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Nachdem Tantruid erfolgreich zum Erzwächter ernannt worden ist, verbringt er mit seinen Freunden Pokétragon, Lavenda und Jadegreif einige Zeit im Schloss des Mystiker-Ordens. Doch obwohl sie innig verbunden sind, merken sie, dass jeder seinen eigenen Weg gehen muss, um im Leben etwas zu bewirken. Aber voneinander loszulassen fällt ihnen schwer. Zumal das Land Abenmark vom regierenden Hohen Rat durch umstrittene Entscheidungen immer mehr ins Chaos gestürzt wird. Plötzlich erfahren sie vom Tod ihres einzigen Verbündeten im Hohen Rat. Tantruid erinnert sich daraufhin an die Weissagung eines Orakels und so beginnt er nach einem geheimnisvollen Lehrmeister zu suchen, der ihm beibringen soll, in kriegerischen Zeiten ein friedvolles Leben zu führen. Die heilkundige Lavenda zieht es nach dem Weggang ihres Liebsten ins zerrüttete Königreich Liberak, in der Hoffnung, dort eine Anstellung am Hofe zu erhalten, während der Barde Pokétragon in der Hauptstadt Abenmarks mit der Veröffentlichung einer sogenannten Zeitenschrift die Bürger vor dem korrupten Hohen Rat warnen will. Und als der Geisterjäger Jadegreif erfährt, dass man ihn zum Nachfolger des verstorbenen Ratsfürsten ernannt hat, entschließt auch er sich dazu, seinem unheilvollen Schicksal im Kreis der Regierenden entgegenzutreten. Durch magische Kristallkugeln bleiben sie durch die Kraft der Gedanken weiter untereinander in Verbindung ... "Eine Fantasy-Story mit philosophischem Tiefgang. Die Leser erwartet ein besonderes Werk mit Sinn und Verstand, Witz und Charme. Wer sich mit offenen Augen auf den tiefgründigen, fantastischen Roman einlässt, wird so manche Parallelen zu sich selbst und unserem heutigen Leben finden." (Oberhessen-Live)
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Seitenzahl: 515
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Ob wir uns suchen oder nicht Es steht in Schicksals Angesicht Zu finden sich in dem Moment Wenn sich die Spreu vom Weizen trennt
Die folgende Geschichte spielt überwiegend im Lande Abenmark. Dieses Land benutzt den Abenmarkischen Mondkalender. Ein Jahr hat dort zwölf Monde zu je dreiunddreißig Tagen. Die Woche besteht aus elf Tagen, wobei jeder Tag dreiunddreißig Stunden umfasst.
1. Taumond (Frühlingsanfang)
2. Wandelmond
3. Blütenmond
4. Lichtenmond
5. Feuermond
6. Erntemond
7. Laubmond
8. Schattenmond
9. Nebelmond
10. Dunkelmond (Winteranfang)
11. Frostmond
12. Raumond
Ein Verzeichnis mit Übersetzung bzw. Beschreibung aller womöglich fremden Begriffe befindet sich im hinteren Teil des Buches.
Vorspiel
Prolog
Der Weg des Kriegers des Lichts
Orakel des Kriegers des Lichts
Glückspilze
Selbst bewusst sein
Der Kodex eines Kriegers des Lichts
Der Weg des Todgeweihten
Orakel des todgeweihten
Maskenball
Der Weg der Hohepriesterin
Orakel der Hohepriesterin
Gespaltene Dreieinigkeit
Fürbitten an den Kosmos
Wegweiserdes Lichts
Fußballphilosophie
Der Weg des Menschheitsbeauftragten
Orakel des Menschheitsbeauftragten
Zurück in den Zombie
Mystik für Einsteiger
Die Gründung des Klubs der Menschheitsbeauftragten
Legende zur
Landkarte
der Heldenberufung
Im Fürstensaal des Hohen Rates hörte man das Hallen von hastigen Schritten, die die Wendeltreppe heraufeilten. Bald kamen zwei Männer aus dem Torbogen und schritten zielstrebig in Richtung des Hochfürsten von Abenmark. Die beiden Stadtwachen liefen hintereinander. Der vordere Mann machte ein sehr ernstes Gesicht und schien es kaum abwarten zu können, seinem Herrn die Kunde mitzuteilen. Der hintere Mann trug eine große, zusammengerollte Schriftrolle bei sich und starrte nach unten, so als würde er versuchen, sich sein nur halbherzig unterdrücktes Schmunzeln nicht anmerken zu lassen. Als die beiden Wachen vor dem großen Eichenstuhl ankamen, blickte der vordere Mann aufgebracht in die Augen seines Hochfürsten.
Es war noch früh am Morgen, als ihn die beiden Stadtwachen aufsuchten. Mendax war ein großgewachsener Mann mit kurzem, schneeweißem Haar und einem sehr glatten Gesicht. Eigentlich schätzte man ihn so alt wie fünfzig Jahre, doch es war ein offenes Geheimnis, dass Mendax schon mehr als siebzig Winter hinter sich gebracht hatte. Seine Augen waren blau und durchdringend, seine Miene emotionslos. Er war im Umgang mit Menschen selten unhöflich, doch die meisten der Ratsmitglieder vermieden es, ihm zu widersprechen.
»Was gibt es so früh denn zu berichten?«
»Wir entschuldigen uns für die frühe Störung, mein Hochfürst, aber über Nacht hat sich jemand einen unverzeihlichen Scherz erlaubt.« Die vordere Stadtwache nahm die Schriftrolle an sich. »Jemand hat während der Nacht Unmengen von diesem Schriftstück in der Stadt verteilt und darin Dinge erwähnt, die gegen das Gesetz verstoßen. Dieses Exemplar haben die Wachen am Haupttor gefunden. Laut Aussagen der Nachtwächter wurden bereits über zweihundert weitere eingesammelt. Alle mit demselben Inhalt.«
»Und warum ist euch das jetzt erst aufgefallen? Hätten die Nachtwächter den Verantwortlichen nicht sofort entdecken müssen?«
»Verzeiht, Herr. Nachts ist es so, dass die Nachtwächter nur bis Mitternacht feste Stationen haben. Danach gibt es bis zum Morgengrauen nur noch eine Handvoll Patrouillen, die die Hauptstraßen überwachen. Die verantwortliche Person muss die Routen der Patrouillen gekannt und die Schriftstücke kurz nach ihrem Weggang aufgehängt haben. Es werden laufend neue entdeckt.« Mendax blickte ins Kaminfeuer neben sich.
»Bei über zweihundert Schriftstücken muss es wohl mehr als eine Person gewesen sein, die dafür die Verantwortung trägt. Außerdem muss sich eine Druckerei beteiligt haben. Lest mir bitte den Inhalt vor.«
»Wie ihr wünscht, mein Hochfürst. Aber ich möchte darauf hinweisen, dass darin auch Spott über euch enthalten ist. Des Weiteren wurden sonderbare, fremdländische Wörter in den Text eingebaut.«
»Macht euch darüber keine Gedanken, Wache«, sagte Mendax. »Ich habe bereits eine Vermutung, wer dieses Pamphlet verfasst haben könnte.«
»Nun, Herr, wie Ihr wünscht:«
33. Taumond 3150
Pokétragons Herold Ausruf 1
Die Zeitenschrift für Umdenker und Grenzgänger
In der Einführungsausgabe:
1. Vorstellung: Wer oder was ist Pokétragons Herold und was Ihr von ihm erwarten dürft
2. Neues aus der Rubrik „Wusstet Ihr schon …?“
1.
Liebe Freunde,
Ihr habt nun das Schriftstück vor Euch, das Euch direkt in die fünfte Dimension biemen wird. Gerade recht zur Zeit der großen Veränderung. In der Tat sind wir mit unserer Welt an einer Schwelle angelangt. Sie ist voller neuer Möglichkeiten – doch dunkel geworden und unübersichtlich. Der Hohe Rat versucht, uns glauben zu machen, dass alles gut sei. Doch sehen wir einmal genauer hin. Wir steuern auf eine gefahrvolle Zukunft zu. Überall Lug und Trug. Wir wissen nicht, wem wir vertrauen können und wer mit wem zusammenhängt. Wo können wir für positive Veränderungen ansetzen und was wollen wir eigentlich selbst vom Leben?
In den folgenden Ausgaben möchten wir Euch daher neue Denkansätze für ein bewusstes und besseres Leben vermitteln, verschwiegene Wahrheiten aufdecken und Euch an unseren Erfahrungen teilhaben lassen. Zusätzlich wird es bald famose Gewinnspiele für alle Leser geben – und dem verlogenen Mendax und seinen kleinen Freunden mehr und mehr an den Kragen gehen.
Abertausende rechtschaffene Menschen gegen eine Handvoll Ich-Süchtige?
Wir sind der Ansicht, dass wir die Wende packen können.
Habt also keine Furcht vor den kommenden Stürmen auf unserer Welt. Es leuchten mehr Lichter, als wir oftmals denken. Wir erkennen uns nur noch nicht, weil wir verstreut sind und unorganisiert. Doch das wird sich nun ändern.
Jetzt ist nämlich Schluss mit lustig!
(Na ja, eigentlich fängt es jetzt erst an, lustig zu werden.)
Aufbruch ins neue Zeitalter, meine Freunde! Überall auf der Welt sind wir eingesetzt, stecken in unserem Film und haben die Herausforderungen des Lebens zu bestehen. Dabei sind wir durch die gleiche Liebe und Hoffnung verbunden. Ich glaube, dass für jeden ein Leben in Erfüllung möglich ist, egal, was uns der Hohe Rat erzählt. Dabei spielt es keine Rolle, welche Fehler wir in der Vergangenheit gemacht haben. Es geht einzig darum, sich auf den Weg zu machen. Denn nur wer ein neues Denken anfängt, kann ein neues Leben beginnen.
In diesem Sinne: ich zähle auf Euch!
Stellvertretend für die Menschheitsbeauftragten
Euer Unwesentreiber
P
(das P steht für Pokétragon)
2.
