Verflixt & zugepflanzt - Victoria Witzmann - E-Book

Verflixt & zugepflanzt E-Book

Victoria Witzmann

4,9

Beschreibung

Die Detektei Heimroth, Winter & de Groot wird beauftragt, zwei gestohlene Buchsbäume wiederzubeschaffen - allerdings Buchsbäume in Form von Bären, die jeder 100.000 Euro teuer und dazu noch die weltweit letzten ihrer Art sind. Doch kaum beginnt Junior-Detektivin Annabelle zu ermitteln, wird eine rätselhafte Mordserie in Gang gesetzt, Ende unabsehbar. Waren die verschwundenen Buchsbäume nur ein Vorwand? Um das herauszufinden, begibt sich Annabelle in das Zentrum eines tödlichen Kampfes . . .

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 396

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
16
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Victoria Witzmann lebte nach dem Studium an der Akademie der bildenden Künste lange in der Schweiz, Italien und Spanien. Seit 1979 arbeitet sie als Journalistin, zuerst bei einer Tageszeitung, dann bei einer großen Frauenzeitschrift, später als Drehbuchautorin. »Verflixt & zugepflanzt« ist ihr erster Kriminalroman.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: U. Hausen Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-639-3 Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de   Dieser Roman wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf, München.

Der Glaube, es gäbe nur eine Wirklichkeit, ist die gefährlichste Selbsttäuschung.

Paul Watzlawick, berühmter österreichisch-amerikanischer Philosoph und Psychotherapeut

Der Mann mit dem Fahrrad kam morgens gegen vier. Wie jede Nacht. Um diese Uhrzeit konnte er einigermaßen sicher sein, dass ihn niemand sah. So viel Scham hatte er noch.

Schwankend schob er sein Rad, das unter der Last zahlloser Plastikbeutel fast verschwand, bis zur Toreinfahrt.

Ehe er in den Hof des griechischen Restaurants einbog, drehte er sich um. Zum ersten Mal seit mehr als zwei Jahren hatte er das Gefühl, dass ihn jemand beobachtete. Aber die Straße war menschenleer.

Als er das Fahrrad an die rückwärtige Hauswand lehnte und umständlich seinen fleckigen Trenchcoat öffnete, um eine gefaltete Plastiktüte aus der Innentasche zu ziehen, dachte er wieder, dass er beobachtet wurde. Er fühlte sich unbehaglich und zögerte. Aber die Lust war zu groß.

Augenblicke später gellte durch das elegante Münchner Villenviertel Harlaching ein Schrei, der die Menschen in ihren Betten hochfahren ließ. Jemand rief die Polizei.

Der Beobachter, der sich hinter einem Mauervorsprung im Hof des Lokals versteckt hatte, lächelte zufrieden. Er ging ohne Eile um das Gebäude herum und stieg auf der Straße in einen schwarzen Porsche, der fünfzig Meter vor der Hofeinfahrt des Lokals abgestellt war.

Bevor der Streifenwagen der Polizei in die Hofeinfahrt bog, war der Porsche schon den Berg hinunter in Richtung Tierpark gerast, sein Motor nicht mehr zu hören.

»Ganz schön ramponiert, der Bursche«, sagte der Passauer Polizeiobermeister Mehler und schnalzte mit der Zunge. Dabei berührte er mit der Fußspitze die Wasserleiche, die soeben von Polizeitauchern aus dem Donaukanal geborgen worden war.

Was einigermaßen untertrieben war, denn die Leiche hatte keinen Kopf mehr, und Hände und Füße fehlten ebenfalls.

»Was haben sie denn mit dem armen Teufel gemacht?«, fuhr Mehler fort und schüttelte verständnislos den Kopf.

»Da informiert man sich doch zuvor, ehe man sich so zurichten lässt. Wer will schon so aussehen? Als Leiche, meine ich. Also ich persönlich würde mir eine andere Art von Mord aussuchen.«

Sein Scherz kam nicht an.

Schräg hinter sich hörte er ein Würgen.

Er drehte sich um.

Kriminalmeisterin Annemarie Wimmerer hatte die Dienstmütze abgenommen und übergab sich in die Wiese.

»Jetzt haben wir zwei seit Januar schon zwei Leichen rausgezogen. Sie könnten sich langsam dran gewöhnen.«

Polizeiobermeister Mehler betrachtete die Tätowierung auf der Schulter des Toten genauer. »Osteuropa, Russland, würde ich aus dem Bauch heraus sagen. Höherer Rang.«

Er kratzte sich am Kinn. »Aber wenn die in München uns nicht bald mehr Geld geben, dann schmeißen wir die Typen wieder rein in den Fluss. Die Passauer können schließlich nicht für jede dahergeschwommene Leiche aufkommen. Und uns kürzen sie das Weihnachtsgeld. Nein, Bursche, nicht mit mir!«

Er hatte sich in Rage geredet. So relativ allein, nur mit der armen Wimmerer hinter sich, hielt er eine seiner ganz großen, aufrührerischen Ansprachen. Sie entschädigten ihn für vieles, denn auf dem Revier war der graugesichtige Mann praktisch unsichtbar, er agierte nach dem Motto »Ich mach die Augen zu, dann bin ich nicht da«.

So hielt er es auch zu Hause. Weshalb er nicht merken musste, dass seine Frau ein Ding mit seinem Chef laufen hatte.

Aber das wusste die kleine Wimmerer ja nicht. Zumindest dachte das Polizeiobermeister Mehler.

»… und dann wollte er seine Tagesration aus dem Abfallcontainer rausziehen. Der Grieche, dem das Lokal gehört, mag ihn; Herr Beckmann hat ihm vor einiger Zeit ein paar juristische Tipps gegeben. Er war doch Notar, bevor er … na ja.«

Annabelle lachte verlegen. »Deshalb legt der Wirt ihm immer eine Portion vom übrig gebliebenen Fleisch in einem Beutel oben auf den Tagesmüll drauf.«

Elly Heimroth, Seniorchefin der feinen Detektivagentur Heimroth, Winter & de Groot, die im nicht minder feinen und teuren Stadtteil Bogenhausen residierte, kniff die Augen halb zu und musterte ihre Juniorpartnerin Annabelle Winter einen Augenblick lang streng.

»Ich werde über deine Neigung zu Obdachlosen nicht weiter diskutieren. Wenn du privat mit ihnen rumhängen willst, bitte. Aber es ist fast Mittag. Myers und Co. haben deinen Abschlussbericht schon zum zweiten Mal angemahnt.«

»Elly, schäm dich. Wir haben die Diebstähle in den Loose-Werken in Rekordzeit aufgeklärt. Mit Hilfe von genau diesem Obdachlosen, erinnerst du dich? Er hat für mich observiert. Kostenlos, möchte ich nebenbei bemerken.«

Einen Augenblick lang arbeitete es in Elly Heimroth, dann seufzte sie schwer. »Sture Eselin. Okay, erzähl weiter.«

»Statt der üblichen Lammreste zog Herr Beckmann eine menschliche Hand aus der Tüte. Die zweite Hand war auch drin. Und die Füße. Aber die hat die Polizei dann gefunden.«

»Ekelhaft«, sagte Elly, »sei still. Wo ist der arme Mann jetzt?«

»Auf der Grünwalder Polizeiinspektion. Von da hat er mich anrufen lassen.«

Elly Heimroth rollte mit den Augen. »Wir können von Glück sagen, dass dein übervolles Herz ihn nicht gleich hierher eingeladen hat.«

»Lach nicht. Das wollte ich. Aber Kriminalrat Lehner verhört ihn. Merkwürdig, dass der Leiter der Mordkommission angesaust kommt, wenn ein paar Leichenteile gefunden werden. Sehr merkwürdig, findet ihr nicht?«

»Sag noch einmal, wie der Kriminalbeamte hieß.«

»Lehner. Hast du Watte in den Ohren, Alex?«

Annabelle Winter war gereizt, der Morgen hatte sehr früh begonnen.

