Verheißung Der Grenzenlose - Jussi Adler-Olsen - E-Book
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Jussi Adler-Olsen

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Beschreibung

Eine Tote im Baum. Ein mysteriöser Sonnenkult. Ein perfider Manipulator. Der sechste Fall für Carl Mørck und sein Team vom Sonderdezernat Q für unaufgeklärte Fälle in Kopenhagen »Um sie herum war alles in Grautöne getaucht. Flackernde Schatten und sanftes Dunkel umhüllten sie und hielten sie warm. Sie konnte sich kaum bewegen, aber das wollte sie auch gar nicht. Denn dann würde sie nur aus dem Traum erwachen, und sofort kämen auch die Schmerzen zurück ...« Menschen auf der Suche nach neuen Heilsversprechen und ein perfider Manipulator, der seine Ziele mit allen Mitteln verfolgt: Der große Psychothriller von Bestsellerautor Jussi Adler-Olsen Eine Tote hing kopfüber in einem Baum, und keiner weiß, was damals geschah. Siebzehn Jahre lang hat Polizeikommissar Habersaat versucht, den tragischen Tod der jungen Frau aufzuklären. Doch jetzt, kurz nachdem er das Sonderdezernat Q um Hilfe gebeten hat, kommt er auf schockierende Weise ums Leben. Die Recherchen führen Carl Mørck und sein Team auf die Insel Öland, und zu einem Fall, der sie alle in tödliche Gefahr bringt. »Beängstigende Psychofälle und ein kurioses Ermittlerpaar: Mit viel Gespür hat sich der Däne Jussi Adler-Olsen an die Spitze der europäischen Kriminalliteratur geschrieben.« Focus Online »Ein Muss für alle Krimiliebhaber, die vor allem nordische Bücherreihen verschlingen.« Magdeburger Volksstimme Neben der Carl-Mørck-Reihe sind bei dtv außerdem folgende Titel von Jussi Adler-Olsen erschienen: - ›Das Alphabethaus‹ - ›Das Washington-Dekret‹ - ›Takeover‹ - ›Miese kleine Morde‹

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Über das Buch

Carl Mørck will gerade ein kleines Nickerchen am Schreibtisch machen, als plötzlich das Telefon klingelt. Christian Habersaat, ein Kollege von der Insel Bornholm, bittet dringend um Unterstützung bei einem uralten und fast vergessenen Fall. Carl ist wenig begeistert. Doch nur wenige Stunden später stirbt Habersaat  – und kurz darauf dessen Sohn.

 

Unter größtem Druck stürzt sich das Sonderdezernat Q in den siebzehn Jahre alten Fall, der ihre Zusammenarbeit auf eine harte Probe stellt. Denn es werden immer mehr dunkle Geheimnisse an die Oberfläche gespült. Die Spuren führen nach Öland, zu einem obskuren »Zentrum zur Transzendentalen Vereinigung von Mensch und Natur«. Und zu einem höchst intelligenten Manipulator, der zu allem bereit ist, um sein Ziel zu erreichen  …

 

 

Carl Mørck, Sonderdezernat Q, Kopenhagen, ermittelt

Erbarmen/Die Frau im Bunker (1. Fall)

Schändung/Die Fasanentöter (2. Fall)

Erlösung/Flaschenpost von P (3. Fall)

Verachtung/Akte 64 (4. Fall)

Erwartung/Der Marco-Effekt (5. Fall)

Verheißung/Der Grenzenlose (6. Fall)

Selfies (7. Fall)

Opfer 2117 (8. Fall)

Natrium Chlorid (9. Fall)

Jussi Adler-Olsen

Verheißung

Der Grenzenlose. Der sechste Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q

Thriller

Aus dem Dänischen von Hannes Thiess

 

 

 

Vibsen und Elisabeth gewidmet,

zwei starken Frauen

Prolog

20. November 1997

Um sie herum war alles in Grautöne getaucht. Flackernde Schatten und sanftes Dunkel umhüllten sie und hielten sie warm.

Im Traum hatte sie ihren Körper verlassen. Sie schwebte vogelgleich, nein, wie ein Schmetterling schwebte sie durch die Lüfte. Ein flatterndes Kunstwerk, das auf der Welt war, um Freude und Staunen zu verbreiten. Ein buntes Wesen hoch oben am Himmel, das mit seinem Zauberstab unendliche Liebe hervorbringen konnte.

Sie lächelte, der Gedanke war so schön und so rein.