Wusstet Ihr schon …
… dass Großfürst Gamaliel, Regierungsvertreter von Nordweststatt, große Teile der Steuern heimlich dazu verwendet, um den Ausbau seiner luxuriösen Behausung zu entschulden?
Schaut mal im Adelsviertel von Klaudeburg vorbei!
… dass die ständigen Koboldüberfälle auf unsere Städte gar nicht aus dem Königreich Liberak kommen, sondern von einem Geheimbund aus Abenmark organisiert werden?
… dass es mein Theater im Geheimen immer noch gibt und die Maßnahmen des Hohen Rates rein gar nichts bewirkt haben?
Freut Euch schon jetzt auf die nächste Ausgabe!
Dann mit neuen Wahrheiten, einem grandiosen Gewinnspiel und Empfehlungen für ein Leben mit mehr Pauer.
Anmerkung:Wer diese Zeitenschrift laut vorliest, gibt damit öffentlich zu, dass der Hochfürst Mendax ein müffelnder Saftsack ist.
Die Stadtwache rollte das Schriftstück wieder zusammen und starrte den Hochfürsten an. Mendax lächelte gedankenversunken. »Einen gewissen Stil hat der Bursche. Aber dennoch müssen wir uns etwas überlegen. Wenn wir jetzt nicht handeln, verstieße das gegen das Gesetz und dann würde sich bald jeder Scharlatan zu Wort melden.« Mendax stand auf und streckte seine kräftigen Arme. »Was würdet ihr mir empfehlen?«
»Ich würde ein hohes Kopfgeld auf Pokétragon aussetzen«, ereiferte sich die vordere Stadtwache. »Vielleicht der fünften Kategorie. Damals haben wir als Abmahnung nur sein Theater geschlossen, aber wer nicht hören will, muss wohl deutlicher fühlen.«
»Da gebe ich euch recht«, bestätigte ihn sein Herr. »Das war auch mein Gedanke. Aber es genügt ein Kopfgeld der vierten Kategorie. Zusätzlich habt ihr die Befugnis, alle Bürger zu vernehmen, die beim Verteilen oder Bewerben aktueller oder zukünftiger Schriftstücke dieser Art ertappt werden. Besonders die Nachtwächter mögen demnächst aufmerksamer ihrer Arbeit nachgehen. Sein Theater werden wir wahrscheinlich erst finden, nachdem ihr ihn ergriffen habt. Dann würde ich gerne mit ihm sprechen und seine unbegründeten Aussagen aufklären.«
»So sei es, mein Hochfürst.«
»Und noch eine Bitte«, sagte Mendax plötzlich und blickte erstmalig in die Augen der hinteren Stadtwache. »Wenn ihr dieses Schriftstück erheiternd findet, habe ich ein gewisses Verständnis dafür. Ihr solltet eure Emotionen dann aber offen zeigen und nicht unterdrücken. Das wäre sowohl in eurem als auch in meinem Interesse ein vernünftigerer Umgang.«
Mendax zwinkerte der Wache zu und setzte sich zurück auf seinen Stuhl. Die Stadtwache bedankte sich mit einer hastigen Verbeugung und trottete hinter ihrem Kollegen die Wendeltreppe wieder hinab.
Berufungsängste
Ein Abschied ist immer ein Grund zur Freude:
eine Vorfreude auf die Neuigkeiten
des Wiedersehens.
Pokétragon trat krachend eine Tür im Schloss der Erzwächter auf und hüpfte leichtfüßig in den Flur. »Ich bin nicht nur der bestaussehendste Schauspieler, Geschichtenerzähler, Meisterdieb und Barde der Welt – sondern seit Kurzem auch noch der begnadetste Kämpfer. Mit der meisten Pauer!«
»Das mag teilweise vielleicht ein bisschen stimmen, aber schlimmer als deine Eitelkeit sind mittlerweile deine selbstentwickelten Wörter.« Tantruid folgte in den Flur und warf einen skeptischen Blick auf die Tür, während sich sein Freund vor unsichtbaren Zuschauern verbeugte. Pokétragons steingraue Augen spiegelten den Stolz über seinen raschen Fortschritt bei den Schwertkampfübungen wider. Er klopfte sich den Staub von den Gewändern und legte väterlich seine Hand auf Tantruids Schulter.
»Mach dir nichts daraus, Mann. Dass ich jetzt schon besser bin als du, liegt an meiner wahrlich göttlichen Lerngeschwindigkeit. Aber du bist auch ein guter Lehrer.« Tantruid widmete seine Aufmerksamkeit abermals der Holztür.
»Die musst du auf jeden Fall wieder in Ordnung bringen. Andernfalls köpft dich Degister.«
»Ach, hier steckt ihr!«, rief plötzlich jemand hinter ihnen. Tantruid drehte sich blitzartig um. Er kannte die Stimme. Es war der schönste Klang, den er kannte.
»Lavenda!« Tantruid rannte in ihre Arme. Sie war mit Jadegreif den Flur entlang gekommen und sichtlich erfreut, ihre Freunde gefunden zu haben. Als sich Tantruid und Lavenda küssten, musste Jadegreif schmunzeln. Denn was er im Gegensatz zu den beiden Verliebten sehen konnte, waren Pokétragons würgende Grimassen in Richtung des Paares. Vor einiger Zeit noch wäre der verschlossene Jadegreif nicht so unbefangen mit seinen Freunden umgegangen, doch ihre gemeinsame Reise hatte auch in dem Geisterjäger einiges verändert.
»Du hast Schwertkampf geübt? Auf ein Duell!«
»Gegen dich? Ach ... ähm ...«, murmelte der Schauspieler, »ich müsste eigentlich ... ja ... erstmal ... diese Tür reparieren.« Pokétragon machte sich provisorisch am Knauf zu schaffen.
»Was machst du denn da, Pokétragon?«, mischte sich Lavenda ein.
»Unser neuer Schwert-Novize meint jetzt, er müsste nach jedem erfolgreichen Hieb eine Tür eintreten. Dies ist das Ergebnis seines Energieüberschusses«, nahm ihm Tantruid die Antwort ab.
»Weil mein Gegner so überaus schwach gewesen ist, habe ich einen stärkeren gesucht.«
»Vielleicht sollte der Herr seine überflüssige Energie lieber für sinnvolle Projekte einsetzen«, ermahnte Lavenda Pokétragon. »Deshalb bin ich übrigens hier. Wie weit bist du mit dem Text für den Herold? Ich habe mich mit Degister über die Vervielfältigungsmöglichkeiten unterhalten. Er hat einen Bekannten, der über ähnliche Apparate wie die Druckereien verfügt. Sie wären zwar außer Betrieb, aber nachdem mir Degister das Problem beschrieben hat, könnte ich die Gerätschaften wahrscheinlich in Form bringen. Du kannst dich glücklich schätzen, dass es eine begabte Hexe in diesem Schloss gibt, die dir bei deinem Kram hilft.«
»Ins Schloss ist eine begabte Hexe gekommen und niemand hat mir was gesagt?«
»Nein, Mann! Ich meinte MICH.«
»Schon gut, schon gut, meine Hübsche. Ich, äh, weiß doch, dass du ... wie ... ähm ... ja, toll bist.« Tantruid und Jadegreif, die das Spiel zwischen beiden schon seit etwa einem halben Jahr mitmachten, rollten mit den Augen.
»Also, was ist jetzt?«, fragte Lavenda ungeduldig. »Des Weiteren will uns Degister heute Abend sehen. Er hat etwas Bedeutsames mit uns zu besprechen.«
»Nun, ich würde ja wirklich gerne mit dir kommen, aber ich muss, äh, wie du gesehen hast, noch diese Tür in Ordnung bringen. Und danach wollte ich, hm, na ja, noch etwas an meinem Büchlein ...«
»Um die Tür kann ich mich für dich kümmern«, warf Jadegreif ein. »Ich bin sowieso hier, weil ich noch etwas üben will. Und, bei allem Respekt, das würde bei mir keine Dreiviertelstunde dauern.«
»Und was dein Büchlein betrifft«, ergänzte Tantruid. »Daran kannst du auch später weiterarbeiten. Ich wollte es noch um einige Ideen bereichern. Das können wir dann nachher noch oder morgen machen. Und außerdem wolltest du mir vorher noch mehr von deinen neu entwickelten Wörtern erklären.«
»Genau«, rief Pokétragon. »Fein ... dann kann ich also guten Gewissens jetzt weiter mit Lavenda am Herold arbeiten.«
»Wir sehen uns dann alle beim Abendessen«, fasste Tantruid zusammen. »Vielleicht kann ich bis dahin noch ein paar Übungskämpfe mit Jadegreif bestreiten, damit Pokétragon morgen wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wird.«
Und nach Tantruids abschließenden Worten verabschiedeten sich alle vier voneinander, um ihren jeweiligen Plänen nachzugehen.
Nachdem es draußen dunkel geworden war, versammelte sich der gesamte Orden der Erzwächter im Speisesaal. Es geschah nicht oft, dass die Erzwächter mit ihren knapp sechzig Mitgliedern in großer Runde speisten. Aber wenn es sich ergab, wurde es meist sehr gemütlich.
An einem Tisch in der Ecke versammelten sich Erzmeister Degister, Tantruid, seine Mutter Roma, Jadegreif, Pokétragon und Lavenda in angenehmer Vorfreude auf das Essen.
Degister war bis zu Tantruids erfolgreichem Abschluss seiner Ausbildungsreise dessen Meister gewesen und nach wie vor ein enger Freund. Degister war etwa so alt wie fünfzig Jahre und seine Ausstrahlung hatte Tiefe und etwas Geheimnisvolles, vermählt mit Herzlichkeit und sehr viel Wärme. Das war für Tantruid besonders wichtig gewesen, denn nicht selten hatte ihn Degister mit Ruhe und der nötigen Klarheit durch die vielen Reifeprüfungen geführt.
