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Jenny Hagemann

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Beschreibung

Kulturelles Erbe spielt in Grenzregionen nicht nur im Kontext von Beheimatung eine zentrale Rolle, es kommt auch in energieindustriell bedingten Transformationsprozessen zum Tragen: so etwa im Wendland als ehemaligem »Zonenrandgebiet« und in der Lausitz als Nachbar zu Polen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Seinen zugrunde liegenden historischen Entwicklungen und aktuellen Handlungsräumen geht Jenny Hagemann in ihrer interdisziplinären Studie nach, indem sie historischen Vergleich, Diskursanalyse und qualitative Interviews miteinander verbindet. Sie liefert neue Erkenntnisse für Heritage Studies und Regionalgeschichte gleichermaßen und bietet erstmals Vorschläge zur Konzeptionalisierung von »regionalem Heritage« an.

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Jenny Hagemann, geb. 1989, arbeitet am Serbski institut Chósebuz/Sorbischen Institut Cottbus. Sie promovierte am Institut für Didaktik der Demokratie an der Leibniz-Universität Hannover und war dort Mitglied des Forschungsverbundes »CHER: Cultural Heritage als Ressource? Konkurrierende Konstruktionen, strategische Nutzungen und multiple Aneignungen kulturellen Erbes im 21. Jahrhundert «. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Cultural Heritage, Regionalismen in Geschichte und Gegenwart sowie Minorisierungsprozesse.

Jenny Hagemann

Vererbte Regionen

Aneignungen und Nutzungen von regionalem Heritage im Wendland und in der Lausitz im Vergleichv

Die Veröffentlichung wurde freundlich unterstützt durch die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius sowie den Open-Access-Publikationsfonds der Leibniz Universität Hannover.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell.

Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2023 im transcript Verlag, Bielefeld

© Jenny Hagemann

https://www.transcript-verlag.de/

Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld

Umschlagabbildung: Von oben links nach unten rechts Bild 1-11: Jenny Hagemann; Bild 12: Angelika Balzke.

https://doi.org/10.14361/9783839462782

Print-ISBN 978-3-8376-6278-8

PDF-ISBN 978-3-8394-6278-2

EPUB-ISBN 978-3-7328-6278-8

Buchreihen-ISSN: 2702-8968

Buchreihen-eISSN: 2702-8976

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

 

Danksagung

1.Einleitung

1.1.Einführung

1.2.Zum Forschungsstand

1.3.Zielsetzung

1.4.Forschungsansatz und zentrale Konzepte

1.5.Quellenkorpus, Zugriff und Struktur der Arbeit

1.6.Positionierung zum Forschungsfeld

2.Methodik zur Analyse der Interviews

2.1.Auswahl der Interviewpartner:innen und Konzeption

2.2.Kategorisierung durch qualitative Inhaltsanalyse

3.Zu den Untersuchungsräumen: Wendland und Lausitz im Werden

3.1.Die Region als Sehnsuchtsort: das Wendland heute

3.2.Wandel als Kontinuität: die Lausitz heute

3.3.Lausitz und Wendland als Gegenstände der Geschichtswissenschaften

3.4.Wendland und Lausitz im Werden: Fazit

4.Regionale Heritage-Diskurse im Wendland und in der Lausitz: historische Kontexte, aktuelle Inhalte, zentrale Akteure

4.1.Das Wendische und das Sorbische als regionales Heritage

4.2.Energieindustrielle Brüche und Herausforderungen als regionales Heritage

4.3.Grenzen und Teilung als regionales Heritage

4.4.Landschaften als regionales Heritage

4.5.Ergänzende Themen

4.6.Regionale Heritage-Diskurse: Fazit

5.Was ist regionales Heritage? Ergebnisse der Interviewanalyse

5.1.Das Kulturerbe der Region? Konstruktionen und Grenzen eines Begriffes

5.2.Regionales Heritage und seine Praktiken

5.3.Die Uses und Acts of Heritage im Wendland und in der Lausitz

5.4.Zwischenfazit: Was ist regionales Heritage?

6.Ergebnisse und Ausblick

6.1.Ergebnisse des Vergleichs

6.2.Regionales Heritage als Konzept

6.3.Ausblick

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Angaben über die geführten Interviews

Quellen- und Literaturverzeichnis

Danksagung

 

Mein herzlicher Dank gilt all denen, ohne die diese Arbeit nicht zu dem geworden wäre, was sie heute ist. Ich danke meinen Betreuern Prof. Dr. Detlef Schmiechen-Ackermann und Prof. Dr. Mathias Bös, die mir bei Fragen und Sorgen jeglicher Art – egal, ob inhaltlich, formal oder organisatorisch, egal ob kleines Detail oder generelle Perspektivierung – stets mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben. Ganz besonders dankbar bin ich für den engen und herrlich unkomplizierten Austausch mit allen Kolleginnen und Kollegen des Verbunds ›CHER: Cultural Heritage als Ressource?‹, in dessen Rahmen diese Arbeit maßgeblich entstanden ist – allen voran Malte Kleinschmidt, Deborah Sielert und Christine Schoenmakers. Auch allen Kolleginnen und Kollegen am Institut für Didaktik der Demokratie gilt dieser Dank, insbesondere Christian Hellwig und Christiane Schröder. Egal, ob es um Fachliteratur, Forschungs-Organisation, Methoden-Diskussion oder auch Film-Tipps ging, ich danke euch allen für diese außerordentlich intensive und lehrreiche Zeit! Ohne den immer wieder auch kritischen Austausch über aktuelle Ansätze und Quellen kann eine solche Arbeit nicht wachsen. Ich danke daher auch Prof. em. Carl-Hans Hauptmeyer und Axel Kahrs für ihre stete Hilfsbereitschaft und die zielführenden Gespräche zur Vergangenheit und Gegenwart des Wendlands. Ganz herzlichen Dank außerdem an Gabi Haas und Birgit Huneke vom Gorleben Archiv in Lüchow sowie Wolfgang Ehmke von der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg für die stets erkenntnisreichen Einblicke in die Geschichte der Anti-Atombewegung und für die kompetente sowie anregende Zusammenarbeit. Bedanken möchte ich mich auch bei meinen Interviewpartnerinnen und partnern – für ihr Vertrauen, aber auch für unsere Gespräche, die nie nur Einblicke in das Machen von Kulturerbe lieferten. Dank Ihnen und euch habe ich unglaublich viel Neues über den nordöstlichsten Zipfel Niedersachsens gelernt und blicke mit völlig veränderten Augen in meine Heimat, die Lausitz. Dies ist nicht zuletzt auch ein Verdienst meiner neuen Kolleginnen und Kollegen am Serbski institut/Sorbischen Institut, am Institute for Heritage Management und an der BTU-Cottbus-Senftenberg: Fabian Jacobs, Reska Jacobsowa, Ines Kellerowa, Lutz Laschewski, Pětš Šurmann, Lea Brönner, Sandra Nasser, Britta Rudolff, Heidi Pinkepank, Markus Otto – wutšobny źěk! Ich bedanke mich außerdem bei allen geduldigen Lesern und Leserinnen meiner Entwürfe für ihre klugen Kommentare und sinnvollen Korrekturen, vor allem Rolf Meyer, Kevin Rick und Friedrich Pollack. Mein geduldigster Leser war mit Abstand mein Partner Willem Hagemann, dem mein größter Dank gilt und der für einen promovierten Informatiker ein erstaunlich ausdauerndes Interesse an kulturtheoretischen Konzepten entwickelt hat. Ihm ist die vorliegende Arbeit gewidmet.

1.Einleitung

 

1.1.Einführung

Im Juni 2017 hatte, wie die überregionale Tagespresse berichtete, die »AfD […] Wahlzoff mit den Sorben.«1 Der Grund hierfür war ein Plakat zur Bundestagswahl der Alternative für Deutschland (AfD), das mit Frauen in trachtenartigen Kleidern warb. Unter dem Slogan »Bunte Vielfalt? Haben wir schon« sollten die drei Frauen gekleidet mit bayerisch anmutendem Dirndl, sorbischer Festtagstracht und Schwarzwälder Bollenhut aufzeigen, wie divers Deutschland bereits sei. Das Plakat implizierte also, dass das Land weitere Einflüsse ›von außen‹ nicht brauche. Die AfD erzählte die Diversität Deutschlands hier als eine regionale Vielfalt, als eine Traditionsvielfalt – nicht jedoch als eine internationale Vielfalt. Gegen diese politische Inanspruchnahme wehrten sich umgehend die Vertreter:innen der sorbischen Minderheit in Deutschland. Der Vorsitzende des brandenburgischen Sorbenrates Torsten Mack unterstrich im Interview mit dem Rundfunk Berlin-Brandenburg deutlich, dass die sorbischen Trachten und Traditionen mit Stolz getragen würden, und zwar »mit unseren Nachbarn und Partnern und nicht gegen sie.«2 Ähnlich reagierten die Domowina als ›Bund Lausitzer Sorben‹ und zentrale Interessenvertretung der autochthonen Minderheit sowie eine Gruppe sorabistischer Nachwuchswissenschaftler:innen. Letztere verurteilten insbesondere die »Instrumentalisierung wendisch/sorbischer Symbole«3 durch die AfD. Außerdem wurde kritisiert, die dargestellte Tracht sei nicht authentisch, insbesondere in Bezug auf das Tuch, das die Frau auf dem Plakat um die Schultern trägt.4

Mit oder gegen wen wurde hier argumentiert? Dass sich die AfD in ihrer Kampagne auf ein Narrativ5 ›bunter Vielfalt‹ berief, reflektiert zunächst das durch die Europäische Union (EU) tradierte Narrativ und ihr Motto »In Vielfalt geeint.«6 Damit verbunden ist ein vielfach beobachteter Wertewandel europäischer Gesellschaften, der inzwischen sowohl in wissenschaftlichen als auch in populärkulturellen Kontexten den Themen Diversität und Inklusion sowie Minderheiten- und Menschenrechten den Vorzug vor nationalen Interessen zu geben scheint.7 Inwieweit sich dieser Wandel im Alltag unterschiedlichster Gruppen tatsächlich niederschlägt und welche Implikationen mit derartigen Narrativen verbunden sind, ist ein lebendiges Forschungsfeld der Politik, Sozial- und Bildungswissenschaften und soll hier nicht weiter vertieft werden. Bemerkenswert ist jedoch, wie die AfD als Partei des rechten Spektrums – und damit als Vertreterin national verorteter Interessen – auf Trachten und Regionalismen zurückgriff, um der europäischen Idee der Vielfalt eine deutsche entgegenzusetzen. Sie griff damit auf etwas zurück, das heute vielfach als kulturelles Erbe bezeichnet wird: Erst zweieinhalb Jahre vor der beschriebenen Wahlkampagne waren die ›Gesellschaftlichen Bräuche und Feste der Lausitzer Sorben im Jahreslauf‹ in das Bundesweite Verzeichnis Immateriellen Kulturerbes Deutschlands aufgenommen worden.8

Im Fall des AfD-Plakates waren letztlich unterschiedliche Verständnisse davon, wer zu den jeweiligen ›Erbenden‹ gehört, aufeinander getroffen: zum einen die sorbische Minderheit selbst, die sich als Gruppe – und das bedeutet zwangsläufig auch in Abgrenzung zu anderen – von dem gezeigten Bild distanzierte. Der Grund dafür war die politische Instrumentalisierung, der sie sich ausgesetzt sah, aber eben auch die ›falsche‹ Darstellung ihrer traditionellen Kleidung. Die Kritik an der auf dem Plakat dargestellten Tracht war deshalb für die sorbischen Vertreter:innen auch eine Möglichkeit, sich von einem nicht-sorbischen Gegenüber abzugrenzen, das sie für dessen politische Interessen nutzte. Zum anderen konstruierte die AfD als dieses Gegenüber ihr national orientiertes Selbstverständnis gerade mithilfe der Inwertsetzung regionaler Traditionen in Form der Trachten und adaptierte so – bewusst oder unbewusst – Narrative der EU. Beide Parteien nahmen spezifische und regional verortete Aspekte der Vergangenheit – nämlich ihr ›kulturelles Erbe‹ – in Anspruch, um so Zugehörigkeit in der Gegenwart zu markieren und herzustellen. Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit diesem Phänomen, seinen Akteuren, Mechanismen und Spezifika.

