Verführ mich – immer wieder - Sharon Kendrick - E-Book

Verführ mich – immer wieder E-Book

Sharon Kendrick

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Beschreibung

Verträumt blickt Shelley aufs Meer - an diesem Strand hat Drew sie das erste Mal in die Arme genommen. Ob er ihr je verzeihen wird, dass sie ihn damals verlassen hat? Sie versucht, in seinen tiefblauen Augen zu lesen, doch alles, was sie sieht, ist brennende Begierde…

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Seitenzahl: 198

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IMPRESSUM

Verführ mich – immer wieder erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 1999 by Sharon Kendrick Originaltitel: „The final seduction“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe ROMANABand 1331 - 2000 by CORA Verlag GmbH, Hamburg Übersetzung: Sabine Reinemuth

Umschlagsmotive: Getty Images / ikonacolor

Veröffentlicht im ePub Format in 09/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733753245

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

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1. KAPITEL

Er hatte sie wie immer beim Vornamen genannt. Dennoch spürte sie sofort, dass etwas geschehen sein musste.

Etwas sehr Schwerwiegendes.

„Shelley?“

Sie blickte stirnrunzelnd auf die Sprechanlage. „Marco, was ist los?“

„Bist du gerade sehr beschäftigt?“ Dieser banale Satz klang aus seinem Munde wie die Zeile eines Gedichts: sexy, gefühlvoll und poetisch. Marco hatte genau die Stimme, die Frauen schwach werden ließ. Shelley hatte es oft genug erlebt.

Serviererinnen vergaßen darüber, dass sie auch noch andere Gäste hatten, und Lehrmädchen am Bankschalter bekamen verträumte Augen. Selbst Frauen, die alt genug waren, um es besser zu wissen, fühlten sich von Marco unwiderstehlich angezogen. Sie waren sogar die hartnäckigsten. Frauen im besten Alter, reich, selbstbewusst und gelangweilt, die von dem Wunsch besessen waren, sich einen feurigen Italiener als Geliebten zu leisten – auch zum Vorzeigen.

Shelley fragte sich, ob Marco wieder einmal Probleme mit einer dieser Frauen hatte, die vor nichts zurückschreckten. Vielleicht wollte er sie deshalb sprechen, und sie sollte seiner Verfolgerin auf möglichst nette und charmante Art beibringen, dass er nicht zu haben sei.

„Nein, ich habe im Moment nichts Dringendes zu tun.“ Shelley betrachtete flüchtig den aufwendig gestalteten Katalog, den sie gerade durchgelesen hatte. Marco war einer der gefragtesten Kunsthändler Italiens, und Shelley kümmerte sich darum, dass dies auch so blieb, indem sie für einen reibungslosen Ablauf seiner Geschäfte sorgte. „Was ist passiert, Marco?“

„Ich muss mit dir reden.“

„Dann also bis gleich.“ Shelley klappte den Katalog zu und schob ihn an den äußersten Rand des Schreibtischs.

Kaum hatte sie das getan, stand Marco auch schon in ihrem Büro. Shelley sah ihn erstaunt an. Er wirkte anders als sonst. „Ist was nicht in Ordnung?“, wollte sie wissen.

Marco zögerte. Er senkte die Lider mit den dichten schwarzen Wimpern. „Diese Frage ist einfacher gestellt als beantwortet.“

Shelley ließ ihn nicht aus den Augen, als er den elegant eingerichteten, lichtdurchfluteten Raum durchschritt und zum Fenster ging. Gedankenverloren blickte er auf den See, der im Sonnenschein des herrlichen Sommermorgens glitzerte. Dann drehte Marco sich um und sah sie an.

Wie immer erfreute sie sich an seinem Anblick. Es war, als betrachtete man ein herrliches Gemälde oder eine perfekte Statue. Shelley wusste, wie glücklich und beneidenswert sie war, denn seit drei Jahren schon hatte sie beides: einen idealen Job und einen idealen Boss.