Doch Tantruid hatte seinen erfolgreichen Abschluss nicht nur Degisters Unterstützung zu verdanken. Ebenso sehr hatte ihm Lavenda den Rücken gestärkt. Beide hatten sich auf der jüngst zu Ende geführten Reise kennengelernt und sich bald ineinander verliebt. Lavenda war kräuterkundig und feinfühlig im Umgang mit magischen Kräften. So hatten die Geschicke ihrer Reise durch manchen von Lavendas Zaubern eine gute Wendung genommen.
Jadegreif und Pokétragon hatten Degister und Tantruid ebenfalls während ihrer Reise zur Hauptstadt Drakenwall aufgegabelt. Jadegreif rettete Degister während eines Koboldangriffs das Leben und erzählte ihm, dass er versuchte, die Hintergründe für die Terrorangriffe auf die Städte ans Licht zu bringen. Er schrieb während der Reise regelmäßig Tagebuch und beschäftigte sich intensiv mit Geschichte und Kampfkunst. Ihm vertraute Degister schnell und so war er auch dank seiner Fähigkeiten ein willkommener Weggefährte.
Kurz danach begegneten sie dann Pokétragon, dem Theaterbesitzer und Schauspieler. Er war ein Freund von Lavenda und begeisterter Gesellschaftskritiker. Seinem messerscharfen Verstand entgingen seit je keine Fehlentscheidungen der Regierung und er versuchte in seinem Theater Zum zeitweise zechenden Zombie stets für Aufklärung und Mut zu sorgen. Pokétragon war in der Hauptstadt Drakenwall seit Jahren ein bekannter Name, doch besonders die wohlhabende Gesellschaftsschicht hatte nicht viel für ihn übrig.
Und dann war da noch Tantruids Mutter Roma, die ihren Sohn aus geheimnisvollen Gründen vor dessen Erzwächterzeit verlassen hatte. Nachdem er nach seiner Ausbildungsreise vor einigen Monden wieder im Schloss eingetroffen war, befand sie sich plötzlich auch dort und erzählte ihrem Sohn zum ersten Mal von den Gründen für ihr damaliges Weggehen. Doch bis heute hatte sie nichts über Tantruids Vater verraten. Tantruid akzeptierte diese Haltung mittlerweile, denn er hatte während der langen Reise immer mehr das Gefühl erlangt, das Geheimnis seiner ungewöhnlichen Vergangenheit selbst lüften zu müssen.
So saß nun die sechsköpfige Gruppe an ihrem Tisch und genoss die gemeinsame Zeit während des Essens. Nachdem Pokétragon als Erster fertig gespeist hatte, nahm er einen gewaltigen Schluck Bier und lehnte sich zurück. »Degister, ihr hattet für heute Abend angekündigt, mit uns reden zu wollen. Wie sieht es denn damit aus?«
»Ich denke, wenn alle fertig sind, können wir in ein kleineres Zimmer umsiedeln. Dann erzähle ich euch, um was es geht. Ich hoffe nur«, und Degister blickte anerkennend in Pokétragons Augen, »ihr habt euch nicht allzu sehr vollgefressen und mit Bier weggebiemt.« Der Barde lachte und nachdem alle in Ruhe zu Ende gegessen hatten, machten sie sich auf, um von Degister erleuchtet zu werden.
Im zweiten Stockwerk fanden sie mit einem der Sinnier-Zimmer mit Kamin und gemütlichen Sesseln den perfekten Ort. Degister legte getrocknetes Kiefernharz auf ein glühendes Holzscheit, blickte in die Runde und begann zu erzählen.
»Meine Freunde. Wenn ich daran denke, was wir zusammen bereits erlebt haben, bin ich sehr gerührt. Unsere Bande haben sich vor gar nicht allzu langer Zeit geknüpft, kurz nachdem ich mit Tantruid zu seiner Pilger-Reise aufgebrochen war. Und seitdem sind wir zu einer eingeschworenen Mannschaft geworden. Wir haben in der Hauptstadt erlebt, dass sich Furcht und Hoffnungslosigkeit unter den Menschen ausbreiten. Daraufhin sind wir nach Norden marschiert, um Tantruid bei seiner letzten Bewährung zur Aufnahme in unseren Orden zu unterstützen. Wir sind zusammen tief unter das Nördliche Grenzgebirge gelangt, haben die Hauptstadt der Höhlengnome besucht und schließlich das Orakel der Zeit befragt, um Aufschluss über unsere Lebenswege zu erhalten. Ihr alle habt sieben Tore durchschritten, um euren Orakelspruch zu erhalten. Seitdem hat noch niemand etwas über seine Erlebnisse verraten.
Doch die Zeit des Schweigens ist jetzt vorbei. Vielleicht wird es manch einem noch nicht möglich sein, darüber zu berichten, da ihr euch noch nicht bereit dazu fühlt, oder die Erinnerungen im Nebel liegen. Aber ich werde heute Abend zu euch sprechen.
Ihr alle habt euch seit jener Zeit verändert. Ich weiß, dass ihr euren Weg im Herzen gefunden habt und den Mut besitzt, ihn auch zu gehen. Doch wisset: Wir sind eine Familie. Aber jeder von uns hat seinen Weg für sich allein zu gehen.« Während Lavenda Tantruids Hand ergriff und Pokétragon zu beiden Blickkontakt aufnahm, schaute Jadegreif ins Leere. »Ich werde euch nun ein Geheimnis über den Hohen Rat von Abenmark anvertrauen«, fuhr Degister langsam fort. »Wie wir alle richtig vermutet haben, stimmt mit unserer Landesregierung etwas nicht. Seit dem letzten Austausch mit Jadegreif und unserem Freund, dem Großfürsten Inox, teile ich mit beiden eine Vermutung, die ich euch bisher vorenthalten habe.« Degister nahm einen Schluck Wasser. »Als ich in der Schicksalskammer war, weissagte mir das Orakel ein Ereignis. Mit dessen Eintreten sollte eine neue Zeit, oder in meinem Falle, das Ende des Schweigens beginnen. – Dieses Schlüsselereignis ist gestern eingetreten.«
»Was ist passiert?«, rief Pokétragon und Tantruid begann, mit den Beinen zu wippen.
»Der Hohe Rat hat sich mit einer großen Mehrheit darauf geeinigt, das Waffenverbot in Drakenwall und allen anderen Ortschaften Abenmarks durchzusetzen. Es tritt in wenigen Tagen in Kraft.«
»Oh nein«, rief Tantruid, »dann sind die Bürger den Koboldüberfällen jetzt schutzlos ausgeliefert.«
»Und niemand könnte sich gegen die Wache wehren, falls es zu Scharmützeln käme«, ergänzte Jadegreif.
»Ich glaube nicht, dass es zwangsläufig zu Kämpfen zwischen der Wache und den Bürgern kommen wird«, versuchte Degister etwas Ruhe in die Gemüter zu bringen. »Immerhin sind sie für die Verteidigung der Bürger zuständig und erfüllen diese Aufgabe auch mehr oder weniger. Das Waffenverbot ist eher symbolisch zu betrachten. Die Bürger verlieren stückweise ihre Freiheit. Es ist wirklich lachhaft, dass das Gesetz zum Schutze der Menschen ausgerufen wurde. Soll doch so verhindert werden, dass Unruhen entstehen und sie selbst aufeinander losgehen.«
»Aber gerade dadurch werden die Unruhen entstehen«, sagte Tantruid.
»Ja«, sprach Pokétragon aus der Perspektive des Hohen Rates. »Ihr braucht nicht zu denken oder zu handeln, liebe Bürger. Das machen wir schon für euch. Einfach nur brav mitmachen. Um euer Leben kümmern wir uns. Der Hohe Rat – die Alternative zum freien Willen. Und die meisten glauben denen wahrscheinlich auch noch.«
»Davon kann man in der Tat ausgehen«, sagte Degister. »Weil die meisten Menschen Angst haben. Aber dies ist kein Grund zum Verzweifeln. Es gibt ebenso helle Kräfte in der Welt. Je deutlicher die Zeichen auf Sturm stehen, desto mehr Menschen werden erkennen, dass sie vom Hohen Rat, der den Bürgerwillen vertreten sollte, entmündigt werden.«
»Stimmt«, rief Pokétragon. »Leben – oder gelebt werden. Jeder Mensch hat die Wahl. Aber ich habe da schon eine Idee ...«
»Degister«, Roma tippte dem Erzmeister an die Schulter, »erzähle ihnen doch erstmal von deinem Orakelspruch.« Der Erzmeister gab nickend Antwort.
»Was wir lange vermutet haben, ist vom Orakel bestätigt worden. Vielleicht hatte auch jemand von euch schon diesen Verdacht: Hinter dem Hohen Rat von Abenmark stecken dämonische Aktivitäten.«
Tantruid, Lavenda und Pokétragon starrten sich an. »Ich kann euch nicht sagen, wie lange schon und in welchem Ausmaß. Aber die Kräfte, die im Hohen Rat wirken, haben sich mir eindeutig offenbart. Jetzt wissen wir, womit wir es zu tun haben. Und vor allem, wie wir an diese Sache herangehen können.«
»Daran hatte ich nie gedacht«, schnaubte Pokétragon nach einer längeren Pause.
»Aber im Nachhinein gar nicht unlogisch«, murmelte Tantruid.
