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Eine Frau ohne Vergangenheit. Ein Mann ohne Zukunft. Eine zeitlose Leidenschaft.
Frannie Darling würde ihre Vergangenheit am liebsten vergessen. In einem Armenviertel Londons aufgewachsen, wird sie noch heute von den damaligen Erlebnissen gequält.
Sterling Mabry, der Duke of Greystone, versucht jeden Gedanken an die Zukunft zu verdrängen. Ihn erwartet nichts als Dunkelheit, denn eine tückische Augenkrankheit lässt ihn jeden Tag weiter erblinden.
Ein Herzog und eine ehemalige Taschendiebin - eine Beziehung ist undenkbar. Doch Sterling und Frannie suchen keine Liebe, sie suchen Vergessen. Und wann immer sie sich berühren, zählt nur noch das Hier und Jetzt ...
Ein sinnlicher historischer Liebesroman um zwei ebenso starke wie verletzliche Charaktere.
"Jede Leserin schließt diese unvergleichliche und unvergessliche Romanserie in sein Herz!" Romantic Times
Nächster Band der "Scoundrels of St. James": "Verzweifelt begehrt".
eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.
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Seitenzahl: 455
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Weitere Titel der Autorin
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Epilog
Die Scoundrels of St. James:
Band 1: Teuflisch verführt
Band 2: Gefährlich zärtlich
Band 4: Verzweifelt begehrt
Kurz-Novelle: Sinnlich berührt
Eine Frau ohne Vergangenheit. Ein Mann ohne Zukunft. Eine zeitlose Leidenschaft.
Frannie Darling würde ihre Vergangenheit am liebsten vergessen. In einem Armenviertel Londons aufgewachsen, wird sie noch heute von den damaligen Erlebnissen gequält.
Sterling Mabry, der Duke of Greystone, versucht jeden Gedanken an die Zukunft zu verdrängen. Ihn erwartet nichts als Dunkelheit, denn eine tückische Augenkrankheit lässt ihn jeden Tag weiter erblinden.
Ein Herzog und eine ehemalige Taschendiebin – eine Beziehung ist undenkbar. Doch Sterling und Frannie suchen keine Liebe, sie suchen Vergessen. Und wann immer sie sich berühren, zählt nur noch das Hier und Jetzt …
eBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.
Lorraine Heath hat schon immer davon geträumt, Schriftstellerin zu werden. Nach ihrem Abschluss in Psychologie an der University of Texas schrieb sie im Rahmen ihrer Arbeit zunächst Handbücher und Pressemitteilungen. Als ihr 1990 ein Liebesroman in die Hände fiel, erkannte sie, dass sie ihre Zeit nicht weiter mit langweiligen Fakten, sondern mit Abenteuern, Leidenschaft und Romantik füllen wollte. Seitdem hat sie zahlreiche Romane veröffentlicht, wurde mehrmals für ihr Werk ausgezeichnet und erschien auf der Bestsellerliste der New York Times.
Homepage der Autorin: https://www.lorraineheath.com/.
Lorraine Heath
Verbotensündig
Aus dem amerikanischen Englischvon Christiane Meyer
beHEARTBEAT
Digitale Neuausgabe
»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2009 by Jan Nowasky
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Surrender to the Devil«
Originalverlag: Avon Books
Published by arrangement with Avon, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2016/2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anita Hirtreiter, München
Titelillustration: © HotDamnStock
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-0254-6
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lesejury.de
Für Eileen, eine der stilvollsten,elegantesten Frauen,
Aus dem Tagebuch von Frannie Darling
Das Erste, woran ich mich erinnern kann, ist Feagan, der mit seinem starken Cockney-Akzent zu mir sagt: »Frannie, Darling, komm und setz dich auf meinen Schoß.«
Für ihn war ich immer nur »Frannie, Darling«.
»Frannie, Darling, hol mir ’nen Gin.«
»Frannie, Darling, reib mir die schmerzenden Füße.«
»Frannie, Darling, lass mich dir ’ne Geschichte erzählen.«
Und so kam es, dass ich immer, wenn mich jemand nach meinem Namen fragte, wie selbstverständlich antwortete: »Frannie Darling.«
Ich lebte in einem kleinen Zimmer bei Feagan und seiner berüchtigten Kinderbande, die für ihre Diebstähle bekannt waren. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Feagan nicht Teil meines Lebens gewesen wäre. Manchmal stellte ich mir vor, er wäre mein echter Vater. Sein Haar war genauso feuerrot und genauso unbändig wie meines. Doch er hatte nie behauptet, ich wäre seine Tochter. Ich war immer nur eines von seinen Kindern. Das Kind, das auf seinem Schoß saß und ihm half, die feinen Taschentücher und die Münzen zu zählen, die die anderen nach Hause brachten.
Ich war das Kind, das vorsichtig die gestickten Monogramme aus der edlen Seide löste. Viele Buchstaben lernte ich durch diese mühsame Arbeit. Die kunstvollen Schwünge der Schriftzeichen faszinierten mich, und ich fragte Feagan immer nach der Bedeutung, bevor ich anfing, sämtliche Beweise zu vernichten, dass sie je auf dem Stoff existiert hatten. Rückblickend bin ich oft erstaunt, wie ein kleines Stück Stoff so wertvoll sein konnte. Und dennoch war es so.
Ich glaube, Feagan war in einem früheren Leben vielleicht einmal Lehrer. In einer Schule, in der er Lesen, Schreiben und Rechnen unterrichtete und von seinen Schülern bewundert wurde. Möglicherweise lag es aber auch nur daran, dass ich mir wünschte, er wäre – falls er mein Vater war – mehr als nur ein gewöhnlicher Krimineller.
Er sprach nie von seiner Vergangenheit, und ich fragte ihn nie nach meiner.
Ich akzeptierte mein Leben in den trostlosen Elendsvierteln einfach als das, was mir nun einmal zustand. Feagans Burschen behandelten mich immer so, als wäre ich etwas Besonderes. Vielleicht lag es daran, dass ich für viele von ihnen instinktiv die Mutterrolle übernahm. Ich flickte ihre Kleider. Ich kuschelte mich an sie, wenn ich mich nachts schlafen legte. Als ich dann älter wurde, kochte ich für sie und kümmerte mich um sie, wenn sie verletzt oder krank waren. Und manchmal half ich ihnen sogar bei ihren Diebstählen.
Doch nichts von alledem konnte mich auf das Entsetzen und die Angst vorbereiten, die ich verspürte, als ich im Alter von gerade einmal zwölf Jahren verschleppt und an ein Bordell verkauft wurde. Luke und Jack – damals die ältesten von Feagans Burschen – retteten mich aus diesem nicht enden wollenden Albtraum.
Aber leider nicht rechtzeitig genug. Luke tötete den Mann, der mir so brutal meine Unschuld geraubt hatte.
Während Luke darauf wartete, dass ihm der Prozess gemacht wurde, bekam er Besuch vom Vater des Mannes – dem Earl of Claybourne. Claybourne erkannte in Luke seinen seit langer Zeit vermissten Enkelsohn wieder, und von dem einen auf den anderen Moment nahm unser Leben eine drastische Wendung. Die Krone sprach Luke frei und übergab ihn in die Obhut seines Großvaters. Der Earl nahm auch mich bei sich auf.
Er war entschlossen, uns alle Vorteile und Annehmlichkeiten zu verschaffen, die wir in unserem bisherigen Leben nicht hatten genießen können. Er stellte Lehrer ein, und ich lernte schnell, zu lesen, zu schreiben und Rechenaufgaben zu meistern, die komplizierter als alles andere waren, was ich bis zu dem Zeitpunkt kennengelernt hatte. Ich lernte Etikette und richtiges Benehmen. Aber in dem großen Haus in St. James fühlte ich mich nie wohl.
Und als Luke anfing, sich in der Welt der Aristokratie zu bewegen, fing ich an, mich in seiner Gegenwart unbehaglich zu fühlen. In Jacks Nähe fühlte ich mich sicherer. Als ihm dann das Glück hold war und er einen Herrenclub eröffnete, bot er mir an, mir ein anständiges Gehalt zu zahlen, wenn ich mich um seine Buchhaltung kümmern würde. Ich dankte dem Earl für alles, was er für mich getan hatte. Ich wusste zu schätzen, dass mein Leben durch seine Bemühungen und sein Interesse an meinem Wohlergehen reicher geworden war. Dennoch erfüllte mich Erleichterung, als ich dem Anwesen in St. James den Rücken kehrte und ging.