Dem Phänomen Kulturerbe nähert sich die gesellschaftswissenschaftliche Forschung insbesondere im anglophonen Bereich bereits vermehrt seit den 1980er Jahren.9 Und auch in deutschsprachigen Studien erfährt kulturelles Erbe seit rund 15 Jahren eine deutliche Konjunktur.10 Die erhöhte wissenschaftliche Aufmerksamkeit ist der enormen diskursiven Präsenz kulturellen Erbes geschuldet: Kulturerbe boomt. Als der Rat der EU das Jahr 2018 zum Europäischen Kulturerbejahr ausrief, beteiligten sich nach eigenen Angaben 6,2 Millionen Menschen in 37 Ländern an mehr als 11.700 Veranstaltungen.11 Im Sinne eines ›Europas der Regionen‹ waren zahlreiche der 400 beteiligten Projekte auf ein regionales oder landesweites kulturelles Erbe fokussiert, das gleichsam in eine größere, ›europäische‹ Erzählung eingebunden wurde.12

Generell gewinnt die Rolle, die kulturelles Erbe bei der Konstruktion regionaler Identitäten spielt, zunehmend an Bedeutung. Längst ist es Teil kulturpolitischer Strategien13 und regionalen Marketings.14 An der Debatte um das Wahlplakat der AfD wird die Konflikthaftigkeit, aber auch die Komplexität jener Vergemeinschaftungsprozesse deutlich, die auf Regionalitäten und ihrem kulturellen Erbe beruhen. Denn sie berühren stets Fragen nach Zugehörigkeit, aber auch Fragen nach Deutungshoheit – kurz: Wer erbt was und wer entscheidet darüber? In der vorliegenden Arbeit nähere ich mich anhand zweier Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum eben diesen Fragen: der brandenburgisch-sächsisch-polnischen Lausitz und dem niedersächsischen Wendland.

Die beiden Regionen lassen sich in einer vergleichend angelegten Studie vornehmlich auf drei Feldern in Beziehung zueinander setzen: Mit dem Wendland und der Lausitz bieten sich hier zwei Untersuchungsräume an, deren mittelalterlich-slawische Besiedelung unterschiedlichen Eingang in aktuelle Selbstverständnisse erhalten hat. Beide stellen zudem Grenzregionen dar, deren Bevölkerung sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark verändert hat, sei es durch die Aufnahme von Displaced Persons nach dem Zweiten Weltkrieg, durch die Ansiedelung Kreativer und Kulturschaffender im Rahmen der Gorleben-Proteste oder durch den Zuzug von zahlreichen Kumpeln, die ihrerseits den Ausbau des Braunkohle-Tagebaus vorantrieben und damit auch sorbische/wendische Minderheiten der Lausitz zu Umsiedelungen zwangen.15 So lassen sich ehemalige DDR- und BRD-Gebiete miteinander vergleichen, die in der Vergangenheit und Gegenwart mit den Auswirkungen von Energieindustrien – namentlich die Anti-Atombewegung im Wendland und der Strukturwandel aufgrund von Braunkohle-Verstromung in der Lausitz – umgehen müssen.

1.2.Zum Forschungsstand

1.2.1.Aktuelle Argumentationslinien der Heritage-Studies

Die Arbeit versteht sich als historisch orientierter, kulturanthropologischer Beitrag zu den aktuellen Heritage Studies.16 Sie ist ganz bewusst an der Schnittstelle zwischen kulturanthropologischen und historiographischen Zugängen angesiedelt, da Cultural Heritage als Phänomen wie auch als Konzept nur aus interdisziplinärer Perspektive umfassend verstanden werden kann. Dies ist zum einen der engen Verknüpfung von Erbe und ›Identitäten‹ geschuldet,17 zum anderen seiner untrennbaren Verknüpfung mit Vergangenheiten – sei es als historisches oder aktuelles Phänomen.18 Als Arbeit einer in Europa ansässigen Forscherin über das Kulturerbe europäisch verorteter Räume lässt sie sich durchaus dem zuordnen, was der Sozialanthropologe Alessandro Testa erst 2021 in seinem gleichnamigen Artikel die Anthropology of Cultural Heritage in Europe nannte.19 Sie versteht sich aber auch als eine Erweiterung und Schärfung der Vielzahl bestehender Konzepte von Cultural Heritage.

Diese Vielzahl und die scheinbare Uneinigkeit darüber, wie das Konzept zu definieren sei, deuten weniger auf Heritage als Modeerscheinung ohne eindeutige disziplinäre Zuordnung hin, sondern reflektieren vielmehr die Vielfalt seiner Deutungsmöglichkeiten: Während David Lowenthals ursprüngliche Gegenüberstellung von ›history‹ und ›heritage‹20 heute durchaus zurecht problematisiert wird,21 herrscht in der Forschung weitgehend Einigkeit darüber, dass Cultural Heritage eine Zuschreibung und damit ein sozialer Prozess sei.22 Lowenthal reagierte – wie vor ihm Patrick Wright mit seinem für die britische Forschung wegweisenden On Living in an Old Country und Robert Hewisons Streitschrift The Heritage Industry – insbesondere auf den britischen ›Heritage-Boom‹ der 1970er Jahre und dessen ›gazing on history.‹23 Seine antagonistische Gegenüberstellung einer wahrheitsverpflichteten Geschichte und eines märchenhaften Heritage basiert jedoch bei genauerer Betrachtung auf einer Idee von historischer Akkuratesse und Authentizität, die inzwischen von der aktuellen Forschung vermehrt als Sehnsuchtsort ohne konkrete Entsprechung verstanden wird.24

Damit unterscheidet sich das akademische Verständnis von Heritage eklatant von dem Erbe-Verständnis der UNESCO oder der Europäischen Union und damit eklatant von dem der nach wie vor wirkmächtigsten Akteure im Feld des kulturellen Erbes. Denn obwohl auch in diesen Gremien die Forschungserkenntnisse der letzten Jahre durchaus rezipiert werden, ist Heritage in offiziellen Kontexten doch nach wie vor eine Art Schatz, den wir aus der Vergangenheit bergen können, um ihn zu schützen und weiterzugeben.25 Tatsächlich handelt es sich dabei jedoch um einen sozialen Prozess der Inwertsetzung – insbesondere von Wissen um die Bedeutung dieses Erbes, wie Markus Tauschek zusammenfassend herausgestellt hat.26

Cultural Heritage macht dem bestehenden Vokabular kollektiver Gedächtnisse auf diese Weise nicht einfach Konkurrenz – und sollte auch nicht einfach als ein weiterer Begriff unter vielen abgetan werden –, sondern kann dieses entscheidend erweitern: Waren die Geschichts- und Kulturwissenschaften bislang vornehmlich durch ein Spannungsfeld zwischen Erinnerungs- und Geschichtskultur geprägt,27 können grundlegende Arbeiten, wie jene von Aleida28 und Jan Assmann29 sowie Astrid Erll,30 nicht durch die Erkenntnisse der Heritage-Forschung ersetzt, sondern vielmehr durch diese bereichert werden. Auf Grundlage dieser Überlegungen lässt sich Cultural Heritage als Teilprozess kollektiver Gedächtnisse einordnen, der spezifischen Logiken der Bewahrung und Weitergabe folgt.31

In den 2000ern hat sich innerhalb der Heritage Studies als zentraler Zweig etabliert, die Wirkmechanismen, Akteure, Interessen und Deutungsmuster dezidiert ›offizieller‹ Heritage-Prozesse kritisch zu untersuchen.32 Hier erweist sich Stuart Halls Frage Whose Heritage? von 2005 als absolut wegweisend.33 Obwohl Hall in seinem gleichnamigen Beitrag sehr spezifisch am britischen Beispiel bleibt, sensibilisiert seine kritische Analyse für zwei Aspekte, die eng mit jeglichem Cultural Heritage verwoben sind: nation building als eine Form der Vergemeinschaftung und die Rolle minorisierter Gruppen innerhalb dieser Vergemeinschaftung. Indirekt weist Hall so darauf hin, dass Heritage nicht nur ein gegenwartsorientierter Prozess ist, sondern insbesondere auch ein zukunftsgewandter. Die Vererbung bestimmter Gebäude, Werte oder Traditionen erfüllt nicht nur erinnernde Funktionen, sondern entsteht vielmehr aus spezifischen Interessen für die Zukunft einer bestimmten Gruppe heraus. Gerade vor dem Hintergrund der sorbischen Minderheit als Teil des Lausitzer kulturellen Erbes gewinnt Halls Beitrag so erneut an Gewicht.34 Explizit wies er auf die Selektivität von Heritage schaffenden Prozessen hin sowie auf die ihnen zugrundeliegenden Machtstrukturen und Deutungshoheiten.35 Laurajane Smith operationalisierte dies in ihrer Arbeit von 2006 als den sogenannten ›Authorized Heritage Discourse‹, der vor allem durch institutionalisierte Expert:innen gestaltet werde.36 Auf Smiths Impulse hin entwickelte sich ein Netzwerk aus Heritage-Forschenden, das sich als ›Association of Critical Heritage Studies‹ den besonders einflussreichen Konstruktionsprozessen und Nutzungspraxen von Cultural Heritage widmet und diese kritisch reflektiert.37 Infolgedessen wendeten sich Forschung und Praxis gleichermaßen der Frage nach dem Besitz kulturellen Erbes und dessen Eigentümer:innen zu, insbesondere, aber nicht ausschließlich, im Bereich musealer Sammlungen. Diese Frage ist, wie Haidy Geismar am Ende ihrer »genealogy of mainstream global heritage regimes«38 resümiert, absolut notwendig, um Museen und deren Sammlungen verantwortungsvoll – und das heißt in Geismars Sinne, dekolonial – zu verwalten, da Besitz und Eigentum »[still] constitute the foundational definitions of heritage and also form the ideological underpinnings of most heritage regimes.«39 Für den Bereich der politischen Bildung adaptierte Malte Kleinschmidt wiederum erst kürzlich anhand von Vorstellungen von Lernenden den Ansatz des dekolonialen Erbes als »die vielfältigen Formen in der Vergangenheit und Gegenwart, in denen koloniale und neokoloniale Machtverhältnisse unterminiert und infrage gestellt worden sind.«40