»Und ehe ihr euch davon erholt«, fuhr Degister fort, »werdet ihr nun eine weitere wichtige Wahrheit erfahren. Ich habe zwar auch von Inox noch keine tiefer gehenden Informationen über unsere Regierung erhalten, aber Jadegreif wird euch nun etwas Wichtiges über sich erzählen.«
Lavenda, Tantruid und Pokétragon blickten wie gebannt auf den Geisterjäger. Dieser rappelte sich im Sessel auf und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Tonbecher. »Gefährten«, sagte Jadegreif langsam, »ich habe die Reise mit euch genossen und würde euch mittlerweile Freunde nennen ... Nun weiß ich, dass ich euch mehr schulde als meine bloße Anwesenheit. Ich bin es euch schuldig, die Wahrheit über mich zu verraten ... Das fällt mir nicht leicht ... Das müsst ihr verstehen. Ich bin nicht ... sehr geübt darin ... mit anderen so zu sprechen ... Aber ich will es versuchen.« Er blickte vorsichtig in die Runde. »Ich ... ich bin ... selbst ein Dämon ... aber nur zur Hälfte ...«
Im Zimmer machte schlagartig nur noch das Feuer Geräusche. Tantruids, Lavendas und Pokétragons Antlitze gaben keinen Eindruck preis. Überall in Abenmark wurden Dämonen gefürchtet und gemieden. Doch die meisten konnte man am Aussehen erkennen. Wie die Kobolde oder andere Kreaturen. Jadegreif war ein Mensch aus Fleisch und Blut. Und ihr Freund.
Tantruid vergrub die Hände in den Haaren. Und Pokétragon murmelte nach einer Weile etwas von Grenzerfahrung.
Nach einem längeren Moment des Schweigens klopfte Degister Jadegreif auf die Schulter. In seinem Blick lagen Erleichterung, Zweifel, Dankbarkeit und eine Art winziger Funken Hoffnung.
»Was mir nur schwerfällt«, versuchte sich Pokétragon schließlich auszudrücken, »ist das richtige Einordnen der Dinge. Wir haben eine intensive Reise hinter uns. Ich dachte, wir kennen uns. Und jetzt merke ich ... dass ich eigentlich gar nichts über dich weiß.« Pokétragon schüttelte den Kopf.
»Ich glaube nicht, dass man das daran festmachen sollte«, sagte Lavenda vorsichtig.
»Wie meinst du das?«
»Ich denke, dass wir Jadegreif auch ohne dieses Wissen gut kennen. Weil ich glaube, dass es zwei Arten gibt, wie man einen Menschen kennen kann. Du kannst handfeste Informationen über einen Menschen besitzen und dadurch Wissen über ihn haben – oder du kennst sein Herz und seine Seele.« Pokétragon lächelte skeptisch.
»Wir sprechen hier von einem Dämon, ist dir das klar? – Aber schon gut«, ergänzte der Barde rasch, »ich weiß, was du meinst. Das ändert ja auch gar nichts an den Gefühlen, die wir haben. Es ist nur ...«
»Darüber hinaus auch noch handfeste Informationen über einen Menschen zu haben, ist nicht verkehrt«, warf Tantruid ein.
»Genau!« Pokétragon schwenkte einladend mit den Armen. »Deshalb sollten wir jetzt vielleicht mit dem Projekt Wir lernen Jadegreif in seiner Gänze kennen beginnen.« Der Barde warf Jadegreif einen vorwurfsvollen Blick zu, nur um dann schnell wieder zu lächeln. Jadegreif nickte. Er nahm einen weiteren, tiefen Schluck. Und begann schließlich zu berichten.
»Ich stamme aus Westmark, dem, wie ihr wisst, westlichsten und kleinsten Land in Anta. Dort hat zumindest meine Mutter gelebt. Allein und in einer Kleinstadt in der Nähe der Küste. Vor meiner Geburt gab es eine Reihe von Überfällen auf einige der Städte, die in Meeresnähe lagen. Während eines dieser Überfälle begegnete meine Mutter einem der Männer, die in die Angriffe verwickelt waren. Diesen Mann versteckte sie über Nacht in ihrem Haus. Am nächsten Morgen war er verschwunden. Kurz darauf hörten auch die Überfälle auf. Man hat vermutet, dass die Angreifer irgendetwas gesucht haben. Viele von ihnen kamen wohl ursprünglich von jenseits des Meeres. Jedenfalls wurde meine Mutter in dieser Nacht schwanger und hatte während der Zeit mit einer sonderbaren Krankheit zu kämpfen. Zuerst dachten die Heiler, es würde an der Schwangerschaft an sich liegen, doch bald stellte sich heraus, dass die Krankheit nichts Gewöhnliches war. Glücklicherweise hatte ein Klan von Dämonenjägern von meiner Mutter und ihren Beschwerden gehört und sich fortan um sie gekümmert. Sie haben meiner Mutter erzählt, dass der Mann in Wahrheit kein Mensch war und sie in ihren Klan aufgenommen. Aufgrund meines väterlichen Erbes verlief die Geburt alles andere als normal und kostete meine Mutter das Leben. Die Dämonen- respektive Geisterjäger haben mich aufgezogen und mich zu einem der Ihren gemacht. Sie haben mir diese ganze Geschichte erzählt, mir zu kämpfen beigebracht und mir ihr Wissen vermittelt. Unser Klan hatte es sich später zur Aufgabe gemacht, den Hintergründen dieser Überfälle nachzugehen und sich über die Jahre nach und nach zerschlagen. Irgendwann habe ich mich dann von unseren bis dahin erhaltenen Erkenntnissen nach Abenmark führen lassen.«
»Bis wir uns in Drakenwall gefunden haben«, schlussfolgerte Lavenda.
»So ist es. In Kurzform.«
»Du bist ein ganz schön zäher Bursche«, meinte Pokétragon. »Wenn ich welche hätte, würde ich dich jetzt mit anderen Augen sehen.« Jadegreif lachte grimmig.
»Es ist schwierig, wenn man von Geburt an allenthalben unerwünscht ist. Ich bin mir bewusst, dass dies nun ein völlig neues Licht auf unsere Freundschaft wirft. Aber ich bin froh, dass ihr über mich nun aufgeklärt seid.« Der Geisterjäger blickte in die Runde. »Ich vermute, dass es auch deswegen vor einigen Monden zu dem kleinen Kampf unter dem Nördlichen Grenzgebirge gekommen ist. Dunkle Zauberer spüren die Nähe von einem wie mir. Manches Mal habe ich sogar das Gefühl, dass ich gezielt verfolgt werde. Ihr habt in jener Stunde gesehen, über welche Kräfte ich verfüge. Ich bin schneller, stärker und widerstandsfähiger als andere Menschen. Ich altere auch nicht so schnell.«
»Und die Nachteile?«, wollte Tantruid wissen.
»Willst du wirklich danach fragen?« Jadegreif musste fast lachen. »Ich neige zu Wutausbrüchen, Niedergeschlagenheit, Selbstzerstörung und Gewalt ... wenn ich mich nicht unter Kontrolle bekomme. Sich nicht daran zu ergötzen, wenn andere leiden, ist ebenfalls etwas, wofür ich mit mir selbst kämpfen muss. Früher habe ich mich dafür gehasst. Alles Destruktive will mich auf seine Seite ziehen. Ich habe mich jedoch für einen anderen Weg entschieden. Dafür muss ich jeden Tag kämpfen.«
Tantruid blickte ehrfürchtig in Jadegreifs grimmiges Gesicht. Er war sich sicher. Er hatte sich verändert, seit er ihn zum ersten Mal erlebt hatte. Es schien, als hätte der Geisterjäger seit Beginn ihrer gemeinsamen Reise ein kleines Stück mehr Zuversicht gewonnen.
Dann ergriff Degister noch einmal das Wort. »Ich denke, dass Jadegreif und ich heute viele wichtige Dinge losgeworden sind. Dies lag mir am Herzen, denn ich glaube, dass eure Orakelerlebnisse schon bald in euer Bewusstsein treten werden. Die Zeit wird knapp und ihr werdet bald eurer Wege ziehen wollen. Genießt also diese gemeinsamen Stunden – wie auch jeden anderen Moment in eurem Leben. Da morgen nicht noch einmal so ein großes Abendessen stattfindet, schlage ich vor, dass wir uns eine Stunde eher erneut hier einfinden. Vielleicht hat dann Pokétragon Lust, uns etwas über seine Vergangenheit zu erzählen.« Pokétragon antwortete mit einer seltsamen Grimasse. »Wie dem auch sei«, fuhr Degister fort. »Ich habe für Tantruid noch eine kleine Lektüre. Das hat deine Mutter heute Morgen für dich rausgesucht.« Er gab Tantruid ein Stück Papier und verabschiedete sich aus der Runde.
Nachdem sich die Runde aufgelöst hatte, waren Lavenda und Tantruid in ihr Zimmer gegangen. »Was steht eigentlich auf dem Zettel von Degister?«, fragte Lavenda und boxte Tantruid zärtlich auf die Schulter.
»Keine Vermutung, ich habe noch nicht genau reingeguckt.«
»Komm schon. Ich habe doch gesehen, dass du ihn gelesen hast.«
»Ich habe keine Lust, darüber zu reden«, entfuhr es Tantruid. »Ist das klar?!« Lavenda verstummte und setzte sich auf das Bett. Als Tantruid sich umdrehte, sah er zwei Tränen ihre Wangen hinab laufen. Der Erzwächter wurde feuerrot. Er sprang auf das Bett und drückte Lavenda an sich. »Es tut mir leid, was ich gesagt habe«, flüsterte er. »Ich liebe dich über alles, das weißt du.« Tantruid spürte ein zärtliches Streicheln am Nacken. Dann ließen beide voneinander ab. »Es ist mir nur alles zu viel im Moment. Die Geschichte mit dem Hohen Rat, die Wahrheit über Jadegreif, die ganze Orakelsache und dann auch noch diese seltsame Geschichte.«
»Willst du mir jetzt verraten, was drin steht?« Tantruid blickte in die tiefbraunen Augen seiner Liebsten. Nichts war ihm wichtiger, als Lavenda glücklich zu sehen. Und doch befand er sich im Zwiespalt. Denn er hatte auch Verantwortung gegenüber dem Orakelspruch und seinem eigenen Wissen zu tragen. Erst vor wenigen Tagen hatte er begonnen, sich an die Weissagung zu erinnern.