Tief in meinem Inneren wusste ich, dass das Leben bei Claybourne viel mehr gewesen war, als ich verdient hatte. Ich gehörte nicht dem Adel an, und einen Platz in den Reihen der Aristokraten bekam man nur selten durch Anstrengungen oder durch Leistung – für gewöhnlich wurde man in diesen Stand hineingeboren. Es war einem durch die Blutlinie bestimmt, und ich hatte keinen Zweifel daran, dass meine Blutlinie absolut verdorben war. Ich war froh, dass ich ihre Blicke, ihr Gerede oder ihre geflüsterten Mutmaßungen nicht länger ertragen musste.
Ich redete mir ein, dass ich glücklich werden würde, wenn ich nur nie wieder etwas mit den Lords und Ladys des Adels zu tun haben würde.
Also verbannte ich sie vollständig aus meinem Leben. Ich arbeitete mit Hochdruck daran, mir einen sicheren Zufluchtsort zu schaffen, an dem ich glücklich und zufrieden war. Ich wusste, dass das, was ich hatte, genau das war, was ich wollte. Und ich wusste, dass ich mir nicht mehr wünschte, als ich besaß.
Doch dann trat er in meine geschützte kleine Welt … Und einmal mehr wurde meine Welt zu einem äußerst gefährlichen Ort.
London1851
Sterling Mabry, der achte Duke of Greystone, war sich nicht sicher, warum sie ihm überhaupt auffiel.
Später würde er sich an diesen Moment erinnern und sich fragen, ob es das lebhafte Feuerrot ihrer Haare gewesen war, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Oder vielleicht war es auch einfach die Tatsache gewesen, dass sie neben seiner Schwester Catherine am Altar gestanden hatte, als diese Lucian Langdon, den Earl of Claybourne, geheiratet hatte. Oder vielleicht lag es auch an der Art, wie nun auf dem Empfang, der auf dem Anwesen seines neu gewonnenen Schwagers stattfand, drei Männer auf sie zukamen, wie sie sie umkreisten, wie sie alle drei Anspruch auf sie zu erheben schienen und wie sie ihr Revier verteidigten. Unweigerlich musste Sterling an die wilden Löwen denken, die er in Afrika beobachtet hatte. Er war erstaunt, dass keiner der drei Männer laut brüllte.
Sterling stand am Fenster im Gesellschaftszimmer, hielt sein Champagnerglas in der Hand und wartete darauf, den obligatorischen Toast auf das Brautpaar auszubringen, um endlich nach Hause gehen zu können. Versonnen beobachtete er, wie die Frau jedem der Männer ein beinahe schüchternes Lächeln zuwarf. Während sie sprach, hielt sie den Kopf leicht geneigt, als würde sie über ein skandalöses Geheimnis reden, und Sterling wollte nur zu gern wissen, was es sein mochte. Sie war zu weit entfernt, um ihre Stimme hören zu können, doch er stellte sich vor, dass sie den lieblichen Klang eines Engels hätte. Oder aber ihre Stimme war so verführerisch wie die einer Sirene, denn es war offensichtlich, dass jeder Mann durch ihre bloße Anwesenheit so gefesselt zu sein schien, wie er selbst es auch war.
Anscheinend teilten sie irgendetwas Besonderes miteinander. Selbst aus der Entfernung konnte Sterling in ihrem so wundervoll ausdrucksstarken Gesicht die Zuneigung erkennen, die sie für jeden der drei Männer empfand. Er fragte sich, ob sie irgendwann einmal mit jedem dieser Männer liiert gewesen sein mochte, weil zwischen ihnen eine Vertrautheit herrschte, die weit über bloße Freundschaft hinausging.
Die drei Männer interessierten ihn weniger – bis auf die Frage, wie sie ihre Rolle im Leben dieser Dame definierten. Den ersten von ihnen kannte er sehr gut. Es war Jack Dodger, Besitzer des berühmt-berüchtigten Herrenclubs, den Sterling seit seiner Rückkehr nach London regelmäßig besuchte. Dem zweiten Mann mit dem braunen Jackett, der noch größer und muskulöser wirkte als die anderen beiden, wollte Sterling lieber nicht im Dunkeln begegnen – allerdings auch nicht bei Tageslicht. Der dritte Gentleman war der Arzt William Graves, nach dem Claybourne hatte schicken lassen, als Catherine während der Trauerfeier für ihren Vater ohnmächtig geworden war.
Sterling sah neugierig zu, wie sein Schwager sich nun der kleinen Gruppe näherte. Die drei Männer begrüßten ihn wie einen Bruder, lächelten und klopften ihm auf die Schulter, schüttelten ihm die Hand und neckten ihn vermutlich. Die Dame umarmte ihn zwar nicht, schenkte ihm jedoch ein warmherziges Lächeln, das Bände sprach. Sie bewunderte ihn, sie freute sich für ihn, und sie wünschte ihm das Allerbeste. Aber vor allem liebte sie ihn.
Jetzt standen die fünf zusammen. Ohne Zweifel waren diese Menschen durch die Straße geprägt worden. Sie waren Räuber, Taschendiebe, Mörder – er wollte gar nicht so genau wissen, was sie sonst noch zusammengeschweißt hatte. Diese Erkenntnis hätte das Interesse Sterlings an der Dame eigentlich dämpfen müssen. Doch stattdessen fesselte sie ihn nur noch mehr.
Er hörte leise, vertraute Schritte, bemerkte, dass sie sich ihm näherten, drehte sich seiner Schwester aber erst zu, als sie schon fast neben ihm und es offensichtlich war, dass sie zu ihm wollte. Ihr blondes Haar war kunstvoll frisiert, ihre Wangen waren vor Aufregung und vor Freude über ihre Hochzeit zart errötet, und ihre blauen Augen funkelten wie die teuersten Juwelen.
»Du bist fasziniert von ihnen, oder?«, tadelte sie ihn sanft. Ihm wurde bewusst, dass seine Blicke in Richtung der kleinen Gruppe nicht nur unhöflich, sondern auch offensichtlich gewesen sein mussten. Andererseits war er sich ziemlich sicher, dass die anderen Gäste die fünf ebenso beobachteten.
Es hätte ihn nicht wundern sollen, dass so viele Adlige auf dem Fest erschienen waren. Die Neuigkeit über die eilig arrangierte Hochzeit zwischen dem »Teufels-Earl« und Catherine war in London das Gesprächsthema schlechthin. Die Neugierigen unter den oberen Zehntausend waren in der kleinen Kapelle zusammengekommen, in der die Zeremonie stattgefunden hatte. Und jetzt hieß man sie in Claybournes Haus willkommen. Selbst Marcus Langdon, der ursprünglich einmal den Titel der Claybournes hatte erben sollen, war anwesend. Es schien, als hätte er sein Schicksal als Nachfolger, der er nie sein würde, akzeptiert und angenommen. Es gab keinen Zweifel, dass alle äußerst neugierig waren und gespannt darauf warteten, ob es einen Skandal geben würde.
»Ich bin einfach nur an meiner Umwelt interessiert. Das ist alles«, entgegnete Sterling lakonisch. »Sie gehören eben nicht zu der Sorte Mensch, die für gewöhnlich auf unseren Festen auftaucht. Diese Frau … Sie hat neben dir am Altar gestanden.«
»Frannie. Ja, wir haben uns angefreundet. Wenn du am Festbankett teilgenommen hättest, das wir gestern gegeben haben, oder wenn du heute Morgen früh genug in der Kirche gewesen wärst, dann hätte ich euch einander gern vorgestellt.«
Sterling wusste, dass er sich bei dem Festbankett nicht wohlgefühlt hätte und dass es seiner Schwester letzten Endes doch nicht so angenehm gewesen wäre, ihn dabeizuhaben. Also beachtete er ihre tadelnden Worte nicht weiter, sondern dachte über den Namen nach, den sie ihm genannt hatte. Frannie. Er hätte etwas Exotischeres erwartet – oder es sich vielleicht auch nur erhofft. Dennoch passte der Name zu der jungen Frau. »Sie kleidet sich ziemlich schlicht.«
Das einfache blaue Gewand, das sie trug, wirkte auf dieser Feierlichkeit fast genauso fehl am Platze wie sie selbst. Er stellte sie sich in einem violetten oder roten Kleid vor und malte sich aus, wie die Seide über ihre Haut glitt und zu Boden fiel …
»Ich habe in letzter Zeit gelernt, niemanden nach dem Äußeren zu beurteilen«, riss Catherine ihn aus seinen Grübeleien.
