinen kurzen und zarten Beinchen ließ sie baumeln.
Scarlett wusste von Schwester Elsa, dass sie abgeholt werden sollte, und hatte Angst davor.
Sie dachte: Was wird man mit mir machen? Wird man mich von hier wegbringen? Wird es mir dann gut gehen? Ich habe aber doch Angst. Ich bin so allein und keiner hilft mir. Sie fing an, leise zu weinen.
Da kam ihr ein Name in den Sinn, welchen sie früher einmal gehört hatte, und wenn sie ihn aussprach oder daran dachte, wurde es ihr warm. Jacob. Die Tränen liefen und liefen.
Scarlett war noch in ihren Gedanken versunken, da ging die schwere Tür auf und Schwester Elsa betrat den Raum, gefolgt von einer eleganten, schon etwas älteren Dame und einem kleineren dicken Mann.
»Madam Austin, Sir Austin, das ist das Kind«, sagte Schwester Elsa und zeigte auf Scarlett. Die Austins, zur damaligen Zeit reiche Leute, die eine Automobilfirma, die Austin Company, besaßen.
Scarlett erschrak, denn die Dame kam auf sie zu, fasste ihr unter das Kinn, sodass sie ihr in die Augen blicken musste. Dann sagte die Dame mit einer leicht gekünstelten Stimme: »Mein liebes Kind, sage uns doch, wie du heißt und wie alt du bist.«
Scarlett war verwirrt, ein leichtes Zittern überlief ihren kleinen zierlichen Körper, sodass sie nicht gleich antworten konnte.
»Wirst du wohl antworten!«, kam die strenge Stimme von Schwester Elsa.
Leise, wie ein Hauch konnte Scarlett ihr antworten, denn ihre Kehle fühlte sich trocken an: »Ich heiße Scarlett und bin vier Jahre alt.«
Schwester Elsa atmete erleichtert aus.
»Liebe Schwester Elsa, wie uns die Frau Oberin ankündigte, wird das Kind eines Tages, mit seinem 21. Lebensjahr, ein großes Erbe antreten. Das Kind ist sehr schön und wird gut zu uns wie auch zu unserem Bekannten- und Freundeskreis passen«, sagte die Dame und sah abwechselnd zu dem Herrn und dann zu Schwester Elsa.
»Wie meine Frau schon sagte, ist dieses Kind, das Sie uns hier vorstellen, das richtige«, bestätigte der Herr und nickte dabei. »Wir werden dem kleinen Mädchen ein gutes Elternhaus bieten können, denn auch wir sind vermögende Leute, wie Sie wissen.«
Schwester Elsa verneigte sich leicht vor den Herrschaften und sagte: »Dann bitte ich Sie höflichst, mit mir zu unserer Schwester Oberin zu kommen, denn sie wird mit Ihnen alles Formelle besprechen und die nötigen Unterlagen mitgeben.«
Der Herr verneigte sich ebenfalls leicht vor Elsa und gab ihr den Vortritt, als sie den Raum verließen.
Scarlett saß immer noch auf dem braunen Holzstuhl und wusste nicht so recht, was nun geschehen würde.
Es verging noch eine ganze Zeit, für Scarlett eine viel zu lange, bis sich die Tür plötzlich wieder öffnete und die Schwester Oberin mit den beiden Herrschaften den Raum betrat. Die Oberin setzte sich an den Schreibtisch und begann zu Scarlett zu sprechen: »Liebe Scarlett, nun wirst du ein wunderschönes Leben beginnen, ein Leben in Reichtum und mit viel Freude. Du wirst ein eigenes Zimmer haben und viele schöne Kleider, köstliches Essen wirst du bekommen und in einem Himmelbett schlafen. Dazu wünsche ich dir, dass du immer dankbar sein wirst, dass dich diese feinen Herrschaften als ihr Kind in ihr Haus mitnehmen.«
Der Herr übergab der Oberin einen großen Umschlag. Diese säuselte einen Dank und reichte ihm und seiner Frau zum Abschied die Hand.