»Da stand etwas von einem Engelsgeschlecht aus einer anderen Welt, das manchmal Kontakt zu unserer Welt hat und die Menschen unterstützt«, erklärte er schließlich. »Aber so genau habe ich wirklich noch nicht reingeschaut. Es hat ein wenig Ähnlichkeit mit diesen Engeln aus meinem Traum.« Lavenda ergriff Tantruids Hand.
»Ich weiß, es ist lächerlich, Angst zu haben. Wir sollten furchtlos sein, aber ich mache mir trotzdem ein bisschen Sorgen. Du hast diese seltsamen Träume schon länger und willst nicht über dein Orakel sprechen. Das kann ich noch verstehen. Aber dann hat Degister heute erzählt, dass, na ja, du weißt schon, jeder vielleicht seinen eigenen Weg gehen muss. Für mich klingt das alles komisch. Er denkt doch nicht etwa, wir sollen uns trennen? Wir gehören zusammen. Und das Einzige, was ich noch vom Orakel im Gedächtnis trage, ist, dass es gesagt hat, ich würde mich schon noch an die Weissagung erinnern, wenn es so weit ist. Ich war wie in Trance, nachdem ich davon zurückkam.« Tantruid strich Lavendas Haare hinter ihr Ohr und legte sich langsam mit ihr hin.
»Du weißt doch, wie Degister ist«, meinte er. »Vielleicht meinte er das anders mit dem jeder für sich selbst. Und auch sonst. Warum sollten wir uns über Dinge Gedanken machen, die noch gar nicht geschehen sind? Degister hat selbst gesagt, dass wir jeden Moment genießen und ausleben sollen. Lass dir dein Herz nicht schwer machen. Das darfst du nicht. Denn du bist das Schönste, was ich je gesehen habe.«
Tantruid starrte an die Decke. In seinem Kopf schienen tausend Handwerker zu wirtschaften. Was würde die Zukunft ihnen bringen? Überall gab es ungeklärte Fragen. Und er wusste sich selbst nicht zu helfen. Doch lieber wollte er so noch stundenlang weiter grübeln, als wie fast jede Nacht der vergangenen Tage diesen seltsamen Träumen ausgeliefert zu sein. Er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, aber das mulmige Gefühl in ihm wurde stärker.
Schließlich gab er Lavenda einen Kuss, rollte sich auf die Seite und wünschte sich, diesmal besser zu schlafen. Ein hoffnungsloser Gedanke. Denn er wusste, dass er alles außer dem letzten Satz zu Lavenda nicht mit vollster Überzeugung gesagt hatte.
Der nächste Morgen brachte für jeden frische Energie. Jadegreif traf sich mit Firmenius, dem Waffenmeister der Erzwächter, zur Meditation und Kampfesübung. Lavenda und Pokétragon waren wegen Pokétragons Herold verabredet und Tantruid hatte nach dem Ende seiner Ausbildung Zugang zu einer weiteren Bibliothek erhalten. Und wenn er nicht gerade nach draußen ging, bei den Arbeiten im Schloss mithalf oder etwas mit seinen Freunden unternahm, ging er gerne dorthin und stöberte alles durch. Heute hoffte er, eine Lektüre zu finden, aus der er mehr Informationen zu dem Engelsgeschlecht aus den Aufzeichnungen von Roma und über seine sonderbaren Träume erhalten konnte. Am Nachmittag wollte er sich dann mit Pokétragon treffen, um über dessen neues Werk zu sprechen. Und am Abend würden sich ohnehin wieder alle versammeln.
Lavenda und Pokétragon trafen sich direkt nach dem Frühstück in Pokétragons Stube, um das weitere Vorgehen bezüglich Pokétragons Herold zu besprechen. Er hatte damals in Drakenwall den Entschluss gefasst, die Menschen auf die Missstände in ihrem Land deutlicher hinzuweisen. Irgendwann war ihm dann die Idee von einer sogenannten Zeitenschrift gekommen, die man regelmäßig unter die Leute verteilen könnte.
Pokétragon hatte begeistert hin und her hüpfend alle wichtigen Punkte sortiert und diese auf einem großen Tisch ausgebreitet. Lavenda stand nachdenklich an der anderen Seite. »Ich finde es sehr wichtig, dass du eine gute Struktur in deinen Herold bringst. Besonders, wenn du ihn regelmäßig veröffentlichen willst. Da braucht es eine Ordnung und Wiedererkennungsmerkmale, sonst verliert man die Übersicht. Ich würde dir raten, Stück für Stück zu arbeiten und die Leute erstmal neugierig zu machen. Diesen Titel finde ich zum Beispiel sehr gelungen: Pokétragons Herold: Das absolute Informationsblatt für alle, die nach mehr in ihrem Leben suchen. Er ist kompakt, enthält aber trotzdem noch deine Idee dahinter und macht Lust auf mehr.« Pokétragon nickte anerkennend.
»Ich glaube, du hast recht. Aber die gestrichenen Sätze. Ich finde sie auch wichtig.«
»Weniger ist manchmal mehr. Vergiss das nicht. Du willst ja sowieso regelmäßig einen Ausruf in die Öffentlichkeit führen. Dann kannst du in jeden Ausruf etwas Neues einbringen.«
»Jaja«, murmelte Pokétragon, »du hast mich überzeugt.« Dann warf er einen prüfenden Blick über verschiedene Gewinnspielfragen, die Formulierungen von alternativen Denkansätzen und kultivierte Beleidigungen bezüglich der Großfürsten.
»Was hältst du davon?:«
Seid Ihr trotz unseres Wohlstandes mit den momentanen Umständen in unserem Land unzufrieden?
Seid Ihr der festen Überzeugung, dass in unserem Leben noch viel mehr möglich wäre?
Habt Ihr die Vermutung, eine teuflische Verschwörung verhindert Abenmarks und unsere Entfaltung?
Habt Ihr Lust, durch Pokétragons neu entwickelte Gewinnspiele endlich auf die Sonnenseite des Lebens zu geraten?
Dann freut Euch auf die Zukunft und geht mit offenen Augen durchs Leben. Denn Eure Fragen sollen nicht unbeantwortet bleiben.
»Eindeutig zu lang!«
»Ach, verdammt!« Pokétragon zerknüllte das Papier und warf es in den Kamin. »So wird das nie etwas. Ich muss mir das alles nochmal überlegen.« Pokétragon trat gegen das Tischbein.
»Was ist denn nur los mit dir?«
»Ich will die erste Ausgabe sowieso erst in ein paar Wochen verteilen«, redete er sich in Rage. »Da ist ja noch Zeit. Oder ich vergesse die Sache einfach.«
»WAS ... IST ... LOS?«
»Ach, du weißt schon. Diese ganzen Kleinigkeiten gehen mir auf den Sack. Alles hängt in der Schwebe. Jadegreif ist neuerdings ein Dämon, fein, und Degister macht rätselhafte Ankündigungen. Schlafen tue ich irgendwie auch nicht mehr richtig. Mit oder ohne Schnaps. Ich glaube, ich pack mein Leben nicht.« An Pokétragons linkem Augenlid machte sich ein Zucken bemerkbar.
»Ich weiß, was du meinst. Gestern habe ich mich auch sehr sonderbar gefühlt. Aber es bringt uns allen nichts, wenn wir davon schlechte Laune bekommen.«
»Aber manchmal regt mich einfach alles auf. Ich will wissen, wie es weitergeht. Ob es überhaupt weitergeht. Wo wollen wir denn ansetzen in dieser gestörten Welt?«
»Lass dich von deinen tiefsten Gefühlen leiten. Und nicht von dem äußeren Chaos. Vertraue dir selbst. Letztendlich hast du immer alles erreicht, was du wolltest.« Pokétragon warf Lavenda einen erstaunten Blick zu. Sie lächelte selbstbewusst.
»Manchmal bist du wie ein frischer Schwapp Energie!«
»Ich glaube, diese Fähigkeit haben wir alle. Wir lassen uns nur zu oft von äußeren Umständen die Kraft nehmen. Manchmal kann ich diese Worte selbst auch nicht umsetzen. Aber lass es uns versuchen.«
»Dir geht es gerade auch nicht so gut, stimmt´s?« Lavenda nickte zögerlich.
»Ich müsste einerseits meine Zauberkraft weiterentwickeln, andererseits mache ich mir Sorgen um unser Land und die Menschen darin. Gerade nach den gestrigen Neuigkeiten. Aber ich will auch keinen von euch verlieren, vor allem ...« Mit einem Mal wurden Lavendas Augen feucht. Und Pokétragon tätschelte behutsam ihren Rücken.
»Ich will auch niemanden verlieren, meine Teure. Aber Tatsache ist, dass wir alle komplett unterschiedliche Wege gehen. Ich habe es mir noch nicht eingestanden. Aber ganz tief in mir sagt eine Stimme, dass ich den Herold allein in die Öffentlichkeit führen muss.« Lavenda schwieg, doch ihr Blick verriet einiges.
»Ich weiß nicht, wie es weitergeht«, sagte sie schließlich, »aber ich bin froh, dass wir das hier noch zusammen machen. Ich genieße jeden Augenblick mit euch.«
»Dann lass uns weiter daran arbeiten. Fürs Erste haben wir ja schon die Dinge zusammen. Vervielfältigen lassen kann ich die fertige Ausgabe zur Not auch in Drakenwall. Gisbert kennt bestimmt eine gute Druckerei.«
Tantruid hatte seit einigen Tagen einen wiederkehrenden Traum, der dem damaligen, den er auf dem Weg nach Drakenwall geträumt hatte, sehr ähnlich war.
