Verbrannt - Cathrin Justen - E-Book

Verbrannt E-Book

Cathrin Justen

0,0

Beschreibung

»Seine hellblauen Augen glänzen, doch es ist nicht der verklärte Glanz, den mein Bann hervorruft. Sein Blick ist eigenwillig und stark, scheint mich förmlich zu durchbohren. Und sein Lächeln ist hart, fast spöttisch. Ich taste erneut nach seinem Geist, versuche, ihn zu bannen. Meine Magie perlt von ihm ab wie Wasser auf Öl. Panik! So intensiv, so erdrückend, wie ich sie niemals zuvor verspürt habe. Die Situationslast ist erschlagend: Über diesen großen, dunkelhaarigen Magier mit dem intensiven Blick habe ich keinerlei Kontrolle.« Alera Boldwyn ist Asteas berühmteste Schauspielerin, umgarnt, beliebt, bewundert. Und dennoch führt sie ein Leben, das kaum einsamer sein könnte, bestimmt durch den Fluch ihrer außergewöhnlichen Magie. Bis sie ins Visier des Konzils gerät und plötzlich nichts mehr so ist, wie es war.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 550

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Elemente von Astea:

Buch 1: Verbrannt – Das Konzil der Elemente

Buch 2: Verweht – Die Rebellion der Elemente

Buch 3: Vergraben – Der Krieg der Elemente

DIE AUTORIN

Cathrin Justen verbrachte ihre Kindheit und Jugend in einem 200-Seelen-Dorf in der Eifel. Da dort nicht viel los war und zu den anderen Dörfern keine lückenlose Busverbindung bestand, schaffte ihre Fantasie Abhilfe. Ihre Teilnahme an Wettbewerben und Buchdiskussionen auf der Schreibplattform www.hierschreibenwir.de bescherte ihr mehrere erste Veröffentlichungen. Neben dem Schreiben und Träumen liebt sie das Tanzen, Schachtelsätze, Sarkasmus und alle Arten von Rätseln.

Für meinen Opa Rolf, einen geborenen Geschichtenerzähler. Ich habe dir versprochen, dass ich für uns beide die Fackel des Geschichtenerzählens weitertrage – hiermit nun endlich in die Welt hinaus.

Inhaltsverzeichnis

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

Danksagung

1.

Es gibt nur wenige Dinge, die meine Aufmerksamkeit wecken können. Feuer ist eines davon. Der Anblick der orangegelben Flammen, das Knistern ihrer schleichenden Verdauung, der Geruch nach Schwefel und Asche, und die Hitze. Die Hitze ist mein Favorit, schon immer gewesen.

Auch jetzt ertappe ich mich dabei, dass ich ihr schnell entgegengehe. Die Flammen sind kaum höher als meine Hüfte, doch ihre Energie bringt meine Haut zum Kribbeln.

Ich öffne die Tür, betrete den Raum, der einem Ofen gleicht. Mit ausgebreiteten Armen mache ich einen Schritt vorwärts, heiße die Hitze willkommen. Hinter mir zerbirst Glas, Splitter regnen auf mich herab wie Sprühregen. Es ist einer dieser Momente, in denen ich mir sicher bin, lebendig zu sein. In denen ich mich selbst spüre.

Ein weiterer Schritt, und ein lautes Piepen ertönt. Widerwillig ziehe ich mich zurück, folge dem Pfad. Durchquere den Raum in sicherem Abstand zur Feuersbrunst.

»Rim? Rim!«

Der Rauch bringt mich zum Husten. Meine Sicht, durch die Nähe des Feuers ungewöhnlich scharf, verschwimmt zwischen dunklen Schwaden.

»Rim!«

Ich schreie auf, als mein Knie gegen etwas Hartes stößt und ich nach vorne falle.

Ich ignoriere die Stimmen in meinem Ohr, die Warnungen rufen, bin nicht bereit, das hier abzubrechen. Noch nicht. Nie, wenn es nach mir gehen würde.

Erst nach einem erneuten Hustenanfall schaffe ich es, mich aufzurichten. Mit ausgestreckten Armen und gebeugten Knien taste ich mich vorwärts, halb laufend, halb kriechend.

Die Hitze nimmt zu. Ich kann die Flammen nicht sehen, aber ich weiß, dass sie nun höhere Saltos schlagen. Der Gedanke beschleunigt meinen Herzschlag.

Ich stoße erneut gegen etwas Hartes. Eine Wand, oder eine Tür vielmehr. Die Klinke ist angenehm warm. Ich drücke sie herunter.

Eine Sekunde lang macht mein Herz einen Aussetzer. Dann explodiert die Welt um mich herum, ich werde von den Füßen gerissen, fliege rückwärts.

Während der wenigen Sekunden, die ich fernab des Bodens verbringe, fühle ich mich frei und schwerelos. Bin gebannt von dem Schauspiel, das sich vor meinen Augen abspielt. Von dem riesigen Feuerball, der aus dem Rauch hervorschießt, wie eine Knospe erblüht und zerfällt.

Im nächsten Moment ist es vorbei. Ich spüre das Luftkissen unter mir, versinke in der Kälte, die mir die Sicht versperrt.

»Cut!«, ruft Regisseur Nummer Fünf. Ich kann es kaum über das Klirren in meinen Ohren hinweg hören.

Wie auf ein Stichwort kommen sämtliche Crewmitglieder auf mich zu gerannt, umkreisen das Sprungkissen und stoßen sich gegenseitig aus dem Weg, um mir von dem Polster zu helfen.

Ich atme tief ein, wappne mich gegen die Kälte, dann ergreife ich Eris’ Hände. Schwungvoll zieht er mich herauf und in eine feste Umarmung.

»Du warst großartig!«, ruft er aus und fügt gedämpft hinzu, sodass nur ich ihn hören kann: »Ein Glück, dass es dir gut geht.« Er tritt zurück und betrachtet mich besorgt. »Es geht dir doch gut, oder?«

Vermutlich liegt es an den Nachwirkungen des Adrenalinrausches, dass ich seine Fürsorge bemerke. Sie scheint aufrichtig zu sein. Zum Dank gewähre ich ihm mehr mentalen Freiraum und gehe sogar so weit, mir den Anflug eines Lächelns abzuringen, während sich alles in meinem Inneren verkrampft. Für einen Moment sehe ich das Gesicht meines Vaters vor mir, diesen Blick, den ich niemals vergessen werde. Es war einer seiner letzten, einer, der alles verändert hat. Ich schlinge die Arme um den Bauch, um zusammenzuhalten, was der Schleier nicht schlucken kann, und schüttele die Erinnerung ab.

Eris scheint nach wie vor besorgt.

Er ist nicht mein Vater, rufe ich mir in Erinnerung und versuche, die Anspannung loszulassen.

»Ich muss Sie untersuchen, Frau Boldwyn«, kräht die stark geschminkte Ärztin, die sämtliche Stunts des Films überwacht, und versucht, über Eris’ Schulter hinweg nach mir zu greifen.

Während sie ihr medizinisches Gerät an meinen Arm hält, befreit Eris mich von dem Seil, das mich zurückgezogen hat, und hilft mir aus dem Gurt.

Der Nebel zieht schon wieder auf und verschleiert meinen Blick. Dann umringt er mein Gehirn, baut den gewohnten Druck auf, bis ich meine Umgebung weitestgehend ausgeblendet habe. Mein kurzer Aufenthalt im Reich der Lebendigen neigt sich dem Ende zu.

Weitere Hände greifen nach mir, doch Eris schirmt mich von der übereifrigen Crew ab, während er mich zu einem Sessel abseits der Kulisse führt. Jemand drückt mir ein Glas kalten Sisop in die Hand. Mechanisch führe ich es an meine Lippen.

Stillschweigend, mit dem kleinsten Funken Wehmut, füge ich mich in mein Schicksal, kämpfe nicht gegen den Nebel an, da ich weiß, dass es nichts bringen würde. Dass es so besser ist.

Doch der Schleier der Gleichgültigkeit wiegt nicht so schwer auf meinem Geist, wie er es gewöhnlich tut. Irgendwann im Laufe der vergangenen beiden Wochen hat er einen Riss bekommen, ein winzig kleines Loch, gerade groß genug, um meinen Verstand zu kitzeln.

Ich sehe Eris an. Sein Gesicht ist schärfer alle anderen. Ich habe keine Ahnung, wie er es geschafft hat, meine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Man sollte ihm einen Orden verleihen, dafür dass er der Unmöglichkeit so selbstbewusst ins Gesicht gespuckt hat.

Erst zu Beginn der Dreharbeiten vor zwei Wochen haben wir uns kennengelernt. Zunächst war er nur einer von vielen Willenlosen, ein Mitglied meines republikweiten Fanclubs, der mich als Göttin verehrt. Es ist meine Magie, mein Bann, der meinen Mitmagiern weismacht, ich sei perfekt und unfehlbar. Er raubt ihnen die Macht über eine eigene Meinung.

Und das ist gut so. Nach seinem Blick schleichen sich nun auch die Worte meines Vaters in meinen Kopf. Du kannst froh sein, dass du diese Gabe hast. Wer sollte dich denn aus freien Stücken lieben!

Einzig der Schleier der Gleichgültigkeit hält mich davon ab, zusammenzubrechen, die Hände auf die Ohren zu pressen und mich vor und zurück zu wiegen wie ein Kind. Wie ich es getan habe, Tag um Tag, bis mein Schutzschild so dick war, dass ich fast nichts mehr fühlte. Lange hatte ich Ruhe vor diesen Erinnerungen. Wo kommen sie nun her? Warum können sie nicht endlich von mir ablassen?

Das ist die Kehrseite der Hoffnung, dass sich die Überzeugung meines Vaters als unwahr erweisen könnte. Wenn ich den Schleier lichte, um Eris näher zu sein, biete ich meinen Dämonen Angriffsfläche.