Auf diese Weise trug die Forschung nicht zuletzt der Hochkonjunktur öffentlicher Kulturerbe-Debatten Rechnung, dekonstruierte und erweiterte sie – gleichwohl die wissenschaftliche Reflexion eines Trends selbstverständlich auch das Mittragen und Mitgestalten dieses Trends bedeutet, wie Bernhard Tschofen argumentiert.41 Neben grundsätzlichen Fragen danach, wie der Begriff des Kulturerbes zu füllen sei, rücken dabei immer wieder die Akteure, die ›Heritage-Maker‹, in den Vordergrund. Insbesondere durch jüngere Beiträge, wie die Analyse der EU-Heritage-Politik und die ihr zugrundeliegenden Argumentationslinien bei Lähdesmäki, Čeginskas, Kaasik-Krogerus, Mäkinen und Turunen, erscheint Heritage hier auch vermehrt als eine Form dessen, was Michel Foucault ›Governementalität‹ nannte.42Über sein Verhältnis zum Staat schreibt Rosemary J. Coombe:

Heritage resource management, like other forms of neoliberal governmentality, legitimises new relations of power and knowledge as it creates new subject positions for individuals and social groups, while fostering the articulation of collective subjectivities holding possessive relationships to culture.43

Der Gedanke gewinnt insbesondere mit Blick auf die untersuchten Regionen an Gewicht, wenn es um die bestehenden Macht- und Partizipationsstrukturen geht. Hier stellt sich die Frage, wie stark der Einfluss von EU-Organen und ihren spezifischen Fördermechanismen auf die örtlichen Prozesse einzuschätzen ist – Elisabeth Keller spricht hier von einem »Regieren von und durch kulturelle(n) Projekte(n).«44

1.2.2.Regionen und ihre ›Identitäten‹ als gesellschaftswissenschaftliches Forschungsfeld

Das zweite große Forschungsfeld, dem die vorliegende Arbeit zuzuordnen ist, ist das der sogenannten regionalen Identitäten. Ähnlich wie kulturelles Erbe bzw. Heritage, so sind auch Regionen und ihre Identitäten vielgedeutete Forschungsbegriffe, die im Zuge der cultural und spacial turns der Geisteswissenschaften zahlreiche Disziplinen für sich nutzbar machten. Während die Wissenschaften des Raumes Regionen und ihre Identitäten heute oftmals als praxisorientierte Kategorie operationalisieren, kennen die Gesellschaftswissenschaften die regionale Identität spätestens seit den 1960er Jahren als soziales Phänomen individueller sowie kollektiver Verortung und damit verwobener Bedeutungskonstruktionen.45 Damit verbunden war eine intensive Diskussion über das generelle moderne Identitätsverständnis, dessen essentialistische Implikationen und historische Belastungen ›Identität‹ zunächst zu einem schwierigen Begriff machten, den es neu zu reflektieren galt.46 Insbesondere die Prozesshaftigkeit von Identität und ihre situative Bedingtheit in sozialen Gefügen rückten nun in den Fokus: In der sich entwickelnden Kulturgeographie, welche für die Analyse und Theoretisierung von Regionen immer wieder entscheidende Impulse geliefert hat, bilden das von G. P. Stone entwickelte und von C. F. Graumann verfeinerte Konzept der ›identification of (the other)‹, ›identification with (the other)‹ und das ›being identified‹ richtungsweisende Grundsteine für die Operationalisierung (regionaler) Identitäten.47 Parallel dazu entwickelten in den 1990er Jahren insbesondere Vertreter:innen der Cultural Studies das Verständnis von Identität als eine Form von Kategorisierung, die soziale Gruppen zur Positionierung des Selbst und zur Abgrenzung von Anderen nutzen.48 Dieser Ansatz ist auch für die hier zugrundeliegenden Forschungsfragen anschlussfähig, da er die Entwicklung individueller sowie kollektiver Selbstbilder als oftmals fragmentiert, kontextgebunden und historisch gewachsen nachzuvollziehen erlaubt, wie Stuart Hall es ausdrückt.49

Der Begriff der ›regionalen Identität‹, wie er sich seit den 1960ern in verschiedenen Disziplinen der Gesellschaftswissenschaften entwickelt hat, weist jedoch in eine etwas andere Richtung und ist keinesfalls als eine schlichte Kombination von Raum und Selbstbildern zu verstehen. Theoretische Begleitung der Fachdebatten bildeten Henri Lefebvres Idee vom Raum als soziale Praxis50 und die nachfolgenden Arbeiten von Foucault, Bourdieu und Soja, innerhalb derer Raum als ›gelebter Raum‹ konzeptionalisiert wird, der gesellschaftlich erschaffen wird und auf diese Weise »Gesellschaft und gesellschaftliche Verhältnisse formt.«51 Folglich wird Raum nutzbar als eine zielführende Kategorie für die Analyse der Produktion, Aushandlung und Funktionsweise von Macht.52

Das Bedürfnis nach neuen Konzepten und Theorien – sowohl in der Psychologie und ihren Unterfächern, der Geschichte, der Volkskunde und Anthropologie, der Soziologie und der Geographie – spiegelte wiederum eine beobachtete, gesellschaftliche Hinwendung zum kleinen Raum, zur nahen Umgebung, ja zur ›Heimat‹ wider. Die Wiederkehr des Regionalen nannte es Rolf Lindner gut 20 Jahre später.53 Hier stellt sich im Jahr 2022 und mit Blick auf die untersuchten Diskurse durchaus die Frage, ob das Regionale seitdem je aufgehört hat wiederzukehren. Ab den 1960er und 1970er Jahren konnte die Region jedenfalls nicht länger als übersichtlich großer Container für menschliches Verhalten vordefiniert werden. Die in den folgenden rund 15 Jahren entwickelten Ansätze bilden auch heute noch – wenngleich sinnvoll reflektiert und erweitert – die Grundlage für die gesellschaftswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Räumen im Allgemeinen und Regionen sowie deren Identitäten im Besonderen, da das Verhältnis des Menschen zur Region und die damit verbundenen Konstruktionsprozesse von Raum in das Zentrum des Erkenntnisinteresses rückten.

Um meinen eigenen Begriff von Region zu schärfen, werde ich im Abschnitt 1.4.2 auf frühe historische Arbeiten der 1960er, insbesondere jene von Gollwitzer und Faber, noch genauer zurückkommen. Für eine Arbeit, die regionalhistorische und kulturanthropologische Ansätze verbindet, um regionales Heritage zu untersuchen, sei an dieser Stelle vor allem auf die enge wechselseitige Beeinflussung von Geschichts- und Kulturwissenschaften bei der Frage nach Heimat, Region und Identität hingewiesen. Der niedersächsische Regionalhistoriker Carl-Hans Hauptmeyer spricht für die Geschichtswissenschaft der 1970er und 1980er nicht ohne Grund von einer »anthropologischen Wende […].«54 Denn neben geographischen Ansätzen, wie dem ›Regionalbewusstsein‹ von Blotevogel, Heinritz und Popp, waren es neue Ansätze des Vielnamenfaches – damals noch der ›Volkskunde‹ –, die in der Geschichtswissenschaft reflektiert und adaptiert wurden, um das neue gesellschaftliche Interesse an der Heimat zu verstehen und konzeptionell zu fassen. So schrieb Hauptmeyer 1987 über die (neue) Heimatgeschichte, diese sei ein neues Interesse am kleinen Raum, kein altes und beispielsweise nationalistisch motiviertes, und sie sei letztlich eine Reaktion auf die Überforderungen der modernen Gesellschaft.55 Hauptmeyer rekurrierte hierbei auf Hermann Bausingers Beobachtungen zur Renaissance des Heimatbegriffes: »Heimat also als Gegensatz zu Fremdheit und Entfremdung, als Bereich der Aneignung, der aktiven Durchdringung, der Verläßlichkeit.«56 Heimat war für Bausinger ebenfalls kein rein problematisches oder reaktionäres Phänomen. Vielmehr öffnete er es dadurch, »daß es sich um eine räumlich-soziale Einheit mittlerer Reichweite handelt.«57

Dies aufgreifend argumentierte Hauptmeyer, Heimatgeschichte müsse und könne demzufolge nicht vollständig von Emotionen befreit sein; auch sah er in der neuen Heimatgeschichte ein reges Tätigkeitsfeld für eine Generation von Historiker:innen, die mit den angesprochenen Herausforderungen der modernen Gesellschaft ganz lebensweltlich zu kämpfen hätten, nämlich in dem Sinne, dass sie dort Arbeit fänden, wo klassische universitäre Karrierewege inzwischen zunehmend versperrt würden.58 Dass Hauptmeyer dieser Form der Heimatgeschichte nun die Regionalgeschichte als ›Begleiterin‹ an die Seite stellte und die Aufgabe dieser Regionalgeschichte darin sah, die Wissenschaftlichkeit von Heimatgeschichte zu garantieren, deutet ebenfalls auf den regen Austausch zwischen den Geschichts- und Kulturwissenschaften hin. Die Orientierung an historisch gewachsenen Herrschaftsräumen und deren Grenzen, wie sie bis dahin in der Landesgeschichte üblich war, wurde damit durch einen flexiblen Zuschnitt von Untersuchungsräumen ergänzt, der sich an »regionsbildenden Faktoren«59 – sprich: naturräumlichen, kulturellen oder wirtschaftlichen Faktoren – orientierte. Der hier zitierte Ernst Hinrichs sah darin jedoch keinen allzu schnell vermuteten Widerspruch zwischen Landes- und Regionalgeschichte. Vielmehr plädierte er für die Regionalgeschichte als Methode der Landesgeschichte, als eine Möglichkeit, Räume zu »entdecken«60, die heute nicht mehr im Bewusstsein der Menschen sind, in der untersuchten historischen Epoche aber von Bedeutung waren. Dieser in den 1980ern entwickelte Regionalbegriff orientierte sich also nicht daran, wie ein Raum zu einer bestimmten Zeit genannt oder verortet wurde, sondern anhand welcher sozio-kulturellen Gemeinsamkeiten sowie Beziehungen eine Region historisch rekonstruiert werden kann.61