»Ich verstehe. Haben die bösen Polizisten dir keinen Kaffee gegeben? Warte, ich hole dir einen.«

Alex de Groot, der Exphilosoph, begnadete Rechercheur und dritte Teilhaber der Detektivagentur, stand auf und verließ den Raum.

»Ich habe ein komisches Gefühl, Elly. Irgendetwas kommt auf uns zu«, sagte Annabelle leise.

»Ach, du mit deinen Gefühlen.« Elly rollte enerviert mit den Augen.

»Du wirst noch an mich denken.«

* * *

Die Sechzehn-Uhr-Klientin erschien auf die Sekunde pünktlich. Als hätte sie hinter der Tür gewartet. Was kein so abwegiger Gedanke war, wie sich später herausstellen sollte.

Annabelle hatte versucht, den Termin auf Alex abzuschieben. Sie wollte zur Isarbrücke fahren und nach Herrn Beckmann sehen. Aber wenn es um seine Dienstagnachmittagsmeditationsgruppe ging, kannte Alex kein Erbarmen. Dass er gelogen hatte und gerade hundert Meter weiter auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einem Mietauto das Haus der Agentur beobachtete, sollte Annabelle erst sehr viel später erfahren.

Auch Elly hatte abgewinkt und sich eilig verabschiedet. Zum Flughafen, um Buenos Aires abzuholen. So nannten sie Ellys Lebensgefährten, den sie noch nie zu Gesicht bekommen hatten.

Annabelle hoffte, die Klientin würde keine von der Sorte sein, die erst ihre ganze Lebensgeschichte und die der verstorbenen Großmutter erzählen muss, ehe sie damit rausrückt, dass sie den fremdgehenden Ehemann überwachen lassen will.

Solche Termine dauerten gelegentlich vier Stunden, und wenn es ganz hart kam, rief die Klientin am nächsten Tag an, um den Auftrag zu stornieren, weil der Besuch bei den Privatdetektiven eine Therapiestunde kostenfrei ersetzt hatte und es keinen Bedarf mehr für Überwachung gab. Hatten sie alles schon gehabt.

Die Vier-Uhr-nachmittags-Klientin war ein anderes Kaliber. Als Annabelle die Tür öffnete und sie vor sich stehen sah, war ihr, als werde ein hartes Brett mit voller Wucht gegen ihre Brust geschleudert. Für den Bruchteil eines Augenblicks blieb ihr die Luft weg. Sie wich zurück. Selten in ihrem vierunddreißigjährigen Leben war sie einem Menschen mit derart verheerender Ausstrahlung begegnet. Genau genommen überhaupt noch nie.

Die Frau schien es nicht zu bemerken. Sie habe eine Verabredung mit der Chefin, sagte sie knapp und trat unaufgefordert ein, eine gepflegte Endvierzigerin, ein bisschen zu mollig und zu blond, vielleicht auch eine Spur zu stark geschminkt.

Warum fiel Annabelle beim Anblick der Frau der Streifenbeamte ein, der ihr im vergangenen Jahr von dem süditalienischen Pizzabäcker erzählt hatte? Kaum zum Aushalten sei es gewesen, hatte der Streifenbeamte gesagt, er habe den Mann im Streifenwagen in die U-Haft begleiten müssen. Tote seien um den Mann herum gewesen, lauter Tote, er habe es genau gespürt. Wie sich später herausgestellt habe, sei der Mann ein steckbrieflich gesuchter Mafiakiller gewesen.

Die neue Klientin, die ihren Unmut darüber, dass die Chefin selbst nicht da war, deutlich zeigte, wollte allerdings nur den Diebstahl von vier Buchsbaumbären aufgeklärt haben, sagte sie, als sie im Besprechungsraum saßen. Und zupfte unterhalb des vollen Busens an ihrem rosafarbenen Kaschmirpullover.

»Von was?«, fragte Annabelle verblüfft.

»Von Buchsbaumbüschen, in Bärenform geschnitten«, wiederholte die Klientin gereizt. Was noch skurriler klang, als es ohnehin war, denn sie sprach die schwierigen Buchsbaum-Worte mit starkem russischem Akzent. Dabei durchbohrte sie Annabelle mit unnatürlich eisblauen Augen.

»Buchsbaumbären, aha«, sagte Annabelle, weil ihr sonst nichts einfiel.

»Sie wissen, dass unsere Agentur auf Wirtschaftskriminalität spezialisiert ist?«, schob sie vorsichtshalber nach.

Was nicht einmal zur Hälfte stimmte, denn das trockene tägliche Brot verdienten die drei Detektive durch Überwachung von Ehepartnern und das Aufspüren von in diesem Zusammenhang vorsorglich beiseitegeschafften Geldern. Aber Wirtschaftskriminalität klang immer gut und rechtfertigte ein höheres Honorar.

Frau Kehlmann, so nannte sich die Klientin, zuckte die Schultern, kramte in ihrer großen Tasche aus himbeerfarbenem Krokodilsleder und warf eine dicke Rolle Geldscheine auf den Tisch, alles Fünfhundert-Euro-Scheine, wie es schien.

»Reicht das fürs Erste?«

Annabelle warf einen Blick darauf, entfernte das Gummiband, das die Scheine zusammenhielt, und zwang sich, sie zu zählen. Um ein Haar hätte sie durch die Zähne gepfiffen.

So gleichmütig es eben ging angesichts der Summe, nickte sie. »Das ist in Ordnung. Aber eigentlich wäre das ein Fall für die Polizei. Warum haben Sie den Diebstahl nicht gemeldet?«

Frau Kehlmann zögerte.

»Ich, ehm, Sie wissen wohl nicht, was zwei Meter große Buchsbaumbären kosten?«

»Nein«, sagte Annabelle, »keine Ahnung.«

»Wenn ich der Polizei erzähle, dass aus unserem Garten in drei Monaten vier Buchsbaumbären im Wert von hundertsechzigtausend Euro gestohlen worden sind, steht es morgen in der Zeitung. Das geht nicht.«

Annabelle verstand nichts mehr. Verzweifelt suchte sie nach einer annähernd intelligenten Bemerkung. Irgendeiner.

Sie räusperte sich. »Ich habe noch nie gehört, dass Buchsbaumbüsche derartig viel Geld kosten. Handelt es sich um eine spezielle Sorte?«

Es war die falsche Bemerkung.

Verächtlich fragte Frau Kehlmann zurück: »Wie oft haben Sie schon zwei Meter hohe Buchsbaumbären gesehen?«

Annabelle musste zugeben, dass sie noch nie so große Buchsbaumbären gesehen hatte, nicht einmal halb so große.

»Eben«, sagte Frau Kehlmann. »Die Büsche müssen mindestens fünfzig Jahre alt sein, damit man sie zu zwei Meter hohen Bären schneiden kann. Es sind sehr kostbare Pflanzen.«

»Und warum dürfte der Diebstahl nicht in der Zeitung stehen?«

Sichtlich genervt sagte die neue Klientin: »Mein Mann macht Import-Export-Geschäfte. Wir bevorzugen diskrete Ermittlungen.«

Noch ehe Annabelle der Klientin mitteilen konnte, dass sie jetzt verstanden hatte, seufzte diese noch genervter und gereizter und erzählte dann die ganze Geschichte.

Die Buchsbaumbären waren ausgegraben worden. Nachts. Zweimal im Abstand von vier Monaten. Niemand hatte etwas gesehen. Es gab keine Zeugen. Die zwei Meter hohen Bären waren spurlos verschwunden.

»Das erste Bärenpaar war nach zwei Wochen weg. Weil mein Mann sich so aufgeregt hat, habe ich neue besorgen lassen.«

»Und wo haben Sie die gekauft?«

»Wir haben in Grünwald einen Landschaftsarchitekten. Durch ihn bin ich überhaupt erst auf die Bären gekommen.«

Sie stockte, so als wollte sie etwas Wichtiges hinzufügen, und fuhr fort:

»Er hat es geschafft, mir die weltweit letzten Buchsbaumbären dieser Größe zu besorgen. Die haben dann von November bis April gehalten. Jetzt sind sie auch weg.«

Frau Kehlmanns weit geöffnete blaue Augen waren jetzt ausdruckslos, als wären sie aus Glas.