Er ist es wert, sage ich mir im Stillen.

Denn etwas an Eris ist anders. Etwas hat mich dazu gebracht, ihn wahrzunehmen. Wirklich wahrzunehmen. Als Individuum, das es verdient, als solches beachtet zu werden. Nicht lediglich als Teil einer großen uniformen Masse, in der verschiedene Gesichter zu einem einzigen verschwommenen Antlitz verschmelzen. Und so etwas wie Neugierde ist in mir aufgestiegen, Tatendrang. Es hat ein paar Tage gedauert, bis ich mich getraut habe, diesem ungewohnten Bedürfnis nachzugeben, bis ich meinen Griff um Eris’ Verstand gelockert habe. Und als er mir nach wie vor mit der gleichen Freundlichkeit begegnete, habe ich nicht widerstehen können, ihm eine Chance zu geben. Vielleicht … Ist es vielleicht möglich, dass er mich tatsächlich mögen könnte?

Dem Loch im Schleier schreibe es ich zu, dass ich ein wenig zu energisch das leere Glas abstelle.

Zu schön. Es wäre viel zu schön, um wahr zu sein.

Eris sieht mich mit seinen orangen Augen an, für die er so berühmt ist. Er lächelt, dieses äußerst charmante Lächeln, das einem das Gefühl gibt, die einzige Magierin in der gesamten Republik zu sein. Wenn man der Boulevardpresse Glauben schenken kann.

Und dennoch, es ist schon außergewöhnlich, dass ich seine angehobenen Mundwinkel überhaupt wahrnehme. Und mir des Effekts bewusst bin, den diese auf andere Frauen haben.

»Das war wirklich unglaublich, Alera«, sagt er und streichelt mir über die Wange.

Da ich mich bereits daran erinnert habe, wie man die Mundwinkel bewegt, schenke ich ihm ein weiteres Lächeln.

Er greift nach meiner Hand. »Du bist eine tolle Frau, Alera. Ich fühle mich geehrt, dass ich diesen Film mit dir drehen darf.«

Du hast auch keine andere Wahl, als dich geehrt zu fühlen.

»Alera, Herzchen, wie geht es dir? Der Stunt war der Hammer!« Nummer Fünf ist neben uns aufgetaucht und klopft mir eifrig auf die Schulter.

Ja doch. Alle sind absolut begeistert.

Ich mache Anstalten zu gehen.

»Sehen wir uns draußen?«, fragt Eris.

Ich bin heute besonders sportlich und gewähre ihm zum Abschied sowohl ein Nicken als auch ein drittes Lächeln. Nummer Fünf lasse ich wie gewohnt links liegen. Manchmal würde ich seiner Bewunderung für mich gerne den Pfeffer aus dem Arsch ziehen können.

Ich spüre, dass meine Augen wieder schwer werden.

Es ist ermüdend, nichts falsch machen zu können.

*

Eris wartet abgeschminkt und frisch geduscht im Foyer des Film-studios auf mich.

»Hallo, schöne Frau.« Er küsst mich auf die Wange und bietet mir seinen Arm an. »Darf ich die Dame zum Auto begleiten?«

Gemeinsam verlassen wir das Gebäude.

Froh, dem stickigen Studio zu entkommen, atme ich tief ein. Die Luft ist kühl, auch wenn der magisch verstärkte Stoff meines Kleides diese Tatsache zu überspielen versucht. Sie macht meinen Kopf leichter und die Enge des Schleiers weniger erdrückend.

»Corjer ist echt super, oder?«

Es dauert einen Moment, bis Eris’ Worte durch den Nebel gedrungen sind. Einen weiteren, bis mein Gehirn einsetzt.

Corjer? Ach so, der Regisseur. Ich arbeite lieber mit Zahlen.

Fast vergesse ich zu antworten. Es ist schwer den Schalter meiner Gehirnaktivität von der »Durchzug«-Einstellung wegzubewegen. Zehn Jahre Rost haften schwer an ihm.

»Er … ist in Ordnung«, sage ich und lasse mich damit auf die erste wirkliche Unterhaltung seit einer gefühlten Ewigkeit ein. Beinahe erschreckt mich das raue Krächzen. Die Gewissheit, dass es meinem eigenen Mund entspringt, lässt es umso fremder wirken.

Eris sieht mich erwartungsvoll von der Seite an. Ich konzentriere mich auf sein Gesicht, das immer wieder aus meinem Fokus rutscht. Erwartungsvoll. Er erwartet, dass ich weiterrede.

Nummer Fünf … Es ist mühsam, einen Denkprozess in Gang zu setzen. Nach einer gefühlten Ewigkeit komme ich zu dem Schluss, dass ich mir keine Meinung über den Regisseur gebildet habe. Aus der Masse der grenzenlosen Begeisterung, die mich umgibt, sobald ich meine Wohnung verlasse, ist er nicht wirklich herausgestochen.

»Er mag Stuntszenen«, ringe ich mir ab. Die Worte kommen nicht so klar aus meinem Mund wie die von Eris.

»Ja, er scheint zu wissen, was er tut«, sagt Eris munter. »Es ist immer erfrischend, mit einem erfahrenen Regisseur zusammenzuarbeiten.«

Ich bringe mich dazu, zu nicken, und lenke nach rechts ein.

»Kannst du deinen Text für morgen schon?«, fragt Eris.

Für morgen und übermorgen und die ganze folgende Woche. Ich möchte schon nicken, da geschieht etwas Wundersames. Einer plötzlichen Eingebung folgend bleibe ich stehen und wende mich ihm zu. »Wollen wir ihn zusammen üben? Bei mir zuhause vielleicht?«

Wow. So viele Wörter. Ich glaube, die Hälfte der Endungen verschluckt zu haben. Sicher bin ich mir nicht. Die Verwunderung über mich selbst hat mich in Schockstarre versetzt.

Ich komme nicht umhin, Eris mit großen Augen anzusehen.

Ob es seine Magie ist, zu anderen durchdringen zu können?

Er strahlt mich an. »Gerne.«

Erst als sein Blick in etwas umspringt, das ich vage als Besorgnis deute, schaffe ich es, mich wieder in Bewegung zu setzen. Ich nehme mein Virtopad in die Hand und lege meinen Daumen auf das Aktivierungsfeld der Auto-App. Kurz darauf hält mein Sportwagen vor uns.

»Schickst du mir deine Adresse?«, fragt Eris und ich nicke, als ich die Hand nach der Tür ausstrecke.

In diesem Moment spüre ich einen Windhauch. Und plötzlich ist mein Kopf voller merkwürdiger Eingebungen, von denen mir schwindelig wird. Ich falle zurück und stütze mich auf dem Dach meines Autos ab, während ich der Informationsflut ausgeliefert bin.

Ich höre, nein, spüre vielmehr, Schritte, klein und schnell, hinter mir. Erschöpftes Schnaufen. Schwere Schritte, die den leichten folgen. Das Summen und Knistern von Elektrizität.

Langsam drehe ich mich um. Zwei Magier in schwarzen Uniformen rennen mit schwingenden Elektrostöcken auf uns zu. Wächtermagier.

»Vorsicht!«, ruft einer der beiden. »Ein Gewöhnlicher!«

Erst jetzt bemerke ich die kleine Person, die den Wächtern vorauseilt. Ich kann gerade noch einen Blick auf sein verschwommenes Gesicht werfen, bevor das Kind vor mir auf die Knie fällt und meine Hand ergreift. Ich starre auf das verschmutzte graue T-Shirt und die löchrige braune Hose des Jungen. Grau und braun, die Farben der Gewöhnlichen. Ein Gewöhnlicher. Das hat mir mein mysteriöser sechster Sinn nicht verraten.

»Frau Boldwyn, ich bin Ihr größter Fan!«, ruft der Junge verzweifelt. »Bitte, bitte geben Sie mir ein Autogramm!« Er lässt meine Hand los und hält mir einen verknitterten Fetzen und etwas, das auf sehr primitive Art an einen Stift erinnert, entgegen.

Irgendwo habe ich diese Dinge schon einmal gesehen. Aus den tiefsten Sphären meiner Erinnerung kann ich schließlich zwei Wörter ausgraben: ›Papier‹ und ›Kugelschreiber‹.

»Bitte, Frau Boldwyn!«, fleht der Junge und wirft einen panischen Blick über die Schulter. »Bitte!« Er drückt mir den Kugelschreiber in die Hand.

Ein lautes Summen. Der Junge schreit auf und zuckt zusammen. Im nächsten Augenblick ist er verschwunden.

Einer der Wächter hat ihn gepackt und von mir weggezogen. Erneut schlägt er mit seinem elektrischen Stock auf den Gewöhnlichen ein und die Luft wird von einem weiteren Schmerzensschrei zerrissen.

»Alles in Ordnung, Frau Boldwyn?«

»Nichts ist in Ordnung!«, fährt Eris ihn an. »Frau Boldwyn ist von einem abscheulichen Gewöhnlichen angegriffen worden. Das hätte nicht passieren dürfen!«

»Es tut mir aufrichtig leid«, beteuert der Wächter.

Ich ignoriere beide. Der Junge wird von dem anderen Magier über den Parkplatz gezerrt. Immer noch höre ich sein Winseln.

»Tut mir leid, dass Sie das mit ansehen mussten, Frau Boldwyn«, sagt der Wächter, der meinen Blick bemerkt hat. Er meint den Gewöhnlichen, nicht dessen Bestrafung.

Aus der Tasche seiner schwarzen Uniform kramt er unbeholfen ein Desinfektionsspray hervor. »Erlauben Sie.«

Er richtet die Sprühdose auf meine Hand und ist so übereifrig, dass er meinen Bauch sowie meine Oberschenkel mit einsprüht.