Die Region deutet hier als analyseleitende Kategorie ›mittlerer Ebene‹ auf Prozesse und Verknüpfungen, weniger auf Diskurse oder Emotionen. Sie eignet sich eher für den beispielhaften Zugriff auf und die räumlich begrenzte Konkretisierung von übergeordneten historischen Themen im Sinne einer Historiographie, die sich ab den 1970ern vermehrt als ›historische Sozialwissenschaft‹ verstand.62 Was jedoch gleichsam von Interesse blieb war, wie Peter Weichhart 1990 aus Sicht der Geographie feststellte, »eine systematische Erörterung der Ausprägungsformen territorialer Bindungen […], [die] das Gesamtspektrum dieser Beziehungsgefüge mit ihren wichtigsten funktionalen und finalen Wirkungszusammenhängen im Auge […] behalten.«63 Was zuvor schon für die Heimat konstatiert worden war – dass sie ein emotionsbezogenes Verhältnis zum Raum sei, aber auch Halt gebe im unübersichtlich gewordenen Jetzt und so eine durchaus reflexive Auseinandersetzung mit der direkten Umgebung ermögliche, – um noch einmal auf Bausinger zurückzukommen – konnte durch Weichharts im Jahre 1990 vorgestellte ›raumbezogene Identität‹ nun auch auf Regionen und Regionalismen übertragen werden. Basierend auf Stones und Graumanns ›Identitätskonzept‹ versteht Weichhart die raumbezogene Identität als eine gedankliche Repräsentation emotional-affektiver Wertung von räumlichen Ausschnitten, »die ein Individuum in sein Selbstkonzept einbezieht, als Teil seiner Selbst wahrnimmt.«64 Weichhart schreibt hier dezidiert von Wahrnehmung, da der Begriff nur wenige Jahre zuvor von Blotevogel, Heinritz und Popp für das ›Regionalbewusstsein‹ als mentales Phänomen der Raumwahrnehmung mit unterschiedlichen Identitätsstufen vorgeschlagen worden war.65 So rückten die sozio-kulturellen Konstruktionsprozesse, die Regionen zugrunde liegen, in den Fokus. Bei der Kategorisierung der Funktionen, die raumbezogene Identität erfüllt, nennt Weichhart daher auch den Raum als Projektionsfläche für gesellschaftlich ausgehandelte und bedeutsame Symbole – Blotevogel spricht parallel dazu von räumlichen Codes, die als Symbolträger für gemeinsame Werte fungieren.66 Auch auf diesen Aspekt werde ich für die Arbeitsdefinition von Regionen und ihren Identitäten noch einmal detaillierter zurückkommen, da die ›Wahrnehmung‹ von räumlichen Spezifika freilich suggeriert, dass es diese Spezifika gäbe, dass diese existierten und anschließend von Menschen mit Bedeutung aufgeladen werden können.

Auch in den Kultur- und Geschichtswissenschaften rückten ab den 1990er Jahren die Konstruktionsprozesse von Raum – und demzufolge dessen diskursive Aushandlung – noch stärker in den Vordergrund. Für die Region als Bezugsgröße in der Diktaturgeschichte ergänzen Detlef Schmiechen-Ackermann und Thomas Schaarschmidt Carl-Hans Hauptmeyers eine grundlegende Definition von der Region als »eine sich wandelnde sozialräumliche Einheit, die modellhaft ähnliches Handeln und Wirken einer menschlichen Gesellschaft abbildet«67 dahingehend, dass sie nur dann von historiographischen Interesse sei, »wenn sie von ihren Bewohnern (oder zumindest einem großen Teil ihrer Bewohner) mit einem kollektiven Sinn identifiziert wird […].«68 Der historiographische Regionsbegriff orientiert sich nun also nicht ausschließlich an Forschungsinteressen und erkenntnissen, er wird nicht nur von der forschenden Person abgeleitet, sondern er orientiert sich auch wieder verstärkt am Diskurs. Ähnliches gilt für die regionale Identität. In ihrer 2012 erschienen Studie zur Regionalkultur fasst Petra Behrens die aktuellen, geschichts- sowie kulturwissenschaftlichen Konzeptionalisierungen von Regionen und ihren Identitäten prägnant zusammen, indem sie diese als historisch-gesellschaftliches Konstrukt begreift, dessen Inhalte fortlaufend aktualisiert werden:

Die sich dabei herausbildenden regionalen Repräsentationen, Symbole, Bilder und die bis zu Stereotypen verfestigten Regionsimages stellen keine Eins-zu-Eins Abbilder der Wirklichkeit dar, sondern sind Teil der sozialen Kommunikation und sowohl Vehikel aus auch Ergebnis der Durchsetzung von politischen Interessen und Macht.69

In der Kulturanthropologie sind es parallel dazu – und wie Bausingers Reflexionen zum Heimatbegriff bereits zeigten – nicht erst seit den 2000ern historisierende Ansätze für regionale Identität, welche die eng verwandte Genese der Begriffe Region und Heimat im 19. Jahrhundert hervorheben. Um meinen kursorischen Überblick abzuschließen, verweise ich daher auf Silke Göttsch-Elten, die für regionale Identitäten als sozio-kulturelles Phänomen resümiert:

Regionale Identität ist das Ergebnis eines Interaktionsprozesses, der das Verhältnis städtischer Bürger und Landbewohner zu einander charakterisiert und der so erst im 19. Jahrhundert möglich wurde, also in enger Beziehung zu den wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen jener Zeit steht. An diese im 19. Jahrhundert ausgebildeten regionalen Identitäten wird bis heute angeknüpft.70

Daraus schlussfolgert Göttsch-Elten drei zentrale Punkte für das kulturanthropologische Verständnis von Regionen, die heute durchaus noch als gemeinsamer Nenner jüngerer Debatten verstanden werden können: Regionen sind (1) Konstrukte, die (2) durch menschliche Zuschreibungen entstehen, welche (3) wiederum spezifischen Interessenlagen entsprechen.71

1.3.Zielsetzung

Um das Ziel meines Erkenntnisinteresses zu klären, möchte ich noch einmal auf die sich herausbildende Unterscheidung in Landes- und Regionalgeschichte zurückkommen. Diese hatte, wie Hauptmeyer 1987 beobachtet, eine starke Ausdifferenzierung des Tätigkeitsfeldes ›Regionalgeschichte‹ und seiner Träger:innen zur Folge: Nicht für diejenigen, die an der Geschichte ›ihrer‹ Region oder gar ›ihrer Heimat‹ interessiert waren, wurde mehr geschrieben, sondern für ein Fachpublikum, das sich aus anderen (Regional)historikerinnen und historikern zusammensetzte.72 Demgegenüber grenzte Hauptmeyer die ›Heimatgeschichte‹ ab, die gerade aufgrund ihrer Ausrichtung als »Geschichte derjenigen sozialräumlichen Einheit, die von einer Person oder einer bestimmten Gruppe lebensgeschichtlich und sozialisationsbedingt als identitätsstiftend erfahren wird […]«73, stets emotionsbezogen sei und nicht vollständig wissenschaftlich sein könne. Hauptmeyer erkennt diese Dynamik durchaus als Problem und hebt den Bedarf an Werken hervor, die eine wissenschaftlich fundierte Geschichte kleiner Räume betreibt und dennoch für interessierte Laien lesbar ist. Damit benennt er ein Dilemma, das ich bei einer kritischen Reflexion auch bei meiner eigenen Arbeit sehe: Es ist eine Studie über sozio-kulturelle Phänomene in zwei Regionen, die kulturelles Erbe hervorbringen. Ihre Ergebnisse eignen sich daher zunächst weniger, um etwas Neues über die Geschichte des Wendlands oder der Lausitz zu erfahren. Auch belegen sie nicht die Legitimität oder historische Akkuratesse bestimmter Erbe-Verhandlungen in Lowenthals Sinne, d.h. das Ziel der Arbeit ist es nicht, festzustellen, ob das, was heute als Kulturerbe der Lausitz oder des Wendlands gilt, historisch korrekt vermittelt wird. Mein Ansatz zielt vielmehr darauf ab, den Prozess des Hervorbringens kulturellen Erbes und seiner Verräumlichung zu verstehen. Es lohnt sich dennoch aus mehreren Gründen, gerade diesen Ansatz zu verfolgen: Dadurch rücken insbesondere die Akteure dieser Prozesse in den Fokus, ebenso wie ihre Motivationen, Möglichkeiten und Strategien. Mein zentrales Erkenntnisinteresse gilt der Frage danach, wie, warum und von wem kulturelles Erbe zur Konstruktion, Aushandlung und Institutionalisierung regionaler Identitäten im Wendland und in der Lausitz genutzt wird. Die vorliegende Studie kann deshalb einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis jener regionalbildender Prozesse leisten, die durch die Vergegenwärtigung und Vergemeinschaftung spezifischer Vergangenheiten geprägt sind.74 Diesen kommt im Rahmen sozio-politischer, -kultureller sowie ökonomischer Diskurse immer wieder eine bedeutende Rolle zu, sei es in Form von Wirtschaftsförderung, Tourismus, Marketing oder der Landes- und Kreispolitik. Denn während Nationen zwischen Globalisierung und aufstrebendem Populismus vermehrt um die Relevanz ihrer Identitätsangebote ringen, stehen dezidierte Regionen und deren Selbstverständnisse spätestens seit den 1990er Jahren zunehmend im Zentrum kulturpolitischer, sozio-kultureller und nicht zuletzt ökonomischer Aushandlungsprozesse. Hintergrund ist hier insbesondere der sogenannte ›New Regionalism‹ in der EU-Förderpolitik, der zu einer enormen Wertsteigerung der Marke ›Region‹ führte.75

Die Heritage Studies befassen sich wiederkehrend, aber meist punktuell, mit der expliziten Rolle kulturellen Erbes bei raumbildenden Prozessen. Als richtungsweisend für die vorliegende Arbeit erweist sich hier Ashworths, Grahams und Tunbridges Geography of Heritage aus dem Jahr 2000.76 In ihrer Studie benennen die Autoren Cultural Heritage dezidiert als »the principal instrument for shaping distinctive local representations of place […].«77 Nach den Autoren folgen daraus im Ergebnis drei Forschungsfelder, bei denen sich Geographie und Heritage Studies überschneiden:

heritage is inherently a spacial phenomenon, characterised by location, distribution and scale;it is a fundamental part of cultural geography’s concern with signification, representation and identity;heritage is an economic instrument in policies of regional and urban development and regeneration.78

Ausgehend von dieser Beobachtung muss jedoch festgehalten werden, dass zahlreiche nachfolgende Studien durchaus lokal begrenzte Formen kulturellen Erbes untersuchen, allerdings fehlt es an konkreten Rückschlüssen auf die Verbindungen und Interdependenzen zwischen dem untersuchten Erbe und dem jeweiligen Selbstverständnis der Region, in der es verortet und verhandelt wird. Dies liegt auch darin begründet, dass den Heritage Studies und ihren Ursprüngen in den britischen Cultural Studies ein generell inhärenter Fokus auf das Ländliche zugesprochen wird. Dies hatte eine Umorientierung der Forschung auf den urbanen Raum zur Folge.79 Zu den Interdependenzen von Raum, Identität und Erbe liegt daher inzwischen eine breiter werdende Palette disziplinär unterschiedlicher Untersuchungen vor; in diesen wird jedoch städtischen Verhandlungen von demzufolge baulichem Heritage oftmals der Vorzug gegeben.80 Die Ergebnisse dieser Untersuchungen zeigen: Die Gemeinschaft der Erbenden ist immer auch eine räumlich begrenzte Gemeinschaft. Entsprechende Ansätze müssen daher – und gerade mit Blick auf die diskursive Bedeutsamkeit von Regionen – auch auf regionale Raumverständnisse übertragen werden. Ohne die Kenntnis der dort wirkenden Akteure und der ihnen zur Verfügung stehenden Machtstrukturen – das heißt insbesondere ihrer Partizipationsmöglichkeiten – lassen sich weder regionale Identitäten, noch die Mechanismen, Nutzungen und Wirkungsweisen kulturellen Erbes vollständig verstehen.