Er nahm die Kritik, die in ihren Worten mitschwang, durchaus wahr, denn Catherine wusste genau, dass er Menschen sehr wohl nach ihrem Äußeren und nach ihrem gesellschaftlichen Rang beurteilte. Er erkannte die Elite an – und danach erst die anderen, mit denen er sich nicht abgab, solange es nicht unbedingt nötig war. Bisher hatte er weder den Wunsch verspürt noch die Veranlassung gesehen, sich mit ehemaligen Kriminellen abzugeben.
»Unterstützen sie sie?«, fragte er.
»Wie bitte?«
»Die Herren, die um sie herumstehen. Stehen sie in einer besonderen Beziehung? Wie bestreitet sie ihren Lebensunterhalt?«
»Das sind wohl kaum angebrachte Erkundigungen«, erwiderte Catherine.
Sterling sah sie eindringlich an. »Na gut. Ist sie die Geliebte von irgendeinem der Herren?«
Er stellte die Frage, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, dass Catherine sich mit einer Frau von fragwürdigem Ruf abgeben, geschweige denn sie zu ihrer Hochzeit einladen würde. Doch wenn diese Frau mit Claybourne befreundet war und ehemals von der Straße kam …
Catherine schnaubte entrüstet. »Wie kommst du denn darauf? Sie kümmert sich in Dodger’s Drawing Room um die Buchhaltung.«
Ein vornehmer Name für einen Ort, der alles andere als vornehm war. Durch den Namen wirkte der Herrenclub beinahe seriös – und genau das war Sterlings Meinung nach auch der Grund für diese Wahl. »Ungewöhnlich.«
»Ich finde es bewundernswert. Nicht jede Frau hat das Glück, einen Vater zu haben, der für ihren Lebensunterhalt sorgt.«
»Zieh deine Krallen wieder ein, Catherine. Ich wollte sie nicht beleidigen. Aber du musst doch zugeben, dass Frauen meistens im Haushalt und nicht so oft in Unternehmen tätig sind.«
Sie berührte ihn am Arm. »Es tut mir leid. Ich schätze, ich will Claybournes Freunde in Schutz nehmen. Während du fort warst, haben sie mir öfter einmal geholfen.«
Also hatte Sterlings Abwesenheit sie dazu gezwungen, sich Hilfe suchend an berüchtigte Persönlichkeiten zu wenden. Das hatte ihrem Vater bestimmt nicht gefallen und war ein Grund mehr für ihn gewesen, um von seinem Erben enttäuscht zu sein – der in seinen Augen schon immer ein Taugenichts gewesen war.
Sterling gab zu, dass er sein Leben genossen und seine eigenen Bedürfnisse und sein Vergnügen über alles andere gestellt hatte. Doch sein Vater, mit dem er oft über seine Entscheidungen gestritten hatte, hatte nie verstanden, wie es sich anfühlte, über irgendetwas nicht die Kontrolle zu haben und ohnmächtig zu sein. Er wusste nicht, wie es sich anfühlte, wenn die Angst einen packte. Er begriff nicht, wie es war, in die Zukunft zu blicken und zu wissen, dass es dunkel und einsam werden würde.
»Ich sollte euch einander vorstellen«, sagte Catherine fröhlich. Es schien fast, als hätte sie bemerkt, dass Sterlings Gedanken eine traurige, düstere Richtung eingeschlagen hatten.
»Das ist nicht nötig.« Sterling zweifelte daran, dass die Herren es gutheißen würden, wenn er sich in ihr Territorium drängte.
»Du hast dich verändert, Sterling.«
»Das hast du schon einmal gesagt«, entgegnete er. »Wir verändern uns alle, Catherine. Ich könnte das Gleiche über dich sagen.«
»Aber ich habe mich nicht in dem Ausmaß verändert, wie du es getan hast. Du bist ein zutiefst zynischer Mensch geworden.«
»Ich bin nicht zynisch, sondern realistisch. Jetzt geh zu deinem Mann, damit ich meinen Toast ausbringen und es hinter mich bringen kann.«
Schmerz blitzte in ihren Augen auf, die genauso blau waren wie seine. Er ergriff ihre Hand, bevor Catherine davongehen konnte. »Entschuldige bitte. Ich wünsche dir von Herzen alles Glück, das du so sehr verdient hast – das weißt du auch. Nachdem ich so lange fort war und die meiste Zeit im Freien verbracht habe, fühle ich mich in überfüllten Räumen einfach nicht mehr so wohl.« Und sich durch eine Menschenmenge zu schlängeln, ohne dabei jemanden anzurempeln, war zu einer mühsamen Angelegenheit geworden. Wenn er gewusst hätte, dass Catherine und Claybourne so vielen Menschen die Tür öffnen würden, dann hätte er sich schon nach der kirchlichen Trauung verabschiedet.
»Ist das der Grund, warum du dich die ganze Zeit in der Nähe des Fensters herumdrückst, als wolltest du jeden Moment hinausspringen?«
»Bei diesem Sturm?« Er warf einen flüchtigen Blick zum Fenster und sah den Regen, der gegen die Scheiben prasselte. Die Wolken hingen so tief und waren so dunkel und schwer, dass es selbst jetzt am Vormittag fast so düster war wie in der Nacht. Und die Nacht war zu seinem Feind geworden. »Es ist ein ziemlich trister Tag.«
»Ich finde ihn überhaupt nicht trist. Es ist der schönste Tag meines Lebens.«
Sterling wurde bewusst, dass er der reinste Griesgram war, und er legte ein bisschen Reue in seine folgenden Worte. »Ich glaube, es wird der erste von ganz vielen wunderschönen Tagen in deinem Leben.«
»Ich weiß, dass du nicht unbedingt begeistert davon gewesen bist, als ich mich für Claybourne als meinen zukünftigen Ehemann entschieden habe. Genau wie so viele andere trägst du ihm seine außergewöhnliche Vergangenheit noch nach. Aber ich hoffe, dass du ihn im Laufe der Zeit als den Menschen kennenlernen wirst, den ich liebe, und dass du seine Qualitäten irgendwann erkennen und schätzen wirst.«
Das war eher unwahrscheinlich – doch er wollte ihre Freude durch die Wahrheit nicht weiter dämpfen. Als hätte sie erkannt, dass er dazu nichts sagen würde, fuhr sie fort: »Ich schätze, du richtest, nachdem du nun von deiner Weltreise zurück bist, deine Aufmerksamkeit darauf, eine Ehefrau zu finden?«
»Irgendwann bestimmt. Im Augenblick sind wir noch in Trauer. Deshalb hätte ich auch nicht gedacht, dass der Empfang so groß und aufwendig wird.«
»Er ist nicht groß und aufwendig. Es sind vielleicht ein paar Gäste mehr, als angebracht wären, aber sie werden Claybourne den Weg in die Gesellschaft ebnen, nachdem er jahrelang nur ein geduldeter Zuschauer war. Im Übrigen müssen Männer sich nicht so streng an die Einhaltung der Trauerzeit halten wie wir Frauen. Du könntest heute Abend auf einen Ball gehen, und niemand würde dich dafür kritisieren.«
»Ach, das sind die Vorteile, die die Herzogswürde mit sich bringt.«
»Gab es jemanden, an den du während deiner Reisen gedacht hast?«, hakte Catherine nach.
»Spielst du jetzt schon die Kupplerin?«, fragte Sterling. »Ihr habt doch sicherlich geplant, eine Hochzeitsreise zu machen, oder?«
»Nein, wir haben in London noch einiges zu erledigen«, antwortete seine Schwester.
»Trotzdem nehme ich an, dass dein Ehemann zumindest eine Zeit lang deine ungeteilte Aufmerksamkeit haben möchte. Ich bin sehr wohl in der Lage, mir eine Frau zu suchen, ohne dich zu bemühen.«
»Was heißt denn hier ›bemühen‹? Ich würde dir gern helfen.« Sie drückte seinen Arm. »Ich habe dich vermisst, Sterling. Ich freue mich sehr, dass du gekommen bist. Und jetzt entschuldige mich bitte. Ich werde zu Claybourne gehen, damit du deinen Toast ausbringen kannst.«
Als sie nun davonging, hatte er ein schlechtes Gewissen. Doch er verdrängte die unwillkommenen Emotionen schnell wieder. Im Augenblick wäre er überall auf der Welt lieber gewesen als hier. Hastig trank er seinen Champagner aus, gab einem der Diener ein Zeichen und nahm sich ein neues Glas. Nahm das hier denn niemals ein Ende?