»Verzeihung, verzeihen Sie bitte!«

Eris schiebt ihn unwirsch zur Seite, legt einen Arm um meine Schultern und zieht mich mit sich. Nachdem er mich auf dem Beifahrersitz meines Autos verstaut hat, nimmt er hinter dem Steuer Platz, weist das Navigationsgerät an, uns zu meiner Wohnung zu führen, und startet den Motor.

Als wir das Gelände der Filmstudios hinter uns gelassen haben, spüre ich Eris’ Blick auf mir. »Keine Sorge, ich werde diese Wächter melden. Diese faulen, nichtsnutzigen Germas! Eine unverschämte Stümperei!«

Ich schließe die Augen und versuche, die verwirrenden Gefühle zu ordnen, die meinen Kopf zum Pochen bringen. Ich bin es nicht gewöhnt, so viel zu denken, so viel zu empfinden. Ich weiß nicht, was ich von dem soeben Geschehenen halten soll. Keine Ahnung, warum ich überhaupt etwas davon halten möchte.

»So etwas nennt sich Wächter! Stell dir vor, wir wären nur auf solche Dilettanten angewiesen! Erst lassen sie einen Gewöhnlichen ausbrechen und dann schaffen sie es nicht einmal, ihn in Schach zu halten. Ich sage dir, Germas sind die wahren Schandflecken unserer Gesellschaft! Fast noch schlimmer als Gewöhnliche.«

Ich brauche frische Luft.

»Fenster öffnen«, murmele ich und das Auto gehorcht. Ich atme tief durch die Nase ein und lasse die Luft durch den Mund wieder ausströmen.

Der Anblick des Gewöhnlichen war furchtbar und verstörend. Und er hat mich angefasst. Meine Hand brennt und sticht, ganz so als sei sie es gewesen, die mit dem Elektrostock in Berührung gekommen ist.

Hoffentlich habe ich mir nichts eingefangen.

»Alles in Ordnung, Alera? Kann ich irgendetwas für dich tun?«

Da es Eris ist – ein Magier, dessen Namen ich kenne –, mache ich mir die Mühe, den Kopf zu schütteln.

»Alles wird gut.« Er streichelt mir über die Hand. Die unbeschmutzte. »Wenn du den Schock erst einmal überwunden hast, du wirst schon sehen. Wächtermagier!«, schnaubt er. »Die können nichts als mit ihren Elektrostöcken herumwedeln. Darin sind sie große Klasse. Aber wenn es ums Beschützen geht…«

Der Elektrostock des Wächters. Wie er immer und immer wieder auf den Jungen eingedroschen hat.

Ein Gewöhnlicher, der seine Grenzen überschritten hat, muss zurechtgewiesen werden. Dennoch…

»Das war noch ein Kind«, flüstere ich.

»Ein gewöhnliches Kind«, verbessert mich Eris. »Die Jugend macht sie nicht weniger widerwärtig.«

Natürlich hat er recht. Warum kümmert mich das überhaupt?

Ich beschließe, den Vorfall aus meinen Gedanken zu verbannen. Es ist ohnehin nur die brennende Hand, die mich auf derartige Hirngespinste gebracht hat. Ihretwegen bin ich so aufgewühlt. Aufgewühlt und lebendig auf eine Art und Weise, die mir bisher unbekannt war.

Verwundert stelle ich fest, dass die Begegnung mit dem Gewöhnlichen das Loch noch weiter aufgerissen hat.

Vor meinem Wohngebäude angekommen übergibt Eris den Wagen an den Portier-Gehilfen und führt mich in das Hochhaus.

»Frau Boldwyn. Einen wunderschönen guten Abend.« Der Portier verfällt in eine tiefe Verbeugung.

»Abend«, sagt Eris und steuert den Raum mit den Aufzügen an. Ich sage gar nichts, genieße stattdessen Eris’ Arm auf meinem Rücken.

»Welcher Stock?«, fragt Eris zur selben Zeit, zu der ich dem Fahrstuhl die Anweisung »105« erteile.

»Geht schon wieder«, bringe ich hervor.

»Sicher?« Er mustert mich prüfend.

Ich nicke.

»Der 105. Stock also«, sagt Eris, als wir vor meiner Wohnungstür stehen. »Ich habe mich schon gefragt, was für ein Etagen-Typ du bist. Der 300er-Typ, der verträumte Sonnenanbeter, der mit dem Himmel mehr anfangen kann als mit der Erde. Der 200er-Typ, der sich nicht so ganz entscheiden kann, oder doch der 100er-Typ, der gerne auf dem Boden der Tatsachen bleibt.«

Meine Mundwinkel zucken, ohne dass ich sie dazu zwinge, und ich erschrecke kurz über diesen Kontrollverlust. Ich wende mich ab und trete an das Scanfeld heran.

»Ich mag den Ausblick auf die Stadt, aber ich bestehe auch auf meine Privatsphäre.« Der Satz hat sich fast von selbst gebildet. Ich lerne schnell. Oder erinnere mich vielmehr daran, dass ich die Kunst des spontanen Sprechens schon als Kind gemeistert habe. Vielleicht ist Reden eines dieser Dinge, die man nie wirklich verlernt.

Innerhalb einer Sekunde hat der Scanner meine Pupillen abgetastet und die Wohnungstür öffnet sich.

»Furchtbar, diese elektrischen Fernrohre«, sagt Eris. »Die müssten für den privaten Gebrauch verboten werden.«

Als ich die Wohnung betrete, schalten sich das Licht sowie sämtliche digitale Bildschirme im Raum ein. Ich hänge meine Handtasche an den Garderobenhaken, der geräuschlos in der Wand verschwindet.

»Wow«, sagt Eris hinter mir, »so lebt sie also, die berühmte Alera Boldwyn. Ich wusste ja, dass du Stil hast, aber … wow! Hast du das alles selbst eingerichtet?«

Ich nicke. Mit irgendetwas muss man sich ja die Zeit vertreiben.

Eris sieht sich mit sichtlicher Hochachtung in meiner Wohnung um.

»Ist das ein Magoskop?« Er deutet auf den rechteckigen Gegenstand mit der halbkreisförmigen Anzeigetafel, der über meinem Sofa hängt. »Das muss ja uralt sein! Eine wahre Rarität! Und sieh nur, der Zeiger ist fast im gelben Bereich.« Er wendet sich mir zu, ein Grinsen im Gesicht. »Kein Wunder, du hast mich eindeutig verzaubert.«

Ich starre ihn an, wirklich schockiert. Doch er lacht munter. Ein Scherz, nichts weiter.

»Es ist kaputt.« Ich muss mich dazu zwingen, das zu sagen. Dabei beweist die Tatsache, dass die Nadel des Magoskops so weit ausgeschlagen ist, das genaue Gegenteil.

Eris setzt seine Erkundungstour im Wohnzimmer fort. Es ist merkwürdig, ihn in dieser privaten Umgebung zu sehen. Er ist der erste Besucher, der es hinter meine Wohnungstür geschafft hat. Nicht ohne Grund: Ihm habe ich die aufregendsten Tage eines ganzen Jahrzehnts zu verdanken. Ebenso wie diese leise, hartnäckige Stimme in meinem Kopf, die auf ihren hoffnungsvollen »Was, wenn«-Sätzen beharrt.

Was, wenn er mich so mag, wie ich bin?

Die ungebannte Wahrheit.

Ich muss es einfach versuchen, ich muss. Auch wenn das bedeutet, dass ich riskiere, erneut verletzt zu werden.

»Eris.« Meine Stimme zittert leicht. Er dreht sich zu mir um und lächelt. Ich strecke die Hand nach ihm aus.

Er kommt auf mich zu und ergreift sie.

Jetzt oder nie. Bevor ich meine Meinung ändere. Bevor mich der Mut wieder verlässt.

Ich hole tief Luft, schließe die Augen, versuche, den Anflug von Furcht zu unterdrücken, der in mir aufsteigen möchte, und löse die Fesseln um seinen Verstand bis auf einen minimalen Prozentteil.

Und gleichzeitig verdränge ich auch die Vernebelung meiner Sinne. Denke klarer denn je.

Beim heiligen Nestor, was mache ich hier?

Ich wage es nicht, die Augen zu öffnen. Was wenn der warme Blick, mit dem er mich soeben noch angesehen hat, in Abscheu oder gar Hass umgeschlagen ist?

Zum zweiten Mal an diesem Tag ist mein Herz aus dem Tiefschlaf erwacht. Es pocht bis zum Hals und weit darüber hinaus, fast bis in meinen Mund hinein. Wie wird er reagieren? Wann wird er endlich reagieren?

Ganz leicht zucke ich zusammen, als ich plötzlich seine Hand auf meiner Wange spüre. Doch die Berührung fühlt sich sanft an. Mein Herz macht einen Aussetzer. Ich wusste nicht, dass es das kann.

»Wovor hast du Angst?«, fragt Eris mit ruhiger Stimme.

Ich schlage die Augen auf und mir bleibt augenblicklich die Luft weg. Sein Gesicht ist so scharf, so viel deutlicher zu erkennen, klarer denn je. Und das liegt nicht nur daran, dass unsere Nasen sich beinahe berühren.

Eine Zeit lang sieht Eris mich nur an. In seinen Augen liegt ein Funkeln, das echt ist, nicht die Wirkung eines Zaubers.

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Was wenn ich etwas falsch mache und ihn vergraule? Wenn ich mich nicht bald erinnere, wie man Luft holt, ersticke ich.

»Du bist so schön, Alera«, flüstert Eris und küsst mich.

Und nun ersticke ich wirklich. Vor lauter … Erleichterung und … Glück? Denn dies ist ein echter Kuss, kein gestellter. Keine lieblose Anweisung in einem Drehbuch. Keine Folge vollkommener Verblendung. Hier sind wahre Gefühle im Spiel.