Dies ist vor allem dann von Relevanz, wenn wir nach den Grenzen dieser Partizipationsmöglichkeiten fragen. Denn kulturelles Erbe ist – allen Universalitätsansprüchen des UNESCO-Welterbes zum Trotz – stets mit bestimmten Gruppen verknüpft, die einen Anspruch darauf erheben.81 Deshalb wohnt ihm ein genuin exkludierendes Moment inne, wie auch das Beispiel des AfD-Wahlplakates gezeigt hat. In diesem Sinne trägt die vorliegende Studie dazu bei, regionale Identitäten und ihr kulturelles Erbe als gegenwärtige Phänomene in ihrer historischen Gewachsenheit nicht als statisch, sondern als dynamische Aushandlungsprozesse mit einer jeweils bestimmten Trägerschaft zu begreifen. Diese Träger:innen konstruieren ihr kollektives Selbstverständnis auf Basis eines teilweise diffusen Gerüstes aus Werten, Traditionen oder Eigenschaften und bedienen sich hierfür in der Regel eklektisch und zweckgerichtet der Vergangenheit. Wenn wir diese Rationalitäten besser verstehen, können wir die damit verbundenen politisch-kulturellen sowie sozio-ökonomischen Implikationen inklusive den damit verbundenen Grenzen demokratischer Teilhabe systematisch reflektieren, gegebenenfalls hinterfragen und dekonstruieren.

1.4.Forschungsansatz und zentrale Konzepte

Aufbauend auf der skizzierten Vielzahl an Definitionen und Forschungsstimmen ist eine eigene, zielführende Definition der beiden zentralen Konzepte – Kulturerbe sowie regionale Identität – unabdingbar. Sie richtet sich nach dem zugrundeliegenden Erkenntnisinteresse und der damit verbundenen Forschungsfrage: Wie und warum konstruieren Menschen heute im Wendland und in der Lausitz ihre regionale Zugehörigkeit durch die Nutzung von Cultural Heritage? Demzufolge muss sie Aufschluss über zwei Kernthemen geben:

•regional orientierte Heritage-Nutzungen, wie sie sich heute sowohl im Wendland als auch der Lausitz darstellen, und

•die Gründe für diese aktuellen Situationen.

Fragen wir nach den Gründen für den Ist-Zustand kulturellen Erbes in den Regionen, müssen wir auch nach seinem Geworden-Sein fragen, da – wie Dietmar von Reeken es aus Sicht der geschichtskulturell ausgerichteten Geschichtsdidaktik formuliert – »Menschen [stets] ihre Geschichte vor dem Hintergrund von Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen [deuten], aber sie deuten umgekehrt auch ihre Gegenwart und ihre – gewünschte oder befürchtete – Zukunft vor dem Hintergrund von Vergangenheitsbezügen.«82 Auf den hier gewählten, heritage-fokussierten Zugriff bedeutet dies:

a)die historisch gewachsenen, regional spezifischen Handlungskontexte zu analysieren,

b)die aktuell verhandelten Vergegenwärtigungen von Vergangenheit in beiden Regionen nachzuzeichnen und ihre diskursbestimmenden Akteure zu identifizieren sowie

c)die Motivationen, Nutzungen, Möglichkeiten und Grenzen ihres jeweiligen Heritage-Makings zu erkennen und zu reflektieren.

Diese Herangehensweise verlangt nach einem genuin sozialkonstruktivistischen Verständnis der Konzepte von Heritage und regionaler Identität, denn sie rückt die Akteure und ihre jeweiligen individuellen Verständnisse in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Erst, wenn sowohl die Region und ihre ›Identität‹ als auch das ihr zugeschriebene kulturelle Erbe als Ergebnis beständiger Aushandlungen verstanden werden, treten die engen Verbindungen zwischen beiden zu Tage – eine Verknüpfung, für die Bernhard Tschofen bereits 2007 plädierte.83

1.4.1.Cultural Heritage

Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes »Bedeutung« – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung des Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Und die Bedeutung eines Namens erklärt man manchmal dadurch, daß man auf seinen Träger zeigt.84

Dieser Gedanke aus Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen kann in gewisser Weise als Basis für die gesamte hier vorliegende Arbeit betrachtet werden. Denn, ähnlich wie es Hall fünfzig Jahre später für das feststellt, was wir ›Kultur‹ nennen, so ist auch kulturelles Erbe nicht nur das, was einzelne, wirkmächtige Akteure darunter verstehen – auch, wenn sich die normative Kraft ihrer Definitionen im alltäglichen Gebrauch des Begriffes niederschlägt.85 Halls Kulturbegriff als Grundlage des analyseleitenden Verständnisses von Cultural Heritage zu nutzen, bietet den Vorteil, sowohl Kultur als auch Heritage als Praxis des Bedeutung-Zuschreibens und des Ringens um die Gültigkeit geteilter Deutungen zu verstehen. Daran anschließend verwende ich den Begriff der Praxis im Folgenden als ein in sich verbundenes Set von Aktivitäten, bei deren Vollzug Menschen eine sozio-kulturelle Wirklichkeit hervorbringen.86 In Anlehnung an Stefan Hirschauer bilden einzelne Typen dieser Aktivitäten die jeweiligen Praktiken des kulturellen Erbes.87 Ich werde auf die einzelnen Praktiken von Cultural Heritage noch genauer zurückkommen (siehe unten in diesem Abschnitt und Kapitel 5).

Sowohl Kultur als auch Erbe sind demzufolge einem ständigem Deutungswandel unterworfen. Und wenn Kulturerbe eine Zuschreibung ist, eine soziale Praxis der Vergegenwärtigung, dann stellt sich im Sinne einer praxistheoretischen Perspektive die Frage, was eben jene Menschen unter dem Wort ›Kulturerbe‹ fassen, die dessen aktuelle Verhandlung in den untersuchten Räumen entscheidend prägen. Hier wird die Untersuchung der gesammelten Quellen noch zeigen, dass diese individuellen und teils impliziten Deutungen der Akteure mit den Deutungen übergeordneter Organisationen, wie EU und UNESCO, dringend in Relation zu setzen sind, denn das eine beeinflusst das andere und vice versa. Es bedeutet aber auch, den Begriff von seiner wissenschaftlichen Konzeptualisierung zu trennen. Denn die Verwendung des Begriffes ›Kulturerbe‹ beziehungsweise ›Cultural Heritage‹ fußt sowohl auf seiner offiziellen, alltäglichen Verwendung – meist geprägt durch die UNESCO – sowie auf der wissenschaftlichen Auseinandersetzung im Rahmen der Heritage-Studies. Da diese nach wie vor vermehrt von anglophonen Forschungen geprägt sind, schlage ich vor – zumindest im Rahmen deutschsprachiger Arbeiten –, zwischen ›Kulturerbe‹ und ›Cultural Heritage‹ zu unterscheiden. Während Kulturerbe der Quellenbegriff ist, der die deutschsprachige öffentliche Debatte und auch das offizielle Verständnis von Erbe prägt, ist Cultural Heritage das wissenschaftliche Konzept, mithilfe dessen es untersucht und analytisch urbar gemacht wird. Mir ist bewusst, dass dieser sprachliche Kniff nur begrenzt auf andere Sprachen übertragbar ist. Es scheint mir jedoch eine fruchtbare Frage der Theoretisierung vererbender Prozesse, wie sich diese vom alltäglichen Sprachgebrauch sinnvoll und praktikabel unterscheiden lässt. Der Ethnologe Christoph Brumann teilt diejenigen Menschen, die sich mit Cultural Heritage beschäftigen, parallel dazu in zwei antagonistisch gegenübergestellte Lager auf, nämlich:

[…] those of heritage belief (an essentially affirmative position that seeks to sustain heritage and its conservation as intrinsically valuable) and of heritage atheism (an essentially critical position that seeks to undermine heritage) […].88

Es lohnt sich, die Verwendung und Konzeptualisierung von Cultural Heritage, wie sie für die vorliegende Arbeit zugrunde gelegt wird, anhand von Brumanns Idee zu schärfen, da er das Augenmerk auf zwei zentrale aktuelle Entwicklungen lenkt: Da wäre erstens die inhaltliche sowie methodologische Entfernung derjenigen, die Heritage-Making untersuchen, von denjenigen, die maßgeblich am Heritage-Making beteiligt sind – ganz ähnlich zur Entfernung jener, die Regionalgeschichte schreiben und jener, die sich mittels regionaler Geschichte beheimaten wollen. Im direkten Anschluss an Smiths Authorized Heritage Discourse stellt Brumann fest, dass sich das Heritage-Verständnis – insbesondere der Critical Heritage Studies – von dem der untersuchten Akteure massiv unterscheidet. Während die einen in einer Form des wissenschaftlichen Atheismus jegliche essentialistische Existenz von Heritage ablehnen und es als sozio-politischen Akt verstehen, ›glauben‹ die anderen an die positiven Eigenschaften und den Wert dessen, was es zu bewahren und weiterzugeben gilt.89 In seinem Artikel Heritage Agnosticism: A Third Path for the Study of Cultural Heritage nutzt Brumann wiederholt diese Allegorie zur christlichen Religion. Er argumentiert, dass eine allzu rigorose Verurteilung von Cultural Heritage als letztlich exklusives Projekt mächtiger Eliten dem Phänomen an sich nicht gerecht werden kann. Stattdessen fordert er nicht nur eine generell genauere ethnographische Untersuchung offizieller Heritage-Akteure – oder ›Kleriker‹, wie er sie nennt –, sondern auch mehr Offenheit und Sensibilität gegenüber des ›Heritage-Glaubens‹ als Ausdruck kollektiver Bedürfnisse nach Vergangenheit und Authentizität.90 Damit ist Brumanns Heritage-Agnostizismus ein Plädoyer gegen den stark dekonstruierenden Zugriff der Critical Heritage Studies, obschon auch Brumann sich der Gemachtheit seines Forschungsgegenstandes durchaus bewusst ist. Dieser Mittelweg scheint mir wiederum besonders geeignet, um dem Dilemma der gegenseitigen Entfernung zu begegnen und die Arbeiten der Heritage Studies anschlussfähig für die jeweils untersuchten Diskurse sowie Akteure zu gestalten.