Im Dunkel über ihr pulsierten matte Lichter, gesandt von schwach funkelnden Sternen. Wie wohltuend sie waren, wohltuend wie das Rauschen des Windes und das Rascheln von Blättern.

Sie konnte sich nicht bewegen, aber das wollte sie auch gar nicht. Denn dann würde sie nur aus dem Traum erwachen, und sofort kämen auch die Schmerzen zurück.

Nun blitzten Myriaden von Bildern aus einer anderen Zeit auf, Bilder von ihr und ihrem Bruder, wie sie durch die Dünen hüpften, und von ihren Eltern, die sie ermahnten, nicht zu übermütig zu werden.

Warum bloß mussten die immer alles verbieten? Hatte sie sich nicht dort in den Dünen zum ersten Mal wirklich frei gefühlt?

Unter ihr glitten jetzt wunderschöne Lichtkegel vorbei, wie Meeresleuchten strömten sie hin und her. Sie lächelte. Nicht, dass sie je echtes Meeresleuchten gesehen hätte, aber so musste es wohl sein. Meeresleuchten oder flüssiges Gold in tiefen Tälern.

Wo war sie denn hier gelandet?

War das vielleicht eine Ahnung von Freiheit? Doch, das musste es sein, denn nie hatte sie sich so frei gefühlt. Ein Schmetterling, sich selbst genug. Leicht und immer auf der Suche und umgeben von schönen Menschen, die es gut mit ihr meinten. Und überall unermüdliche Hände. Hände, die sie vorwärtsschoben und nur ihr Bestes wollten. Erhebende Gesänge, die nie zuvor erklungen waren.

Sie seufzte, dann lächelte sie wieder und überließ sich dem Strom der Gedanken.

Jäh erinnerte sie sich an die Schule und an das Fahrrad, noch einmal spürte sie den eiskalten Morgen und sogar ihr Zähneklappern.

Und genau in diesem Augenblick, als sie in der Wirklichkeit angekommen war und das Herz endlich aufgab, erinnerte sie sich auch an den dumpfen Knall, mit dem das Auto sie erfasst hatte, an das Geräusch der splitternden Knochen, an die Zweige, die sie peitschten, an die Landung …

1

Dienstag, 29. April 2014

»Hey Carl, wach auf. Telefon. Das klingelt jetzt schon seit einer Ewigkeit.«

Schläfrig hob Carl den Blick. Seit wann trug Assad denn gelbe Tarnkleidung? Heute früh war der Overall doch noch weiß gewesen und der Lockenkopf schwarz! Sollte sein Kollege tatsächlich begonnen haben, Farbe an die Wände zu schmieren?

»Jetzt hast du mich mitten aus einem komplizierten Gedankengang gerissen.« Unwillig nahm Carl die Beine vom Schreibtisch.

»Oh, entschuldige bitte!« Lachfältchen machten sich zwischen Assads Bartstoppeln breit. Warum zum Teufel versprühten seine Augen so viel Schalk? Spielte da vielleicht ein Hauch von Ironie mit?

»Carl, ich weiß ja, dass es gestern Abend spät war bei dir«, fuhr Assad fort. »Aber wenn du das Telefon die ganze Zeit klingeln lässt, dreht uns Rose durch. Also: Nimm doch bitte das nächste Mal ab.«

Durchs Kellerfenster fiel grelles Licht. Hm, ein wenig Zigarettenrauch könnte das dämpfen, dachte Carl und griff nach der Packung. Im selben Moment setzte das Telefonklingeln wieder ein.

Assad deutete vielsagend auf den Apparat und verdrückte sich. Das artete wirklich langsam in Bevormundung aus.

»Ja, Mørck«, knurrte er, den Hörer noch in der ausgestreckten Hand.

»Hallo?«, das klang eher wie eine Frage am anderen Ende der Leitung.

Lustlos hielt Carl sich den Hörer vor den Mund. »Mit wem spreche ich?«

»Ist da Carl Mørck?« Die Stimme sprach mit dem singenden Akzent der Bornholmer. Nicht gerade ein dänischer Dialekt, von dem Carl weiche Knie bekam. Eher schlechtes Schwedisch voller grammatikalischer Missverständnisse. Zu nichts zu gebrauchen – außer vielleicht auf diesem winzigen Eiland.

»Ja, hier ist Carl Mørck. Sagte ich das nicht gerade?«

Am anderen Ende hörte er ein Seufzen. Klang das jetzt irgendwie erleichtert?