„Soll ich uns einen Kaffee machen?“, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. „Nein, danke.“

Erst jetzt fielen Shelley die dunklen Ringe unter Marcos Augen auf. Das beunruhigte sie, denn normalerweise war er immer frisch und ausgeschlafen. „Was ist los, Marco?“, fragte sie. „Wo liegt das Problem?“

Er setzte sich ihr gegenüber und machte eine weitausholende, sehr italienische Geste. „Es gibt kein Problem. Es hat sich nur etwas verändert.“

„Marco, bitte sprich nicht in Rätseln. Du weißt, ich mag keine Überraschungen. Ich gehöre zu den Leuten, die erst die Kritik lesen und dann in den Film gehen, nur um schon vorher das Ende zu wissen.“

„Es zu sagen fällt mir nicht leicht, Shelley.“

Plötzlich verstand sie. „Du hast jemanden kennengelernt?“

„Ja.“

„Und dich verliebt?“

„Wiederum ja.“

„Es ist dir also ernst!“

„Ja“, gab er zu. „Es ist mir ernst. Sehr ernst sogar.“

„So ernst, dass es schon ein gemeinsames Frühstück im Bett gegeben hat?“

„Shelley!“, empörte sich Marco, musste dann jedoch lächeln. „Wie kannst du nur solch eine Frage stellen?“

„Weil ich eine Frau bin und weil ich neugierig bin! Oder hast du etwa geglaubt, ich würde schockiert reagieren?“

„So ähnlich. Ich hatte jedenfalls angenommen, du hättest deine Schwierigkeiten mit dieser Situation.“

„Warum? Weil mir sämtliche Frauen Italiens am liebsten vor Eifersucht die Augen auskratzen würden?“

Er zögerte. „Shelley, du musst wissen, dass ich es ungeschehen machen würde, wenn ich es nur könnte.“

„Was? Dich verliebt zu haben?“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Das, was in der Vergangenheit vorgefallen ist.“

„Das kannst du nicht. Niemand kann das.“

„Aber ich habe dich jemandem weggenommen“, sagte er langsam und schmerzlich. „Ich habe dich Drew weggenommen.“

Drew!

Dieser Name rief so viele Erinnerungen wach. Shelley hatte so oft von ihm geträumt – besonders in der ersten Zeit, als alles noch so neu und schmerzlich gewesen war. Aber es war lange her, dass Marco oder sie Drews Namen erwähnt hatten. Seltsamerweise schmerzte das mehr, als sie vermutet hätte. Selbst nach all den Jahren.

Shelley schüttelte den Kopf. Sie wollte die Bilder verdrängen, die vor ihrem geistigen Auge entstanden waren. Blaue Augen und von der Sonne gebleichtes Haar. Ein durch harte Arbeit gestählter Körper und das Gesicht eines Engels.

„Sag bitte nicht, du hättest mich ‚weggenommen‘, Marco“, widersprach sie leise. „Das klingt so, als hättest du mich im Supermarkt mitgehen lassen wie eine Dose Bohnen.“

„Aber genau das habe ich getan“, sagte er düster. „Das weißt du ebenso gut wie ich.“

„Nein.“ Shelley blieb fest. „Man kann nur wegnehmen, was einem anderen gehört. Und ich habe Drew nicht gehört, selbst wenn er sich das eingebildet hat. Niemand kann einen anderen Menschen besitzen, sosehr er es vielleicht auch möchte.“

„Aber du warst doch verlobt mit ihm“, wandte er vorsichtig ein.

„Ich trug einen billigen Ring am Finger, das ist alles“, sagte sie. „Ein dünnes Band aus Metall, das andere abschrecken soll. ‚Lass die Finger von dem Mädchen – es gehört mir! Ich dagegen kann tun mit ihr, was ich will, denn sie trägt meinen Ring!‘“

Erstaunt stellte Shelley fest, dass sie mit den Tränen kämpfte. Sie hatte schon lange nicht mehr an den Ring gedacht, und auch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dazu, denn sie hatte Wichtigeres zu tun. Zum Beispiel sich jetzt dezent zurückzuziehen, wie Marco und sie es damals verabredet hatten. „Kannst du deine Beziehungen spielen lassen und dafür sorgen, dass ich für den nächsten Flug ein Ticket bekomme, Marco?“

„Natürlich. Aber wo willst du hin?“, fragte er.