Catherine trat zu ihrem Mann. Claybourne blickte sie mit unverhohlener Liebe an. Warum sollte er sie auch nicht über alles lieben? Sie war die Tochter eines Dukes und entstammte einer der angesehensten und ältesten Familien des britischen Adels. Sie wusste, wo ihr Platz war, und füllte diesen auch aus. Das konnte Sterling für sich selbst nicht mehr unbedingt behaupten. Der Wunsch zu flüchten erfasste ihn, und er war mit seiner Geduld am Ende. Vorsichtig klopfte er gegen sein Glas, und das Gemurmel im Raum verstummte. Er erhob sein Glas. »Auf meine Schwester Catherine, die neue Countess of Claybourne, und auf ihren glücklichen Ehemann. Möge die Sonne immer für euch scheinen, meine Liebe – selbst an den dunkelsten Tagen.«
Er trank das perlende Getränk aus, während um ihn herum Jubel losbrach und die Gäste fröhlich applaudierten. Claybourne und Catherine tranken ebenfalls ihren Champagner aus und gaben sich dann einen flüchtigen Kuss. Die Gäste lachten, jubelten wieder und wünschten dem Brautpaar das Beste.
Sterling griff erneut nach einem vollen Champagnerglas. Wenn er nur genug trank, dann könnte er vielleicht den Schmerz über die Gewissheit vertreiben, dass er niemals haben würde, was dieses frisch vermählte Paar offensichtlich besaß: wahre Liebe und Glück.
Er war der gefährlichste Mann im Raum.
Frannie Darling wurde bewusst, dass diese Aussage ziemlich gewagt war – immerhin stand sie hier mit Männern zusammen, die keine Skrupel hatten, das Gesetz zu brechen, wenn es ihren Interessen diente. Doch während ihre Freunde für alle Leute außer für sie gefährlich waren, konnte dieser Mann nur ihr allein gefährlich werden.
Sie wusste es, so wie sie auch wusste, welche Taschen lohnenswert waren, bevor sie überhaupt hineingegriffen hatte, um herauszuholen, was sich in ihnen verbarg. Sie wusste es, so wie sie auch wusste, dass eine Zahlenreihe nicht aufging, noch bevor sie die Zahlen zusammengerechnet hatte. Sie wusste es, so wie sie auch wusste, dass es in diesem Raum nur drei Menschen gab, zu denen sie wirklich gehörte: Jack, Jim und Bill.
Erst kürzlich hatte sie herausgefunden, dass Luke immer daran gezweifelt hatte, der echte Earl of Claybourne zu sein. Doch in letzter Zeit hatten sich Umstände und Veränderungen ergeben, die ihn von der Wahrheit überzeugt hatten, sodass er inzwischen keine Bedenken mehr hatte, der rechtmäßige Erbe des Titels zu sein. Selbstsicher bewegte er sich zwischen seinen Gästen durch den Raum, fühlte sich wohl in seiner Haut und hatte keine Angst mehr, dass er das Leben eines anderen führen würde.
Sie fühlte sich hingegen nicht so wohl, war nicht so entspannt. Diese Welt war einfach nicht die ihre. Es war alles so unglaublich groß und so unglaublich bedeutend. Ihre kleine Welt verblasste dagegen – trotzdem fühlte sie sich darin zu Hause und war zufrieden. Vielleicht lag es gerade an diesem Unbehagen, dass sie ihn bemerkte – den Mann, der am Fenster stand und diesem Ort anscheinend genauso gern entfliehen wollte wie sie. Sie wusste, wer er war. Catherines Bruder. Der vor Kurzem zu seinem Titel gekommene Duke of Greystone.
Ein paarmal glaubte sie, ihn dabei ertappt zu haben, wie er sie beobachtete. Sie hatte daraufhin versucht, ihn genauso verstohlen zu betrachten. Seine Haut hatte einen bronzefarbenen Ton; es schien beinahe, als wäre er ein Mensch, der sich gern draußen an der frischen Luft aufhielt. Seine Haare waren dunkelblond und extra für diesen Anlass gebändigt worden. Keine Strähne lag falsch. Dennoch konnte sie sich vorstellen, wie das Haar vom Wind zerzaust wurde, während er über die gleichen Straßen galoppierte, die Marco Polo vor ihm erkundet hatte. Greystone war ein Abenteurer, ein Mann, der keine Angst kannte. Als einige der anderen Gäste sich zuvor mit ihm unterhalten hatten, hatte seine Körperhaltung Höflichkeit und möglicherweise Toleranz gezeigt, aber auch Ungeduld. Es wirkte so, als wünschte er sich, wieder unterwegs zu sein und ein neues Abenteuer zu erleben.
»Glaubst du, dass sie glücklich werden?«, fragte Jack und reichte ihr ein neues Glas Champagner. Seine Geste und seine Worte zwangen sie, den Blick von dem Mann zu wenden, der sie so neugierig machte und so faszinierte. Dieser Mann war außergewöhnlich und überlebensgroß – und sie bevorzugte normalerweise das Kleine, das Alltägliche.
Jim und Bill standen dicht bei ihr – beinahe zu dicht –, so als könnten sie sie vor ihrem eigenen Unbehagen gegenüber der eleganten Elite beschützen.
»Da bin ich mir ganz sicher«, erwiderte sie. »Catherine ist die Richtige für Luke, und sie tut ihm gut.«
»Was hältst du von ihrem Bruder?«
Sie glaubte, dass er so stark war wie der Sturm, der draußen tobte. Sie glaubte, dass eine Frau in seinen Armen eine Lust erleben konnte, wie sie sie nie zuvor erfahren hatte. Hitze durchströmte sie, als sie sich mit der Zungenspitze über die Lippen fuhr. Sie griff zu einer kleinen Notlüge. »Ich weiß es nicht so genau.«
»Er hat uns beobachtet«, sagte Jim.
»Ziemlich viele der anderen Gäste beobachten uns«, murmelte Bill.
»Und haben ein Auge auf ihre Taschen«, fügte Jack hinzu. »Ich bin fast versucht, mich durch die Reihen zu schleichen und zuzugreifen.«
Frannie funkelte ihn wütend an. Lukes Großvater hatte sie aus den Elendsvierteln geholt, doch es war ihm nicht gelungen, ihnen die alten Gewohnheiten auszutreiben – zumindest nicht ganz. »Tut nichts, wofür Luke, der uns eingeladen hat, sich schämen müsste. Endlich ist er im Kreise der Adeligen akzeptiert worden. Es war ein kleiner Akt der Rebellion von ihm, uns überhaupt eingeladen zu haben.« Sie, die Gauner, die er noch aus seiner Jugend kannte, die er jedoch, wie sie wusste, nie ganz hinter sich lassen würde. Ihre gemeinsame Vergangenheit war ein Band, das sie unauflöslich miteinander verknüpfte.
»Achtest du immer noch auf ihn?«, fragte Jack.
»Genau so, wie ich auf euch alle achte.« Sie warf ihm ein neckisches Lächeln zu. »Und so, wie ihr auch auf mich achtet.«
Obwohl es Momente gab, in denen sie einfach zu sehr auf sie aufpassten und ein bisschen zu fürsorglich waren. Sie liebte sie von Herzen, aber manchmal sehnte sie sich nach mehr, nach etwas, das sie nicht genau benennen konnte. Vielleicht war das der Grund, warum sie plötzlich den Wunsch verspürte, eine Revolte zu entfachen, mutig und aufsässig zu sein. Sie warf einen Blick zu dem Gentleman am Fenster. »Ich glaube, ich werde mich selbst vorstellen.«
»Er ist ein verdammter Duke«, rief Jack ihr in Erinnerung.
»Ja, das ist mir bewusst«, murmelte sie, ehe sie Jack ihr Glas in die Hand drückte, einmal tief durchatmete und dann den Raum durchquerte.