Unfassbar! Unfassbar, dass Eris mich aus freiem Willen mag!

Es ist nur ein kurzer Kuss. Und doch muss ich nach Luft schnappen, als Eris sich von mir löst.

Ich bin wieder lebendig! Gleich betrete ich erneut den Raum voller Flammen, bereite mich auf die Explosion vor.

Eris tritt einen Schritt zurück.

Was … habe ich etwas falsch gemacht? Hätte ich ihn nicht zurückküssen sollen? Habe ich ihm wehgetan?

»Wow«, sagt er und grinst verschmitzt. »Das war nicht geplant. Oh!« Seine Augen weiten sich. »Tut mir leid! Ich dachte… Vergiss es einfach. Das ist nie passiert.«

Mir wird klar, dass ich ihn anstarre. Er glaubt, dass das meine Reaktion auf seinen Kuss ist, dass ich ihn zurückweise. Fast schon lächele ich. Seine Unsicherheit spricht mir Mut zu.

»Und wenn ich das nicht vergessen möchte?«, sage ich, in einem Ton, den ich immer für verführerisch gehalten habe, der jetzt, da ich nicht mehr Herrin der Lage bin, furchtbar plump und verkrampft klingt. »Steht … steht im Drehbuch nicht etwas von einer dreiminütigen leidenschaftlichen Kuss-Szene?«

Ich kann nur hoffen, beten, dass sich das in Eris’ Ohren weniger lächerlich angehört hat als in meinen. Dennoch empfinde ich ein bisschen Stolz, als ich auch noch einen Schritt auf ihn zugehe. Mein Herz hat sich in meinem Hals eingenistet und pocht mit neuer Rekordgeschwindigkeit vor sich hin.

Eris’ Gesichtszüge entspannen sich und seine Lippen formen ein Lächeln. »Im Drehbuch steht auch was von nackter Haut.«

Er legt eine Hand in meinen Nacken und küsst mich erneut.

Seine Lippen sind kühl wie seine restliche Haut, doch das Verlangen, das sie transportieren, kompensiert die fehlende Wärme. Ich verschränke meine Hände in seinen Haaren und erwidere den Kuss.

Oh ja, und wie ich lebe! Lange ist es her, viel zu lange, dass es in meinem Leben mehr als nur mich selbst und meine Einsamkeit gab.

Eris’ Lippen wandern fordernd meinen Hals hinunter zu meinem Dekolleté. Seine Hand schiebt sich unter mein T-Shirt und zerrt es hoch. Ich hebe die Arme, damit er es ausziehen kann. Dann greife ich nach seinem Hemd und wir drehen den Spieß um. Seine Hände gleiten zu meiner Hüfte und suchen das Öffnungsfeld meines Rockes. Ich lege meine Finger darauf und der Rock weitet sich und rutscht meine Oberschenkel herunter.

Mein ganzer Körper kribbelt. Dieses Gefühl ist göttlich. Ich möchte es einfangen, festhalten, dafür sorgen, dass es mich nie wieder loslässt.

Ich drücke meine Hand auf seine Hose, deren Stoff sich ausdehnt und zu Boden gleitet. Rückwärts stolpernd führe ich ihn zu meinem Sofa, während seine Lippen wieder meinen Hals massieren.

Ich will ihn freilassen, ihm komplett die Kontrolle über seine Gefühle überlassen. Das bin ich ihm schuldig.

Ohne weiter darüber nachzudenken, löse ich den letzten Hauch seiner geistigen Gefangenschaft und ziehe ihn mit mir aufs Polster. Er küsst erneut meinen Hals.

Dann erstarrt er plötzlich.

»Was ist los?«, frage ich atemlos.

Langsam richtet er sich auf, tritt einen Schritt zurück und blickt auf mich herunter. Er betrachtet seine Hände, seinen nackten Oberkörper, berührt seine Lippen, die noch feucht sein müssen von unserem Kuss. Dann sieht er wieder mich an. Unverständnis in den Augen, unausgesprochene Fragen auf den Lippen.

Mir stockt der Atem.

»Du bist anders«, sagt er nach einer gefühlten Ewigkeit. »Es fühlt sich anders an. Was ist … passiert?«

Ich starre ihn nur an, unfähig, mich zu rühren.

»Ich bin … anders. Wie … befreit.« Er sieht erneut an sich herunter. Als er wieder aufblickt, ist die Verwirrung aus seinem Gesicht verschwunden. »Was hast du mit mir gemacht?«, ruft er, seine Stimme mit einem Mal tief und bedrohlich. »Was hast du getan?«

Er packt mein Handgelenk und zerrt mich hoch. Er schüttelt mich heftig.

»Du hast mich verhext!«, schreit er und schmeißt mich zu Boden.

Ich wimmere.

Das ist nicht Eris. Dieser gewalttätige Mann, der mit hochrotem Kopf und hassverzerrtem Gesicht über mir steht und mich verletzt, das ist nicht Eris.

»Du hast mich belogen, du Flittchen!«

Er holt zum Schlag aus.

Ich hebe die Arme über den Kopf und binde ihn.

Einige Sekunden lang herrscht absolute Stille. Dann stürzt Eris sich auf mich.

»Heiliger Nestor! Alera, das … das wollte ich nicht! Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist. Bist du okay?« Er greift nach meinen Ellbogen und will mich hochziehen, doch ich schlage seine Hände zurück.

»Geh«, sage ich. Mit einem Mal ist es so schwer, zu sprechen.

»Es tut mir so leid«, beteuert er und meint es. Die Worte sind in seinen wiedergefundenen Mitglieds-Ausweis des Alera-Boldwyn-Fanclubs eingraviert.

»Geh!«, sage ich lauter.

Er steht eine Weile lang reglos vor mir, dann durchquert er den Raum, sammelt Hose und Hemd ein und zieht sich an.

»Geh einfach!«, sage ich, bevor er erneut schwören kann, wie leid es ihm tut. Wortlos verlässt er die Wohnung.

Ich sinke hinter der verschlossenen Tür zusammen. Gebe mich den Tränen hin. Der Trauer, dem Schmerz.

Einmal mehr versetzt mir die Erkenntnis einen Stich, durchlöchert mich. Mein Vater hatte recht. Ich werde für immer alleine sein. Weil ich so bin, wie ich bin. Weil irgendetwas an mir falsch und abstoßend und schrecklich ist. So schrecklich, dass es selbst meine Eltern in die Flucht geschlagen hat. Als ich gerade einmal zehn war.

Was für ein Erwachsener muss aus mir geworden sein, wenn ich als Kind schon so ein Monstrum war?

Es war töricht von mir, Eris freizugeben. So dumm.

Natürlich hat er wütend reagiert. Ich habe ihm seinen Willen genommen, ihn gezwungen, Zeit mit mir zu verbringen.

»Das ist nicht in Ordnung«, flüstere ich. »Ich kann das nicht mehr tun. Ich hasse es!«

So sehr. Aber welche Wahl habe ich? Der erzwungene Sozialkontakt ist alles, was mir bleibt. Auch wenn ich ihn nicht richtig spüre, brauche ich ihn. Um meinen Beruf auszuüben, um zumindest die Illusion von einem sinnerfüllten Leben zu führen. Um nicht gänzlich allein zu sein. Mit dieser eiskalten, erdrückenden Empfindungslosigkeit.

Irgendwann spüre ich gar nichts mehr. Der Nebel ist zurückgekehrt, hat sich erneut vor meine Augen geschoben und um mein Gehirn gewunden, das Loch repariert, mit schützender Zärtlichkeit den Schmerz abgeschnürt.

Ich hätte es besser wissen müssen, denke ich. Dann denke ich nichts mehr.

Als ich schließlich aufstehe und die Hand, die der Gewöhnliche angefasst hat, im Badezimmer mit dem Notfallkit behandle, bin ich wieder leer und teilnahmslos. Der einzige Zustand, in dem sich dieses einsame Los von einem Leben ertragen lässt.

2.

Ich untersuche aufmerksam meine Hand. Nach dem Auftragen des Desinfektionssprays und der Salbe aus dem Notfallkit spannt die Haut immer ein bisschen. Abgesehen davon erkenne ich nichts Auffälliges. Eine Woche ist seit dem Vorfall auf dem Parkplatz vergangen, in der ich die Hand regelmäßig desinfiziert habe. Dem Institut für die Gesundheit Asteas zufolge ist die Gefahr von Infektionskrankheiten somit gebannt.

Eine Sorge weniger.

Die zweite namens Eris werde ich in fünf Tagen mit dem Abschluss der Dreharbeiten ebenfalls los sein. Die vergangene Woche war anstrengend. Wieder unter meinem Bann hat er versucht, seinen Fehltritt, den er sich nicht mehr erklären kann, durch besonders aufmerksames Verhalten wiedergutzumachen. Wie jeden anderen Magier am Set habe ich auch ihn einfach ignoriert, doch er ist deutlich aufdringlicher als ein normaler Willenloser. Er wiederholt sich ständig, vermutlich weil er mir schon einmal mehr als schweigsame Ignoranz entlocken konnte. Nicht dass ihn diese davon abhalten würde, mich anzuhimmeln.

Die meisten seiner Worte dringen kaum durch den Nebel, sind nur ein Summen am Rande meiner Wahrnehmung, Teil eines ganzen Schwarms von Sätzen, die die Magier um mich herum von sich geben.

Es ist mir egal. Vollkommen. Er ist mir egal. Nach seinem Ausraster in meinem Appartement ist er lediglich zu einem weiteren falschen Verehrer geworden. Teil der großen Illusion, die mich am Leben hält und sogleich aussaugt wie ein Parasit, der nie genug bekommt.

Er ist mir egal.

Er ist mir egal.