„Nach Milmouth natürlich!“ Sie lächelte. „Wo sollte ich sonst hinwollen?“

„Wird dir das nicht schwerfallen?“

„Wahrscheinlich. Aber Milmouth ist nun einmal meine Heimat. Dort bin ich groß geworden, und – wichtiger noch – dort habe ich ein Haus, wo ich wohnen und in Ruhe überlegen kann, wie meine Zukunft aussehen soll.“

„Du willst dort bleiben?“ Marco war überrascht.

„Warum nicht? Weil man das winzige Haus nicht mit den palastähnlichen Villen vergleichen kann, in denen ich mit dir gelebt habe?“

„Ich glaube, deine Ansprüche sind gewachsen, Shelley. Mit dem, was du damals hattest, wirst du heute nicht mehr zufrieden sein. Aber davon abgesehen, hast du nicht daran gedacht, dass es ein viel schwerwiegenderes Problem gibt?“

Shelley wich Marcos Blick nicht aus. Sie wusste genau, worauf er anspielte, wollte es aber hören. „Welches Problem?“

„Drew, natürlich! Er lebt doch noch dort, oder?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nicht, was aus Drew geworden ist, schließlich bin ich schon lange aus Milmouth weg, und seit meine Mutter tot ist, schreibt mir auch niemand mehr. Ich gelte als Außenseiterin, als schwarzes Schaf, und keiner möchte etwas mit mir zu tun haben.“

Marco zögerte. „Ich lasse dir Zeit, damit du nichts überstürzen musst – sagen wir, einen Monat? Vorher werde ich mit niemandem darüber reden.“

Shelley stand auf, strich sich das Kleid glatt und blickte Marco erstaunt an. „Du willst es öffentlich machen?“

„Ja.“ Marco betrachtete sie ruhig und gefasst. Er sah glücklicher aus, als sie ihn in der vergangenen Zeit erlebt hatte. Aber er schien auch genau zu wissen, was auf ihn zukam. „Ich will nicht länger mit einer Lüge leben.“

„Schön.“ Sie nickte. „Ich auch nicht.“

„Shelley?“ Seine Stimme klang jetzt dunkler und weicher, aber dennoch kraftvoll und unnachgiebig. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie dieser Stimme nicht widerstehen können. Damals war sie jedoch naiv und verträumt gewesen, jetzt dagegen war sie eine erwachsene Frau, die ihre Erfahrungen gemacht hatte.

„Ja?“

„Ich werde dich vermissen.“

Shelley lächelte versonnen. „Und ich werde dich vermissen.“

Sie drehte sich um und verließ den Raum. Erst jetzt fiel ihr auf, dass dieser Satz der einzige der ganzen Unterhaltung gewesen war, den sie in ihrer Muttersprache gesprochen hatte.

2. KAPITEL

Vor der Kurve trat Shelley leicht auf die Bremse ihres schnittigen Autos.

Hier. Genau hier musste es sein. An dieser Stelle war das Meer zum ersten Mal zu sehen. Wenn man die Augen zusammenkniff, konnte man das intensive Blau des Wassers vom matteren des Himmels unterscheiden. Warum hatte das Meer aus der Ferne nur immer eine solch herrliche Farbe, wo es doch aus der Nähe immer so dunkel und trübe wirkte? Shelley gab Gas und fuhr weiter.

Das Auto, mit dem Marco sie anstelle eines Flugtickets überrascht hatte, war neu und ungewohnt. Auch erforderte es nach so langer Abwesenheit ihre ganze Konzentration, wieder auf der linken Seite zu fahren. Seit der Beerdigung ihrer Mutter vor fast zwei Jahren war sie nicht mehr zu Hause gewesen. Es würde sich bestimmt viel geändert haben.

Der Wegweiser nach Milmouth zeigte zwar nach rechts, doch Shelley wollte eigentlich geradeaus weiterfahren. Ihr Elternhaus lag nämlich außerhalb, in einer schmalen Straße mit einfachen Reihenhäusern, in denen keine wohlhabenden Bürger, sondern schlecht bezahlte Arbeiter wohnten.