Üblicherweise mied Frannie die Menschen, die einen Titel trugen, weil sie sie auf unliebsame Art an ihre eigene bescheidene Herkunft erinnerten. Doch irgendetwas an diesem Mann weckte ihr Interesse, und aus ihrem Verlangen entstand ein Moment des Muts. Sie hatte sich so angestrengt, um sich vor allem zu schützen, das ihr schaden oder gefährlich werden konnte – aber das Einzige, was sie dadurch erreicht hatte, war, dass sie ein langweiliges Leben führte. Dieser Mann hingegen schien alles andere als langweilig zu sein.
Sie fühlte die Blicke der anderen Gäste auf sich, die bemerkten, dass sie etwas vorhatte. Weil ihr die prüfenden Blicke anderer Menschen eigentlich schon immer egal gewesen waren, hätte das wachsende Interesse an ihr sie normalerweise nicht aus der Fassung bringen dürfen. Aber der Mann wählte genau diesen Moment, um sie anzusehen, und sie spürte seinen Blick wie eine zarte Berührung, wie ein Streicheln, das über ihren ganzen Körper ging. Beinahe wäre sie stehen geblieben. Feagans Burschen hatten sie noch nie mit einer solchen Begierde in den Augen angeschaut. Vielleicht war das der Grund, warum Greystone so gefährlich für sie war: weil sie sich durch einen einzigen Blick von ihm nicht mehr wie das unsichere Mädchen, sondern wie eine attraktive Frau fühlte, die die Macht hatte, einen Mann zu einem sündhaften Abenteuer zu verführen.
Noch erstaunlicher war die Anziehungskraft, die er auf sie ausübte. Sie war noch nie einem Mann begegnet, der die Leidenschaft in ihr entfacht hatte, der in ihr das Verlangen geweckt hatte, von ihm geküsst, von ihm berührt zu werden.
Frannie rang den Impuls nieder, auf dem Absatz kehrtzumachen und sich auf sicheres Terrain zurückzuziehen, und trat zu ihm. Seine Augen hatten das Blau der funkelnden Saphire, die in das Collier eingearbeitet gewesen waren, das sie einst einer aufgeblasenen Dame direkt vom Hals entwendet hatte. Feagan hatte sich so über dieses Stück gefreut, dass er ihr eine Erdbeere gekauft hatte. Sie konnte keine dieser süßen Früchte mehr essen, ohne daran denken zu müssen, dass sie einmal ihre Belohnung für eine sehr sündhafte Tat gewesen waren. Ein Abend mit Greystone würde darin enden, dass sie eine ganze Schüssel voll von köstlichen Erdbeeren essen würde – dessen war sie sich sicher.
»Ich glaube, wir wurden einander noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Frannie Darling.«
»Ach ja, Sie sind die Buchhalterin des Dodger’s.«
Sie wusste, dass ihre Augen bei seinen Worten größer geworden waren. Sie kam nur selten in den Bereich, wo die Spiele stattfanden. Ihre Arbeit passierte hinter verschlossenen Türen, und nur einige wenige hatten die Schlüssel zu diesen Türen. »Ich glaube, mich daran erinnern zu können, dass Sie Mitglied sind.«
»Und ich glaube, mich daran erinnern zu können, dass Ihre Freunde«, mit einem Kopfnicken wies er auf Jack, Jim und Bill, die gespannt auf ihre Rückkehr warteten, »allesamt Diebe sind.«
Die Enttäuschung traf sie wie ein Schlag in die Magengrube, denn er gehörte offensichtlich zu denjenigen, die nicht daran glaubten, dass ein Mensch sich ändern und über den Platz, den das Schicksal ihm ursprünglich zugewiesen hatte, hinauswachsen konnte. Er war einer von denjenigen, die ihr das Leben schwer gemacht hatten, als sie noch bei Claybourne gelebt hatte. Sie hätte ihn seiner Engstirnigkeit überlassen und einfach gehen sollen, aber irgendetwas zwang sie dazu zu bleiben. Vielleicht wollte sie ihm die Möglichkeit geben, seine Worte wiedergutzumachen.
»Da es eigentlich üblich ist, dass das Hochzeitsessen im Hause der Brautfamilie stattfindet, nehme ich wohl an, dass Ihnen die Gästeliste nicht zugesagt hat?«
»Sie können annehmen, was Sie wollen. Ich schätze einfach mein Eigentum und ziehe es vor, keine Langfinger zu mir nach Hause einzuladen.«
»Ich verstehe.« Sie hatte eine exzellente Menschenkenntnis, und sie hatte das Gefühl, dass dieser Mann seinen wahren Charakter nicht zeigte. Die talentiertesten Schauspieler der Welt waren Bettler. Mit einem einzigen geübten Blick konnten sie ein Herz für sich gewinnen, Mitgefühl auslösen und einen Menschen dazu bringen, seine letzte Münze zu spenden. Greystone benahm sich anscheinend absichtlich so griesgrämig, um erst gar keine freundliche Beachtung auf sich zu lenken. Sie fragte sich, was seine Gründe dafür sein mochten.
Er blickte in Richtung der anderen Gäste. »Wird er sie glücklich machen?«
»Luke?«
»Claybourne.«
Sie rechnete es ihm hoch an, dass er Luke bei seinem Titel nannte. Das war zumindest ein Anfang. Und es war offensichtlich, dass ihm viel an seiner Schwester lag. »Er wird sie unermesslich glücklich machen.«
Er nickte knapp. »Dann ist das alles, was zählt. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen möchten …«
Er war schon drei Schritte gegangen, als sie ihm hinterherrief: »Euer Gnaden?«
Er wandte sich zu ihr um. Sie lächelte verschmitzt und wusste selbst nicht genau, warum sie so entschlossen war, ihn zu ärgern. Er schien ein Mensch zu sein, den man einfach ärgern musste. Im Übrigen hatte sie nicht vor, ihm die Beleidigung ihrer Freunde ungestraft durchgehen zu lassen. Und sie wollte etwas klarstellen: Ihre Freunde waren nicht die einzigen Diebe vor Ort. Sie hob die Hand. An einer schweren Kette baumelte eine goldene Taschenuhr herab. »Sie haben Ihre Uhr vergessen.«
Er starrte auf seine Weste und klopfte die Taschen ab, als könnte er seinen eigenen Augen nicht trauen. Langsam hob er den Blick und sah Frannie an. Mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen streckte er die Hand aus. Sie ließ die Uhr hineinfallen, und bevor sie ihre Hand in dem feinen Handschuh wieder zurückziehen konnte, schloss er die Finger um ihr Handgelenk und beugte sich vor. »Vorsicht, Miss Darling«, sagte er, und seine Stimme war nicht mehr als ein raues Flüstern, das ihr Schauer über den Rücken jagte, »ich war eine Weile in der Welt unterwegs, und ich bin längst nicht mehr so zivilisiert wie noch vor meiner Abreise.«
Das war so offensichtlich, dass ihr Herz wie wahnsinnig pochte und ihre Beine weich wurden. Er blickte sie an, als würde er mit dem Gedanken spielen, sie zu verschlingen.
Mit einer abrupten Verbeugung ließ er sie los, drehte sich um und ging davon. Sie sah ihm hinterher, bis er durch die Tür verschwunden war – offenbar, um nach Hause zu gehen. Erstaunlich, wie schnell sich das Blatt gewendet und sie die Oberhand und die Kontrolle über die Situation verloren hatte. Ganz sicher hätte sie niemals damit gerechnet, dass diese Begegnung ihr den Atem rauben würde. Doch es gab noch mehr, das sie beunruhigte: Sie hatte den fremden, aber unglaublich drängenden Wunsch verspürt, dass er nicht gehen möge.
Sterling wünschte sich nichts mehr, als aus dem Haus zu stürmen, doch er riss sich zusammen und achtete darauf, gemessenen Schrittes zu gehen und den Gästen auszuweichen, um niemanden unsanft anzurempeln. Zu gehen war nicht annähernd so schwierig, wie er gedacht hätte. Vielleicht weil seine finstere Miene die Menschen dazu brachte, schnell aus dem Weg zu gehen und ihn nicht etwa in eine Unterhaltung verwickeln zu wollen.
Er wusste, dass sein Verhalten Miss Darling gegenüber abscheulich gewesen war, aber seine Reaktion auf ihre Nähe hatte ihn überrascht. Sie hatte nicht die Stimme eines Engels. Ihre Stimme weckte Leidenschaften in Schlafgemächern. Sie klang heißblütig, sinnlich und atemlos – fast so, als hätten sie schon gemeinsam Lust erlebt und als wäre sie begierig auf eine Zugabe.