Die Dame zog Scarlett vom Stuhl, sie verließen das Kloster und fuhren in einem wuchtigen Automobil davon.
Sie fuhr mit dieser komischen Kutsche, mit diesen fremden Menschen, und sie hatte Angst, fror, und es kam ihr ein Name in den Sinn, Jacob.
Es wurde schon dunkel und nur ein paar Straßenlaternen erhellten spärlich die Straße. Plötzlich blieb das Gefährt ruckartig stehen. Die Tür wurde geöffnet und die Dame konnte mit Hilfe des Chauffeurs aus dem Auto steigen. Dann wurde Scarlett aus dem Auto gehoben und auf den Gehweg gestellt. Mehrere Taschen und ein paar Kisten wurden entladen und anschließend in ein großes, hell erleuchtetes Haus gebracht.
»Na komm schon! Bleib nicht stehen und geh endlich!«, sagte die Dame zu Scarlett. Sie und der kleine dicke Herr gingen ihr voran in das Haus. Eine breite Treppe führte zum Hausportal und dann in eine geräumige Diele. Dort standen ihre Taschen und Kisten, welche zwei Bedienstete nach und nach irgendwohin trugen.
Aus einem dunklen Gang kam ihnen eine griesgrämig blickende ältere Frau mit einer weißen Spitzenhaube auf ihren grauen Haaren entgegen.
»Elisabeth, nehmen Sie das Kind und gehen Sie mit ihm in das Zimmer, das zurechtgemacht wurde. Wenn es umgekleidet und gewaschen ist, kommen Sie mit ihm in das Speisezimmer«, sagte die Dame, drehte sich um und rauschte in ihren langen Kleidern davon.
Scarlett zitterte am ganzen Körper, nicht wegen der Temperatur, denn es war nicht kalt, sondern wegen der Atmosphäre, die sie frösteln ließ. Dann kamen auch noch Tränen und ihr Gesicht wurde ganz nass.
»Was heulst du hier rum!«, rief Elisabeth, die Gouvernante, nahm Scarlett am Arm und zog sie mit sich mit.
Scarlett kam kaum hinterher, denn Elisabeth lief viel zu schnell für ihre kleinen Beine. Ein langer, nur spärlich erhellter Flur führte zu ihrem neuen Zimmer.
Der Raum wirkte freundlich und hell, durch die fast weißen Wände mit heller Blumenmalerei. Ein riesiges Bett stand an der rechten Wand und gegenüber sah sie einen großen, langen Spiegel mit einem niedrigen Tischchen davor. Geradeaus befand sich eine breite Balkontür, die von hellen Gardinen verdeckt wurde. Ein Schrank mit vielen Türen und Fächern stand links von der Balkontür. Als sie das Zimmer sah, dachte Scarlett: Es ist sehr schön, aber die Frau, die so böse schaut, ob die mich nicht mag? Die ist so wie Schwester Elsa. Bei diesen Gedanken lief ihr ein Kribbeln über den Rücken. Denn im Waisenhaus war es ihr überhaupt nicht gut gegangen. Keins der anderen Kinder mochte sie, und die Schwestern waren streng. Zu essen gab es sehr wenig, sodass Scarlett abends oft hungrig ins Bett fiel. Spielsachen, wie sie sie früher einmal besessen hatte, hatte sie nicht mehr. Alles war ihr weggenommen worden.
Und sie dachte: Werde ich hier, bei diesen fremden Menschen, ein paar Spielsachen bekommen und spielen dürfen?
Die Gouvernante öffnete einen der Koffer, die die Bediensteten in das Zimmer gebracht hatten, und entnahm ein paar Kleidungsstücke. Diese legte sie auf das große Bett und sagte, sich dabei zu Scarlett drehend: »Zieh diese Sachen an, aber zuvor wasch dich!« Dabei lief sie zu einer in der rechten Wand versteckten Tür und öffnete diese. Dahinter befand sich ein Badezimmer mit einer großen Badewanne, einem Waschbecken, einer Toilette und einem Regal mit mehreren weißen Handtüchern.