Auf die zweite zentrale Entwicklung weist Brumanns Artikel eher unbeabsichtigt hin: Wie auch die Critical Heritage Studies, so konzentriert sich Brumann auf das, was er die »heritage church«91 nennt. Gemeint sind damit offizielle Heritage-Maker, insbesondere die UNESCO und die mit ihr verbundenen Gremien. Dieser Fokus ist nötig, um die Wirkmechanismen öffentlicher Heritage-Diskurse nachvollziehen zu können – denn meist lassen sich Strategien einzelner Heritage-Akteure nur durch politische Gegebenheiten und Anreize offizieller Programme, wie zum Beispiel dem Europäischen Kulturerbejahr 2018, rekonstruieren und verstehen. Jedoch geraten durch diesen Fokus auf die – um in Brumanns Sprachbild zu bleiben – kanonischen Aspekte von Heritage und dessen apokryphe Aspekte als sozio-kulturelles sowie politisches oder ökonomisches Phänomen aus dem Blick. Heritage tritt auch als Freizeitbeschäftigung auf, als privates Vergnügen. Diese apokryphen oder inoffiziellen Aspekte treten jedoch nur zu Tage, wenn wir Heritage-Maker nicht nur als Institutionen, sondern als Individuen verstehen und deren Heritage-Verständnis in seiner Gesamtheit in den Mittelpunkt der Untersuchung stellen. Eine akteurszentrierte Perspektive einzunehmen ermöglicht es daher, den alltäglichen Nutzungen, Deutungen und Bedeutungen von Heritage Raum zu geben. So lassen sich in der Analyse auch individuelle Verortungsprozesse berücksichtigen, die oftmals abseits staatlich legitimierter Strukturen stattfinden. Es ist eines der Anliegen der vorliegenden Arbeit, dieses inoffizielle Heritage in den Blick zu nehmen und seine vielschichtigen Ausdrucks- sowie Anwendungsmöglichkeiten in sozialen Gefügen zu untersuchen. Als eine Ressource zur Markierung von Zugehörigkeit verstanden, zeigt sich Cultural Heritage in diesem Fall als Identifikations- und Erfahrungsraum im Spannungsfeld von Heimat und Fremdheit, Globalisierung oder gesellschaftlicher Diversität – und führt damit direkt in den Kern gesellschaftlicher Diskurse. Die Perspektiven eben jener Akteure, welche entscheidend an aktuellen Erbe- und Vererbungsprozessen teilnehmen, diese tragen und gestalten, sind deshalb von großer Bedeutung.

Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass Vererbungsprozesse bei Weitem nicht auf das Wirken der UNESCO, der EU oder UN beschränkt sind. Oftmals finden sie sogar in bewusster Abgrenzung zu offiziellen Definitionen statt – gleichwohl sie von diesen beeinflusst sein mögen. Gerade die Idee des Heritage-Agnostizismus bietet hier die Möglichkeit, weiter zu schauen. Wenn wir Heritage als menschengemachtes und ebenso vielfältiges Phänomen verstehen, ist Cultural Heritage nicht nur als offizieller Diskurs zu verstehen, sondern vielmehr als Gesamtheit jener sozialen, mentalen und materiellen Artefakte, die als bedeutsame historische Überlieferungen angesehen werden und die aufgrund dessen bei der Konstruktion kollektiver Identitäten genutzt werden.92 Und nur mit einem derart weiten Verständnis von Heritage kann das Phänomen in seiner Breite erfasst werden. Auf diese Weise lassen sich sowohl Aushandlungs- als auch Vererbungsprozesse in unterschiedlichen Kontexten nachvollziehen, sei es berufliches oder ehrenamtliches Engagement, öffentliches oder privates Interesse – sowie die damit verbundenen Geschichtskonstruktionen. Cultural Heritage ist in diesem Verständnis eine Vergegenwärtigung der Vergangenheit, um den Anforderungen der Gegenwart zu begegnen.

Es genügt jedoch nicht, das Phänomen Heritage allein anhand seiner Akteure zu definieren. Mit der aufgezeigten Definition allein lässt sich Heritage nur schwerlich von erinnerungskulturellen Prozessen unterscheiden. Das Konzept von Cultural Heritage, wie es dieser Arbeit zugrunde liegt, gilt es daher weiter spezifizieren. Rodney Harrison wies in diesem Zusammenhang auf die Sprache von Heritage hin, die sich auch durch ein wiederkehrendes Vokabular auszeichnet: Diese ›Language of Heritage‹ folgt den inneren Logiken von Vererbungsprozessen, da an Heritage nicht nur erinnert wird, sondern es auch ›gepflegt‹ wird, um es ›an kommende Generationen weiterzugegeben.‹93 Oftmals geschieht dies, weil das Betreffende vom Aussterben oder Verschwinden ›bedroht‹ ist – eine Argumentation, die auch beim Erhalt der sorbischen Sprache beobachtet werden kann.94 Das Vokabular findet sich jedoch nicht nur in offiziellen Kontexten, sondern auch im alltäglichen Sprachgebrauch und markiert dadurch das, was Harrison ›inoffizielles Erbe‹ nennt – also all das, was Menschen abseits institutionalisierter Anerkennung, abseits von Siegeln und Plaketten für bewahrenswert erachten.95 Durch die Kombination Brumanns angemessen weit formulierter Definition – die sowohl offizielle als auch inoffizielle Aspekte einschließt –, mit Harrisons Operationalisierung inoffiziellen Heritages anhand sprachlicher Logiken möchte ich das hier genutzte Konzept von Cultural Heritage gewinnbringend definieren und von verwandten Prozessen des Erinnerns abgrenzen. Als Cultural Heritage bezeichne ich in der nachfolgenden Studie daher nur jene Vergegenwärtigungen, die den spezifischen Logiken des Erbens und Vererbens, Bewahrens und Weitergebens folgen, was meist, aber nicht zwangsläufig, durch die verwendete Language of Heritage deutlich wird.

Abschließend möchte ich Harrisons sprachbasierten Ansatz für das hier vorliegende Konzept von Cultural Heritage noch einmal vertiefen und konkretisieren, denn Harrisons Fokus auf die Sprache vererbender Prozesse offenbart die genuin narrative Natur von Cultural Heritage. Gerade weil es eine Zuschreibung von Bedeutung ist, gilt es, den Prozess dieses Zuschreibens, des Erzählens von Heritage, in einem besonderen Maße zu berücksichtigen. Auch mit Blick auf die Verbindung individueller und kollektiver Perspektiven auf Heritage ermöglicht das Konzept der Narrativität im Sinne eines »making sense of one’s life as a story«96 wertvolle Erkenntnisse. Denn, um es mit den Worten Silke Meyers zu sagen, gilt übertragen auf das Thema Heritage:

Wer über [Kulturerbe] spricht, muss sich zu diesem Diskurs verhalten, entweder im Einklang mit ihm oder im Widerspruch zu ihm, er muss also Position beziehen. Geschichten nehmen Bezug auf diskursive Rahmungen wie individuelle Erfahrungen zugleich. Ihr Konstruktcharakter erlaubt dabei, beides miteinander in Beziehung zu setzen und individuelle Erlebnisse in narrative Sinneinheiten umzuwandeln.97

Anders ausgedrückt: Cultural Heritage als einen Akt des Erzählens zu begreifen, ermöglicht es, die Interdependenzen zwischen individuellen Aussagen, wie sie in den Interviews getroffen werden, mit diskursiven Argumentationslinien, wie sie in regionalem Marketingmaterial, Zeitungen und Ausstellungen verhandelt werden, herauszuarbeiten. Nun ist dies ein Ansatz, den Ingo Schneider und Valeska Flor bereits 2010 beziehungsweise 2014 für die Europäische Ethnologie anmahnten.98 In dem gleichen Band entwickelt Helmut Groschwitz sehr anschlussfähig die Idee vom Kulturerbe als Metaerzählung, die übergreifende Topoi, »darunter Identität, Gemeinschaft, Tradition, Bedeutung«99 kennzeichnen. Allerdings beziehen sich Groschwitz und die weiteren Autor:innen des Bandes überwiegend auf Tätigkeiten der UNESCO, insbesondere im Rahmen Immateriellen Erbes. Diesen doch recht verengenden Ansatz – der letztlich auch den offiziellen Akteuren, wie der UNESCO, zu viel Deutungshoheit darüber zuschreibt, was Kulturerbe sein kann und was nicht – möchte ich, wie oben ausgeführt, in der vorliegenden Arbeit aufbrechen und bewusst erweitern.

Ausgehend von Sebastian Dümlings jüngstem Beitrag zur erzählerischen Vermittlung gesellschaftlichen Wandels, lässt sich auch Cultural Heritage als ein grundlegendes Narrativ verstehen, das durch eben jene Logiken und Wendungen gekennzeichnet ist, wie sie Harrison herausgearbeitet hat.100 Dümling unterstreicht zudem die außerordentliche Rolle von Zeit für Erzählungen: »Schließlich ist es das Erzählen, das Menschen die Arbeit an der Zeit ermöglicht; […].«101 Übertragen auf die hier zugrundeliegende Fragestellung lässt sich daraus schlussfolgern, dass die Vergegenwärtigung von Vergangenheit in Form von Cultural Heritage eine auf Erzählung beruhende Arbeit an und mit der Zeit darstellt. Unterschieden sei hierbei zwischen Narrativen und Narrationen/Erzählungen: Narrative konzipiere ich für die vorliegende Studie und in Anlehnung an Schütz und Dümling als grundlegende Stabilisierungsschemata, die einzelne Narrationen oder Erzählungen in größeren Sinnzusammenhängen kontextualisieren. Demzufolge sind Narrative hier als historisch gewachsene Erzählkontexte zu verstehen, die mittels differierender Narrationen erzählt werden.102

Das bedeutet jedoch nicht, dass ich Heritage abseits jeglicher Materialität verstehe – weder das, was diskursiv als ›immaterielles Erbe‹, noch das, was als ›materielles Erbe‹ verhandelt wird. Darauf deutete schon die Kritik sorbischer Akteure an dem AfD-Wahlplakat hin, die insbesondere die dargestellte Tracht und die Art und Weise, wie sie getragen wurde, thematisierte. Die Kritik hatte also einen dezidiert materiellen Fokus. Eindeutig setzen kulturelle Praktiken also die Präsenz menschlicher Körper und deren Interaktion mit Dingen beziehungsweise Artefakten voraus, die sich wechselseitig beeinflussen.103 Dennoch halte ich mit Blick auf das Design der hier vorgestellten Studie Ansätze wie die der Akteur-Netzwerk-Theorie nicht für zielführend, da sie eine symmetrische Untersuchung und ebenso ein symmetrisches Verständnis menschlicher und nicht-menschlicher Akteure voraussetzen.104 Die von mir verwendeten und überwiegend schriftlichen Quellen geben jedoch nur wenig Aufschluss über den situativen Vollzug heritagisierender Praktiken und deren Materialität. Insbesondere geben sie Aufschluss über die Art und Weise, wie Heritage erzählt wird – oder, um es mit Barbara Kirshenblatt-Gimblett auszudrücken, wie Heritage metakulturell produziert wird. Die materiellen Aspekte meines Konzepts von Cultural Heritage möchte ich daher keinesfalls ignorieren; sie stellen jedoch nicht den Schwerpunkt der Analysen dar. Ist im Folgenden von ›Akteuren‹ die Rede, so meine ich dementsprechend Menschen oder deren institutionalisierten Zusammenschluss in Form von Vereinen, Museen, Archiven und so weiter.