Ihre Augen … Bei der Erinnerung an diese Augen hätte er beinahe laut aufgestöhnt. Sie waren unglaublich grün. Aber das, was nicht in ihnen gestanden hatte, hatte ihn gefesselt. Er hatte keine Unschuld darin gesehen – der Ausdruck war alles andere als unschuldig gewesen. Das Leben hatte sie geprägt. Sie war vollkommen anders als all die jungen Damen, die er kannte. Sie hatte Dinge gesehen – und wahrscheinlich auch getan –, bei denen andere junge Frauen in Ohnmacht gefallen wären.
Zwar war er kein Mensch, der schnell die Selbstbeherrschung verlor, doch wenn er sich nicht zurückgezogen hätte, dann hätte er diese Frau wahrscheinlich in die Arme geschlossen. Zum Teufel mit allen, die Widerspruch erhoben hätten.
Dann hatte sie – zur Hölle mit ihr – seine Taschenuhr stibitzt, und er hatte es nicht einmal bemerkt. Aber, verdammt, er wollte ihre Hände spüren. Und als er nun mit langen Schritten davonging, weg von ihr, verzehrte er sich nur noch mehr nach ihr.
Die Begegnung mit Greystone hatte Frannie verunsichert. Feagans Burschen – auch wenn sie längst Männer waren, würde sie in ihnen wohl immer seine Burschen sehen – hüteten sich davor, sie mit Fragen zu bedrängen. Dennoch brauchte sie Zeit für sich, um sich zu sammeln. Für gewöhnlich hätte sie einen Spaziergang im Park gemacht, aber der heftige Regen sprach dagegen. Also würde Claybournes riesiges Anwesen ausreichen müssen. Weil die Dienerschaft sie kannte, würde wahrscheinlich niemand sie daran hindern, durch die Flure und Zimmer zu streifen, zu denen die Gäste eigentlich keinen Zutritt hatten. Seit sie aus dem großen Haus ausgezogen war, war sie ein paarmal zu Besuch hier gewesen. Obwohl sie sich in dem alten Gemäuer nicht besonders wohlfühlte, rief doch eines der Gemächer wunderbare Erinnerungen in ihr wach.
Ohne zu zögern, öffnete sie die Tür zu der umfangreichen Bibliothek des Anwesens und ging hinein. Für einen Moment schloss sie die Augen und atmete tief den wundersamen Duft der alten Bücher ein. Kontobücher hatten diesen einzigartigen Geruch nicht. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, um ungestört zu sein, durchquerte sie den Raum und lief zwischen den Sesseln und kleinen Tischen hindurch, die gemütliche Sitzecken bildeten. Sie ging zu einer Wand, an der riesige Bücherregale standen, und strich mit den Fingerspitzen versonnen über die Rücken der Bücher, die der ehemalige Earl im Laufe der Jahre gesammelt hatte. Der alte Herr hatte unglaublich viel gelesen und sie – unter anderem – mit den Werken von Jane Austen und Charles Dickens bekannt gemacht. In diesem Raum hatte sie die Welt erkundet.
Dieser Gedanke brachte sie zurück zu Greystone. Durch Catherine wusste sie, dass er die Welt und all die Wunder, die sie zu bieten hatte, selbst erforscht hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, welchen Mut und welche Tapferkeit ein solches Unterfangen erforderte: an Bord eines Schiffes zu gehen, auf den unermesslich großen Ozean hinauszufahren und darauf zu vertrauen, dass man unversehrt am Ziel angelangen würde. Was hatte er getan, dass er nun ein bisschen weniger zivilisiert war als vor seiner Reise? Und warum konnte sie selbst jetzt nicht aufhören, an ihn zu denken? Seine Gleichgültigkeit hätte eigentlich jedes Interesse, das sie vielleicht an ihm gehabt hatte, im Keim ersticken müssen. Doch stattdessen ertappte sie sich dabei, wie sie sich fragte, was ihm solche Angst machte – denn sie war sich sicher, dass er vor irgendetwas Angst hatte.
Als er bemerkt hatte, dass sie seine Uhr an sich genommen hatte, war die Angst noch für einen Moment in den Tiefen seiner Augen zu lesen gewesen, bevor sie angefangen hatten, gefährlich zu funkeln. In ihrer Welt hatte sie so viele verängstigte Seelen kennengelernt – sie selbst eingeschlossen. Sie hätte verstehen können, wenn er einfach verärgert reagiert hätte. Aber warum hatte es ihn so gestört, dass er nicht gesehen hatte, wie sie seine Taschenuhr an sich genommen hatte? Oder missverstand sie die gesamte Situation? Es war nicht so, als wäre er ein Buch, in dem sie lesen konnte.
Innerlich schalt sie sich selbst dafür, seine Uhr an sich genommen zu haben. Sie war doch eigentlich über ihre Herkunft hinausgewachsen und hatte ihre Vergangenheit hinter sich gelassen. Es ärgerte sie, dass dieser Mann sie dazu gebracht hatte, dorthin zurückzukehren. Warum hatte sie den Drang verspürt zu beweisen, was für eine talentierte Diebin in ihr steckte?
Warum war es ihr überhaupt wichtig gewesen, was er über sie oder über ihre Freunde dachte? Unhöflich und arrogant repräsentierte er alles, was sie an der Aristokratie so verachtete. Selbst Lukes Großvater, der so viel Gutes für sie getan hatte, hatte auf die Gassenkinder hinabgeschaut, die sein Enkel Freunde genannt hatte. Trotzdem musste Frannie ab und zu voller Liebe an den alten Herrn zurückdenken.
Sie ging zum Schreibtisch und nahm Platz. Mit der Hand strich sie über die feine, glatt polierte Holzmaserung und erinnerte sich daran, wie imposant Lukes Großvater gewirkt hatte, wenn er an diesem Schreibtisch gesessen hatte. Bis zu dem Tag, an dem sie seine Schwäche für Zitronenbonbons entdeckt hatte. Ab dem Moment hatte sich ihre Meinung über ihn ein bisschen verändert – er hatte einen menschlichen Zug bekommen. Vor allem, wenn er gelegentlich seine Bonbons mit ihr geteilt hatte. Sie öffnete die Schreibtischschublade, in der er seine Süßigkeiten aufbewahrt hatte.
»Haben Sie vor, etwas zu stehlen?«
Mit einem kleinen Aufschrei presste Frannie die Hand auf ihre Brust. Ihr Herz hämmerte, als sie sich im Schreibtischsessel umdrehte, um ihren Ankläger anzusehen.
Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte Greystone an der Wand in der dunklen Ecke. Er wich dem spärlichen Tageslicht, das durch das Fenster in den Raum drang, scheinbar bewusst aus. Donner grollte, und der Regen wurde immer stärker. Sie wusste nicht, warum er ihr nicht schon längst aufgefallen war, denn er schien mit seiner Präsenz die Ecke auszufüllen. »Sie haben mich erschreckt, Euer Gnaden.«
Sie hatte immer geglaubt, dass von Luke und Jack eine große Ausstrahlung ausging. Doch ihr Charisma verblasste gegen das des Dukes of Greystone. Er war kein Mann, der es gewohnt war, zurückgewiesen zu werden, und die Anziehungskraft, die er schon im Gesellschaftszimmer auf sie ausgeübt hatte, machte sich unbestreitbar wieder in ihr breit. Sie weigerte sich jedoch, diesem Gefühl nachzugeben. Sie würde nicht zulassen, dass er sich über sie, ihre zärtliche Betrachtung oder ihre Freunde lustig machte. Dennoch war sie nicht so kindisch, einfach aus dem Zimmer zu stürmen. Sie schluckte und war entschlossen, sich gegen ihn zu behaupten.