Shelley hatte sich vorgenommen, als Erstes zum Haus zu fahren, denn sie wollte unbedingt duschen und die Räume, die so lange unbewohnt gewesen waren, gründlich lüften. In letzter Sekunde bog sie dann doch noch rechts ab. Die Neugier auf Milmouth war zu groß. Das Haus konnte warten. Shelley hatte das Meer lange nicht mehr gesehen und verspürte den unwiderstehlichen Wunsch, endlich wieder die salzige, nach Tang riechende Luft einzuatmen und das herrliche Gefühl zu haben, wach und lebendig zu sein.

Drei Jahre war sie in Italien gewesen und hatte sich sehr verändert. War es Milmouth auch so ergangen? Waren alte Gebäude abgerissen und durch moderne ersetzt worden? Wohnten unbekannte Menschen dort, wo früher ihre Freunde gelebt hatten?

Sie hatte keine Schwierigkeiten, im Ortskern einen Parkplatz zu finden, denn es herrschte kaum Betrieb. An einem Sonntagnachmittag war in keiner Stadt viel los und in Milmouth schon gar nicht.

Shelley stieg aus und schloss das Auto ab. Es schien schon so lange her, dass Marco mit seiner Neuigkeit ihre wohlgeordnete Welt auf den Kopf gestellt hatte, und doch war es erst vor zwei Tagen gewesen.

Es war ein klarer, frischer Herbsttag, und der Wind blies ihr die Haare aus dem Gesicht, als sie durch die Straßen mit den gepflegten Häusern und den untadeligen Vorgärten ging. Dann frischte der Wind noch mehr auf, und das Licht wurde intensiver. Shelley atmete tief durch, als sie den Kiesstrand erreicht hatte und das Meer direkt vor sich sah.

Als Kind hatte sie dort gespielt, später dann Mondscheinpartys gefeiert, und hier war es gewesen, wo Drew sie das erste Mal in die Arme genommen und geküsst hatte. Versonnen blickte sie aufs Wasser. Nur das Plätschern der Wellen und das heisere Geschrei der Möwen waren zu hören. Sie wusste nicht, wie lange sie so dagestanden hatte, als ihre Ruhe gestört wurde.

Sie hob den Kopf und sah einen Mann mit Hund auf sich zukommen. Der Hund sprang in die Brandung, lief dann zu seinem Herrchen zurück und bellte, als wollte er ihn zum Spiel auffordern. Der Mann reagierte aber nicht. Er hielt den Kopf gesenkt und schien ganz in seine Gedanken vertieft.

Der Anblick von Herr und Hund rührte Shelley, und sie lächelte. Doch als die beiden näher kamen, hielt sie erschrocken den Atem an. Ihr Herz schlug wie wild, als sich ihre Ahnung bestätigte. Es war Drew!

Er hatte sie noch nicht bemerkt, der Hund dagegen blickte sie an und spitzte die Ohren. Erkannte er sie etwa wieder? Shelley konnte es kaum glauben. „Fletcher!“, rief sie unwillkürlich und pfiff nach ihm. Ohne zu zögern, kam er im vollen Galopp auf sie zugerannt und sprang freudig an ihr hoch. Er legte ihr so ungestüm die Pfoten auf die Schulter, dass sie das Gleichgewicht verlor und recht unsanft auf dem Boden landete. „Fletcher!“, protestierte sie, als er versuchte, ihr das Gesicht zu lecken.

„Duke! Platz!“ Auf Drews Kommando ließ der Hund von Shelley ab und legte sich gehorsam auf den Boden.

Shelley war wie benommen. Duke? Nach Atem ringend, die Beine lang ausgestreckt, saß sie da. Drew stand vor ihr und blickte ungläubig auf sie herab.

„Shelley Turner“, sagte er schließlich.

„Genau die“, antwortete sie und wartete auf seine Reaktion.

„Welch böse Fee hat dich denn zurückgebracht, Kätzchen?“

Mit diesem verletzenden Zynismus hatte sie nicht gerechnet. Sie „Kätzchen“ zu nennen war eine alte Gewohnheit von ihm. Als er es das erste Mal getan hatte, hatte sie sich wie im siebten Himmel gefühlt. Jetzt tat es nur noch weh. „Keine Fee, weder gut noch böse, nur ein Auto.“ Sie lächelte ihn an, obwohl ihr nicht danach zumute war. Drew wirkte wie ein dunkler Racheengel.