Er lief im Traum über ein Schlachtfeld zu einem Tempel. Auf seinem Weg dorthin verwandelten sich die Leichen des Kampfes immer in goldene Lichter, die sich bündelten und dann am Himmel zerplatzten. Danach verwandelte sich das Schlachtfeld zu einem wunderschönen Weg voll blühender Natur. Als er dann in den Tempel ging, sah er jedes Mal diese majestätische Kriegergestalt vor dem Altar knien und sich selbst auf sie zu gehen. Auf dem Weg erschienen dann hinter Tantruid drei Geister, die durch eine Art ätherische Schnur mit ihm verbunden waren und ihn wärmten. Dann bekam er vor seinem inneren Auge eine Vision und sah, wie engelhafte Wesen sich über dringende Dinge beratschlagten. Einer von ihnen übernahm schließlich irgendeine große Aufgabe und ging fort. Seine verzweifelte Frau wollte das aber nicht hinnehmen und folgte ihm. Tantruid verstand schon damals, dass die kniende Gestalt vor dem Altar dieser Engelskrieger im Menschenkleid war, denn die Engelsfrau aus der Vision kam nach einer gewissen Zeit immer durch die Tempeldecke geschwebt und verwandelte sich auf dem Boden in ein ebenfalls menschliches Wesen, um den Krieger zu streicheln. Doch jedes Mal, wenn der Mann sich umdrehte, wachte Tantruid auf.
Dieser Moment traf ihn immer ins Herz. Für den Bruchteil eines Momentes kam er dann zu einer großen Erkenntnis, doch sie war zu kurz, um sich nach dem Aufwachen noch zu erinnern.
Und neuerdings kamen auch andere Träume hinzu. Träume und abstruse Gedanken. Träume von Inox und seinem Widerstand gegen die anderen Großfürsten. Gerade nach dem rätselhaften Tod von Großfürst Heinwart hatte Tantruid oft Angst um den geheimen Erzwächter im Hohen Rat – ihren einzigen Verbündeten dort. Ein einsames Licht in der Dunkelheit. Tantruid wunderte sich überhaupt, wie es Inox so lange geschafft hatte, sich als Großfürst zu behaupten.
Später kamen auch noch Träume vom Kiefernwurzelwald hinzu. Dem Wald, in dem er seine erste Bewährung zum Erzwächter bestritten hatte. All diese zusammenhangslosen Eindrücke, die doch irgendwie miteinander verbunden schienen, quälten ihn jede Nacht.
Vielleicht hatte Tantruid durch jene Träume seit einigen Tagen dieses Kribbeln in sich, das er sonst nur vor großen Ereignissen hatte. Bald würde etwas Bedeutsames passieren, dessen war er sich gewiss.
Er ging nach dem geplanten Besuch der Bibliothek in die Speisehalle und aß etwas. Viel gefunden hatte er im Bücherreich nicht. Kurz nach dem Betreten war ihm aufgefallen, dass er eigentlich gar keine Lust mehr hatte, dort intensiver zu suchen. Selbst das Schriftstück seiner Mutter hatte er noch nicht komplett gelesen und sich lieber für einen langen Spaziergang im Wald entschieden.
In der Speisehalle begegnete ihm Pokétragon. »Na, wie weit seid ihr mit dem Herold?«
»Es läuft so vor sich hin. Wir haben über die Struktur nachgedacht und die Inhaltspunkte für Ausgabe 1 überarbeitet. Vor allem das Gewinnspiel. Ich bin sehr gespannt auf die Reaktion des Hohen Rates.« Pokétragon begann zu schmunzeln. »Eigentlich kann ich zufrieden sein.«
»Du bist wahrlich ein Genius. Es ist eine brillante Idee, dem Hohen Rat mit einem öffentlichen Informationsblatt entgegenzutreten.«
»Ich sage dir, das Schicksal liebt mich. Vor allem wird die Sache auch richtig lustig. Mein Büchlein bearbeite ich ja auch noch nebenher. Ich denke, ich kann diese beiden Dinge auch sehr gut miteinander verbinden.«
»Dann können wir uns damit ja noch etwas beschäftigen. Bis zum Treffen heute Abend sind es noch ein paar Stunden und du wolltest mir ohnehin ein paar von deinen neuen Wörtern beibringen.«
»So sei es! Das wird dir garantiert gefallen. Nach dem ... zähen Gespräch gestern sollte etwas Spaß auch nicht verkehrt sein.«
Die beiden Freunde ließen sich in den Sesseln in Pokétragons Zimmer nieder. Nach einer Entspannungspause holte Pokétragon aus einer Kommode ein in Leder eingewickeltes Buch und legte es Tantruid auf die Oberschenkel. Die meisten Seiten waren noch leer. Nur vorn und ganz hinten waren Blätter mit Pokétragons filigraner Handschrift gefüllt. »Du hast wirklich viel von unserer Reise aufgeschrieben«, rief Tantruid begeistert.
»Standard, Mann. Der Trip war der reinste Kick für mich.«
»Und hier ist das Vorwort zur Niederschrift unseres Abenteuers. Die Leute im Zechenden Zombie waren wirklich begeistert.«
»Natürlich werde ich vieles noch einmal neu schreiben oder umgestalten«, ergänzte Pokétragon. »Oft kommen mir frische Ideen. Ich habe vor, wenn unsere Reise irgendwann vollständig aufgeschrieben ist, sie in meinem Theater vorzulesen. Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg.«
»Aber dass wir weite Wege gehen können, wissen wir ja!« Pokétragon warf seinem Freund einen innigen Blick zu. Tantruid blätterte schnell weiter.
»Was ist das denn hier? Pokétragons Ratgeber für alle Fälle?«
»Ach das, ja«, grölte Pokétragon. »Das ist eine Rubrik im hinteren Teil. Im Inhaltsverzeichnis kann man es auch schon lesen. Das sind wichtige Ratschläge für alle Lebenssituationen. Vor allem für solche, die oft vorkommen. Steckst du mal in der Zwickmühle, lohnt es sich, diese Rubrik aufzuschlagen.«
»Gut, dann schauen wir mal.«
Rubrik
Pokétragons Ratgeber für alle Fälle
Kapitel 7
Was zu tun ist bei einer Schlacht in Unterzahl
Es gibt für einen König, ein Land oder was auch immer normalerweise nichts Schlimmeres, als von einer zahlenmäßig überlegenen Armee angegriffen zu werden. Nicht selten tritt dadurch Panik unter den Kriegern auf und es fällt dem General schwer, seine Mannen zu motivieren. Aber zum Glück hat der kluge Kommandant Pokétragons Ratgeber dabei. Dies kann nun auch Dir das Leben retten.
Pokétragon empfiehlt in dieser Situation: Bleibe einfach ruhig und freue Dich auf das siegreiche Ende der Schlacht. Denn: Die Erfahrung hat gezeigt (so haben es uns die alten Heldengeschichten gelehrt), dass Armeen in Unterzahl stets obsiegen. Entweder gibt es Götter, die Mitleid haben, Helden, die im Geltungsdrang über sich hinauswachsen, oder die gegnerische Armee wird so übermütig, dass die eigene Streitmacht zwangsläufig gewinnt.
Aus den alten Mythten kann man zudem ableiten, dass, je kleiner die eigene Armee ist, die Siegeswahrscheinlichkeit umso größer wird. Also kein Grund zur Panik, selbst wenn Du alleine bist. Und falls ich mich irre, kannst Du immer noch im Kapitel »Was zu tun ist bei unvermeidbar unfreiwilligem Sterben« das empfohlene Verhalten nachlesen.
Tantruid blätterte hastig zur neuen Stelle:
Rubrik
Pokétragons Ratgeber für alle Fälle
Kapitel 888
Was zu tun ist bei unvermeidbar
unfreiwilligem Sterben
Diese Situation ist, wie der Titel beschreibt, unvermeidbar. Daher wundert es mich, dass Du es in Deinem jetzigen Zustand bis hierher geschafft hast. Ich kann nun wirklich nichts mehr für Dich tun.
Allerdings behindert ein unfreiwilliges Sterben die Seelenreise in astrale Gefilde, da Du offensichtlich noch nicht vom Irdischen loslassen willst. Dies führt mitunter zu enormen ko(s)mischen Problemen (so entstehen übrigens Poltergeister - siehe Kapitel 6).
Pokétragon empfiehlt daher:
Versuche, so schnell wie möglich Frieden mit all Deinen Taten und Dir selbst zu schließen. Alle ungelösten Lebensprobleme (sei es mit Deiner Familie, Deinem Beruf, Deiner Liebsten) werden im nächsten Leben als abermalige Lernaufgabe auf Dich zukommen. Auch werden all Deine Taten vom Kosmos bearbeitet und ausgewertet. Viel Spaß dabei.
Der Vorteil ist, dass Du im nächsten Leben auf die gemachten Erfahrungen der vergangenen Inkarnationen zurückgreifen kannst und es so etwas leichter haben wirst als beim ersten Mal. Ich bitte Dich, meinen Ratgeber dann weiterzuempfehlen (du selbst erhältst einen Rabatt beim Neuerwerb).
Des Weiteren werden Dir vergangene gute oder schlechte Taten für die nächste Wiedergeburt Vor- oder Nachteile verschaffen. Solltest Du dem Gefühl anheimfallen, aufgrund von ungelösten Problemen aus Deinem letzten Leben starke Nachteile zu haben, kannst Du im Kapitel »Was zu tun ist bei Restkarma« nachschlagen. Alles Gute.