»Hier bewahrte er immer seine Bonbons auf«, sagte sie, um das drückende Schweigen zu durchbrechen. Greystone starrte sie nur wortlos an. »Der ehemalige Earl«, erklärte sie. »Lukes Großvater.«
Noch immer schwieg er. Sie schloss die Schublade und erhob sich aus dem Sessel. Sie wollte sich auf keinen Fall von diesem Mann einschüchtern lassen. Obwohl ihr Herz fast genauso laut pochte wie der Donner grollte, ging sie mit entschlossenen Schritten zum Fenster und blickte in den grauen Regen hinaus. »Ich habe hier früher gelebt. Der alte Herr saß immer in diesem Sessel hier«, sie wies auf einen dunkelgrünen Polstersessel am Fenster, »und hat sich jeden Nachmittag eine Geschichte von mir vorlesen lassen. Es ist seltsam. In meiner Jugend habe ich mit einem Kidsman zusammengelebt, der nicht nur Kinder ›gesammelt‹ und zum Stehlen ausgebildet, sondern mit Sicherheit in seinem Leben schon einmal jemanden getötet hat. Trotzdem habe ich mich nie vor ihm gefürchtet. Dieser alte Earl jedoch hat mir Angst gemacht.«
»Warum?«
Aha, endlich ein Wort. Sie sah ihn an und war überrascht zu sehen, dass sie viel dichter beieinanderstanden, als ihr klar gewesen war. Sie vermutete, dass seine Frage vielmehr ein Trick war, um sie davon abzuhalten, einfach zu gehen. Warum fesselte, warum erregte sie der Gedanke, dass er sich wünschte, sie würde noch bleiben?
»Weil er so … groß war.« Sie schüttelte den Kopf und ärgerte sich darüber, dass sie nicht in der Lage war, Lukes Großvater angemessen zu beschreiben. Ihr lag der Umgang mit Zahlen mehr als der Umgang mit Worten. »Nicht körperlich natürlich. Er war hochgewachsen wie Luke, aber etwas knochiger, nicht so muskulös und auch schon ein wenig vom Alter gebeugt. Ich meine damit, dass er eine so starke Ausstrahlung hatte. Alles an ihm war irgendwie erhaben und stattlich. Die Häuser, in denen er lebte – hier und auf dem Land. Die Kutsche, in der er reiste. Manchmal, wenn er sich mit jemandem treffen musste, nahm er mich mit nach London. Durch die Hochachtung, die ihm entgegengebracht wurde, war ich mir sicher, dass er ein sehr mächtiger Mann sein musste. Genau wie Sie, Euer Gnaden.«
»Und mächtige Männer machen Ihnen Angst?«
»Sie machen mich nachdenklich. Aber ich bin längst kein Kind mehr, das sich durch sie einschüchtern lässt. Ich wage zu behaupten, dass mit dem Alter die Neigung kommt, nicht mehr viel darauf zu geben, was andere Menschen über einen denken.«
Ganz leicht hob sich einer seiner Mundwinkel, und sie verspürte mit einem Mal den verrückten Wunsch, ihm ein richtiges Lächeln ins Gesicht zu zaubern, auch wenn sie fürchtete, er könnte die kleine Lüge in ihren Worten herausgehört haben. Sie konnte nicht leugnen, dass die schlechte Meinung des Adels über sie und über ihre Freunde ihr wehtat. Jeder von ihren Freunden tat auf seine Weise etwas für die weniger Glücklichen, und alle waren unglaublich loyal und treu. Sie würden füreinander sterben. Dass andere Menschen das Gute in ihnen nicht sehen wollten und immer nur das Schlechteste von ihnen erwarteten, schmerzte auf Dauer.
»Aus Ihrem Mund klingt das, als wären Sie schon uralt«, bemerkte er.
»Ich gehe auf die dreißig zu.« Sie wusste nicht, warum sie den Drang hatte, ihm ihr Alter zu verraten. Vielleicht wollte sie damit sicherstellen, dass er sich darüber im Klaren war, hier nicht mit einer unschuldigen jungen Frau zu sprechen, sondern vielmehr mit einer Frau, die wusste, was sie wollte. Zumindest hatte sie es gewusst, bis sie ihm begegnet war. In diesem Augenblick wusste sie nämlich nicht genau, ob sie sich wünschte, dass er blieb und sie verführte, oder ob sie wollte, dass er verschwand, ehe ihr die Situation komplett entglitt und sie die Kontrolle verlor. Denn in seiner Nähe war sie sich nicht sicher, ob sie noch Herrin der Lage war oder nicht. Sie wollte ihm das Haar zerzausen und diese unzivilisierte Seite von ihm hervorlocken, von der er zuvor gesprochen hatte.
»Schon ziemlich alt, wenn man bedenkt, dass Sie noch nicht verheiratet sind und keine Kinder haben, die an Ihrem Rockzipfel hängen«, bemerkte er.
»Oh, ich habe Kinder.« Sie sah die Verachtung, die in seinen blauen Augen aufblitzte. Es ärgerte sie, dass er direkt das Schlimmste annahm. Fast wollte sie sich ihm gar nicht mehr näher erklären, doch irgendwie fühlte sie sich dazu gezwungen. Einerseits durfte er ruhig das Schlimmste von ihr annehmen, aber andererseits wollte sie, dass er sie für würdig hielt … wofür wusste sie allerdings selbst nicht so genau. »Ich nehme Waisenkinder bei mir auf. Verstärkt werde ich das tun, sobald mein Kinderheim errichtet ist.«
»Ach, dann sind Sie eine Reformerin.«
»Sie sind dagegen? Glauben Sie nicht an gute Taten, Euer Gnaden?«
»Sie haben ihre Berechtigung. Aber mit Waisenkindern zu arbeiten scheint mir für eine Frau, die so reizend ist wie Sie, die reinste Verschwendung zu sein.«
Bei diesem Kompliment fühlte sie, wie Hitze durch ihren ganzen Körper strömte. Sie hatte sich selbst immer für ein bisschen schlicht und unscheinbar gehalten. Vielleicht war es auch nur der Wunsch gewesen, schlicht und unscheinbar zu wirken. Denn sie wollte nicht die Gunst der Männer gewinnen, also gab sie sich die größte Mühe, nicht so reizend auszusehen. Selbst das Kleid, das sie zu diesem wunderbaren Anlass – nämlich der Hochzeit ihrer besten Freundin – angezogen hatte, war nicht geschneidert, um die Blicke der Herren auf sie zu ziehen. Und dennoch hatte sie seine Blicke damit auf sich gezogen. »Ich weiß nicht genau, ob ich beleidigt sein oder mich geschmeichelt fühlen sollte.«
»Fühlen Sie sich geschmeichelt, schließlich war es so gemeint. Ich fürchte, wir haben einen sehr unglücklichen gemeinsamen Start erwischt. Oder besser gesagt: Es war gar kein richtiger Start. Ich habe mich in diese Räumlichkeiten zurückgezogen, um etwas Trost und Ruhe zu finden und mir zu überlegen, wie ich am besten Wiedergutmachung leisten kann. Normalerweise bin ich nicht so … unfreundlich.« Er blickte aus dem Fenster. »Der Herr in dem braunen Jackett, der vorhin bei Ihnen stand und mit dem Sie sich unterhalten haben … Wer ist er?«
Dieser abrupte Themenwechsel und die Frage überraschten sie. »James Swindler. Er ist Inspektor bei Scotland Yard.«
Für einen winzigen Moment hätte sie schwören können, dass sein Mund zuckte, als ob er ein Lächeln unterdrücken müsste.
»Ich wollte nicht wissen, womit er seinen Lebensunterhalt bestreitet, sondern wer er für Sie ist?«
Oh. Was für eine seltsame Aussage. Was sollte er denn anderes sein, außer dem, was er war? »Ein Freund. Möchten Sie, dass ich Sie beide miteinander bekannt mache?«
Ein unterdrücktes Lachen erklang, bevor der Duke die Lippen wieder aufeinanderpresste und den Kopf schüttelte. »Nein, das ist schon in Ordnung. Er schien sich nur sehr um Ihre Sicherheit zu sorgen.«
»Sie sind alle sehr fürsorglich.«
»Sie?«
»Feagans Burschen.«
»Und Feagan ist …«
»Der Kidsman, der uns alle zu sich genommen hat.« Sie dachte an Feagan, der als sogenannter Kidsman Straßenkinder um sich versammelt und diese zu geschickten Taschendieben ausgebildet hatte.