Etwas stimmte nicht an dieser Geschichte. Die Büsche interessieren sie überhaupt nicht, dachte Annabelle. Warum machte sie solches Aufhebens darum?

»Wie, sagten Sie, heißt der Gartenarchitekt, der Ihnen die Bären verkauft hat?«

Wirklich angenehm schien es Frau Kehlmann nicht, den Namen zu nennen.

»Strux. Edmund von Strux.«

»Was hat er zu dem Diebstahl gesagt?«

»Er war entsetzt. Vom zweiten Diebstahl«, Frau Kehlmann senkte den Kopf und zupfte eine unsichtbare Fluse von ihrem rosa Pullover, »von dem weiß er noch gar nicht. Ist ja erst einen Monat her. Ich habe Herrn von Strux seitdem nicht gesehen. Er ist, glaube ich, verreist.«

Sie hielt den Kopf weiter gesenkt und vermied es so, Annabelle in die Augen zu sehen.

»Wir werden mit ihm sprechen.«

»Ja, aber er ist nicht da.«

»Wir werden ihn auftreiben, seien Sie unbesorgt.«

Carlotta Kehlmann wirkte alles andere als beruhigt und hielt eisern den Blick gesenkt.

Annabelle wartete. Es gab noch etwas. Das war offensichtlich.

Endlich hob Carlotta Kehlmann den Kopf und sagte mit veränderter Stimme, die nicht mehr gereizt, vielmehr schrill klang: »Ich muss Ihnen noch etwas sagen.«

Annabelle hob fragend die Augenbrauen.

Die Ehefrau des Import-Export-Kaufmanns atmete jetzt schneller.

»Ich glaube, dass mein Mann schon ein paarmal versucht hat, mich aus dem Weg zu räumen.«

»Warum sollte er …?«

Wie ging man mit einer solchen Beschuldigung um? Einfühlsam? Sachlich? Scherzhaft?

In Annabelles Kopf rotierten die Gedanken. Warum war Elly nicht da? Sie hatte dreißig Jahre Erfahrung. Sie hätte gewusst, wie mit der Situation umzugehen war. Aber Elly war eben nicht da. Alex hätte seine mangelnde Erfahrung mit Mordanschuldigungen männlich souverän überspielen können. Aber Alex war auch nicht da.

Sie, Annabelle, hatte keine Trumpfkarte, die sie ausspielen konnte. Sie, die Novizin im Gewerbe, musste ganz allein eine reiche Ehefrau bei Laune halten, die sich ihr fades Luxusleben mit angeblichen Mordanschlägen würzte.

Mit einer gereizten Klapperschlange Scherze zu treiben, konnte nicht komplizierter sein. Das Wichtigste war: nur nichts Falsches sagen. Nur den Batzen Geld nicht gefährden.

»Frau Kehlmann, wenn Sie sich ernsthaft bedroht fühlen, sollten Sie vielleicht …«

»Nein, kommt nicht in Frage. Was wollen Sie immer mit der Polizei? Ich gehe nicht zur Polizei. Zwei Lebensmittelvergiftungen und eine klemmende Saunatür. Die lachen mich doch aus.«

»Gibt es einen Grund, warum Ihr Mann Sie … oder ist das mehr so ein instinktiver Verdacht von Ihnen?«

Annabelle ächzte innerlich. Sie hoffte, dass ihr nicht anzusehen war, wie hilflos sie sich fühlte.

Gleichzeitig schien ihr, als beobachte Carlotta Kehlmann ihre Reaktion.

»Das muss Sie im Augenblick nicht interessieren. Ich will nur, dass Sie Bescheid wissen. Finden Sie die Büsche, und wenn ich dann noch lebe …«

»Hören Sie …«

Doch Carlotta Kehlmann zupfte stumm am Saum ihres rosafarbenen Pullovers und stand auf.

»Finden Sie die Büsche«, sagte sie düster.

Dann rauschte sie ab, die Frau des Import-Export-Kaufmanns. Annabelle blieb zurück mit einer viel zu hohen Anzahlung und hatte zum zweiten Mal an diesem Tag das durchdringende Gefühl, dass es noch Ärger geben würde.

Sie rannte zum Fenster und riss es auf. Das Bedürfnis nach frischer Luft war übermächtig.

* * *

Alex de Groots Handy war ausgeschaltet. Immer noch. Wahrscheinlich segelte er auf einem Meditationswölkchen durch die Galaxien seiner Seele.

Es war kalt im Büro. Elly, der das ganze Haus gehörte, weigerte sich, im Mai die Heizung anzuwerfen. Annabelle nieste, fluchte und setzte sich an ihren Computer.

Im Internet gab es keinen Gartenarchitekten Edmund von Strux. Eigenartig. Jeder kleine Vorstadtgärtner hatte seine eigene Website. Nicht dieser. Unter »Floristen in München« war er auch nicht verzeichnet.

Dass er nicht im Telefonbuch stand, verstand sich fast von selbst. Frau Kehlmann hatte ihr seine Adresse nicht genannt, und sie hatte versäumt, danach zu fragen. Unprofessionell und peinlich.

Früh am Morgen würde sie die Straßen Grünwalds abfahren müssen.

Die ganze Geschichte war so faul wie eine matschige Melone. Sie stank. Aber sie war gut bezahlt. Zu gut.

Wieder nieste sie. Es war zu spät, die Gärtnerinnung anzurufen. Ein Landschaftsgärtner stampfte sich in der Regel nicht selbst aus dem Boden. Irgendwo war er ausgebildet worden. Irgendjemand musste ihn kennen. Wenn es mit rechten Dingen zuging.

Annabelle nieste sechsmal hintereinander, dann schaltete sie den Computer aus. Elly fror nie. Aber sie wog auch fast das Dreifache.

Eine Wärmflasche. Das war es, was ihre Seele jetzt brauchte, eine Wärmflasche, heißen Ingwertee und Kekse. Und den Briefwechsel zwischen George Bernhard Shaw und seiner Geliebten, Sarah Campbell. Wieder nieste sie. Bloß keine Erkältung jetzt.

* * *

»Du musst sofort zu Kiki fahren. Deinem Bruder ist etwas zugestoßen!«

»Ach Mutter, was soll denn schon wieder passiert sein?«

»Ich weiß es nicht. Er antwortet nicht.«

Mit einem schweren Seufzer hielt Annabelle den Hörer ein Stück vom Ohr entfernt. Sie hatte den Mund voll Zahnpasta.

Am anderen Ende der Leitung jammerte ihre Mutter: »Ich halte das nicht aus. Mein Kind, mein Sohn! Tu etwas. Fahr hin. Rette ihn. Nebenbei: Du klingst nicht gut.«

»Mutter, hör auf, ich stehe halb nackt im Badezimmer und putze mir die Zähne.«

Notdürftig spülte Annabelle den Mund aus. »Ich habe mich wahrscheinlich erkältet und bin eigentlich schon im Bett. Wie kommst du nur immer auf die Idee, dass Kiki etwas zugestoßen sein könnte?«

»Ich versuche seit zwei Stunden, ihn zu erreichen. In der Klinik ist er auch nicht.«

»Vielleicht schläft er schon. Er könnte Vierundzwanzig-Stunden-Dienst gehabt haben. Denk doch mal nach. Warum sollte meinem Bruder etwas passiert sein?«

»Weil ich eine mystische Beziehung zu meinem Sohn habe. Dich werde ich nie verstehen. Vielleicht bist du mir zu ähnlich.«

Trotz ihres Ärgers musste Annabelle laut lachen. »Ich dir ähnlich? Mutter, du delirierst.«

Miranda Winter schnaubte hörbar. »Unterbrich mich nicht. Eine promovierte Kunsthistorikerin, die erst bei einer Frauenzeitschrift arbeitet und dann Privatdetektivin wird. Ich schäme mich.«

»Ich bin der Einsparungskrise zum Opfer gefallen. Also bitte, sei kein Sozialsnob, Mutter.«

»Du hast recht. Das nehme ich zurück. Aber du musst zu Kiki fahren und nachsehen, was mit ihm ist.«

»Nein, das werde ich nicht tun. Mach es selbst.«

»Ich kann nicht weg. Ich erwarte Besuch.«

»Was, jetzt noch? Wer besucht dich nach elf Uhr abends?«

»Ein wieder aktivierter Freund, du bist ihm schon früher begegnet.«

»Bei allem Respekt, Mutter, du bist siebenundsechzig Jahre alt. Auch wenn du jünger aussiehst – du kannst doch deine Liebhaber nicht wechseln wie eine Zwanzigjährige.«

»Und warum bitte nicht?«

Durch die Leitung hörte Annabelle ihre Mutter empört mit der Zunge schnalzen. Niemand schnalzte aus Zorn laut mit der Zunge. Nur ihre Mutter.