Mir ist alles egal.

Und doch bin ich froh, wenn die Dreharbeiten abgeschlossen sind, Eris aus meinem Leben verschwindet und ich endlich vollends mit alledem abschließen kann. Ereignisse wie dieses sind gefährlich. Sie tendieren dazu, am Rande meines Bewusstseins zu lauern. Nach einem Riss im Nebel suchend, erpicht darauf, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit zuzuschlagen.

Risse sind keine Seltenheit. Von Zeit zu Zeit tauchen sie auf und erinnern mich daran, dass mein System der Gleichgültigkeit nicht perfekt ist, dass ich nicht vollends vor dem, was manche als Leben bezeichnen, davonlaufen kann. Es benötigt nicht viel. Einen unerwartet heftigen Zusammenstoß mit einem anderen Magier oder einem Gegenstand etwa. So groß wie der Riss, den Eris hervorgerufen hat, sind sie jedoch nie.

Nur noch eine Woche, dann muss ich ihn nie wieder sehen. Dann kann ich endlich das tun, worin ich am besten bin: Vergessen.

Ich trete an meinen Kleiderschrank und stelle mir auf dem Bildschirm ein Outfit zusammen, das Sekunden später in der rechteckigen Ausgabeöffnung erscheint. Während ich in die erschlafften Kleidungsstücke schlüpfe, verfolge ich die aktuellen Nachrichten auf der Fensterfläche meines Schlafzimmers. Auf ein Drücken an den richtigen Stellen passen sich Hose sowie Bluse meiner Körperform an.

Ich verlasse mein Schlafzimmer und sehe mir den Rest der Nachrichten in der Küche an. Als ich auf dem Bedienfeld des Kühlschranks die Zutaten meines Frühstück-Shakes auswähle, läuft ein Beitrag über die jüngst vom Konzil veranlassten Sicherheitsmaß-nahmen. Nachdem der Angriff des Gewöhnlichen auf mich Schlagzeilen gemacht und in der Magiergemeinschaft eine Welle panischer Wut ausgelöst hat, wurden vor vier Tagen eine Reihe Anweisungen vom Konzil veranlasst, welche seither in Rekordgeschwindigkeit umgesetzt werden.

Der Bericht zeigt eine 3D-Aufnahme des magisch sowie elektronisch verstärkten Zaunes, der die Gewöhnlichensiedlung direkt vor Asteas Hauptstadt Nestoras umgibt. Eine extra angeordnete Überprüfung des alten Zaunes hat einige Sicherheitslücken aufgedeckt. Diesen verbesserten Schutzwall hingegen, so die Pressesprecherin des Instituts der Republikanischen Sicherheit, könnte nicht einmal ein Magier der höheren Klassen überwinden.

Um Nestoras’ Straßen zusätzlich abzusichern, wurde die Anzahl der Sucher verdoppelt. Die beiden Wächtermagier, die zur Zeit des Unglücks auf dem Parkplatz der Filmstudios Dienst hatten, wurden umgehend entlassen. Ebenso wie diejenigen, die an jenem Tag zur Beaufsichtigung der Gewöhnlichensiedlung eingeteilt waren. Alle übrigen Wächtermagier werden in den folgenden Tagen einer eingehenden Prüfung unterzogen. Verschärfte Aufnahmekriterien werden es zukünftigen Anwärtern deutlich erschweren, Teil dieser Berufsgruppe zu werden.

Ich nehme einen Schluck meines Frühstück-Shakes.

Keiner der vielen Berichte über den Vorfall hat ein Wort über den Verbleib des Jungen verloren. Sobald die Öffentlichkeit erfährt, dass ein ungezogener Gewöhnlicher bestraft wurde, verlangt sie nach keinen weiteren Informationen.

Dennoch… Etwas an der Art, wie er über den Boden geschleift ist, als der Wächter ihn fortgezerrt hat, sagt mir, dass er, wenn überhaupt, nicht aus eigenen Kräften hinter diese Mauern zurückgekehrt ist.

Ich schüttele den Kopf. Manchmal vergisst mein dummer Verstand, dass mir alles egal ist. Alles. Auch das.

Auf einen Wink meiner Hand hin wird der Nachrichtensprecher in seiner Berichterstattung abgewürgt und im nächsten Moment geben die Fenster meiner Wohnung wieder den Blick auf die Stadt frei.

Ich nehme einen weiteren Schluck, während ich an das Bedienfeld meines Handtaschenschranks trete. Sekunden später fährt der Garderobenhaken mit dem fertig gepackten Exemplar aus der Wand.

Ich leere den Shake, werfe den Becher in den Recycler, ergreife die Handtasche und verlasse die Wohnung.

Die Fahrt zum Studio geht schnell. Seit dem Überfall haben sich viele Magier in ihre Häuser zurückgezogen, aus Angst vor weiteren Angriffen. Mit den neuesten politischen Maßnahmen kehrt allmählich das Leben auf die Straßen zurück, doch nach wie vor ist es größtenteils der Berufsverkehr, der sich durch die Stadt bewegt.

Ich nehme die diensthabenden Wächtermagier, die sich zur Begrüßung verbeugen, kaum wahr, als ich die Sicherheitsschleuse des Studios passiere und auf den Parkplatz fahre.

Es ist wirklich gut, dass die Dreharbeiten bald abgeschlossen sind. Es fehlt nicht mehr viel, bis die Frustration, die ich beim Anblick des gläsernen Gebäudes empfinde, unerträglich wird. Das passiert immer, wenn ich längere Zeit an einem Ort arbeite. Jeder Tag mit dieser Filmcrew und den anderen Schauspielern, jeder Blick auf diese verklärt glänzenden Augen, so verschwommen ich sie auch wahrnehmen mag, ist eine Zerreißprobe für den Schleier und meinen Selbsterhalt. Selbst die Schauspielerei bietet mir schon lange keine Ablenkung mehr. Die Aufregung und die Lebendigkeit, die ich zu Beginn verspürte, wann immer ich mir für kurze Zeit einbilden konnte, ein anderes Leben zu führen, sind längst in Teilnahmslosigkeit umgeschlagen. Wieso mich anstrengen und eine gute Performance abgeben, wenn nicht einmal die Chance besteht, schlechte Kritiken zu bekommen?

Egal wie gleichgültig und gelangweilt ich meinen Text herunterlalle, jeder meiner Filme wird zu einem absoluten Kassenschlager.

Vollkommen empfindungslos betrete ich das Gebäude. Nur am Rande nehme ich das grüne Aufleuchten der Magoskop-Schleuse wahr. Die Personen um mich herum, die mich ansehen, ansprechen, auf mich zukommen, ziehen wie ein Dunstschleier an mir vorbei. Überall Summen.

Erst als ich in der Maske sitze, werde ich aus meiner Trance gerissen. Die Stylistin setzt mir gerade eine Frisiermaschine auf den Kopf und wählt auf dem Bedienfeld des Geräts eine Frisur aus. Ich bin irritiert, weil sie nicht wie gewöhnlich munter vor sich hinplappert, ohne sich daran zu stören, von mir ignoriert zu werden. Dann fällt mir der Grund für ihr Schweigen auf: Nummer Fünf steht neben mir und redet auf mich ein.

»Was haben Sie gesagt?«, frage ich, mehr aus Reflex als aus Interesse.

»Eris hat gekündigt«, sagt Nummer Fünf. Er wirkt aufgeregt.

Ich sehe ihn zum ersten Mal wirklich an, während seine Worte durch den Nebel sickern.

Eris hat gekündigt? Gekündigt?

Alle Schauspieler, mit denen ich bisher zusammengearbeitet habe, wären lieber in eine Gewöhnlichensiedlung gezogen als vorzeitig die Arbeit mit mir zu beenden.

Was ist passiert? Hat mein Bann versagt? Wie lange wird es dauern, bis die Bewunderung wieder in Hass umschlägt, bis mich alle hassen werden?

»Warum?«, höre ich mich fragen, auch wenn mein Herz so laut klopft, dass es fast meine Stimme übertönt.

»Persönliche Gründe.« Nummer Fünf winkt ungeduldig mit der Hand ab, als wolle er mich davon abhalten, nachzuhaken.

Er strahlt über sein ganzes verschwommenes Gesicht, wie ein kleines Kind, das sich über einen Becher Eiscreme freut.

Das verwirrt mich. Spornt meine Gedanken an, engere Kreise zu ziehen. Würde er so glücklich aussehen, wenn er meine Tarnung durchschaut hätte? Freut er sich, dass nun alle die Lügnerin sehen, die ich bin?

Panisch starre ich ihn an, versichere mich, dass der Glanz meines Bannes seine Augen ziert. Das bedeutet, dass er mir noch immer wohlgesinnt ist.

Oder?

»Wir haben schon Ersatz gefunden. So eine große Ehre! Der Prematim höchstpersönlich hat ihn empfohlen. Demian Asteason.«

Knall. Selbst ich zucke zusammen, als die Frisiermaschine auf dem Boden aufschlägt.

»Demian Asteason?«, quiekt die Stylistin. »Der Demian Asteason? Der Luftmatim?«

»Genau der. Höchstpersönlich!«

Nummer Fünf strahlt, als hätte ihm jemand einen Orden verliehen. Die Stylistin gibt einen merkwürdigen Laut von sich, hoch und schrill, der meine Ohren durch die neblige Watte hindurch zum Klirren bringt. Sie fasst Nummer Fünf an den Armen und dann springen beide auf und ab, auf und ab, auf und ab. Mein Kopf nickt im Takt ihrer Bewegung. Faszinierend, irgendwie.

Es ist alles in Ordnung, versichere ich dem wilden Ungetüm in meiner Brust. Falscher Alarm.