„Und was machst du hier?“

„Im Moment? Ich sitze auf dem nassen Boden und friere.“

Seine Miene blieb verschlossen, doch er streckte die Hand aus, die sie dankbar ergriff. Dann beugte er sich vor, umfasste mit der freien Hand ihren Ellenbogen und stützte sie, sodass sie bequem aufstehen konnte, hielt sie danach aber immer noch fest. Er schien zu wissen, dass ihre Beine sie noch nicht wieder trugen.

Shelley hatte Drew seit der Beerdigung ihrer Mutter nicht mehr gesehen. Damals hatte er in der Kirche ganz hinten gestanden. In einem neuen Anzug – niemand in Milmouth hatte sich erinnern können, Drew je im Anzug gesehen zu haben. Er musste ihn sich extra gekauft haben. Shelley war tief gerührt gewesen.

Sie hatten damals kaum miteinander geredet. Shelley hatte ihm für sein Kommen gedankt, und er hatte ihr versichert, wie sehr er ihre Mutter geschätzt habe – was auch stimmte. Er hatte auf der Beerdigung verkrampft gewirkt, so als hätte er ihr offen ins Gesicht sagen wollen, was er von ihr halte, es aber in Anbetracht der Umstände als unpassend empfunden.

Unkonventionell wie immer, hatte er zur Trauerfeier keinen Kranz, sondern einen Strauß der Lieblingsblumen ihrer Mutter geschickt: kleine Bergastern, die äußeren Blütenblätter blasslila und die inneren leuchtend gelb wie lauter kleine Sonnen. Beim Anblick dieser Blumen hatte Shelley so weinen müssen, dass sie kaum wieder zu beruhigen gewesen war.

Ihr Herz schlug wie wild vor Aufregung: Drew stand nach so langer Zeit leibhaftig vor ihr. Wie gebannt sah sie ihn an. Sein Gesicht hatte sich verändert, in den Augenwinkeln hatten sich kleine Lachfältchen gebildet. Sein Haar dagegen war immer noch so voll, so zerzaust und von der Sonne gebleicht, wie sie es in Erinnerung hatte.

Er war größer als Marco, er war ungewöhnlich groß und hatte extrem lange Beine. Seine Jeans waren verwaschen, und sein dunkelblauer Pullover hatte genau die Farbe seiner Augen.

Sie musste verrückt gewesen sein, ihn jemals verlassen zu haben. Aber die Vergangenheit ließ sich nicht ändern. Und sein abweisender Blick sagte ihr, dass Drew das auch gar nicht wollte.

„He, Drew“, brachte sie schließlich über die Lippen.

Daraufhin ließ er sie los. Beinahe hätte sie wieder das Gleichgewicht verloren, denn die Absätze ihrer eleganten Schuhe, die in die City von Mailand passten aber nicht an den Strand, waren extrem hoch. Shelley lächelte freundlich. „Vielen Dank für deine Hilfe.“

„Keine Ursache! Der Hund hätte dich nicht anspringen dürfen. Er weiß genau, dass er das nicht tun soll.“

„Ich hätte ihn nicht rufen dürfen.“ Sie blickte auf den Hund und sah, dass es nicht der war, den sie kannte. Er hatte ein viel helleres Fell und war schlanker. „Aber das ist ja gar nicht Fletcher!“, rief sie aus.

„Wie sollte das wohl zugehen? Fletcher war schon alt und steif, als du England verlassen hast. Wie sollte er jetzt herumtollen wie ein Welpe?“

„Er ist ein wunderschönes Tier, Drew. Wie lange hast du ihn schon?“

„Es ist nicht meiner.“ Drew blickte sie kühl an. „Ich führe ihn nur aus.“

„Wem gehört er denn?“, wollte sie spontan wissen, merkte aber sofort, dass es eine neugierige und ungehörige Frage war.

Drew schien das auch zu denken. „Was würdest du sagen, wenn ich dir erklärte, dass er einer netten alten Dame gehört?“

Merkwürdigerweise glaubte sie ihm aufs Wort. „Ich würde dir antworten, dass du ein hilfsbereiter und vorbildlicher Mensch bist und deine Mitbürger sich an dir ein Beispiel nehmen sollten.“

„Wirklich?“, fragte er leise und betrachtete sie eingehend von oben bis unten.