Zusammengefasst: Cultural Heritage ist mehr als Kulturerbe. Es ist das Forschungskonzept für eine sozio-kulturelle Praxis spezifischer Vergegenwärtigung, bei der verschiedenen Aspekten der Vergangenheit gegenwartsorientierte Werte zugesprochen werden.105 Analytisch urbar wird diese Zuschreibung im Rahmen der vorliegenden Arbeit, wenn wir sie als prozessuales Narrativ verstehen, das nicht nur den Umgang mit Zeit im Allgemeinen ermöglicht, sondern auch durch spezifische Logiken gekennzeichnet ist, die es von anderen Narrationen über Vergangenheit unterscheiden. Zentral ist hier vor allem der Zustand des Bedroht-Seins und die Motivation entsprechender Akteure, diesem durch Weitergabe und Erhalt des jeweiligen Heritage entgegenzuwirken. Zusätzlich zeichnet sich Cultural Heritage dadurch aus, dass es zur Konstitution und Markierung von Zugehörigkeit genutzt wird. In diesem Verständnis kennzeichnet Cultural Heritage vor allem, dass ihm bei der Bildung, Verfestigung oder Neuinterpretation individueller sowie kollektiver Selbstverständnisse eine zentrale Bedeutung zukommt.106 Den tragenden Akteuren dieser Prozesse kommt im Zuge dessen nicht nur die Deutungshoheit darüber zu, wer etwas erbt, sondern auch, was vererbt wird. So lässt sich Heritage als Bestandteil von Deutungskonflikten in zunehmend pluralisierten Gesellschaften verstehen.

1.4.2.Regionale Identität

Wenn wir nun danach fragen, wie einzelne Menschen und Gruppen sich mithilfe einer Vergegenwärtigung von Vergangenheit verorten, dann wird Raum zu dem zweiten, hier leitenden Analysekonzept. Meine Arbeit baut damit ganz wesentlich auf dem Spacial Turn der Gesellschaftswissenschaften auf – Raum also als Prozess und Ergebnis sozialen Handelns, der dieses soziale Handeln wiederum wechselseitig beeinflusst und bedingt. Die Region erscheint hier zunächst als eine von vielen möglichen Kategorisierungen von Raum – neben Staatenbünden, der Nation, dem Bundesland, der Stadt oder dem Dorf. Insbesondere, aber nicht nur in deutschsprachigen Kontexten ist die Region jedoch ein ganz besonders fruchtbares Untersuchungskonzept, das sich einerseits historisch und andererseits gegenwartsorientiert-diskursanalytisch begründen lässt. Argumentiert mit den unter Punkt 1.2.2 angesprochenen Ansätzen von Göttsch-Elten und Bausinger sind Regionen und ihre Identitäten ein Ergebnis romantischer Nationalverständnisse und Folklorisierung, die das Regionale quasi als Gegenentwurf, aber eben auch als integrativen Bestandteil des Nationalen positionierten, als Reaktion auf die territorialen Neuordnungen des Langen 19. Jahrhunderts und als Reaktion auf die sozio-kulturellen sowie ökonomischen Verwerfungen der Industrialisierung und Globalisierung.107 Diskursanalytisch argumentiert sind Regionalidentitäten längst zum entscheidenden kulturökonomischen Faktor innerhalb eines Europe of Regions avanciert, insbesondere für den scheinbar abgehängten ländlichen Raum, der sich in Form neuer Ländlichkeit wieder als Bezugsgröße für Beheimatung positioniert.108

Diese beiden Deutungsrichtungen gilt es, sinnvoll miteinander in Beziehung zu setzen. In meiner Arbeit stütze ich mich daher ganz besonders auf das Konzept regionaler Identitäten von Anssi Paasi.109 Ausgehend von der Entwicklung und gegenseitigen Beeinflussung bisheriger Fachdebatten in der Kulturgeographie, die auch Paasi repräsentiert, sowie den Geschichts- und Kulturwissenschaften, kann Paasis Definition als eine Art zielführende und strukturierende Quintessenz fungieren. Schon die Frühphase der Begriffsdiskussion war von der, sich seit den 1950er Jahren neu konstituierenden Sozial- beziehungsweise Kulturgeographie geprägt, welche die die Region als ein spezifisches Verhältnis des Menschen zum Raum konzipierte, das wiederum mit der Zuschreibung und Verhandlung bestimmter Werte einhergeht.110 Hier passt Paasis Definition, da er regionale Identität als Gesamtheit sozialer Fakten versteht, die wiederum Raumvorstellungen formen. In dieser Eigenschaft werden sie stets neu und dabei sowohl bewusst als auch unbewusst konstruiert.111 Paasi weist in seiner Arbeit besonders auf den normativen Charakter regionaler Identitäten hin, die ihm zufolge aus Narrationen über ein ganz bestimmtes, räumlich begrenztes Wir bestehen. Kennzeichnend für diese Narrationen ist, dass sich das Wir aufgrund geographischer, historischer, religiöser oder anderer sozio-kultureller Faktoren vom Anderen unterscheidet.112 Das Wir ist einzigartig – und seine Einzigartigkeit wird durch die Abgrenzung von Anderen möglich. Paasi nennt diese Form die ›ideale Identität‹, wie sie uns beispielsweise im Regionalmarketing entgegentritt.113 Demgegenüber stellt er die ›faktische Identität‹, die sich eher in den Aktivitäten der Bewohner:innen der Region ausdrückt, beispielsweise in Vereinen oder Organisationen. Wie wir am Beispiel der wendländischen Regionalidentität noch sehen werden, kann diese allzu scharfe Unterscheidung in offizielle und inoffizielle Prozesse irreführend sein, vor allem, wenn Akteure in verschiedenen Feldern gleichzeitig betätigen oder Vereine mit vormals informellem Charakter Deutungshoheit im Regionalmarketing erringen (siehe Kapitel 4.2.2). Als generelle Beobachtung scheint mir daher sein Gedanke zu den Mechanismen idealer Regionalidentitäten wichtiger:

These narratives bring together elements from the past and the present of a region in a selective way. […] [This] collective action cannot occur without a distinction between ›us‹ and the other. All this means that narratives of ›regional identities‹ are an inseparable part of the perpetual process of social reproduction within a region and bring together collective and individual dimensions.114

Damit umfasst Paasis Definition wiederum die wichtigsten Impulse aus der Geographie, die Mitte der 1980er Jahre insbesondere von Blotevogel, Heinritz und Popp ausgingen und ab 1990 unter anderem von Peter Weichhart weiterentwickelt wurden. An der frühen Kritik innerhalb des Fachs, zum Beispiel von Hard und Bahrenberg, wird noch einmal deutlich, wie stark diese neuen Konzepte von den Debatten in der Soziologie und der Europäischen Ethnologie beziehungsweise den Kulturwissenschaften ab den 1970er Jahren beeinflusst waren. Eines der von Hards und Bahrenbergs bereits 1987 vorgebrachten Argumenten war, dass die Geographie nicht oder nur begrenzt dazu geeignet sei, mentale Vorgänge der Verortung und Identitätskonstruktion zu beschreiben.115 Diese Einschätzung beruhte auf den wiederum soziologisch geprägten Fragen danach, was Identität eigentlich sei und ob der Begriff aufgrund seiner essentialistischen Implikationen und historischen Belastungen überhaupt noch verwendet werden könne. Hier liegt der Wert von Paasis Konzept darin, nicht nur diese entscheidenden Identitäts-Debatten rund um Bausinger, Mead, Erikson oder Goffman aufzufangen, sondern – indem er auch nach Machtverhältnissen und Othering innerhalb der Aushandlung regionaler Identitäten fragt – auch spätere Impulse aus den Cultural Studies zu berücksichtigen. Wenn wir – wie in Abschnitt 1.2.2 angerissen – mit Said, du Gay und Hall davon ausgehen, dass Identität eine Form von Kategorisierung ist, die soziale Gruppen zur Positionierung des Selbst und zur Abgrenzung von Anderen nutzen, dann gilt das natürlich auch für die regionale Identität.