Die kleine Scarlett stand vor dem Badezimmer und wusste nicht, wie sie sich waschen sollte.
»Na geh schon und wasch dich«, sagte die Gouvernante erneut und schob Scarlett ins Bad. Sie kam nicht zum Waschbecken hoch, denn sie war viel zu klein. Elisabeth schob ihr einen kleinen Fußtritt davor, so konnte sie das Waschbecken erreichen. Aber sie kam nicht an den Wasserhahn, so dass die Gouvernante ihr Wasser zum Waschen in eine Schüssel gießen musste. Als sie fertig war, kämmte diese noch ihr Haar, was sehr weh tat, denn die kleinen widerspenstigen Löckchen waren schwer durchzukämmen. Zum Schluss band Elisabeth ihr noch ein weißes Schleifenband hinein.
Danach verließen sie das Zimmer und Elisabeth ging Scarlett voran. Sie liefen den langen Flur entlang, bis sie zu einer breiten, geschwungenen Treppe kamen, die in den unteren Bereich des Hauses führte. Dort sah Scarlett einen Bediensteten vor einer breiten offenen Tür stehen. Dieser begleitete die beiden in den kleinen, sehr modern eingerichteten Speiseraum. An einer langen Tafel saß auf der oberen Stirnseite der kleine dickliche Herr und ihm gegenüber saß die elegante Dame.
Die Dame drehte sich nur kurz um, als die Gouvernante und Scarlett den Raum betraten, und zeigte auf die eingedeckten Plätze zu ihrer Rechten. Die Gouvernante schob Scarlett den Stuhl zurecht, damit diese sich setzen konnte, und nahm anschließend neben ihr Platz.
Zwei Bedienstete und eine junge Frau mit weißer Haube und Schürze brachten wohlriechende Speisen. Dinge, die Scarlett noch nie gegessen hatte, oder sie wusste es nicht mehr. Mit manchen Sachen konnte sie nicht umgehen, so mit dem Messer und der Gabel. Sie versuchte ihr Glück, die Speisen mit einem Löffel zu essen, doch dieser war für ihren kleinen Mund viel zu groß. Es war wenig, was sie essen konnte, ohne zu kleckern. Keiner der Erwachsenen half ihr beim Essen, denn diese waren nur auf ihr eigenes Wohl bedacht, und Madam Austin lächelte ihr nur zu. Eine riesige Portion Gemüse und ein großes Stück Fleisch nahm sie sich und sagte zu ihrem Gatten: »Unsere Köchin hat sich wieder einmal mit ihren Kochkünsten übertroffen. Wir werden unsere Gäste mit unseren guten Speisen und Getränken zu unserer kommenden Feierlichkeit verwöhnen können. Was meinst du?«
Mr Austin nickte seiner Gattin nur flüchtig zu, wobei er nur auf sein Essen vor sich sah und sich seinen Mund vollstopfte.
So kam es, dass das Kind nach dem Essen, auch hier hungrig, mit ein wenig Hilfe eines der Dienstmädchen in dem großen Bett lag. Da kamen Scarlett die Worte in den Sinn, die die Großmutter ihr oft am Bett gesagt hatte: Meine kleine Scarlett, der liebe Herrgott im Himmel kennt dich und er wird dich jede Nacht und an jedem neuen Tag behüten und beschützen. Falte deine Händchen und wir beten gemeinsam: ›Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein. Und nun schlafe gut, mein liebes Kind.‹ Danach verließ die liebe Großmutter, ihr noch einen Kuss auf die Stirn hauchend, das Kinderzimmer, in dem ihr Bett einen Himmel mit vielen Sternen hatte und in der einen Ecke viele schöne Spielsachen lagen. Bei diesen Gedanken legte sich ein Lächeln auf Scarletts Lippen und ihre Augen fielen langsam zu. Kurz darauf träumte sie: Sie sah ihre Großeltern, die beiden saßen in einem Raum auf kleinen zierlichen Sesseln. Großmutter hatte eine Handarbeit in ihren Händen und Großvater blätterte in einer Zeitschrift. Ein kleiner Junge mit blondem welligen Haar saß auf einem runden Hocker an einem Flügel, der in der Mitte des Raumes stand, und spielte etwas mit einigen Fehlgriffen. Aber es hörte sich so schön an. Ein dünner Herr stand neben dem Flügel und gab dem Jungen Anweisungen. Dann sah Scarlett ein kleines Mädchen, mit einer kleinen Puppe spielend, neben der Großmutter auf einem Hocker sitzen. Das kleine Mädchen gab ein paar Laute von sich, es versuchte mit seiner Puppe zu sprechen. Die Großmutter blickte es dabei liebevoll an.