Shelley trat von einem Fuß auf den anderen. Aus Italien war sie es gewohnt, dass sich die Männer nach ihr umdrehten. Dort war es völlig normal, wenn ein Mann eine Frau mit der gleichen Eindringlichkeit betrachtete wie ein schönes Gemälde. Aber Drew sah sie anders an. Er tat, als wäre sie ein Stück Treibgut, das er zufällig am Strand gefunden hatte.

Er schüttelte den Kopf, als traute er seinen Augen nicht. „Was hast du nur mit dir angestellt?“, wollte er wissen.

„Mit mir angestellt?“ Shelleys Empörung war nicht gespielt.

„Du bist ja nur noch Haut und Knochen. Kein Wunder, dass der Hund dich umgeworfen hat.“

Drew schien sie mit voller Absicht beleidigen zu wollen. „Begreifst du denn nicht, dass eine Frau nie zu schlank sein kann …“

„Was für ein Unsinn! Auszusehen, als hätte man schon seit Monaten keine warme Mahlzeit mehr bekommen, ist schon längst nicht mehr angesagt!“

Sah er denn nicht, dass die Designermode, für die Mailand so berühmt war, nur an schmalen Frauen chic und elegant aussah? „Kleider wirken viel besser, wenn die Frau, die sie trägt, nicht allzu üppig gepolstert ist“, klärte sie ihn auf.

„Mag sein. Aber ich sehe eine Frau lieber ohne Kleider.“ Zufrieden stellte Drew fest, dass Shelley schlucken musste. „Und nackt ist eine Frau mit ein paar Kurven bei Weitem einer vorzuziehen, die nur aus Haut und Knochen besteht.“

Shelley wurde übel bei dem Gedanken an Drew in den Armen einer unbekleideten Frau. „Willst du damit sagen, dass ich wie Haut und Knochen aussehe?“, fragte sie aggressiv.

Er zuckte die Schultern. „Keinesfalls viel besser, dass können selbst deine teuren Klamotten nicht verbergen. Und was hast du nur mit deinem Haar angestellt?“

Shelley traute ihren Ohren nicht. Während der Zeit mit Marco hatte sie gelernt, etwas aus sich zu machen. Aus dem Wildfang mit dem natürlichen Teint eines Mädchens, das viel an der frischen Luft war, war eine perfekt gestylte und kultivierte junge Frau geworden. In Mailand hatte man ihre Figur und ihren Stil bewundert, denn Shelley hatte knabenhaft schlanke Hüften und trug stets Schwarz, Grau oder Weiß, nie bunte Farben. Drew dagegen schien das alles nicht zu gefallen. Kritisch betrachtete er ihr graues Leinenkostüm, das – zugegebenermaßen – mittlerweile stark zerknittert war.

„Ich weiß, ich bin nicht für einen Strandspaziergang angezogen, aber dies Kostüm ist von einem berühmten Mailänder Designer.“

Als Drew daraufhin nur das Gesicht verzog, war es plötzlich aus mit ihrer Beherrschung. Die Anstrengungen der letzten Tage forderten ihren Tribut, und Shelley rastete ganz einfach aus.

„Die meisten Frauen würden sonst etwas dafür geben, ein Stück wie dieses zu besitzen“, schrie sie ihn an. „Und zu meinem Haar kann ich dir nur sagen, dass es von einem Starfriseur alle sechs Wochen geschnitten und neu gesträhnt wird. Weißt du überhaupt“, fragte sie völlig unsinnigerweise, „was es kostet, so auszusehen?“

Kaum hatte sie das ausgesprochen, als sie es auch schon bereute, denn sein Blick sprach Bände.