»Kein Neid, Tochter, kein Neid.«

»Du bist total verrückt.«

Miranda Winter, die attraktive, genialische und egozentrische Malerin, kicherte leise.

»Ach, da kommt er ja.«

»Wer?«

»Da kommt Kiki. Ich lege auf. Dein Bruder ist da. Gute Nacht, Tochter.«

* * *

Der Tankwart an der Grünwalderstraße hatte zufällig Zeit für ein Schwätzchen. Die Frühtanker auf dem Weg zur Arbeit waren schon abgefertigt, die Hausfrauen auf dem Weg zur Shoppingtour noch nicht unterwegs. Annabelle fragte ihn, ob er den Landschaftsarchitekten Edmund von Strux kenne.

Er musterte die Kundin scharf, überlegte kurz und meinte dann, nur damit sie es wisse, dieser neue angebliche Gartenarchitekt, »der kümmert sich mehr um die Damen als ums Grünzeug. Eh ich’s vergesse, um die Herren kümmert er sich auch, hört man.«

Etwas zu heftig knallte er das Wechselgeld auf die Theke. Dabei grinste er Annabelle an.

»Haben Sie auch einen Garten?«, fragte er.

Sie antwortete nicht. »Ist dieser Gartenarchitekt neu in Grünwald?«, fragte sie stattdessen.

»Wie man’s nimmt«, murrte der Tankwart, »so ein Lackaffe. Vor vier Monaten ist er hier aufgetaucht. Und jetzt fragen alle nach ihm, weil er weg ist. Eine einzige Luftnummer, der Mann.«

Als sie den Laden verließ, rief er laut hinter ihr her: »Ich heiße Hubert und kann es auch ganz gut.« Sein Gelächter hörte sie noch durch die geschlossene Glastür.

Der Parkweg war eine kleine Sackgasse, an deren Ende sich ein geschwungenes Holztor befand. Dahinter stand in einiger Entfernung ein Gewächshaus, das so neu aussah, dass man meinen konnte, es sei erst letzte Woche errichtet worden.

Annabelle parkte vor dem Tor und drückte auf eine seitliche Klinke. Das Tor war nicht abgeschlossen. Ein Kiesweg führte vorbei an dem Glashaus zu einem ursprünglich strengen Betonflachbau aus den frühen Sechzigern. Mit tannengrünen Fensterläden und Blumenkästen war er bäuerlich ländlich herausgeputzt worden.

Annabelle blieb stehen. Mechanisch hielt sie ihr Handy in Brusthöhe und machte ein Foto. Oft lieferten die Aufnahmen Details, die dem Auge entgangen waren.

Nieselregen fiel. Kalter Morgenwind pfiff. Plötzlich hörte sie erregte Stimmen.

Die Tür des Glashauses wurde aufgerissen, und eine junge Frau in Bluejeans und knappem T-Shirt stürzte heraus. Leichenblass und so aufgebracht, dass sie Annabelle nicht einmal wahrnahm, rannte sie auf das Haus zu und verschwand um die Ecke. Sie hatte auch nicht bemerkt, dass Annabelle ihr Handy auf den Eingang des Glashauses gerichtet hielt.

Annabelle folgte ihr zur Haustür. Sie drückte auf die Messingklingel neben der Tür. Irgendwo im Innern erklang ein fader Ton.

Annabelle trat einen Meter zurück und hielt das Handy bereit. Bis auf den Wind in den Baumkronen war alles ruhig und still. Und doch war Annabelle mit einem Mal unfähig, auch nur einen Finger zu bewegen.

Sie kannte das Gefühl. Sie hatte es bisher dreimal gehabt in ihrem Leben.

Ein Knacken hinter ihr ließ sie zusammenfahren. Der Wind schlug einen Ast gegen den Zaun. Mist, dachte sie, ich bin wie Kiki. Genauso abgedreht.

Kiki, ihr Bruder, der Mediziner, hatte die Schwermut des Vaters geerbt und galt als latent suizidgefährdet – das verfluchte Erbe, das sie beide nicht loswurden. Kiki würde sich vielleicht auch umbringen. Und sie selbst?

»Nein«, sagte Annabelle laut, »ich nicht.«

Sie klingelte ein weiteres Mal.

»Du hast keine Angst«, sagte sie – und blickte kurz darauf in das abweisende Gesicht der jungen Frau, die Minuten zuvor aus dem Glashaus gestürzt war. Sie hatte sich umgezogen. Statt der Bluejeans trug sie nun hautenge cognacgelbe Röhrenhosen aus Wildleder und einen kamelhaarfarbenen Pullover der obersten Luxusklasse, wie Annabelle sofort sah.

»Ich möchte zu Herrn von Strux.«

Die junge Frau, deren Gesicht von langen blassblonden Haaren eingerahmt war, musterte Annabelle abschätzig: »Nicht da«, sagte sie unfreundlich.

»Wann wird er zurückerwartet?«

»Weiß nicht.«

»Aber heute kommt er doch noch nach Hause?«

»Weiß nicht.«

»Ist er auf Reisen?«

»Vielleicht.«

»Aha«, sagte Annabelle freundlich, »und wer sind Sie?«

»Was wollen Sie?«, sagte die junge Frau mit dem blassen Gesicht böse. Sie hatte einen schweren östlichen Akzent.

Annabelle griff in ihre Tasche und zog eine ihrer neutralen Visitenkarten heraus, auf denen nur ihr Name stand.

»Ich habe von einer Freundin gehört, dass Herr von Strux so schöne Gartenkompositionen macht …« Annabelle schwieg einen Augenblick und hielt der jungen Frau die Visitenkarte entgegen, »ich möchte …«

Irgendetwas Verkehrtes hatte sie gesagt. Die Augen der jungen Frau verengten sich zu bösen Schlitzen. Rasch fuhr Annabelle fort: »Arbeiten Sie hier?«

Die junge Frau schwieg, warf einen Blick auf die Visitenkarte und steckte sie in ihre Hosentasche.

Im Haus schrillte ein Telefon.

»Muss …«, sagte sie hastig und schlug Annabelle die Tür vor der Nase zu.

Auch gut, dachte Annabelle, ich komme wieder. Sie trat ein paar Meter zurück in den Schatten der Büsche, die hinter den Bäumen das Grundstück begrenzten, um einen Überblick über die Front des Hauses zu erhalten. Schräg hinter ihr gab es ein kratzendes Geräusch. Ihr Herz tat einen unkontrollierten Satz.

Im nächsten Moment sprang ein riesiger roter Kater vom Ast einer Rotbuche und landete mit einem gedämpften Plopp auf einem Rasenstück am Zaun. Gemächlich trottete er in Richtung Kiesweg zur Haustür.

Dann waren plötzlich Schritte zu hören. Eilige Schritte. Ein blasser, schmaler Mann in ausgebeulten grauen Hosen und einem abgewetzten graugrünen Pullover rannte noch schneller als die Frau zuvor und mit verzerrtem Gesicht in Richtung Wohnhaus. Er musste aus dem Glashaus gekommen sein. Annabelle fotografierte ihn.

Die Tür des Hauses öffnete sich, der blasse Mann verschwand darin, und die Tür schloss sich wieder.