Die Tür ging auf und eine ganz in Weiß gekleidete Dame betrat den Raum, hob das kleine Mädchen hoch und trug es in sein großes Zimmer.
Dann sah Scarlett, wie der kleine Junge zu dem kleinen Mädchen ins Zimmer kam und ihm einen dicken Kuss auf die Wange drückte, es noch liebevoll in seine Arme nahm und eine gute Nacht wünschte.
Im Traum wurde es ihr warm und sie schlief gut in dieser ersten Nacht in der fremden Umgebung.
Es musste noch recht früh am Morgen sein, da wurde Scarlett unsanft durch eine laute, durchdringende Stimme aus ihrem Schlaf gerissen, und ihr Herzchen begann wild zu klopfen.
»Steh endlich auf und zieh dich an! Die Kleidung liegt dort«, sagte die Gouvernante und zeigte auf einen kleinen Sessel, der unter dem Spiegel neben dem Tischchen stand. Dann verließ sie den Raum wieder und Scarlett war auf sich allein gestellt. Tränen begannen sich aus ihren Augen zu lösen und liefen über ihre Wangen. Sie konnte sich schon allein anziehen, aber diese Dame, das spürte Scarlett, mochte sie nicht. Plötzlich öffnete sich ihre Zimmertür erneut und eine junge Frau mit weißem Häubchen und einer passenden Schürze trat in ihr Zimmer und schaute dabei noch einmal kurz zurück in den Hausflur. Sehr leise, damit keiner der Anwesenden im Haus es mitbekam, sagte sie zu Scarlett: »Du liebes kleines Mädchen, ich bin Rebecca und die Zofe der Lady Austin. Komm, ich helfe dir beim Waschen und Anziehen, denn ich habe noch eine Stunde Zeit, bis ich wieder gebraucht werde.«
Als Erstes nahm sie Scarlett in den Arm, dann strich sie ihr über den Kopf, denn sie bemerkte die Tränen in den Augen des Kindes. Als Scarlett diese Zuneigung spürte, kam ein kleines Lächeln über ihre Lippen. Mit großen Augen sah sie zu Rebecca auf.
Die Zofe schloss leise die Tür und half dem Kind beim Waschen und Ankleiden. Als es so weit fertig war, nahm sie den Kamm, der am Spiegel in einer Glasschale lag, und kämmte das wunderschöne Haar von Scarlett. Noch einmal nahm sie sie in die Arme und verließ dann schnell das Zimmer.
Scarlett musste noch fast eine halbe Stunde warten, bis eine etwas ältere Bedienstete ihr Zimmer betrat und ein Tablett mit einem Frühstück auf dem kleinen runden Tisch vor ihrem Bett abstellte.
Als sie das Gebäck mit Marmelade und das Glas Milch sah, verspürte sie Hunger, und schnell, als hätte sie Angst, man könnte ihr etwas wegnehmen, verschlang sie das Essen. Sie kannte es nicht anders, als schnell zu essen, um auch satt zu werden, da die anderen Kinder im Kloster ihr alles wegnahmen oder aßen, wenn sie nicht schnell genug war.