Tantruid legte lachend das Buch beiseite. »Pokétragon, du bist der Knaller. Wenn du diese Sache im Zeitweise zechenden Zombie vorlesen würdest, könnten sich die Leute nicht mehr einkriegen.«
»Danke, Mann. Ich sage ja, das Schicksal liebt mich. Aber bescheidenerweise muss ich noch ergänzen, dass dies erst der Anfang ist. Für viele Menschen ist das Leben ja ohnehin nur lästige Zeitüberbrückung bis zum Tod – so wenig, wie sie daran Interesse haben. Wenn die Menschen erstmal meine neue Redensart und die neuen Wörter für sich entdecken, dann können wir wahrlich vom Beginn eines neuen Zeitalters sprechen.«
»Das glaube ich auch. Aber jetzt will ich mir erstmal mehr von diesen neuen Wörtern anschauen.«
»Es ist höchste Zeit, alte Strukturen aufzubrechen. Du findest sie in der Rubrik Sprache des neuen Zeitalters. Die Wörter stehen in Kapitel 1 und die Redewendungen in Kapitel 2. Selbstverständlich wird alles laufend erweitert. Allerdings sind einige Wörter, die du schon kennst, noch nicht enthalten. Durch die Arbeit an Pokétragons Herold komme ich nicht immer mit allem hinterher. Aber dafür sind bestimmt auch einige neue Wörter für dich dabei.«
Rubrik
Sprache des neuen Zeitalters
Kapitel 1
Wortschatz des neuen Zeitalters
(sich) wegbiemen – sich in einen Rausch- oder anderen Bewusstseinszustand versetzen
Mann – Anhängsel an einen Satz oder ein Wort, um besonderen Nachdruck zu vermitteln
Standard, (Mann) – natürlich, selbstverständlich
Karma – das spirituelle Gesetz von Ursache und Wirkung. Dass man im Leben das erntet, was man gesät hat (entsprechend der guten und schlechten Taten). Im Laufe seiner verschiedenen Leben (aufgrund von Wiedergeburt) entwickelt man auch zu anderen Menschen karmische Bezüge, die gut oder schlecht zu bewerten sind. Oftmals sind enge Freunde oder große Feinde Seelen, die man schon in vergangenen Leben getroffen hat. Im aktuellen Leben geht es dann darum, ein schlechtes Karma mit dem anderen aufzulösen und ein gutes weiter auszubauen …
Restkarma – schicksalhafte seelische oder körperliche Vor- oder Nachteile, die man aus der letzten Inkarnation (Geburt in der irdischen Welt) mit in das aktuelle Leben gebracht hat
Yehr – dieses Wort ist ein Ausdruck von (Vor)Freude Fuwiek – Bezeichnung für einen ungewöhnlichen oder verrückten Menschen (kann auch als Kompliment gemeint sein)
Fläsch – hohe Konzentration von etwas
onlein sein – mit der Geistwelt (Jenseits) in Verbindung stehen (geschieht z.B. durch das Entzünden einer Kerze)
Pauer – Kraft oder Stärke
Mjusik – kraftvollere Bezeichnung für Musik
»Ich kann dir die aktuellen Wörter und Redewendungen gerne bis heute Abend noch aufschreiben. Zum Auswendiglernen und Weitergeben – für alle Fälle.«
»Dieses Angebot nehme ich gerne an. Aber ich kann dir jetzt schon prophezeien, dass du mit deiner neuen Redensart bei manchen auch anecken wirst.«
»Wie meinst du das?« Pokétragons linkes Augenlid bereitete sich auf ein Zucken vor.
»Na ja, weißt du, ich rede auch manchmal schon so wie du. Und ich finde es auch wirklich lustig mittlerweile. Doch ich hatte am Anfang Schwierigkeiten. Die Menschen sind zum einen eben an die Sprechweise gewöhnt, die sie seit ihrer Geburt kennen, und die Art, wie du schreibst, ist zum anderen für Abenteuergeschichten dann teilweise wieder sehr umgangssprachlich. Gerade wenn die Erzählungen in altertümlichen Fantasiewelten spielen, werden viele Leser sagen, die Sprachwahl sei unpassend.«
»Ach, so meinst du das. Das wird nur am Anfang sein. Neues wird zunächst immer abgelehnt. Ich werde mich aber angemessen dafür einsetzen, dass sich die Leute für Neues, das eine Verbesserung darstellt, öffnen.«
»Ich hoffe, du wirst damit Erfolg haben.«
»Ich schreibe einfach meine Geschichten weiter. Wer sagt denn, dass die Menschen aus meinen Geschichten genauso altmodisch reden müssen wie die aus den altbekannten?«
»Niemand.«
»Genau! Es kann doch also gut sein, dass die Menschen aus meinen Geschichten Wörter benutzen, die denen aus unserer Welt sehr ähnlich sind. Wenn es in mystischen Welten rein zufällig dieselben Wörter gibt wie in unserer Welt, wäre das nur natürlich und echt, es auch so aufzuschreiben.« Pokétragon nickte entschlossen. »Außerdem kann ich so viel mehr junge Menschen und Fuwieks erreichen. Das liest sich dann doch alles fließender, jawohl.« Pokétragon lächelte Tantruid an. »Danke«, sagte er plötzlich ganz ernst. »Du weißt, dass mir deine Ansichten sehr wichtig sind. Was du mir sagst, tut immer gut. Auch wenn es manchmal nicht schön ist.«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, sagte der Erzwächter stolz. »Deshalb haben wir uns ja auch gefunden. Wir alle.«
»Ja. Wir sind uns in Drakenwall plötzlich alle über den Weg gelaufen. Jeder von uns kannte einen anderen schon irgendwie vorher. Das war schon fast unheimlich. Ich habe mich wie ein Kind gefreut, als mir Degister anbot, euch zu begleiten. Sogar mein eigenes Theater habe ich verlassen.« Dann wurde sein Gesichtsausdruck plötzlich ernst. »Früher oder später muss ich aber wieder zurück. Der Zombie wartet auf mich. Die Zeit ist reif.«
»Du musst auch den Herold veröffentlichen. Er ist wichtig.«
»Obwohl es bei euch so gemütlich ist. Manchmal wünschte ich mir, einfach hierzubleiben und es mir gut gehen zu lassen.«
»Ich glaube, du würdest verrückt werden, wenn du deinen Beitrag in der Welt nicht leisten würdest.« Pokétragon lachte.
»Ich muss wirklich sagen, dass es für mich das Beste war, euch auf eurer Erzwächter-Reise begleitet und dich kennengelernt zu haben.« Pokétragon verneigte sich. »Ich glaube nun auch an die Wiedergeburt, oder Reinkarnation, wie ihr Mystiker es nennt. Und dass es neben unserer bekannten materiellen Welt noch eine weitere gibt. Diese Geistwelt ... ist unsere wahre Heimat. Von wo unsere Seelen herkommen – und wo sie wieder hingehen nach dem Ableben. Wo die Verwandten auf uns warten und aus der unsere Schutzengel eingreifen. Die Welten scheinen mir fest verbunden zu sein. Gefühle und Gedanken sind ja auch irgendwie Geist.« Pokétragon blickte nachdenklich nach oben. »So erklärt sich mir auch viel mehr im Leben. Das Gefühl, dass man sich manchmal so vertraut vorkommt – ohne sich zu kennen. Oder einfach die Tatsache, dass Menschen im selben Alter so unterschiedlich reif sind.« Der Barde klopfte seinem wesentlich jüngeren Freund auf die Schulter. »Du sagst, das ist so, weil manche Seelen einfach schon öfter hier auf dieser Welt waren. Und ich glaube, das stimmt. Unsere Seelen ... sind unsterblich.«
»Weil sie ursprünglich alle aus dem Kosmos kommen. Ich denke, dass wir in dieser irdischen Welt nur Gäste sind.«
»Weil es auf dieser Welt so viel zu lernen gibt, nicht wahr? Das kann man in einem einzelnen Leben gar nicht schaffen. Überhaupt, diese Unterschiede zwischen Geist und Materie. Dass alles aus Energie besteht, aus feinstem Stoff, und eine Schwingung besitzt, das spürt man jeden Tag. Die eigene Kraft verschwindet, wenn man verletzt wird. Und neue wird erzeugt, wenn man Komplimente erhält. Wir kennen uns bestimmt auch aus einem vergangenen Leben.«
»Durch unsere ähnliche Ausstrahlung haben wir uns ja auch gefunden.«
»Stimmt die Schwingung, steigt die Stimmung könnte man sagen.« Pokétragon grinste.
»Ach Pokétragon, du bist wahrlich der König der Poeten. Ich präge mir deine Sätze so gerne ein.«
»Tja. Und manchmal auch der König der Proleten. Alles ist dual auf Erden. Aber ich habe auch viele Wörter von euch für mich entdeckt. Denke ja auch fast schon so wie ihr.«
»Ja, die Erzwächter sind eine tolle Gemeinschaft. Sie leben zurückgezogen in einer faszinierenden Welt. Doch obwohl sie unzufrieden sind mit den Umständen, sind sie glücklich.«
»Und sie bestärken uns darin, unseren eigenen Weg zu gehen.«
»Das werden wir auch!«, sagte Tantruid und schlug noch einmal Pokétragons Buch auf. Dann drückte er es seinem Freund in die Hand und bat ihn, einige Ergänzungen darin vorzunehmen.
»Wo wir gerade bei Notizen und Hinweisen sind«, meinte Pokétragon plötzlich. »Ich habe noch ein kleines Geschenk für dich. Nicht viel – aber von Herzen.« Pokétragon kramte einen Brief aus einer Schublade.
»Was ist das?«
»Diesen Brief darfst du auf keinen Fall öffnen. Er ist etwas Besonderes. Ich wage ja zu behaupten, dass ich etwas mehr Lebenserfahrung habe als du. Daher weiß ich, dass irgendwann mal jeder komplett am Boden ist.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Dieser Brief ist für dich gedacht, wenn es dir mal so richtig dreckig geht. Ich habe in ihn meine ganze dichterische Kraft gelegt und persönlich auf dich abgestimmt. Mach ihn nur auf, wenn du ganz unten bist – und danach wird es dir besser gehen.«
»Also gut. Ich verspreche dir, ich werde ihn nur öffnen, wenn es mir wirklich schlecht geht.«
Als der Abend anbrach, waren Lavenda und Jadegreif die Ersten im Sinnier-Zimmer und kümmerten sich um ein prächtiges Feuer im Kamin. Kurz darauf kamen Tantruid und Pokétragon mit Getränken und nach einer Weile schließlich auch Roma und Degister, die eine große Schale mit gerösteten Nusskernen dabeihatten. Nachdem die letzte Kerze entzündet worden war, legte Lavenda Weihrauchharz auf den heißen Sims.
»Ich hoffe ja wirklich, dass der heutige Abend nicht wieder so wird wie der gestrige«, rief Pokétragon gespielt vorwurfsvoll in Degisters Richtung.