Annabelle grub in ihrer Umhängetasche nach dem Asthmaspray.

* * *

»Sie brauchen schon wieder Ihren Spray? Nehmen Sie ihn nicht etwas zu oft?«

Über den Rand seiner randlosen Brille hinweg sah der Arzt seine Patientin besorgt an.

Annabelle presste ihren Rücken gegen die Stuhllehne und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Wehren Sie nicht immer gleich ab« sagte der Arzt, »viele Menschen mit Asthma lassen sich heutzutage zusätzlich psychotherapeutisch behandeln.«

Annabelle blickte ihn an und zwinkerte. »Bitte, Dr.Kahle, geben Sie es auf. Ich bin eine störrische Ziege.«

Der Arzt trommelte einen ungeduldigen Marsch auf der Tischplatte. »Machen Sie sich nur lustig über mich. Es stört mich fast gar nicht.«

»Ja«, sagte Annabelle, »und jetzt das Rezept für meinen Asthmaspray. Vielleicht auch noch eine klitzekleine Vitamincocktail-Infusion?«

Dr.Kahle seufzte. »Sie sind ein harter Brocken, wissen Sie!«

»Der Mann von dieser Frau Kehlmann hat angerufen. Er legt großen Wert darauf, dass die Buchsbaumgeschichte aufgeklärt wird.«

Annabelle versuchte während des Telefonierens mit einer Hand aus der engen Parklücke vor Dr.Kahles Praxis herauszusteuern.

»Ich weiß zwar nicht, warum wir Buchsbäume suchen sollen«, fuhr Elly Heimroth fort, »aber die Anzahlung der Frau ist beachtlich. Was machst du da eigentlich?«

»Ich parke aus.«

»Wo bist du?«

»In Grünwald«, log Annabelle, »ich wollte den Buchsbaumgärtner sprechen. Er war nicht da.« Elly brauchte nicht zu wissen, dass sie sich schon wieder ein neues Rezept für ihren Spray geholt hatte.

»Gut, dann bist du ja in der Nähe. Fahr gleich bei den Kehlmanns vorbei. Frau Weber, die Haushälterin, wartet auf dich. Sie wird dir die Pflanzlöcher zeigen, du kannst mit ihr reden. Sie ist instruiert.«

Ellys Stimme klang, als wäre da noch etwas.

»Und?«, fragte Annabelle.

»Ach nichts. Du machst das schon. Ich dachte nur … wir brauchen …«

Sie schwieg. Verlegen, wie es schien.

Annabelle lachte lautlos auf. Dass ihre Partnerin nach fünfunddreißig Jahren Berufserfahrung als Privatdetektivin immer noch die gleichen Versagensängste und Befürchtungen hatte wie sie selbst, tat ihr gut.

»Ich weiß, was du denkst. Aber sei nicht nervös, keine Sekunde vergesse ich, wie nötig wir das Geld brauchen.« Sie schwieg einen Augenblick und lächelte. »Ich verpatze den Fall nicht, Elly. Wir kriegen raus, was da los ist«, sagte Annabelle, »ich fahre sofort hin.«

* * *

»Ich habe Sie schon vor einer halben Stunde erwartet. Sie hätten anrufen können, man hat schließlich zu tun.«

Eine weibliche Stimme mit Ostakzent klirrte durch die Sprechanlage. Dann wurde der Türöffner betätigt, und das schwere Eisentor sprang auf. Vor Annabelle öffnete sich ein parkähnliches Grundstück, das, soweit sie sehen konnte, vor allem aus Rasen bestand. Kurz geschorenem, nacktem Rasen. Irgendwo weit hinten drückten sich zwei Buchen an eine Mauer.

Der Weg zu der zweistöckigen Villa im neoklassizistischen Stil war mit feinstem weißem Kies bestreut, dessen Farbe mit dem Anstrich des Hauses harmonierte. Hier war geklotzt und nicht gespart worden.

In der offenen Eingangstür stand eine mollige Person im mittelblauen Popelinekleid der besseren Hausangestellten. Ihre weiße Schürze war frisch gestärkt, die graublonde Löckchenfront über ihrer Stirn ebenfalls. Ihre Backen waren von einem Übermaß an Rouge hektisch gefärbt.

Mit berufsmäßig falschem Lächeln säuselte sie zur Begrüßung: »Ich bin Frau Weber, die Haushälterin. Dass Sie so spät kommen, bringt leider alles durcheinander. Aber den Garten alleine anschauen, das finde ich nicht in Ordnung. Ich komme mit. Darf ich bitte Ihren Ausweis sehen?«

So ganz klar war Annabelle nicht, warum sie die Stelle, an der die Buchsbaumbären gestanden hatten, nicht alleine besichtigen sollte. Doch Widerworte schienen ihr nicht angebracht. Stattdessen lobte sie scheinheilig die Vorsicht, sich den Ausweis zeigen zu lassen, und versicherte, dass sie Frau Webers Bedenken in jeder Hinsicht teilte.

Die so Gelobte taute auf.

»Ach, das war ja so ein Unglück mit den Buchsbaumbären. Hier entlang, wenn ich bitten darf.«

Sie wies Annabelle einen schmalen Kiespfad hinter das Haus, wo sich dem Blick eine noch größere kahle Rasenfläche bot. Allerdings befand sich in einiger Entfernung ein schmiedeeiserner Teepavillon, der dem Katalog einer teuren englischen Firma entsprungen sein musste. Nie genutzt, was man ihm ansah, machte er einen wenig geliebten Eindruck. Rechts und links des Pavillons klafften zwei große Löcher in der Erde, sie hatten die Größe von kleineren Gruben.

Annabelle drehte sich um und sah durch eine riesige Glasfront hindurch in einen großen, minimalistisch eingerichteten Wohnraum.

»Aha, von dort aus konnte man also die Bären immer sehen.«

Frau Weber war vertieft in die jüngste traurige Erinnerung. »Sie hat ja so geweint, die arme Frau Kehlmann, als sie von der kurzen Reise zurückkamen und die Bären weg waren.«

»Und Sie? Wo waren Sie?«

»Wenn die Herrschaften nicht da sind, fahre ich immer zu meinem Sohn nach Moosach.«

»Und wer passt auf das Haus auf?«

»Die Hausbesitzer in unserer Straße zahlen zusammen einen Hausmeister. Der kümmert sich, wenn einer wegfährt. Das macht er sehr gut, der Herr Milic.«

»Wie oft kommt er vorbei?«

»Morgens und abends. Er schaltet abends die Alarmanlagen ein, macht das Licht an, lässt die Jalousien runter und prüft, ob alles sonst in Ordnung ist.«

»Das heißt, die Diebe sind nachts gekommen. War denn das Tor offen?«

»Das ist ein Rätsel. Das Tor war geschlossen und das Schloss unverletzt. Ganz komisch.«

»War Herr Kehlmann auch so traurig über den Verlust?«

Frau Weber schnaubte, und in ihrer Stimme lag Missbilligung. »Ach, er hat sich gar nicht gekümmert. Erst am Abend ist er furchtbar wütend geworden und hat beim Essen seine Frau angeschrien, dass er den Kerl anzeigen wird und hinter Gitter bringen.«

»Wusste Herr Kehlmann denn, wer die Bären gestohlen hat?«

»Ja«, sagte Frau Weber eifrig, »das dachte ich anfangs auch. Aber am nächsten Tag war er ganz lieb und hat seiner Frau gesagt, dass sie sich keine Sorgen machen soll und dass es doch nur Buchsbaumbären sind. Da hat sie dann wieder angefangen zu weinen. Manchmal weiß man wirklich nicht, was man von den Leuten halten soll.«

Verlegen strich Frau Weber ihre Schürze glatt. Sie hatte zu viel geredet, das wurde ihr soeben bewusst.

Annabelle merkte es und sagte schnell: »Sie haben vor dem Diebstahl wohl nichts bemerkt von irgendwelchen ungewöhnlichen Aktivitäten auf der Straße oder sonst in der Nähe?«

Gemeinsam gingen sie über den Rasen zurück. Frau Weber schwieg. Plötzlich blieb sie stehen und scharrte mit dem Fuß im Gras. Schwieg aber weiter.