»Du sprichst mit Christian Habersaat. Wir sind uns vor Ewigkeiten mal begegnet, aber daran erinnerst du dich bestimmt nicht.«

Habersaat?, dachte er. Auf Bornholm?

»Doch, äh, das war …«

»Das war vor Jahren, auf der Wache in Nexø, ich hatte gerade Dienst, als du mit einem Vorgesetzten kamst, um einen Inhaftierten abzuholen und nach Kopenhagen zu bringen.«

Carl zermarterte sich das Gehirn. An den Gefangenentransport erinnerte er sich gut, aber ein Kollege namens Habersaat?

»Ach ja, damals …« Er griff nach den Zigaretten.

»Entschuldige, dass ich dich störe. Hast du einen Moment Zeit? Ich habe von dem schwierigen Fall im Zirkus Bellahøj gelesen, den ihr gerade abgeschlossen habt. Kompliment. Aber: Ist das nicht frustrierend, wenn sich der Täter das Leben nimmt, ehe er vor Gericht gestellt wird?«

Carl zuckte die Achseln. Rose hatte sich geärgert, aber ihm war es mit Verlaub scheißegal. Ein Arschloch weniger, um das man sich kümmern musste.

»Der Fall ist ja wohl nicht der Grund deines Anrufs, oder?« Er steckte sich eine Zigarette an und legte den Kopf in den Nacken. Es war erst halb zwei, ein bisschen zu früh, um die Tagesration aufgebraucht zu haben. Vielleicht sollte er die Ration heraufsetzen.

»Doch, also ja und nein. Ich rufe wegen des Zirkus-Falls an und wegen all der anderen, die ihr in den letzten Jahren aufgeklärt habt. Sehr beeindruckend. Ich bin, wie gesagt, bei der Bornholmer Polizei und sitze derzeit in Rønne. Aber morgen werde ich pensioniert, Gott sei Dank.« Sein Lachen klang angestrengt. »Die Zeiten haben sich geändert, und da ist es nicht mehr so spannend, ich zu sein. Na ja, so geht es uns wohl allen. Noch vor zehn Jahren, da wusste ich über alles, aber wirklich alles Bescheid, was auf der Insel, vor allem an der Ostküste, passierte. Tja, und deshalb rufe ich auch an.«

Carl ließ den Kopf auf die Brust sinken. Falls der Mann die Absicht hatte, ihnen einen Fall zuzuschustern, dann musste dem sofort ein Riegel vorgeschoben werden. Er jedenfalls hatte keine Lust, für Nachforschungen auf eine Insel zu fahren, deren Spezialität Räucherfisch war und die näher an Polen, Schweden und Deutschland lag als an Dänemark.

»Rufst du an, weil wir uns einen Fall ansehen sollen? Denn dann, fürchte ich, muss ich dich zu den Kollegen in einer der oberen Etagen durchstellen. Das Sonderdezernat Q hat zurzeit leider keine Kapazitäten.«

Am anderen Ende war es still. Dann wurde aufgelegt.

Verdutzt starrte Carl den Hörer an. Ließ sich der Typ so leicht abwimmeln? Dann hatte er es nicht besser verdient.

Er wollte gerade kopfschüttelnd die Augen schließen, da klingelte es erneut.

Carl holte tief Luft, bei manchen Menschen musste man deutlich werden.

»Ja!«, brüllte er in den Hörer. Vielleicht legte der Idiot vor Schreck ja gleich wieder auf.

»Carl … bist du das?«

Mit der Stimme hatte er nun gar nicht gerechnet. Er runzelte die Stirn. »Mutter?«, fragte er vorsichtig.

»Du hast mich ja richtig erschreckt. Bist du heiser, mein Junge?«

Carl seufzte. Es war über dreißig Jahre her, dass er von zu Hause ausgezogen war. Seither hatte er sich mit Gewaltverbrechern befasst, mit Zuhältern, Brandstiftern, Mördern und nicht zuletzt jeder Menge Leichen in allen erdenklichen Stadien der Auflösung. Er war angeschossen worden. Sein Kiefer, sein Handgelenk, sein Privatleben und die ehrenwerten Ambitionen des jütländischen Provinzeis, das er gewesen war, hatten erheblich gelitten. Dreißig Jahre war es her, seit er zum letzten Mal Ackerkrume von den Holzschuhen gekratzt und sich geschworen hatte, fortan über sein Leben selbst zu entscheiden und Eltern Eltern sein zu lassen. Wie konnte es da sein, dass er sich nach einem einzigen mütterlichen Satz sofort wieder wie ein kleiner Junge fühlte?