Nicht der erste in der vergangenen Woche. Seit der Eskalation mit Eris stehen meine Sinne auf Alarmbereitschaft und immer wieder blitzt mein stramm gespanntes Nervenkostüm durch die Löcher im Schleier hindurch. Die ich einfach nicht stopfen kann. Nicht so, dass es hält.

Egal, wie oft ich mir einrede, dass mir alles egal ist.

»Beim heiligen Nestor, wie geil ist das denn!«, kreischt die Stylistin.

»Ich weiß! Unser großer Star«, Nummer Fünf tätschelt meine Schulter, »und das Gütesiegel des Konzils. Wahnsinn!«

Es ist seltsam, ihn wegen einer anderen Person in Begeisterung ausbrechen zu sehen. Fast schon … erlösend. Jemand anderes, auf den sich seine Aufmerksamkeit konzentrieren, den er mit echter Begeisterung überschütten kann. Vielleicht macht es das erträglicher. Wenn ich nicht ständig mit seiner falschen Zuneigung konfrontiert werde.

Kein Wunder, dass Nummer Fünf sich geehrt fühlt, mit dem Luftmatim zusammenarbeiten zu dürfen. Aber sicherlich ist dieser hier, weil auch er meinem »Charme« verfallen ist. Ein weiteres Mitglied des Alera-Boldwyn-Fanclubs, Konzilmitglied hin oder her.

Ich schlucke, bis der bittere Geschmack aus meinem Mund verschwunden ist.

»Ich stell euch einander vor, sobald du hier fertig bist«, flötet Nummer Fünf und hüpft beinahe aus dem Raum. »Bis gleich, Herzchen!«

»Demian Asteason, unfassbar!«, plappert die Stylistin sogleich los und hebt die Frisiermaschine auf. »Und so kurzfristig! Vielleicht wirst du sogar den Prematim selbst kennenlernen.«

Dann summt sie wieder eifrig vor sich hin, während sie mir die Schminkmaske aufs Gesicht setzt und das gewünschte Programm auswählt. Sekundenlang spüre ich das vertraute Kitzeln, dann ist mein Make-up fertig.

Ich stehe auf und verlasse den Maskenraum.

Nummer Fünf wartet vor dem Aufnahmestudio. Als er sich nicht sofort auf mich stürzt, bin ich verwirrt genug, um stehen zu bleiben. Gewöhnlich riecht er mich schon auf fünfzig Meter Entfernung.

Er balanciert ein Tablett mit Erfrischungen in jeder Hand, während er wie ein aufgescheuchtes Huhn um eine große Person herumtänzelt.

So ist es also, nicht diejenige zu sein, die im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit steht.

Der Fremde schüttelt den Kopf.

Dann dreht er sich plötzlich um und fängt meinen Blick auf. Nummer Fünf bringt die unerwartete Bewegung aus dem Konzept. Es dauert einen Moment, bis er merkt, dass ich anwesend bin.

»Alera, Herzchen!« Er strahlt mich an. »Darf ich vorstellen, das ist Demian Asteason.« Er weist ehrfürchtig auf den jungen Magier, der fast täglich die Startseite des Republikanischen Nachrichtendienstes schmückt, hält inne und verfällt in eine schwungvolle Verbeugung. Mit einem Scheppern landet der Großteil der Gläser auf dem Boden, rote und braune Flüssigkeit spritzt mir bis zu den Knien.

Demian Asteasons Blick ruht einige Sekunden lang auf mir, dann setzt er sich plötzlich in Bewegung und kommt auf mich zu.

»Frau Boldwyn«, sagt er, nimmt meine Hand und küsst sie. Eine Geste, die einer Legende gleichkommt. Er führt sie mit einer Eleganz und Selbstverständlichkeit aus, die dem Kuss etwas Würdiges verleihen.

»Es freut mich, Sie endlich kennenzulernen.« Er lächelt.

Ich starre ihn nur an.

Ungläubig.

Ein paar Sekunden lang bekomme ich keine Luft. Dann dringt wieder Sauerstoff in meine Lungen und setzt meinen Denkprozess in Gang.

Wie kann das sein?

Seine hellblauen Augen glänzen, doch es ist nicht der verklärte Glanz, den mein Bann hervorruft. Sein Blick ist nicht vernebelt wie der aller anderen, sondern eigenwillig und stark, scheint mich förmlich zu durchbohren. Und sein Lächeln ist hart, fast spöttisch.

Ich taste erneut nach seinem Geist, versuche, ihn zu bannen. Meine Magie perlt von ihm ab wie Wasser auf Öl.

Panik! So intensiv, so erdrückend, wie ich sie niemals zuvor verspürt habe. Mein Körper wird stocksteif. Verkrampft versuche ich, die erneut abgebrochene Luftzufuhr unter Kontrolle zu bekommen, während in meiner Brust zunächst etwas stirbt und dann mit wildpochender Intensität wieder zum Leben erwacht. Eine LKWLadung Alarmglocken hat sich in meinen Gliedern und im Kopf ausgebreitet und nun gehen alle auf einmal los, tauchen mein Inneres in rotes Licht, eine Sirene schriller als die andere.

Das hier ist so sehr Code Red, dass es schmerzen muss.

Denn die Situationslast ist geradezu erschlagend: Über diesen großen, dunkelhaarigen Magier mit dem intensiven Blick habe ich keinerlei Kontrolle.

Plötzlich, mit einem lauten »Ratsch«, ist der Schleier der Gleichgültigkeit in einer diagonalen Linie gerissen. Und lässt mich ungeschützt und unbewaffnet zurück.

Mein Atem beschleunigt sich.

»Alera?« Der Luftmatim sieht mich fragend an.

Ich bin unfähig, mich zu rühren. Panisch versuche ich ein weiteres Mal, ihn zu binden, doch wie zuvor prallen meine Fesseln von seinem Geist ab und fallen ins Leere.

Meine Magie hat mich noch nie im Stich gelassen. Ich stoße schneller Luft aus, als ich sie einsauge. Ich werde ersticken. Ganz sicher.

»Geht es Ihnen nicht gut?«, dringt die Stimme des Luftmatims an mein Ohr.

Pure Angst schnürt mir die Kraft zum Stehen ab. Ich spüre, wie ich den Halt verliere und zurückfalle.

Zwei kräftige Hände packen mich an den Schultern und fangen meinen Sturz ab. Ich werde hochgehoben.

Seine Berührung ist warm und … irgendwie vertraut. Sie lässt mich zusammenzucken. Dann ist der Moment vorbei und ich sitze auf weichem Untergrund.

Mit geschlossenen Augen versuche ich, gegen die Panik anzukämpfen, die mir den Hals zuschnürt. Gegen die Übelkeit, das Schwindelgefühl.

Jemand drückt mir ein Glas in die Hand. Ich nehme einen Schluck daraus. Das hilft. Rasselnd atme ich ein.

Mindestens fünf verschiedene Stimmen summen um mich herum.

Ich kann mein Herz pumpen spüren, Blut durch meinen Körper rauschen hören. Wirklich spüren und wirklich hören, nicht wie bisher durch einen Dunstschleier der Gleichgültigkeit hindurch. Meine Sinne nehmen mit einer Intensität wahr, die mich vollkommen unvorbereitet trifft. Stärker als jeder Adrenalinrausch einer Stuntszene, stärker auch, viel stärker, als das gefährliche Experiment mit Eris. Bei ihm hatte ich jederzeit die Möglichkeit, abzubrechen. Diese Pokerrunde verlangt nach einem All-in.

Und dann ist da plötzlich die Gewissheit. In Sekundenschnelle hat sie mein Bewusstsein umzingelt, ist in meinen Kopf eingedrungen, bis ich an nichts anderes mehr denken kann: Dieser Demian starrt mich an. Ich kann die Hitze seines bohrenden, urteilenden Blickes spüren.

Er urteilt über mich.

Ich reiße die Augen auf und als wären wir zwei Magneten, findet mein Blick auf der Stelle den seinen. Er steht am anderen Ende des Aufenthaltsraums und obwohl einige Meter zwischen uns liegen, hat er mit Abstand die schärfsten, klarsten Züge, die ich jemals gesehen habe. Er ist der Einzige, den ich wahrnehme, und der Einzige, der zählt. Das ist die Macht der freien Meinungsbildung.

Ich sollte etwas sagen, doch ich weiß nicht was.

Mein Kopf brummt.

Als sie sehen, dass meine Augen geöffnet sind, stürzen sich sofort sämtliche Versammelten auf mich, doch Demian stoppt sie mit einer Handbewegung. Langsam, fast so, als wolle er mich nicht noch mehr verschrecken, durchquert er den Raum und geht vor mir in die Hocke.

»Geht es Ihnen besser?«, fragt er.

Es dauert einen Moment, bis mir einfällt, dass er eine Antwort erwartet, dass ihn meine Ignoranz nicht zufrieden stellen und meine wahrscheinlich unnachahmliche Fähigkeit, dumm aus der Wäsche zu starren, ebenso wenig Eindruck schinden wird. Vor Schreck reiße ich die Augen noch weiter auf und nicke heftig.

Er schmunzelt und ich spüre eine seltsame Hitze in meinem Kopf aufsteigen. Ich habe noch kein einziges Wort mit ihm gewechselt, bin gleich zur Begrüßung umgekippt und führe mich nun auf wie eine Verrückte. Was muss er von mir denken?

Moment mal. So fühlt es sich an, fehlbar zu sein?

»Alles bestens«, sage ich, meine Stimme ist ein dünnes Krächzen, das erneut eine Hitzewelle durch meinen Kopf jagt.

»Sind Sie sicher?«, fragt Demian. »Vielleicht sollten Sie für heute nach Hause fahren und sich ausruhen und falls Sie sich morgen besser fühlen, beginnen wir dann mit dem Dreh.«

»Nein«, sage ich schnell und richte mich auf. »Geht schon. Ich war nur kurz…«

Tja, was?