Endlich hob sie den Kopf und sah Annabelle direkt an. »Ich werde hier im Haus sehr anständig behandelt. Wenn ich alles sagen würde, was ich gesehen und gehört habe, wäre ich schon längst arbeitslos.«

»Kennen Sie Herrn von Strux, den Landschaftsgärtner?«

»Haben Sie ihn kennengelernt?«

»Er ist leider verreist«, sagte Annabelle, »ich habe bisher nur mit einer jungen Frau gesprochen, die dort im Haus zu wohnen scheint und sehr zugeknöpft ist.«

»Pah«, sagte Frau Weber, stemmte die Hände in die feisten Hüften und spie das Wort förmlich aus: »Die! Das ist seine Frau.«

»Was meinen Sie mit ›die‹?«

»Nichts. Ich weiß nur, was die Leute so reden.«

In sanftem Ton fragte Annabelle: »Und was reden die Leute?«

»Na ja, der Bruder von ihr, der neuerdings da ist, das kommt einem schon alles recht komisch vor. Und die Gärtnerei, haben Sie schon einmal eine Gärtnerei ohne Pflanzen gesehen? Aber die Leute in Grünwald sind verrückt nach dem Typen.«

»Herrn von Strux? Haben Sie ihn einmal gesehen?«

»Einmal?« Frau Weber kicherte böse, »der hat eine Zeit lang ja fast hier gewohnt. War jeden Tag da. Ein sehr gut aussehender Mann, muss man sagen. Aber nicht mein Fall, zu schön irgendwie. Immer braun gebrannt und das Gesicht eingecremt. Manchmal habe ich gedacht, der malt sich auch die Augenbrauen an und tuscht die Wimpern.«

»Kommt er immer noch?«

Mit einer wegwerfenden Handbewegung tat Frau Weber den Gärtner ab. »Als die zweiten Bären in der Erde waren – weg. Puff und weg.«

Frau Weber schnippte mit zwei Fingern, es gab ein klackendes Geräusch. »Der Mann ist verschwunden. Hat eben seine Geschäfte gemacht und fertig. Sein Handy funktionierte auch nicht mehr. Die arme Frau Kehlmann war so traurig, hat direkt zwei Kilo abgenommen vor lauter Kummer.«

Sie sah sich um, als lauerte in der Luft über der leeren Rasenfläche ein Spion, und senkte die Stimme. »Ich persönlich glaube ja nicht, dass der wirklich ein Gärtner ist.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Mein Verstorbener, der hat ursprünglich auf Gärtner gelernt, bevor er umgeschult hat auf Büroreinigung. Daher weiß ich ein bisschen was über den Beruf. Wetten möchte ich, dass dieser Herr Baron einen anderen Beruf hat. Wenn überhaupt einen, Sie verstehen?«

In übler Nachrede war diese Frau Weber nicht schlecht, fand Annabelle. Erst hatte sie angedeutet, dass Frau Kehlmann etwas mit ihm gehabt hatte. Und dann ließ sie durchblicken, dass er sein Geld vielleicht überhaupt horizontal verdiente. Sportliche Anerkennung, dachte Annabelle, bei dir muss man auf der Hut sein.

Wieder schwieg die Haushälterin einen Augenblick lang, ehe sie nachdenklich sagte: »Sie bringen einen aber auch zum Plaudern. So viel habe ich in zwölf Jahren nicht über die Herrschaften geredet.«

»Wer wohnt eigentlich links und rechts von den Kehlmanns?«, lenkte Annabelle ab. »Nette Leute?«

Wieder stieß Frau Weber ihr verächtliches »Pah« aus. »Da drüben«, sie schwenkte mit dem Kopf nach links, ohne dass die Löckchen sich bewegten, »da wohnen die Eigners. Sind nie da. Haben Häuser überall. Sogar in Afrika. Hat mir Herr Milic erzählt.«

Täuschte sich Annabelle, oder wurde Frau Weber gerade rot?

»Milic. Ist das der Hausmeister? Woher kommt der Name?«

Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Frau Weber wurde noch röter.

»Herr Milic kommt aus Kroatien. Aber er hat schon länger einen deutschen Pass und ist ein sauberer und gewissenhafter Mann, der seine Pflichten sehr ernst nimmt. Da könnte sich mancher deutsche Hausmeister eine Scheibe abschneiden, sage ich.«

Fast atemlos hatte die Haushälterin ihre Brandrede vorgebracht. Ihr Busen unter dem blauen Popelinkleid wogte erregt.

»Die Sache mit den Bären hat ihn sehr belastet. Er ist immer noch nicht darüber hinweg. Dabei konnte er doch nichts dafür.«

»Und rechts? Wer wohnt da?«

Offenbar froh, das heikle Thema des Herrn Milic verlassen zu können, lachte Frau Weber silbern auf. Ein wenig Hohn mischte sich in das Gezwitscher.

»Da wohnt die Frau Cornelius. Ganz allein in dem Riesenhaus. Der Mann ist vor vier Jahren gestorben. Was er gemacht hat, weiß niemand, sie ist jedenfalls eine sehr reiche Witwe, das sagen alle, und sie sucht Anschluss, wenn Sie wissen, was ich meine. Buchstäblich überall, man glaubt es kaum.«

Sie stockte, sichtlich unsicher, ob sie fortfahren sollte. Doch die Versuchung war zu groß.

»Herr Milic hat mir erzählt, dass ein Cousin von ihm, der Tiefkühlkost ins Haus liefert, von der Frau fast vergewaltigt worden ist. Angeblich hat sie auch den Installateur nur kommen lassen, damit sie …«

Frau Weber seufzte zufrieden. »Na ja, eine ganz Mannstolle eben.«

Nachdenklich ließ Annabelle ihre Augen in Richtung der rechten Grundstücksmauer wandern. »Hat sie es bei Herrn Kehlmann auch versucht?«

Es war, als hätte sie eine Tür zugeschlagen. Plötzlich war es vorbei mit der Vertraulichkeit, und Frau Weber tat, als hätte sie die letzte Frage nicht gehört. Stattdessen schwieg sie feindselig.

»Wissen Sie, wo ich Frau Kehlmann heute Mittag erreichen kann?«

Fast körperlich spürte Annabelle, wie Frau Weber sich versteifte.

»Ich muss wieder ins Haus«, sagte sie barsch.

Schweigend ging sie neben Annabelle bis zum Gartentor.

»Eine letzte Frage: Wem gehört der gelbe Audi hier vor dem Tor?« Annabelle lächelte Frau Weber freundlich an.

»Frau Kehlmann hat ihn mir geschenkt, als sie sich den größeren Audi gekauft hat«, sagte die Haushälterin widerstrebend und faltete die Patschhände über der Schürze.

Sie nickte kurz und ging dann mit schnellen Schritten zurück zur Villa.

* * *

Annabelle sah ihr nach und spürte, dass Frau Weber nicht einfach gerne tratschte. Der Typ war sie nicht. Sie verfolgte mit ihren Indiskretionen ein bestimmtes Ziel. Nur welches? Und sie wusste viel mehr, als sie preisgegeben hatte. Herauszufinden, was sie aus welchen Gründen verschwiegen hatte, würde den Fall der verschwundenen Buchsbäume möglicherweise ein gutes Stück vorwärtsbringen.

Kurz dachte Annabelle daran, Elly anzurufen, um mit ihr ins Zentrum Sushis essen zu gehen. Es gab da einen Japaner in einer Seitenstraße der Maximilianstraße. Mittags waren seine Sushis billiger als abends. Sie könnte Elly einladen. Sie hatte Lust dazu.

Nein, wenn sie schon mal hier war, sollte sie auch gleich der reichen Witwe nebenan einen kleinen Besuch abstatten. Möglich war es ja, dass sie Beobachtungen in der Nachbarschaft gemacht hatte.

* * *

Annabelle ließ ihr Auto stehen und ging, nachdem die Mauer des Kehlmann’schen Grundstücks geendet hatte, an einer dichten Eibenhecke entlang, die mindestens ebenso gut vor neugierigen Blicken schützte wie die Mauer der Nachbarn.