Carl rieb sich die Augen und setzte sich etwas gerader hin. Das hier drohte ein langer Tag zu werden.

»Nein, Mutter, mir geht’s gut. Wir haben nur die Handwerker hier, da versteht man sein eigenes Wort nicht.«

»Ich rufe aus einem traurigen Grund an.«

Carl presste die Lippen zusammen und versuchte, ihren Tonfall zu ergründen. Würde sie ihm in der nächsten Sekunde erzählen, dass sein Vater gestorben war? Wo er, Carl, die beiden schon seit über einem Jahr nicht mehr besucht hatte?

»Ist Vater tot?«

»Gott bewahre, nein!« Sie lachte. »Der sitzt neben mir und trinkt Kaffee. Er war gerade noch im Stall bei den Ferkeln. Nein, dein Cousin Ronny ist gestorben.«

»Ronny? Tot? Wie denn das?«

»Drüben in Thailand. Während er massiert wurde. Sind das nicht schreckliche Nachrichten an einem so schönen Frühlingstag?«

In Thailand, während einer Massage. Ja, damit musste man rechnen.

Carl kramte in seinem Gehirn nach einer einigermaßen passenden Antwort. Dass die ganz automatisch kam, überraschte ihn selbst am meisten. »Doch, ja, schrecklich.« Mit aller Macht schob er den sich aufdrängenden Anblick des unansehnlichen, feisten Körpers von sich.

»Sammy fliegt morgen rüber, um ihn und seine Sachen zu holen. Man sollte doch lieber alles einsammeln, ehe es in alle Winde verstreut wird«, sagte sie. »Sammy ist immer so praktisch.«

Carl nickte. Wenn sich Ronnys Bruder der Angelegenheit annahm, würde das ein typisch jütländisches Vorsortieren werden: den ganzen Mist auf einen Haufen und alles andere in den Koffer.

Er sah Ronnys Ehefrau vor sich. An und für sich eine brave kleine Thailänderin, die Besseres verdient hatte. Aber wenn Ronnys Bruder erst mal da gewesen war, würde ihr nicht viel mehr bleiben als ein paar ausgeleierte Unterhosen.

»Mutter, Ronny war verheiratet. Ich glaube nicht, dass Sammy damit rechnen kann, Ronnys Kram so ohne Weiteres einzukassieren.«

»Ach, du kennst doch Sammy.« Sie lachte. »Er bleibt im Übrigen zehn bis zwölf Tage dort. Wenn man schon so weit reist, sagt er, kann man sich doch gleich ein bisschen die Sonne auf den Pelz brennen lassen. Wo er recht hat, hat er recht. Ein pfiffiger Kerl, unser Sammy.«

Carl nickte. Der einzig signifikante Unterschied zwischen Ronny und seinem kleinen Bruder waren ein Vokal und drei Konsonanten. Wohl niemand würde auf die Idee kommen, die Verwandtschaft zu bezweifeln, denn die beiden glichen sich wie zwei Tropfen Rotz. Und wenn je einem Filmproduzenten ein großmäuliger, selbstbezogener und komplett unzuverlässiger Dandy mit buntem Hemd fehlen würde, wäre Sammy die Idealbesetzung.

»Die Bestattung findet am 10. Mai hier in Brønderslev statt. Das ist ein Samstag. Wir freuen uns schon sehr, dich mal wieder zu sehen, mein Junge«, fuhr seine Mutter fort. Und während sie ihm dann wie immer ausführlich vom Familienleben auf dem Lande berichtete, von der Schweinezucht, von Vaters knirschender Hüfte, von der Unfähigkeit der Politiker und anderen deprimierenden Themen, wanderten Carls Gedanken zu Ronnys letzter Mail.

Diese Mail war ganz entschieden als Drohung gemeint gewesen, was Carl über das normale Maß hinaus beunruhigt hatte. Wollte Ronny ihn mit dem Quatsch erpressen? War sein Cousin nicht genau der Typ für so was? Und fehlte ihm nicht immerzu Geld? Musste er sich jetzt aufs Neue mit Ronnys lächerlicher Behauptung befassen? Natürlich war das alles kompletter Nonsens, aber wenn man im Land des Hans Christian Andersen lebte, wusste man, wie schnell aus einer kleinen Feder fünf Hühner werden konnten. Und fünf Hühner waren in einer Position wie der seinen und mit einem Chef wie Lars Bjørn das Letzte, was Carl brauchte.