Von der Tatsache überwältigt/absolut entsetzt/in heillose Panik versetzt, dass Sie in meiner Gegenwart Ihr Gehirn einsetzen können?

»Von der schlechten Luft hier drin überwältigt?«, bietet Demian freundlich an.

Ich nicke.

»Das wundert mich nicht. Der Lüfter müsste wohl mal überprüft werden.« Er sieht zu Nummer Fünf herüber, der sofort aufspringt.

»Lorna, kümmere dich darum«, weist er ein Mitglied der Film-crew an. »Alera, Herzchen, kann ich etwas für dich tun?«

Ich schüttele den Kopf. Ich brauche Luft zum Denken. »Zehn Minuten … ich brauche … muss mich kurz … Toilette.«

Beim heiligen Nestor, wieso ist das so schwer?

Demian sieht mich mit seinen hellblauen Augen an und und einen Moment lang glaube ich darin zu ertrinken. Eine klare, ruhige See. In deren Tiefe etwas lauert.

»Lassen Sie sich Zeit. Wir sehen uns im Aufnahmestudio.«

*

Ich muss zur Ruhe kommen, aber ich schaffe es nicht, stillzustehen. Die Alarmglocken machen es schwer, zu denken. Allein sein hilft, auch wenn mir von dem intensiven Duft nach Lotusblüten, der mein privates Badezimmer auf dem Studiogelände erfüllt, übel wird.

Rasselnd hole ich Luft, versuche langsamer zu atmen.

Ein Schlachtplan. Ich brauche einen Schlachtplan.

Ich laufe im Kreis, bis mir eine Idee kommt.

Ich könnte es Eris gleichtun und kündigen. Die Stadt verlassen. So viel Abstand zwischen mich und diesen Mann bringen wie nur irgend möglich.

Und dann? Versinke ich wieder im emotionslosen Alltagstrott, hangele mich von Stuntszene zu Stuntszene, um zu überprüfen, ob ich noch existiere? Was ist das für ein Leben, wenn man sich nicht einmal sicher ist, ob man lebt?

Vor Demian Asteason kann ich mir nicht vormachen, dass es mir egal ist, alle in Willenlose verwandeln zu müssen, dass ich keinen Schaden nehme, bloß weil ich meinen Körper vor Wutanfällen schützen kann.

Aber ohne meinen Bann kann ich mich gar nicht wehren. Wenn man bedenkt, was bereits zehn Minuten in Demians Gegenwart bewirkt haben, dann weiß ich nicht, wie ich einen ganzen Drehtag überstehen soll. Geschweige denn drei komplette Drehwochen. Was, wenn ich im Dreißig-Minuten-Takt einen Kurzschluss bekomme, wenn mich diese Verletzlichkeit dauerhaft überfordert?

Und wie lange dauert es, bis er das Monstrum in mir sieht?

Vielleicht wäre es besser, diesen Magier in Zukunft zu meiden. In seiner Gesellschaft mutiere ich zu jemandem, den ich nicht kenne.

Ich bleibe stehen. Langsam wandert mein Blick zur Spiegelwand. Zum ersten Mal seit Jahren blicken mir mehr als verschwommene Gesichtskonturen entgegen. Meine Nase und mein Kinn sind klar definiert, meine Augen blauer, als ich sie in Erinnerung habe, meine blonden Haare glatt und in einen lässigen Pferdeschwanz gebunden. Aber eigentlich habe ich Locken, glaube ich.

Die Erkenntnis ist ernüchternd. Ich kenne dieses Gesicht nicht, diese Frau. Ich habe keine Ahnung, wer sie ist. Wie auch?

Ich stütze mich auf dem Waschbecken ab und schließe die Augen. Vielleicht bin ich es mir schuldig, hinter den Schleier der Charakterlosigkeit zu schauen, die Person kennenzulernen, die in meinem Körper steckt. Vielleicht genügt es nicht mehr, nur zu funktionieren.

Und außerdem… Der Gedanke trifft mich unvorbereitet. Irgendetwas an Demian Asteason … zieht mich an, reizt mich, ihn näher kennenzulernen. Vielleicht ist es diese seltsame Vertrautheit.

Ich schaudere.

Das war merkwürdig. Unangenehm, aber irgendwie auch schön. Wie kalter Regen, der von meinem Kopf über meinen Rücken gezogen ist, meine Arme hinunter, ein Sekundenschauer. Ich bin schon unsanfter geweckt worden.

Ich werfe einen letzten Blick in den Spiegel, nicke dem fremden Gesicht zu und verlasse das Badezimmer.

Meine analytische Entschlossenheit bewahrt mich nicht vor dem wilden Herzklopfen, den Schweißausbrüchen und dem Anklopfen einer weiteren Panikattacke. Was ist, wenn dem Luftmatim mein Schauspiel nicht gefällt? Er ist mit Abstand das anspruchsvollste Publikum, das ich je hatte.

Was ist, wenn er mich hasst?

Der Gedanke bringt meine soeben gefällte Entscheidung ins Wanken.

Das geht nicht, beschließe ich und erschrecke vor der Wahrhaftigkeit dieser Worte. Das geht so nicht mehr.

Ich kann immer noch fliehen, wenn die Lage kippt. Das werde ich, beim leisesten Anzeichen von Gefahr. Aber jetzt, in diesem Moment, ist diese Frage nicht förderlich, bringt mich die Stimme meines Vaters nicht weiter. Nicht, wenn ich eine Chance auf ein Leben haben möchte.

Demian und Nummer Fünf sind von einer Traube aus Magiern umgeben, als ich das Aufnahmestudio betrete. Das müssen die übrigen Schauspieler sein.

Demian lächelt mich an, als ich – leider nicht nur innerlich – zitternd auf ihn zukomme, doch seine Augen bleiben ungewöhnlich hart, fast spöttisch. Das verunsichert mich noch mehr.

Es hilft nicht, dass meine Sicht nun klar ist und ich ihn wirklich sehe, registriere, dass seine hellblauen Augen sich besonders strahlend von seinem dunklen Teint abheben. Dass seine Haut die Farbe von Karamell hat und seine braunen, kurzen Haare einen lockigen Rahmen für sein Gesicht bilden. Dass sein Mund geschwungen ist, als hätte ihn jemand gemalt – kein Amateur, sondern jemand, der etwas von seinem Fach versteht. Beim heiligen Nestor, es hilft ganz und gar nicht, dass er so verdammt gut aussieht!

»Geht es dir besser, Herzchen?«, fragt Nummer Fünf.

Ich nicke. Auch sein Gesicht nimmt vor meinen Augen Gestalt an. Zum ersten Mal, seit wir uns kennen. Mir war nie bewusst, dass er braune Augen hat, und ich ertrage ihren Anblick auch nicht lange, weil sie so glänzen, dass sie an jeglicher Tiefe einbüßen. Sie glänzen, weil meine Magie sie stumpf macht. So wie sein Gehirn. Ich möchte mich abwenden, doch sein Gesicht ist so freundlich, dass ich einen weiteren Moment daran hängenbleibe. Fasziniert, dass seine Haut fast denselben Ton aufweist wie seine Augen. Obwohl ich immer seine Konturen wahrgenommen habe, bin ich überrascht, wie klein er ist. Er reicht Demian gerade mal an die Schulter.

»Wunderbar. Ich habe Demian bereits ein paar Aufnahmen gezeigt.«

»Beeindruckender Stunt«, sagt Demian.

Es fällt mir schwer, seinem Blick standzuhalten, obgleich der Stunt das Einzige ist, auf das ich in diesem Film stolz sein kann.

»Ja, und er wurde nicht einmal animiert«, sagt Nummer Fünf.

»Nicht?«

»Nein, Alera liebt echte Stuntszenen, vor allem alles mit Explosionen. Nicht wahr, Herzchen? Ist zwar etwas unkonventionell, aber mir ist wichtig, dass meine Stars glücklich sind.«

Er klopft mir auf die Schulter.

Die aufwendige Stuntszene war die Bedingung, unter der ich den Vertrag unterschrieben habe. Aus irgendeinem Grund bin ich froh, dass Nummer Fünf das nicht erwähnt.

»Einen Großteil der Szenen müssen wir natürlich neu drehen. Ich hoffe, das stört dich nicht, Herzchen.«

Ich zucke zusammen, als etwas Schwarzes in mein Blickfeld gerät. Im nächsten Moment hat mir die Visagistin eine Schminkmaske aufgesetzt. Es ist mir ganz recht, für ein paar Sekunden vor diesen durchdringend blauen Augen abtauchen zu können.

Demian ist als nächstes dran. Ich nutze den Moment, um tief durchzuatmen.

»Wir beginnen wie geplant mit der letzten Szene mit dir und Saya«, sagt Nummer Fünf. »Danach drehen wir noch einmal die erste Begegnung zwischen Demian und dir. Passend, nicht wahr?«

Eine junge brünette Frau neben Demian fängt meinen Blick auf und zwinkert mir zu. Saya. Vermutlich.

Drei Wochen Zusammenarbeit und ich würde keinen dieser drei Frauen und zwei Männer auf der Straße wiedererkennen. Ich blicke zu Boden. Erneut ist eine Hitzewelle über mein Gesicht hergefallen.

Jetzt springen mir sofort die vielen Leberflecken ins Auge, die Sayas nackten Arme und ihren Hals zieren. Einer sitzt sogar in ihrem Gesicht, unter ihrem rechten Auge. Ein seltener Anblick, nicht nur für mich. Die meisten Magier sehen derartige Hautzeichnungen als Makel und lassen sie entfernen. Mir gefällt der Kontrast, den sie zu ihrer olivfarbenen Haut bilden.