Totenstille Straßen, hohe Mauern, dichte Hecken – der chinesische Friedhof in Manila, den sie vor Jahren besucht hatte, als sie noch in Lohn und Brot bei der Zeitschrift gewesen war, schien ihr jetzt in der Erinnerung wie die kleinere Ausgabe des Villenviertels Grünwald. Auch dort elegante Häuser mit Gärten und Mauern darum. Alles drei Nummern kleiner, aber immerhin. An hohen Feiertagen brachten die Angehörigen der Toten Essen und Getränke und schmausten je nach Wetter im Haus oder im Garten davor, sozusagen als Gäste der Toten. Die Straßen der Totenstadt waren an den übrigen Tagen still, sehr still. Wie die Straßen Grünwalds.

Das Grundstück der Witwe Cornelius machte einen für die Gegend auffallend nachlässigen Eindruck. Büsche, Wildblumen und Sträucher waren zufällig gebündelt und wieder auseinandergewachsen. Ein feiner Duft von frühem Jasmin schwebte in der Luft.

Die schmiedeeiserne Gartenpforte stand halb offen. Annabelle näherte sich gerade über grob knirschenden Kies dem Haus, als das entsetzliche Gefühl ein weiteres Mal in ihr aufstieg. Annabelle schüttelte den Kopf über sich selbst und beschleunigte ihre Schritte.

Das Haus war wesentlich älter als die Kehlmann-Villa, ein typischer Siebziger-Jahre-Bau für Reiche, die sich nicht darum zu kümmern brauchten, dass der ganze erste Stock dunkel war. Das Walmdach, das in den Sechzigern und Siebzigern des 20.Jahrhunderts in Grünwald zu den unverzichtbaren Statussymbolen gehört hatte, reichte fast bis zum Erdgeschoss hinab.

Wie das Gartentor stand auch die Haustür halb offen. Annabelle klingelte, und eine laute Glockentonfolge erschallte. Doch niemand erschien. Sie klingelte ein zweites, vergebliches Mal. Die Luft, die ihr aus dem Haus entgegenschlug, war so aufgeladen mit negativer Energie, dass sie wie gelähmt stehen blieb.

Als das Handy klingelte, fuhr sie vor Schreck zusammen. Es dauerte einen Augenblick, ehe sie sich gefasst hatte.

* * *

»Geh gefälligst ein bisschen schneller dran.«

Elly Heimroth war ein ungeduldiger Mensch. Sie verabscheute es, wenn Menschen, mit denen sie telefonieren wollte, nicht sofort in der Leitung waren. Doch nur Annabelle gegenüber erlaubte sie sich, diese Schwäche offen zu zeigen. Alex zum Beispiel hielt Elly für gelassen wie einen buddhistischen Mönch. Zumindest sagte er das. Aber wer wusste schon, was die Menschen dachten, wenn sie etwas sagten? Vor allem Alex.

Jedenfalls hatte Elly es in diesem Augenblick eilig. »Herr Kehlmann hat schon wieder angerufen. Er möchte, dass wir zu ihm kommen. In sein Büro. Jetzt sofort. Wir treffen uns vor dem Haus, Valentin-Linhof-Straße 16, das ist kurz vor der Messe Riem.«

Ehe Annabelle antworten konnte, war die Verbindung unterbrochen.

Sie zwang sich, ruhig und langsam umzukehren, dem Haus ihren Rücken zuzuwenden, zurück auf die Straße zu gehen und das kurze Stück zu ihrem Auto nicht zu rennen. Was war los mit dem Haus dieser Frau Cornelius? Was geschah dort? Was war los mit ihr selbst?

Annabelle atmete schwer. Eine nette, simpel gestrickte Frau zu sein ohne seltsame Ahnungen und Gefühle – wie schön und einfach wäre das Leben.

Wieder schnaufte sie. Nahte etwa ein übler kleiner Anfall von Selbstmitleid?

»Scheiße, nein!«, sagte Annabelle und stieg ins Auto.

* * *

Das Kehlmann’sche Büro befand sich in einem von vier Würfelbauten mit goldbraun verspiegelter Glasfassade in einem schicken Gewerbegebiet nahe der Münchner Messe. Am Empfang in der durch vier Stockwerke reichenden Halle, deren Wände mit Sandstein verkleidet waren, saß eine sonnenbankgebräunte Mittdreißigerin, die unwillig den Blick von einer Klatschillustrierten hob. Gelangweilt musterte sie die Besucher. Im Zeitlupentempo betätigte sie die hausinterne Telefonanlage und sprach mit schleppender Stimme in den Hörer, es seien zwei Damen da, die behaupteten, einen Termin mit Herrn Kehlmann zu haben.

Sie lauschte, legte den Hörer auf und hob sichtbar lustlos den Arm. Eine lasche Hand mit langen blutroten Fingernägeln wies in eine Richtung.

»Da drüben ist der Aufzug. Vierter Stock. Sie werden abgeholt.«

Kurz darauf standen sie Eugen Kehlmann in seinem Büro gegenüber.

Annabelle wusste nicht, wen sie sich als Ehemann von Carlotta Kehlmann vorgestellt hatte. Sie hatte auch keine Vorstellung vom Arbeitsumfeld eines reichen Import-Export-Kaufmanns. Dass Kehlmanns Sekretärin oder Assistentin, die sie am Aufzug erwartete, kaum über zwanzig war und in ihren schwarzen Hotpants, den Netzstrümpfen auf den strammen Beinen und den hochhackigen Schnürstiefelchen nicht dem herkömmlichen Bild einer effizienten Büromitarbeiterin entsprach, schien Herrn Kehlmann nicht zu stören.

Er war klein, ein auffallend muskulöser Mann mit breiten Schultern, seine Frau musste ihn um mindestens eine Kopflänge überragen. Vielleicht um größer zu erscheinen, wippte er, offensichtlich gewohnheitsmäßig, beinahe ununterbrochen auf die Zehenspitzen und wieder zurück.

Die Weste von Eugen Kehlmanns Anzug aus feinem grauem Tuch spannte über der Brust um jene Winzigkeit, die offen ließ, ob er an Gewicht zugelegt oder dem Schneider die Anweisung gegeben hatte, seinen panzerschrankartigen Oberkörper zur Geltung zu bringen.

Sein Gesicht wirkte unbewegt, wie das eines sowjetischen Apparatschiks aus der Ära des Kalten Krieges. Später dachte Annabelle daran, wie nahe sie mit dieser flüchtigen Beobachtung einem Teil der Wahrheit gekommen war. Die Muskeln von Eugen Kehlmanns Gesicht schienen gelähmt, so stark wurden sie kontrolliert. Sie verrieten nichts, weil sie nichts verraten sollten. Nur kleine, helle Augen huschten wachsam hin und her.

Alles in allem ein Mann, der nichts dem Zufall überließ.

Ohne Umschweife kam er zum Thema und wandte sich dabei ausschließlich an Elly, sie war die Chefin, also die adäquate Gesprächspartnerin für ihn. Annabelle existierte nicht.

»Meine Frau war gestern bei Ihnen wegen der verschwundenen Büsche?« Eugen Kehlmann wollte vielleicht eine Feststellung machen. Doch tatsächlich fragte er. Warum?

Elly nickte. »Ja, sie will die Bären unbedingt zurückhaben.«

Eugen Kehlmanns Gesicht verzog sich zu einem dünnen Lächeln. Noch immer standen sie. Elly blickte angelegentlich zu dem modernen Ledersofa an der Wand, der Fabrikant geriet für den Bruchteil eines Augenblicks aus der Fassung.

»Entschuldigen Sie, bitte, nehmen Sie Platz. Kaffee, Wasser?«

Elly schüttelte den Kopf.

Eugen J. Kehlmann räusperte sich, ehe er sich selbst auf einen der Designersessel setzte.