Was hatte dieser Versager von einem Cousin im Sinn gehabt? Immer wieder hatte der Idiot in unterschiedlichsten Zusammenhängen hinausposaunt, er, Ronny, habe seinen Vater bei einem Angelausflug umgebracht. Das allein war schon bekloppt genug. Aber noch schlimmer war, dass er öffentlich erklärt hatte, Carl sei dabei gewesen und habe mitgemacht. Damit hatte er Carl definitiv in die Sache reingeritten. In der bewussten letzten Mail hatte Ronny ihm dann mitgeteilt, er habe alles in Buchform festgehalten und bemühe sich gerade um eine Veröffentlichung.

Seither hatte Carl nichts mehr gehört. Aber das alles war eine ausgemachte Scheiße und musste schleunigst ein Ende finden. Erst recht jetzt, wo der Mann tot war.

Carl griff nach den Zigaretten. Dass er zu der Beerdigung musste, war keine Frage. Bei der Gelegenheit würde sich ja zeigen, ob Sammy Ronnys Frau hatte überreden können, etwas von dem Erbe abzugeben. Außerdem hörte man ja immer wieder von Erbschaftsangelegenheiten im Fernen Osten, die ein gewaltsames Ende fanden. Da konnte man vielleicht hoffen, dass sich das wiederholte. Doch die kleine Tingeling, oder wie Ronnys Frau noch mal hieß, schien aus anderem Holz geschnitzt zu sein. Das ihr Zustehende würde sie bestimmt behalten, außerdem alles, was ihr unterm Strich etwas einbrachte. Aber den Rest würde sie sicher weggeben. Nicht unwahrscheinlich, dass darunter auch besagte Zeugnisse von Ronnys literarischer Karriere waren.

Doch, ja, er musste damit rechnen, dass Sammy die Aufzeichnungen mit nach Dänemark brachte. In dem Fall bliebe Carl nichts anderes übrig, als den Kram schnellstmöglich aus dem Verkehr zu ziehen, bevor er an sämtliche Familienmitglieder verschickt wurde.

»Ronny war in letzter Zeit ziemlich wohlhabend, wusstest du das, Carl?«, hörte er die Stimme seiner Mutter.

Carls Augenbrauen schnellten in die Höhe. »Ach, tatsächlich? Na, dann wird er wohl mit Drogen gehandelt haben. Du bist dir ganz sicher, dass er sein Ende auf einer Massageliege fand – und nicht hinter dicken thailändischen Gefängnismauern, mit dem Kopf in einer Schlinge?«

Sie lachte. »Ach, Carl, du warst schon immer ein Witzbold.«

 

Carl hatte kaum aufgelegt, da stand Rose bei ihm in der Tür. Angeekelt wedelte sie den Zigarettenrauch weg.

»Carl, hast du mit einem Polizeiassistenten namens Habersaat gesprochen? Vor etwa zwanzig Minuten?«

Er zuckte die Achseln. Der Anruf beschäftigte ihn momentan eher weniger. Was Ronny wohl über ihn geschrieben hatte?

»Dann sieh dir das hier mal an.« Sie knallte ein Blatt Papier auf seinen Schreibtisch.

»Vor zwei Minuten habe ich diese Mail bekommen. Solltest du den Mann nicht schleunigst anrufen?«

Die zwei Sätze der Mail sorgten dafür, dass die Stimmung im Büro noch weiter in den Keller ging.

Das Sonderdezernat Q war meine letzte Hoffnung. Jetzt kann ich nicht mehr.

C. Habersaat

Carl blickte auf. Wie der personifizierte Vorwurf stand Rose vor ihm, ein einziges empörtes Kopfschütteln. Diese Art konnte er an ihr überhaupt nicht leiden, aber es war ihm immer noch lieber als zwei Minuten Geschrei und schriller Alarm. Das konnte Rose nämlich auch. Doch im Grunde funktionierte es zwischen ihnen ganz gut, und eigentlich war Rose ja okay. Auch wenn »eigentlich« manchmal ein ziemlich dehnbarer Begriff sein konnte.