»Derjenige, der Ihnen auch beigebracht hat, wie man Taschen plündert?«
»Unter anderem.«
»Sie waren eine talentierte Schülerin, Miss Darling. Ich habe nichts bemerkt. Das Problem ist allerdings, dass ich sehr gern Ihre Finger auf mir spüren und wissen würde, wie es sich anfühlt.«
Ganz langsam wandte er den Blick wieder zu ihr. In seinen Augen stand ein einladender Ausdruck. Und sie las auch ein Versprechen darin. Wie sollte sie darauf reagieren? Sollte sie zugeben, dass sie sich ebenfalls fragte, wie seine Berührung sich anfühlen mochte? Von dem Moment an, als sie mit zwölf Jahren ihre Unschuld verloren hatte, hatte sie kein sexuelles Interesse mehr an Männern gehabt. Sie machten ihr keine Angst. Sie hatte von Feagans Burschen gelernt, dass nicht alle Männer brutal und grausam waren. Dennoch hatte sie sich zu Männern nicht hingezogen gefühlt und hatte auch nie einen Mann in dieser Art auf sich aufmerksam machen wollen. Sie hatte nie dieses seltsame Flattern in der Magengegend verspürt, wenn sie einen Mann sah, hatte nie dieses wilde Herzklopfen gehabt, wenn er in ihrer Nähe war, hatte nie das Gefühl gehabt, nicht mehr richtig durchatmen zu können, wenn sie in seine Augen blickte oder wenn sie den fesselnden Schwung seiner Lippen betrachtete.
»Keine Erwiderung? Kein Leugnen, keine Beteuerung, dass Sie nicht wissen wollen, wie sich meine Berührung anfühlt?«, fragte er.
»Ich habe kein Talent für die neckischen Spielchen, die Männer und Frauen miteinander spielen.« Sie wusste nicht, warum sie sich dazu gezwungen fühlte, dieses Detail über sich zu erzählen. Sie hatte sich den Jungs gegenüber immer behauptet, wenn es darum gegangen war, etwas zu stehlen, eine List anzuwenden oder Maßnahmen zu ergreifen, um jemanden auszunehmen. Sie fragten sie oft nach ihrer Meinung, wenn es ums Geschäft ging. Doch das alles war so weit entfernt von dem, was hier gerade passierte. Sie war wie eine unerfahrene Abenteurerin, die unbekanntes Terrain erkundete.
»Es ist kein Spiel, Miss Darling«, erwiderte Greystone mit leiser Stimme, die in ihr widerhallte und sich irgendwo in der Nähe ihres Herzens festsetzte.
»Und mit Berührung meinen Sie wahrscheinlich …«
»Einfach eine Berührung.«
Sie war sich ihrer Umgebung immer so bewusst und hatte stets alles im Blick. Sie ließ die Leute um sich herum nicht aus den Augen, damit sie den perfekten Moment erwischte, um zuzugreifen und dann unauffällig zu verschwinden. Und gerade ihr war entgangen, dass er sich näher zu ihr gebeugt hatte. In seinen blauen Augen schien die Glut des Verlangens zu schwelen. Unglaublich sacht und behutsam strich er mit den Fingerspitzen über ihr Gesicht – von ihrer Schläfe über ihre Wange bis hinunter zu ihrem Kinn.
»So zart«, flüsterte er, als er mit dem Daumen über ihre Unterlippe fuhr. Seine Augen folgten seinen Bewegungen, als hätte er noch nie etwas so Faszinierendes gesehen oder als wäre sie eine sehr, sehr seltene Spezies. »Die Herren, die bei Ihnen im Gesellschaftszimmer gestanden haben … Ist einer von ihnen Ihr Liebhaber?«
»Nein!« Diese Unterstellung kränkte sie. Sie hätte einen Schritt nach hinten gemacht, wenn das Gefühl seines Daumens auf ihrer Unterlippe sie nicht davon abgehalten hätte. Sie war wie versteinert.
»Haben Sie denn einen Liebhaber?«
»Ich wüsste nicht, was Sie das angehen sollte …«, erwiderte sie.
»Haben Sie?«, wiederholte er mit einer Eindringlichkeit, die keinen Zweifel daran ließ, dass er nicht zulassen würde, keine Antwort auf seine Frage zu bekommen.
»Nein.«
»Gut.«
Er hielt ihrem Blick stand. Und noch immer hatte er dieses Funkeln in den Augen. Wenn überhaupt, so war aus der Glut ein Feuer geworden, das sie zu versengen drohte. Sie hatte das Gefühl dahinzuschmelzen. In ihr wuchs der verrückte Wunsch, ein paar ihrer Knöpfe zu öffnen, damit er seinen kühlen Atem über ihre erhitzte Haut pusten konnte.
»Warum soll das gut sein?«, wollte sie wissen. Sie erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder. Sie klang viel zu … sinnlich.
»Weil ich Sie sehr gern küssen würde, Miss Darling. Und anders als Sie habe ich es mir nicht zur Gewohnheit gemacht, mir einfach zu nehmen, was eigentlich jemand anders gehört.«
Wieder spürte sie seine Finger auf ihrer Wange. Sanft hielt er ihr Kinn fest. Langsam kam er ihr näher, als wollte er ihr die Zeit lassen zurückzuweichen oder die Möglichkeit geben, Einspruch zu erheben. Doch sie tat nichts von beidem. Stattdessen ertappte sie sich dabei, wie sie sich unwillkürlich vorbeugte, ihm entgegen, und die Augen schloss. Im nächsten Moment fühlte sie seine Lippen auf ihrem Mund.
Sie hatte Küsse erlebt, zu denen sie brutal gezwungen worden war, und sie hatte Küsse erlebt, die keusch, fast schüchtern gewesen waren. Aber noch nie hatte ein Mann so sanft und doch so bestimmt ihre Lippen auseinandergedrängt, um seine Zunge in ihren Mund tauchen zu können. Noch nie hatte sie den Wunsch gehabt, sich ganz bereitwillig zu fügen. Er schmeckte nach Champagner, köstlich, geschmacksintensiv. Er schmeckte nach Begierde.
Er legte einen Arm um sie und zog sie an sich. Als Frau war sie einem Mann noch nie so nahe gewesen. Sie hatte nie gespürt, wie ihre Brust an den Oberkörper eines Mannes gepresst wurde. Sie hatte nie den Duft eines Mannes so tief eingeatmet, dass er ein Teil von ihr wurde. Sie hatte nie erlebt, wie die Zunge eines Mannes mit ihrer spielte, und sie hatte ganz sicher noch nie ihre Zunge in den Mund eines Mannes gedrängt, um ihn schmecken zu können. Alles, was zu erleben sie sich nie hatte vorstellen können, wünschte sie sich plötzlich mit einer Macht, die ihr hätte Angst machen sollen.
Doch sie hatte keine Angst. Er verführte sie dazu, ihre Arme um seinen Hals zu schlingen und sich auf die Zehenspitzen zu stellen, damit sie leichter erreichen konnte, wonach sie sich so sehr sehnte. Mit einem leisen Aufstöhnen neigte er den Kopf, um noch tiefer in sie dringen zu können, den Kuss noch intensiver zu machen und ihren Mund bedächtig zu erforschen. Die Hitze wurde größer, und ihr Körper wurde weich, als würde sie dahinschmelzen. War dies die Leidenschaft, die allumfassende Empfindung, die die beiden eins werden lassen konnte?
Er zog sich ein Stück zurück, und sie blickte in das tiefe Blau seiner Augen.
»Da Sie keinen Liebhaber haben, Miss Darling, würde ich Ihnen gern meine Dienste anbieten. Denn wie wir gerade bewiesen haben, passen wir sehr gut zusammen.«
Geht es dir gut?« In der Kutsche, die Luke ihnen geliehen hatte, um damit zurück zum Dodger’s zu fahren, wandte Frannie den Blick vom Fenster ab, aus dem sie geschaut, aber dank des Regens sowieso nichts hatte erkennen können, und sah Jack an. »Natürlich. Warum fragst du?«
»Du wirkst gerade besonders gedankenverloren.«
Das war sie auch. Und zwar waren ihre Gedanken bei Greystones skandalösem Vorschlag und bei ihrer noch viel skandalöseren Erwiderung: »Ich werde über Ihren Vorschlag nachdenken.«
Was genau bedeutete das? Dachte sie ernsthaft darüber nach, oder hatte sie einfach nicht gewusst, was sie hatte sagen sollen? Würde er, wenn sie Nein sagte, nie wieder fragen? Würde sie ihn je wiedersehen? Würde sie, wenn sie Ja sagte, ihre Meinung doch noch ändern? Würde sie es bereuen?