An dieser Stelle weise ich noch einmal auf den Beginn der historiographischen Auseinandersetzung mit Regionen und Regionalismen hin. Hier waren es zunächst die Arbeiten von Gollwitzer und Faber, die zwischen 1964 und 1968 das Bewusstsein für die Veränderlichkeit regionaler Gliederungen und Wahrnehmungen anstießen und auch deren Konstruktionscharakter hervorhoben. Die Region war nicht länger nur ein Raum, der anhand physikalischer Kategorien definiert wurde und als solcher dann von den Menschen wahrgenommen werden konnte. Vielmehr wurde die Region nun im Verhältnis zu ihren sozialen Systemen und menschlichen Lebenswelten betrachtet.116 Regionalhistoriker, wie Hinrichs, Zorn und Steinbach, forderten ab 1980 Mentalitäten, Erfahrungswelten und Deutungsweisen – also letztlich Regionalität als sinnstiftenden Zusammenhang – als zentrale Untersuchungsgegenstände der Regional- und Landesgeschichte ein.117 Paasi nutzt zwar nicht den Begriff der Mentalitäten, argumentiert aber gleichsam, dass sich die Identität einer Region im Handeln ihrer Bewohner:innen ausdrückt und sich so untersuchen lässt. Dies gelte insbesondere für die gestaltenden Akteure in der Regionalplanung, welche ihre individuellen, bewussten wie unbewussten Vorstellungen der zu gestaltenden Region stets in den Planungsprozess mit einbrächten.118

Und da Paasi auch mit Nachdruck auf die historische Gewachsenheit und auf die beständige selektive Nutzung bestimmter Vergangenheiten für die Herausbildung regionaler Identitäten hinweist, können mithilfe seines Konzepts abschließend auch die entscheidenden Einflüsse der Kulturwissenschaften und deren Weiterwirken innerhalb der Regionalgeschichte berücksichtigt werden. Hier waren, ebenfalls in den 1980er Jahren, insbesondere die Arbeiten zum kollektiven Gedächtnis und zur Erfindung von Traditionen zentral. Wie Maurice Halbwachs, Jan und Aleida Assmann oder Pierre Nora geht auch Paasi davon aus, dass kollektive – also auch regionale – Identitäten durch spezifische Vergangenheits-Verhandlungen entstehen, in der Praxis also durch regional verortete Archive, Museen, Traditionen, Produkte oder Gedenkfeierlichkeiten.119 Dieser Ansatz war auch für das 3-Operationen-Modell von Brunn, Reuleke und Gans zentral, die seit 1990 maßgeblich an der Beeinflussung der Debatte beteiligt waren. Die von den Autoren des Siegener Instituts für Europäische Regionalforschung benannten Schritte zur Verortung und Inwertsetzung bestimmter Vergangenheiten und die anschließende Pädagogisierung der dadurch entstandenen Konstrukte weisen sehr starke Parallelen zu dem auf, was Paasi die Entwicklung einer symbolischen Form und die Institutionalisierung der Region nennt.120 Paasi erweitert diese Schritte allerdings um die Entwicklung einer äußerlichen Form der Region, zum Beispiel durch Grenzen, und die Etablierung der Region in der Wahrnehmung der umliegenden sozio-kulturellen Kontexte – was wiederum Anschluss an Blotevogels Typologie von Regionskonzepten eröffnet.121 Diese vier Stufen oder Schritte können durchaus in verschiedener Reihenfolge, parallel zueinander oder gegenseitig bedingt, ablaufen und konkretisieren noch einmal, ab wann eine Region in der Wahrnehmung der Menschen eigentlich eine Region ist oder sein kann.

Da sowohl die mit ihr verbundenen Vergegenwärtigungen als auch die damit transportierten Regionalismen in Paasis Verständnis stets neu verhandelt werden, können wir das Konzept auch historisch anwenden und so nach der Entstehung regionaler Identitäten in der Vergangenheit fragen. Es ist zwar nicht der Kern meiner Arbeit, die historische Entwicklung einer Identität des Wendlandes oder der Lausitz im Detail nachzuvollziehen, aber wenn wir danach fragen, wie Heritage und Regionalidentität heute zusammenhängen, dann lässt sich das natürlich nicht nur durch die aktuellen Akteure und deren Handlungskontexte verstehen, sondern auch durch das historische Geworden-Sein dieser Kontexte. Wenn heute bestimmte Traditionen ein wichtiges regionales Heritage sind, können wir also nach der ›Invention‹ dieser Traditionen fragen, wie Hobsbawm es ausdrückte.122

Zusammengefasst sind weder Paasis Konzept von Regionen noch dessen Anwendung in der hier vorliegenden Arbeit sonderlich innovativ. Aber es handelt sich um ein Konzept, das die entscheidenden theoretischen Impulse aus Geographie, Kulturanthropologie/Ethnologie, Soziologie und Geschichte klug verbindet und zudem um entscheidende Fragen nach Macht und Deutungshoheit erweitert. Durch das zugrundeliegende, diskursiv orientierte und sozialkonstruktivistische Verständnis entgeht das Konzept den klassischen Kritiken am Identitäts- und Regionalbegriff gleichermaßen. Denn dadurch ist eine Region nur – oder besser gesagt, überall – dort, wo Menschen sie verorten und nur durch diejenigen Eigenschaften gekennzeichnet, die Menschen ihnen zuschreiben. Damit bietet das Konzept Aufschluss über einen der zwei Schwerpunkte meines Erkenntnisinteresses, nämlich dem Verortungs- und Zuschreibungsprozess, der regionalen Identitäten zugrunde liegt. In Verbindung mit den diskurs- und machtanalytischen Ansätzen der Cultural Studies eignet sich Paasis Konzept aber in besonderem Maße auch für den zweiten Schwerpunkt, nämlich, um regionale Identität und Cultural Heritage zusammen zu denken. Beide lassen sich so als Aushandlungsprozesse von Deutungsmacht über die aktuellen und die historischen Spezifika eines gleichsam konstruierten Raumes verstehen und untersuchen.

1.5.Quellenkorpus, Zugriff und Struktur der Arbeit

Um die Rolle von Cultural Heritage in regionalbildenden Prozessen ermessen zu können, ist die vorliegende Arbeit als vergleichende Regionalstudie angelegt. Das Wendland und die Lausitz bieten hier drei zentrale Vergleichsmomente. Das erste ist das Thema minorisierter Gruppen und insbesondere die Minorisierung des Slawischen in Vergangenheit und Gegenwart. Da beide Regionen im Frühmittelalter von slawischen Gruppen besiedelt wurden, heute aber überwiegend deutschsprachig sind, wird nachvollziehbar, wie das Werden von regionalem Heritage mit dem Werden regional begrenzter, ethnischer Minderheiten verflochten sein kann – ein Aspekt, der sowohl für ethnologisch/kulturanthropologisch orientierte Heritage-Studies als auch für die Regionalgeschichte noch ein fruchtbares Forschungsfeld darstellt. Zwar liegen insbesondere für die Lausitz zahlreiche Studien aus der historischen Sorabistik – punktuell auch für das Wendland aus der Slawistik – vor, jedoch fehlt es an einer gegenwartsorientiert-gesamtregionalen Perspektive, bei der deutschsprachig-geprägte Herrschaftsgeschichte und sorbisch- oder wendisch-perspektivierte Kulturgeschichte miteinander verbunden werden.

Für den Vergleich dieser Aspekte sei ein weiterer sprachlicher Kniff erlaubt, der die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen wendländischen und Lausitzer Spezifika erleichtern soll. Spätestens im 17. Jahrhundert werden slawische Gruppen im Wendland von Zeitgenoss:innen als ›Wenden‹ beziehungsweise ›Wendinnen‹ bezeichnet und die ihnen zugeschriebenen Charakteristika als ›wendisch‹.123 Dieses oftmals diffuse Konglomerat aus Selbst- und Fremdzuschreibungen fasse ich im Folgenden als ›das Wendische‹ zusammen – nicht aus einer essentialisierenden Überzeugung heraus, sondern als analyseleitende Konzeptualisierung sozialer Phänomene, die mit der Konstruktion und Aushandlung der Region als ›Land der Wenden‹ in Verbindung stehen. Entsprechend werde ich bei der Analyse der Lausitzer Vererbungsprozesse auf die Doppelnennung ›sorbisch/wendisch‹ verzichten, um Verwechslungen vorzubeugen. Ähnlich wie im Wendland, so ist auch ›das Sorbische‹ in der Lausitz ein komplexes Geflecht aus Selbst- und Fremdverortungen, welches bei der Herausbildung und Verhandlung regionaler Identität genauso genutzt wird, wie bei der Markierung von individueller Zugehörigkeit und Beheimatung. Gerade mit Blick auf die Transformationen und Verschiebungen sozialer Zugehörigkeiten im Zuge der Industrialisierung und auch mit Blick auf die national motivierten bis nationalsozialistisch radikalisierten Assimilationsprozesse des Langen 19. Jahrhunderts sei auch das Konzept des ›Sorbischen‹ hier nicht als eine absolute oder geschlossene Kategorie zu verstehen, sondern als ein Phänomen sozialer Zuschreibung und Inwertsetzung. Der Verzicht auf die Bezeichnung besonders Niederlausitzer Gruppen und Kulturpraktiken als ›wendisch‹ ist daher in keinem Fall exkludierend zu verstehen.

Gerade im Vergleich beider Regionen wird nicht nur deutlich, wie unterschiedliche Assimilationsprozesse funktionieren, sondern auch, welche Auswirkungen diese Prozesse auf die gegenwärtige Verhandlung von Mehrheits- und Minderheitenverhältnisse haben: Während das Wendische im Wendland auf den ersten Blick vollständig heritagisiert wurde, ist das Sorbische in der Lausitz auch in Form einer anerkannten autochthonen Minderheit bestehen geblieben; rund 60.000 Menschen sprechen dort noch eine der sorbischen Sprachen und/oder verstehen sich selbst als sorbisch.124 Die slawische Sprache im wendländischen Areal, das Drawähnopolabische, ist dagegen seit dem 18. Jahrhundert verstummt. In beiden Fällen kennzeichneten Minorisierungsdynamiken und, damit verbunden, eine unterschiedlich starke Diskriminierung das Verhältnis zwischen ›slawischen‹ und ›nicht-slawischen‹ Gruppen in entscheidendem Maße. Die Untersuchung ihrer aktuellen Heritagisation gibt so einerseits Aufschluss über partizipatorische Möglichkeiten und Grenzen regionaler Aushandlungsprozesse und andererseits über die historische Entwicklung und aktuelle Verhandlung ethnisch markierter Grenzen zwischen Mehr- und Minderheiten.

Das zweite Vergleichsmoment ist energiepolitischer Natur und gleichsam tagesaktuell: Während der Klimarat in seinem Bericht für 2021 radikale Maßnahmen anmahnt, um den globalen Temperaturanstieg auf die anvisierten maximal 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, wird nach wie vor zwischen Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft verhandelt, wie der konkrete Abschied von atomarer und fossiler Energiegewinnung umgesetzt werden soll. Der innerdeutsche Umgang mit diesen Fragestellungen mag als ein nationaler kommuniziert und verstanden werden, er betrifft jedoch insbesondere die Regionen, in denen die entsprechenden Maßnahmen angewendet werden. Das klimaschutzbedingte Ende der Braunkohlenverstromung stellt Abbauregionen, wie die Lausitz, vor komplexe politische, wirtschaftliche und sozio-kulturelle Herausforderungen. Es bedarf tiefgreifender Transformationsprozesse – es bedarf eines ›Strukturwandels‹. Trotz Bundesfördergelder in Milliardenhöhe und trotz der ersten, entsprechenden Projekt-Ansiedlungen bleibt die Stimmung in der Lausitz skeptisch. Werden neue Wissenschaftsstandorte und der vielzitierte Tourismussektor die wegfallenden Arbeitsplätze der ›Kumpel‹ und der angegliederten Industrie auffangen? Oder werden sich Verlusterfahrungen, wie sie die deutsche Wiedervereinigung mit sich brachte, wiederholen? Im Wendland atmete dagegen, wie die Elbe-Jeetzel-Zeitung im September 2020 berichtete, eine »ganze Region auf«125