„Ich hätte es mir denken können, dass Geld bei dir immer noch die größte Rolle spielt. Du hast dich nicht verändert.“ Er lachte verächtlich. „Du gehörst zu jenen Frauen, die viel über Preise, aber nichts über Werte wissen. Anscheinend bin ich gerade noch einmal so davongekommen.“

„Anscheinend gefalle ich dir nicht, weil jeder sehen kann, dass ich eine unabhängige Frau bin.“

„Unabhängig? Du, die Gespielin eines reichen Mannes?“

Warum hatte Shelley das Gefühl, sie müsse sich verteidigen? Sie wählte ihre nächsten Worte mit Bedacht. „Nur zu deiner Information, ich habe die Galerie in Mailand geführt!“

„Wie? Vom Bett aus?“

Shelley fehlten die Worte. So hatte sie sich das Wiedersehen mit Drew nicht vorgestellt. Sie hatte es sich so schön ausgemalt gehabt, schließlich hätte sie Drew damals beinahe geheiratet. Sie hatte davon geträumt, er würde sie bewundernd anblicken und anerkennend pfeifen, wobei ihm deutlich anzusehen wäre, wie sehr er ihr nachtrauerte. Shelley hatte noch von ganz anderen Dingen fantasiert, von einem langen Schleier, Reis und Konfetti, was sie jedoch schnell wieder aufgegeben hatte, da ihr Kissen hinterher stets von Tränen durchnässt gewesen war.

Sie sah den Spott in seinen Augen und fühlte sich in ihrem Stolz tief verletzt. Darauf war sie wirklich nicht vorbereitet gewesen.

„Während du Nägel ins Holz gehauen hast, habe ich fließend Italienisch gelernt“, hielt sie ihm mit erhobenem Kopf entgegen und musterte seine abgewetzten Jeans. „Und ich weiß, wie man sich kleidet.“

„Aber nicht, wie man sich attraktiv kleidet“, antwortete er. „Shelley, deine Arroganz ist einfach atemberaubend.“

„Dann stehe ich dir ja in nichts nach, Drew!“

„Also, wo ist er?“

„Wer?“ Shelley tat erstaunt.

„Dein Lover, natürlich.“ Drew blickte sich um. „Wahrscheinlich sitzt er irgendwo im Warmen und poliert seine handgenähten Schuhe.“

Shelley sah unwillkürlich auf seine Füße. Er trug alte Bootsschuhe aus Leinen, noch dazu ohne Socken!

„Du siehst aus wie ein Bahnhofspenner!“ Ihre Augen blitzten wütend.

Drew schien etwas erwidern zu wollen, schüttelte dann aber nur den Kopf. „Ich glaube, wir haben jetzt genug Komplimente ausgetauscht, Shelley. Sag mir lieber, für wie lange du hier bist. Bist du auf der Durchreise, oder willst du das Haus deiner Mutter verkaufen?“

Shelley antwortete, ohne zu zögern, mit einer Bestimmtheit, von der sie selbst überrascht war. „Wer nach Milmouth kommt, ist nie auf der Durchreise, denn es liegt am Ende der Welt. Nein, Drew, ich bin nach Hause gekommen. Ich werde hier bleiben.“ Es gab ihr einen Stich, als sie sah, wie sich seine Miene verfinsterte.

Eine Möwe schrie im Wind, und die Wellen brachen sich am Strand.

„Du bleibst? Wie lange?“ Er musterte sie aus halb geschlossenen Augen.

„Selbst wenn ich es wüsste, würde ich es dir nicht sagen. Ich habe noch keine konkreten Pläne.“

Drew dachte nach. „Und wo genau willst du wohnen, Shelley?“

„Im Haus meiner Mutter natürlich, wo denn sonst?“ Sie betrachtete ihn. „Habe ich etwas Komisches gesagt?“

Er lachte. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie dich dein reicher Lover für eine rauschende Liebesnacht in diesem schäbigen Haus besucht!“

„Diese Bemerkung ist nicht nur geschmacklos, sondern falsch obendrein. Marco ist kein Snob!“

„So? Dann musst du es sein, die Probleme mit ihrem Image hat. Warum bist du mit ihm nie wieder nach Milmouth gekommen, nicht einmal zum Begräbnis deiner Mutter?“

Sollte sie es Drew sagen? Sollte sie ihm gestehen, dass sie genau das ihrer Mutter nicht hatte antun wollen? Ihre Mutter hatte Marco genauso verabscheut, wie sie Drew vergöttert hatte. Bis zu ihrem letzten Atemzug hatte sie Marco für das Scheitern ihrer Träume verantwortlich gemacht.