»Ich glaube, dass dies einzig von euch abhängt«, erwiderte der Erzmeister lächelnd. »Des Weiteren bin ich mir durchaus bewusst, dass der gestrige Abend bei euch Spuren hinterlassen hat. Aber da müsst ihr jetzt durch. Wie ihr euch erinnert, war es eure alleinige Entscheidung, das Orakel zu besuchen.«
»Das weiß ich wohl«, sagte Pokétragon kleinlaut. »Es ist ja auch so, dass man durch permanente Überforderung sehr schnell an Souveränität gewinnt. Mit Menschen wie euch hat man es auch nicht jeden Tag zu tun. Obwohl ... hm ... seit einer Weile, na ja, irgendwie doch. Andererseits ... wer weiß, wie lange wir uns noch regelmäßig sehen werden, nicht wahr?« Pokétragon machte eine verschrobene Fratze und Degister musste lachen.
»Na«, erwiderte der Erzmeister, »dann wäre heute doch der passende Zeitpunkt für dich, uns etwas über deine Vergangenheit zu erzählen. Denn auch aus deinem Leben liegt für uns vieles im Verborgenen.«
»Das tue ich gerne«, verriet Pokétragon. »Für euch sogar sehr gerne. Aber ich frage mich bloß, womit ich anfangen soll.«
»Fang doch direkt bei deiner Kindheit an«, schlug Tantruid vor. »Davon hast du noch nie erzählt und ich denke, das ist der einfachste Einstieg.«
»Genau«, pflichtete ihm Lavenda bei. »Ich kenne auch wenig aus deiner Jugend.« Doch mit einem Mal wich der Schalk aus Pokétragons Antlitz. Tantruid dachte, dass es nur eine Spielerei von ihm sei. Aber Pokétragons Miene blieb ernst. Als wäre er an einer empfindlichen Stelle getroffen worden. Einen Moment herrschte Stille. Dann nahm der Barde einen tiefen Schluck Met aus dem Becher und blickte zu Boden.
»So seltsam das jetzt auch klingen mag, aber von meiner Kindheit erzähle ich nicht gerne.« Er lächelte nüchtern. »Da gab es nicht so viele lustige Dinge ... Obwohl ihr wahrscheinlich damit gerechnet hättet. Ich kann auch ernst sein.«
»Das wissen wir«, sagte Lavenda. »Gerade deshalb sollte es dir leicht fallen, uns auch deine anderen Seiten zu zeigen. Wenn du es uns nicht erzählen willst, wem dann?«
»Natürlich werde ich euch davon erzählen«, sagte er fast schon wütend. »Mit Vertrauen hat das ja auch gar nichts zu tun. Ich will euch nur vorwarnen. Ich habe, seit ich von zu Hause fort bin, nicht oft an meine Kindheit zurückgedacht. Nicht, dass wieder solche Überraschungen ans Licht kommen wie gestern.« Pokétragon wies zu Jadegreif. Wie geistesabwesend starrte der Barde auf die Kerze auf dem Tisch. Dann trank er den Becher aus. Und begann zu erzählen.
»Ursprünglich stamme ich gar nicht aus Drakenwall, sondern aus der großen Hafenstadt Borkenstolz. Sie ist ja besonders für ihre Uhrenmacher berühmt. Ich komme ehrlich gesagt auch ... aus sehr privilegiertem Hause. Mein Vater müsste dort immer noch Stadtgeneral sein. Es ist das höchste militärische Amt dort. Er befehligt die komplette Garnison von Borkenstolz, ist für die Sicherheit des Hafens und der Stadt zuständig und im Notfall auch für die Führung eines großen Bataillons der abenmarkischen Streitmacht. Das ist während seiner Amtszeit aber nie geschehen, wobei mir das eigentlich auch herzlich egal ist. Wir haben seit Jahren keinen Kontakt mehr. Er lebt dort mit meiner Mutter und vielleicht noch meinem Bruder in einem noblen Haus im Adelsviertel.«
»Du hast nie erzählt, dass du einen Bruder hast«, rief Tantruid.
»Du hast auch nie gefragt, ob ich einen habe«, fauchte Pokétragon plötzlich. »Aber ...« und er beruhigte sich wieder. »Meine Genervtheit gilt nicht dir, sondern meiner Familie. Meinem Klan, wie ich ihn gerne genannt hätte. Aber ein Klan waren wir nie.«
»Wie alt ist dein Bruder?«, fragte Jadegreif.
»Gut vier Jahre älter als Tantruid. Und war immer der Liebling meiner Eltern. Was ich gemacht habe, war immer schlecht. Was Torik gemacht hat, war immer richtig. Unsere Mutter war früher eine wunderschöne Frau. Großherzig und liebevoll. Aber ihr war es immer unglaublich wichtig, öffentlich gut dazustehen. Und mein Vater war genauso. Sie gingen beide den vorgegebenen Weg. Mit viel Erfolg, aber immer ohne ihn zu hinterfragen. Zwei so unglaublich ignorante Menschen, nie offen für Neues. Und alles wussten sie besser. Ich durfte nie das machen, was ich wollte. Immer wurde mir alles vorgegeben. Dann hat es eben öfter mal geknallt. Ich wollte nie Soldat werden und schon gar nicht für die Stadtregierung oder den Hohen Rat arbeiten wie mein Vater. Es war früher noch nicht ganz so schlimm mit den Großfürsten wie heute, aber unsinnige Entscheidungen auf Kosten der Bevölkerung wurden schon damals getroffen. Aber meine Eltern haben das nie so gesehen. Der Hohe Rat hätte viel Arbeit. Darüber hinaus sei es nicht so einfach, es jedem Bürger recht zu machen. Ein Land zu regieren sei schwierig. Pah! Vergiftet und verblendet, wenn ihr mich fragt. Mein Vater hat mich als kleines Kind sogar regelmäßig verprügelt. Später war das dann alles egal. Da hat sich meine Mutter mehr für ihren Wein interessiert als für mich. Und mein Vater war meistens außer Haus. Ich habe dann auch gemerkt, dass sich beide nicht mehr so gut verstanden haben. Sie haben kaum noch miteinander gesprochen. Mir war es dann auch egal.«
»Seit wann hast du deine Familie nicht mehr gesehen?«, wollte Lavenda wissen.
»Seit ich von zu Hause weggegangen bin. Das war mit neunzehn. In dem Alter hatte ich endlich den Drang, auf eigenen Füßen zu stehen. Durch meine Auftritte hatte ich auch genügend Taler, um mich in Drakenwall fürs Erste durchzuschlagen. Ich wollte immer schon in die Hauptstadt. Ich wollte immer selbstständig meine Kunst auf die Bühne bringen. Mit dem Zechenden Zombie habe ich mir letztendlich einen Traum erfüllt. Zumindest bis ihn die Stadtwache dicht gemacht hat. Ihr wisst ja, wie das kam. Aber ich bin meinen Weg weitergegangen. Nach einigen Monden bin ich durch Beziehungen an dieses alte Haus gekommen und Gisbert und die anderen haben mir geholfen, heimlich den neuen Zombie aufzubauen.«
»Dann hast du einen beachtlichen Weg hinter dir, Pokétragon«, sagte Tantruid anerkennend. »Solche Kraft zu haben. Zielstrebig und mutig.«
»Dankeschön«, sagte Pokétragon und etwas Wut in ihm ließ nach. »Du glaubst gar nicht, wie gut sich das anhört. Gerade, wenn man jahrelang nur das Gegenteil zu Gehör bekommt. Irgendwann hinterfragt man sich dann doch und ich war mir nicht immer sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Oft habe ich mir tatsächlich gesagt, ich pack mein Leben nicht.«
»Und was hast du so gemacht während deiner ersten neunzehn Jahre?«, fragte Lavenda weiter.
»Ich habe früh gemerkt, dass ich mich zu allem Musischen hingezogen fühle. Geschrieben und musiziert habe ich eigentlich schon, seit ich denken kann. Immerhin hatten mir meine Eltern in Kindheitstagen eine große Harfe gekauft. Ich glaube sogar, die war für normale Menschen unbezahlbar. Da konnte mein Vater wieder allen zeigen, wie toll er ist. Das profane Leben hatte mich immer angeödet. Eigentlich war ich auch früher schon so wie heute.«
»Und dann wunderst du dich, dass du Ärger mit deiner Familie hattest?«, rief Tantruid in die Runde. Die anderen lachten und selbst Pokétragon nahm sich schmunzelnd eine Handvoll Nüsse.
»Es war mit mir natürlich auch nicht immer einfach, das gebe ich zu. Nichtsdestotrotz komme ich aus unglaublich steifen Verhältnissen. Ich hatte mich auch schon früh um Nebenarbeiten nach dem Besuch des Schulhauses gekümmert, um von meinen Eltern unabhängig zu werden. Doch überall gab es Probleme. Ich hatte bloß versucht, neue Wege zu gehen. Die Menschen aufzulockern. Aber nie hatte es geklappt. Mit etwa sechzehn Jahren hatte ich mich unheimlich für Katzen interessiert. Zu Hause hatten wir auch zwei. Also habe ich mich mit den Tieren beschäftigt und mir bald auf dem Marktplatz einen Stand aufgebaut, um Kräuter und Spielsachen für Katzen zu verkaufen. Ich konnte die Menschen auch für den besten Umgang mit Katzen beraten und hätte mich damals wirklich als Fachmann bezeichnet. Doch der Stand hielt sich nicht lange. Auch weil ich den Stand Alles für die Katz genannt hätte. Die Leute konnten damit wohl nicht umgehen. Mein Vater hatte sich natürlich unglaublich darüber aufgeregt. Die Übernahme der anfänglichen Stand-Kosten war zwar ein Geschenk von ihm gewesen, aber ich war dennoch hinterher großzügig verschuldet bei ihm. Zumindest bis ich durch einige Konzerte den Sack Münzen wieder reinbekam.