Wir folgen Nummer Fünf in einen der Kulissenräume. Es macht mich nervös, dass Demian hinter mir läuft. Ich glaube seinen Blick im Rücken zu spüren und bin mir bewusst, dass meine Bewegungen steif und unnatürlich sind, als hätte ich vergessen, wie man geht.

»Szene 35«, setzt Nummer Fünf an, als wir uns um ihn versammelt haben, »spielt in Simmys Zimmer. Es ist Simmys und Lenkas letzte Begegnung vor dem Unfall. Lenka ist wütend, richtig aufgebracht. Simmy«, Nummer Fünf sieht mich an, »verwirrt und sprachlos. Alles klar?«

Saya nickt und ich zwinge mich, es ihr gleichzutun.

»Super. Dann erst einmal trocken. Alera, du bist in deinem Zimmer und guckst einen Film. Saya, warte so fünfzehn Sekunden, bevor du reinplatzt.«

Die wenigen Schritte bis zum Bett sind eine Qual. Ich bin erleichtert, als ich Position bezogen habe, und widerstehe dem Drang, zu Demian rüberzusehen. Ich weiß auch so, dass er mich beobachtet.

»Du hattest einen anstrengenden Tag und entspannst jetzt vor dem Bildschirm«, sagt Nummer Fünf.

Ich bemühe mich, eine bequeme Pose einzunehmen, aber meine Muskeln weigern sich, zu entkrampfen.

Nun schnellt mein Kopf doch zu Demian herüber. Hat er gerade gelacht? Doch sein Gesicht ist ausdruckslos und sobald ich seinen Blick treffe, wird mir heiß. Rasch wende ich mich dem falschen Bildschirm in meinem falschen Zimmer zu.

»Und bitte.«

Es können unmöglich fünfzehn Sekunden vergangen sein, als Saya ins Zimmer platzt. Ich zucke zusammen und nehme wahr, dass sie etwas sagt, aber über das Pochen in meinen Ohren kann ich nichts verstehen. Ich sehe sie nur an und erst als sie die Augenbrauen hochzieht, schnappe ich aus meiner Starre hoch.

»Tschu… tschuldigung.«

»Nein, nein, das war gut«, sagt Nummer Fünf. »Wie du dich erschreckst und wie verwirrt du sie ansiehst, top! Mach einfach weiter.«

Ich schlucke, räuspere mich. Nichts. Kein einziges Wort fällt mir ein. Mein Kopf ist ein Vakuum. Keine Ahnung, was ihn so schwer macht. Zweiter Anlauf. Schlucken, Räuspern.

»Ich … hab meinen Text vergessen.«

Nummer Fünf lacht gutmütig. Ein paar der Schauspieler grinsen mich an. Der Einzige, aus dessen Augen mir Spott entgegenspringt, ist Demian.

Als die Regieassistentin auf dem Bildschirm neben der Kamera das Drehbuch aufgerufen hat, steht mein Gesicht immer noch in Flammen. Sie scrollt drei Zeilen Text herunter, ehe sie bei meinem Part ankommt. Mir war nicht bewusst, dass ich so lange Sayas Mund beim Öffnen und Schließen beobachtet habe.

»Ich habe dich auch gesehen«, lese ich ab. Auf halbem Weg muss ich mich räuspern, aber immerhin hat es der Satz nach draußen geschafft.

»Du bist so eine dumme Kuh, Simmy!« Saya hat die Stimme erhoben und die Hände zu Fäusten geballt. »Du weißt genau, was ich meine.«

»Ehrlich gesagt, nein. Ich habe keine Ahnung, was dein Problem ist.«

Wenn es eine Regieanweisung gäbe, würde sie bestimmt nicht »hoch und piepsig« lauten. Ich muss es irgendwie schaffen, die Angst aus meiner Stimme zu verbannen. Beim heiligen Nestor, ist es heiß hier drin!

»Du Miststück!«, schreit Saya, packt meinen falschen Schreibtischstuhl und schmeißt ihn auf den Boden. Ich zucke zusammen. »Deine naive Ahnungslosigkeit kotzt mich echt an! Du hältst mich für dumm, was? Denkst, ich bekomme nicht mit, was da zwischen euch läuft?«

»Es läuft nichts zwischen uns, zum letzten Mal.«

Zu spät fällt mir auf, dass ich nun auch aufstehen sollte. Schreien wäre ebenfalls gut gewesen. Der Satz ist bereits gesagt und hängt lahm und monoton zwischen uns. Es ist peinlich, wie schlecht ich bin. Demian wird bald wissen, dass ich bestialisch nach Betrug stinke. Und dann ist es vielleicht zu spät, wegzulaufen.

Ich springe auf. Im nächsten Moment dringt Nummer Fünfs begeistertes Klatschen an mein Ohr. Unfassbar.

»LÜG MICH NICHT AN!«, brüllt Saya. Ihre Augen sind weit aufgerissen und schimmern wahnsinnig.

Wow.

Am liebsten würde ich zurück ins Bett kriechen und die Decke über den Kopf ziehen. Tatsächlich fällt es mir nicht schwer, den nächsten Satz abzulesen. Ich schaffe es sogar, fassungslos zu klingen.

»Du bist verrückt. Total verrückt. Dass Rist das nicht sieht.«

Ich schüttele den Kopf, woraufhin Nummer Fünf erneut applaudiert. Wie ein Hundebesitzer, der jeden Trick seines Tieres belohnt. Wenn er mir für die nächste Bewegung ein Leckerli zuwirft, besiegelt er meinen sozialen Selbstmord.

Ich schaffe es kaum, das Zittern zu unterdrücken, aber das ist auch nicht nötig. Mit einem Kampfschrei stürzt Saya sich auf mich. Selbst mit geölten Sinnen hätte ich keine Zeit, auszuweichen. Sekunden später spuckt mir der brünette Orkan der Wut ins Gesicht. Sayas Augen sind so nah, dass sie verschwimmen.

»Ich mach dich fertig, Simmy! Ich sorg dafür, dass du Rist nie wieder anfasst!«

Sie geht zurück, ihr Mund ist zu einem wahnsinnigen Lächeln verzogen, das einen eiskalten Schauer über meinen Rücken jagt.

»Du spinnst doch«, sage ich und fasse mir unter Applaus an den Kopf. »Rist und ich sind nur Freunde. Was auch immer du glaubst, gesehen zu haben, das hat sich nur in deinem Kopf abgespielt, das ist nicht echt, Lenka. Du bildest dir das ein. Ich bin mit Rim zusammen.«

»Ah ja, Rim. Weiß er eigentlich, dass du eine Germa bist?«

»Ja.«

Sayas Lächeln vertieft sich. »Du lügst schon wieder. Aber gut, dann wird es dir ja nichts ausmachen, wenn ich das in seiner Gegenwart anspreche.«

Sie wendet sich zum Gehen, bleibt jedoch vor der Tür stehen und sieht mich an, fragend. Da erst fällt mir auf, dass meinem nächsten Satz nun doch eine Regieanweisung vorangeht. Wieder einmal viel zu spät gehe ich auf sie zu und halte sie am Arm fest.

»Lenka, ich schwöre, dass ich dich nicht anlüge. Rist ist total verrückt nach dir, und nur nach dir. Glaub mir doch.«

Saya schüttelt meine Hand ab, wischt über die Stelle, die ich berührt habe, als müsse sie meinen Schmutz beseitigen, und öffnet die Tür. Bevor sie mein Zimmer verlässt, schenkt sie mir ein zuckersüßes Lächeln. »Einen schönen Tag noch.«

Sprachlos starre ich ihr hinterher. Ich kann nicht anders, sie ist so gut. Sie hat es wirklich verdient, in diesem Film mitzuspielen.

Kaum hat sich die Tür hinter Saya geschlossen, werden wir mit Applaus und Pfiffen belohnt. Aber statt an meine Kollegin sind die Lobpreisungen des Regisseurs und der übrigen Schauspieler an mich gerichtet.

»Saya war unglaublich«, würge ich sie hastig ab. »Sie hat mich mitgerissen.«

Was Demian von mir denken mag, wenn er herausfindet, dass ich meinen Mitmagiern das Gehirn abschalte, um mir falsche Liebe zu erzwingen? Wird er dafür sorgen, dass ich aus dem Filmprojekt fliege, meine Karriere zerstören? Mich einsperren lassen, um die Republik vor mir zu schützen?

Ich wage es kaum, zu ihm herüberzusehen, doch plötzlich steht auch er vor mir und spricht mir seine Glückwünsche aus. Er wirkt ernst, dennoch kann ich das Gefühl nicht abschütteln, dass er sich über mich lustig macht.

Kann es wirklich sein, dass er von der Sondersendung der Freak-show gerade nichts mitbekommen hat? War es nicht schmerzlich offensichtlich, dass etwas nicht stimmt?

Ich blinzele, um Demian nicht weiter anzustarren.

»Saya war noch besser«, bringe ich hervor.

Er lächelt nur und wendet sich ab, als Nummer Fünf verkündet, dass wir nun mit der Aufnahme beginnen werden. Der Großteil der Schauspieler zerstreut sich in andere Teile des Aufnahmestudios, nur Demian und eine Magierin mit knallroten Haaren und Sommersprossen bleiben zurück. Er nimmt auf einem Stuhl vor dem Kulissenraum Platz und sie, scheinbar unfähig, den Blick von ihm abzuwenden, tut es ihm gleich.

Das sieht sich meine Konzentration nicht lange an. Zwei Sekunden später ist von ihr, oder von dem Bisschen, das noch übrig war, nur noch eine Staubwolke geblieben. Die ersten vier Takes werden nach wenigen Sekunden abgebrochen, weil ich meinen Einsatz verpasse. Dann schaffe ich es kaum, mir den Text zu merken, den ich eigentlich schon vor Wochen auswendig gelernt habe.