»Ich habe Sie gebeten zu kommen, weil ich mir Sorgen mache. Meine Frau ist heute Nacht verschwunden.«

Elly blickte versonnen auf das monochrom blaue Gemälde hinter Kehlmanns Schreibtisch. »Yves Klein?«

»Wie bitte?« Kehlmann war sichtlich irritiert.

»Das Bild dort«, sagte Elly sanft.

Eugen Kehlmann drehte halb den Kopf.

»Ach so, ja.« Er beugte sich vor, seine Stimme wurde eindringlich.

»Es ist natürlich zu früh, die Polizei einzuschalten, ich will auch keine Pferde scheu machen. Aber meine Frau muss gestern spätabends noch das Haus verlassen haben, ihr Bett war heute Morgen unberührt. Kein Zettel, kein Anruf, nichts. Sie ist verschwunden. Der Haushälterin habe ich gesagt, dass meine Frau bei einer Freundin übernachtet hat.«

»Haben Sie nachgesehen, ob Ihre Frau Toilettenartikel mitgenommen hat?«

Kehlmann schüttelte den Kopf. »Ja, habe ich. Nichts, auch ihre Medikamente sind alle da.«

»Was für Medikamente sind das?«

»Hormone, glaube ich. Gegen die Wechseljahre.« Eugen Kehlmanns Stimme hatte einen geringschätzigen Beiklang, »sie will unbedingt jung bleiben.«

»Das heißt, wir stellen die Ermittlungen, was die Buchsbaumbüsche anbelangt, zurück und konzentrieren uns auf die Suche nach Ihrer Frau.« Elly hatte sich tief in den schwarzledernen Bauhaus-Sessel zurückgelehnt. Ihre massige Gestalt ließ den zierlichen Sessel bis auf die Chromarmlehnen völlig unter ihr verschwinden. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht mit der Suche bis heute Abend oder morgen früh warten wollen? Vielleicht klärt sich alles ganz harmlos auf.«

Die Züge des Fabrikanten waren undurchdringlich. »Ich kenne meine Frau. So etwas ist noch nie vorgekommen.«

»Vielleicht wollte Ihre Frau Sie nicht wecken und hat tatsächlich kurz entschlossen bei der Freundin übernachtet.«

»Meine Frau hat keine Freundinnen.« Eugen Kehlmann stieß den Satz hervor, als spucke er eine Kröte aus.

Elly sah ihn fragend an.

Zum ersten Mal, seit sie das Büro betreten hatten, zeigte der Geschäftsmann so etwas wie den Anflug einer Gefühlsregung. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

»Ich wusste, dass das Kartenhaus irgendwann zusammenstürzen würde. Wir haben, wenn Sie so wollen, auf einem Drahtseil gelebt. Mit den Diebstählen hat es angefangen. Und jetzt das.«

Elly blickte ihn nicht an. Sie studierte angelegentlich das monochrom blaue Yves-Klein-Gemälde. »Was meinen Sie damit? Wenn wir Ihnen helfen sollen, müssen Sie mit uns Klartext reden.«

»Ich weiß nicht, wer hinter uns her ist, und ich weiß nicht, warum. Aber ich bin mir sicher.«

Er lügt, schoss es Annabelle durch den Kopf, er weiß genau, wer ihm an den Kragen will. Warum sagt er es nicht?

Unter Eugen Kehlmanns rechtem Auge fing ein Muskel an zu zucken. Alle drei schwiegen. Endlos, wie es Annabelle schien.

Mit dem Finger fuhr sich der Fabrikant in den Kragen und lockerte ihn. »Unsere Ehe ist nicht wie andere. Wir haben ein Arrangement. Jeder geht seine eigenen Wege.« Hastig goss er sich aus der Wasserkaraffe, die auf dem Glastisch stand, ein Glas voll und leerte es in einem Zug. »Wie gesagt, irgendjemand will uns vernichten.«

»Wie kommen Sie auf diese Idee?«

Wieder lachte Eugen Kehlmann freudlos auf. »Ich weiß, dass meine Frau denkt, dass ich sie umbringen will. Bestimmt hat sie versucht, Sie da hineinzuziehen. Das ist ganz natürlich. Sie hat Angst. Es sind Sachen vorgefallen, die sie sich nicht erklären kann. Ich mir übrigens auch nicht.«

»Todesangst ist kein gutes Gefühl, Herr Kehlmann.«

Der Fabrikant starrte Elly einen Augenblick lang mit ausdruckslosen Augen an.

»Sie sagen es. Das Beste daran ist, auch bei mir hat es Vorkommnisse gegeben, die mehr als eigenartig sind. Ich habe meiner Frau nur nichts davon erzählt, um sie nicht noch mehr zu beunruhigen.«

Elly richtete sich steil auf. »Was für Vorkommnisse?«

»Ein Jagdgewehr, das ich reinigen wollte, war plötzlich geladen.«

»Sie halten es für ausgeschlossen, dass Sie nur abgelenkt waren, als Sie das Gewehr wegsperrten?«, fragte Annabelle.

»Meine liebe Frau … jetzt habe ich in der Aufregung Ihren Namen vergessen.«

»Winter heiße ich«, sagte sie.

»Ja, Frau Winter, das ist schon deshalb unmöglich, weil ich immer doppelt überprüfe, ob auch alle Kammern leer sind, ehe ich den Schrank abschließe.«

»Hat jemand den Schrank aufgebrochen?«

»Nein, das ist das Unheimliche daran. Der Schrank war abgeschlossen, ganz normal, ebenso die Schublade, in der die Patronen aufbewahrt werden. Alles wie immer.«

Eugen Kehlmann war unter seiner glatten Fassade nervös. Er sprang auf und ging auf und ab. Annabelle sah, dass er bei jedem Schritt seine Knie durchdrückte, bis die Beine leicht bebten.

»Ich frage Sie,. Wie ist das möglich? Oder die Sache mit den Erdbeeren. Ich bin allergisch gegen Erdbeeren. Wenn ich eine essen würde, müsste ich ersticken. Abends in meiner Milch, die ich vor dem Schlafengehen trinke, lagen zwei Erdbeeren. Und dann die Bremsen von meinem Auto, die plötzlich blockierten, es gibt da so einiges, sage ich Ihnen. Sehr unerfreulich.«

Annabelle und Elly sahen sich an.

Elly räusperte sich. »Das ist viel, was Sie uns hier berichten.«

»Ich weiß«, sagte der Fabrikant, »deshalb bitte ich Sie, finden Sie meine Frau, ich muss sie unter Kontrolle halten. Die Buchsbaumbüsche sind mir, da bin ich ehrlich, völlig gleichgültig. Wenn Sie irgendetwas über die Diebstähle herausfinden können, umso besser. Wichtig ist im Augenblick, dass Sie tätig werden und verhindern, dass mir etwas zustößt.«

»Das sagt Ihre Frau von sich selbst auch.«

»Äh, ja, genau. Darum geht es. Wir sind beide …« Er ließ den Rest des Satzes unausgesprochen.

Eugen Kehlmann ging zum Schreibtisch und holte aus einer Schublade einen dicken Packen Scheine. Ehe Elly protestieren konnte, hatte er ihr den Packen schon in die Hand gedrückt.

»Sie kümmern sich«, sagte er. Es klang wie eine Drohung.

* * *

Annabelle saß an ihrem Schreibtisch und ließ ihre Gedanken wandern.

Die Vermutung, dass Frau Kehlmann eine Affäre mit dem ominösen Gartenarchitekten begonnen hatte und der Ehemann sich auch deshalb der Dienste einer Privatdetektei bedienen wollte, war verführerisch. Aber sie stimmte nicht. Nur fand Annabelle nicht heraus, wo sich der Denkfehler verbarg.

Durch die angelehnte Tür hörte sie Alex telefonieren, dann seine Schritte. Er steckte den Kopf durch die Tür und lächelte sie an.

»Frau Kehlmann hat gerade angerufen. Es tut ihr leid, dass sie den Mittagstermin nicht absagen konnte. Aber sie hatte ihr Handy mit unserer Nummer nicht dabei.«

»Was für einen Mittagstermin? Ich weiß von nichts.«