Wieder musste sie warten und es vergingen mehrere Stunden. Die Zeit verging nicht, und so lief sie im Zimmer hin und her, sah aus dem bis zum Fußboden reichenden Fenster in einen großen Park, öffnete die Schranktüren und schaute sich die darin liegende und hängende Kleidung an, bis sich die Tür öffnete und die Gouvernante den Raum betrat. Missmutig sah diese sich im Zimmer um, würdigte Scarlett dabei aber keines Blickes. »Du musst jetzt zu den Herrschaften, denn die haben Gäste. Ich werde dich dorthin begleiten. Sei dort still und befolge deren Anweisungen«, sagte sie nur, griff derb nach Scarletts Hand und zog sie die Treppe hinunter ins Untergeschoss. Vor einer breiten, weit geöffneten Tür blieben sie stehen und Elisabeth erhob ihren rechten Zeigefinger, sah Scarlett streng an und ermahnte sie noch einmal: »Sei ja brav und mucks dich nicht!«
Dann schob sie das Kind in den riesigen Saal hinein.
Allein gelassen, den Kopf gesenkt, stand Scarlett im Eingangsbereich und wagte sich nicht weiter. Plötzlich war eine Person neben ihr, nahm sie bei der Hand und führte sie zu den Gästen der Herrschaften. Es war die Gastgeberin persönlich. »Dies ist unsere Tochter«, sagte sie an die Gäste gewandt, »wir haben sie aus der Buckfast Abbey geholt. Ist sie nicht süß?« Dabei drehte sie Scarlett einmal und dann noch einmal im Kreis, damit ihre Gäste sie wie einen neu erworbenen Gegenstand betrachten konnten.
Scarlett wurde es dabei etwas schwindelig, sodass sie leicht schwankte.
»Wirklich ein schönes und süßes Kind!«, riefen zwei der Damen gleichzeitig.
»Da werdet ihr sicherlich viel Freude mit diesem Wesen haben«, sagte eine andere Dame.
Scarlett hielt immer noch ihren Kopf gesenkt und wagte nicht aufzublicken.
Es verging eine ganze Weile, die Damen unterhielten sich über den letzten Schrei der Mode und die Herren verschwanden im hinteren Teil des Saales, als die Hausherrin eine kleine Glocke vom Tisch nahm und läutete. Kurze Zeit später betrat Rebecca, die junge Zofe, den Saal, nahm Scarlett an die Hand und führte sie hinaus.
»Scarlett, so heißt du doch? Wir sind jetzt auf uns gestellt und können uns die Zeit so einteilen, wie wir sie haben möchten. Elisabeth wurde gekündigt, wie ich es vernahm, und eine Neue wird nicht eingestellt. Die Herrschaften meinten, das Geld könnten sie sich sparen. Ich weiß aber, dass Elisabeth mit den Herrschaften und ihrer Arbeit nicht mehr zufrieden war.« Dabei musste Rebecca leise auflachen. Dann sagte sie noch, sich zu Scarlett hinunterbeugend: »Mein Kleines, ich werde mich jetzt um dich kümmern und dies der Hausherrin auch mitteilen. Ich hoffe und wünsche, dass sie dem zustimmt.«
Scarlett wusste nicht, was sie davon halten sollte, denn sie verstand es nicht so recht. Sie hob ihren kleinen Kopf und nickte Rebecca zu.
»Komm, heute ist es so schön draußen, wir gehen ein wenig spazieren, denn bis zur Mittagszeit haben wir noch eine ganze Stunde.«
Rebecca nahm das Kind, zog ihm eins der kleinen Mäntelchen über, das sie aus Scarletts Zimmer geholt hatte, und nahm es an die Hand. So verließen sie das große Haus, das sich mitten in einer Stadt, aber umgeben von einem großen gepflegten Garten mit Waldstück, befand.
Mit Rebecca begann für Scarlett eine feste Verbundenheit, denn sie wurde für sie für eine kurze Zeit wie eine Ersatzmutter.