»Hm. Deine Zuständigkeit, würde ich sagen. Schließlich hast du die Mail gekriegt. Sobald du was in Erfahrung gebracht hast, kannst du gerne wiederkommen.«

Sie krauste die Nase, sodass die weiße Puderschicht in ihrem Gesicht Risse bekam. »Als hätte ich nicht gewusst, wie du reagieren würdest. Natürlich habe ich sofort zurückgerufen. Aber da lief nur der Anrufbeantworter.«

»Na, dann wirst du wohl eine Nachricht hinterlassen haben, oder?«

Über ihrem Kopf war eine dunkle Wolke erschienen, und die blieb drohend dort hängen.

Fünfmal hatte sie angerufen, aber der Mann antwortete einfach nicht.

2

Mittwoch, 30. April 2014

Empfänge zur Verabschiedung von Kollegen fanden üblicherweise im Präsidium in Rønne statt, aber genau das hatte Christian Habersaat nicht gewollt. Seit die Polizeireform in Kraft getreten war, hatte sich sein enger Kontakt zur Bevölkerung verflüchtigt. Längst war er nicht mehr über alles informiert, was an der Ostküste passierte. Man war nur ewig von Ost nach West unterwegs, und ehe die Polizei auf ein Verbrechen reagieren durfte, mussten endlose zwischengeschaltete Entscheidungsprozesse abgewartet werden. Wie viel kostbare Zeit ging dadurch verloren – Zeit, in der Täter entkommen und Spuren beseitigt werden konnten.

»Es herrschen rosige Zeiten für Kriminelle«, pflegte er zu sagen – als wenn irgendwer das hören wollte.

Habersaat waren die allermeisten Entwicklungen, die die Gesellschaft nahm, zuwider – im Kleinen wie im Großen. Und Kollegen, die das System guthießen und im Übrigen von nichts eine Ahnung hatten, schon gar nicht von ihm und seinen vierzig Dienstjahren, die sollten nicht wie blökende Schafe bei seiner Verabschiedung herumstehen und feierlich tun.

Daher hatte er verfügt, dass seine Verabschiedung im lokalen Rahmen im Bürgerhaus von Listed stattfinden solle, nur sechshundert Meter von seiner Wohnung entfernt. Das passte in jeder Hinsicht besser zu dem, was er zu diesem Anlass plante.

In Paradeuniform stand er vorm Spiegel und musterte sich. Jahrelang hatte die Uniform ungenutzt im Schrank gehangen. Also bürstete er sie ab, klappte zum ersten Mal überhaupt das Bügelbrett auf und dämpfte sorgfältig, aber ungeschickt die Hose. Derweil ließ er den Blick durch das früher so gemütliche Wohnzimmer wandern.

Fast zwanzig Jahre waren vergangen, und seither hauste die Vergangenheit wie ein ruheloses Tier zwischen dem ganzen Plunder, für den sich keiner interessierte.

Habersaat schüttelte den Kopf. Zurückblickend verstand er sich selbst nicht. Warum hatte er zugelassen, dass Aktenordner mit farbigen Rückenschildern die Regale füllten statt guter Bücher? Warum hatte er sein Leben der Arbeit gewidmet und nicht den Menschen, die ihn einmal geliebt hatten?

Selbstverständlich wusste er, warum.

Er senkte den Kopf und wollte den Gefühlen, die ihn übermannten, freien Lauf lassen. Doch es kamen keine Tränen, vielleicht weil er sie schon vor langer Zeit vergossen hatte. Inzwischen waren sie versiegt. Natürlich war ihm bewusst, warum sich alles so entwickelt hatte. Aber was nützte ihm diese Erkenntnis? Es wäre doch gar nicht anders gegangen.

Nachdem er ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, breitete er die Uniform auf dem Esstisch aus, nahm ein gerahmtes Foto von der Wand und streichelte es, wie er es schon unzählige Male getan hatte. Wenn er doch die vergeudete Zeit zurückholen könnte. Wenn er doch seine Entscheidungen noch einmal neu treffen und noch einmal die Nähe seiner Frau und seines Sohns spüren könnte.

Er seufzte. Auf diesem Sofa hatte er mit June geschlafen. Auf dem Teppich hatte er mit Bjarke gespielt, als der noch ganz klein war. Aber in diesem Zimmer hatten auch zunehmend die Streitereien stattgefunden, und hier hatte sich seine Schwermut eingenistet und war gewachsen.

Hier hatte ihm seine Frau erst ins Gesicht gespuckt und ihn dann verlassen. Hier war er in dem Bewusstsein zurückgeblieben, dass er über einen banalen Fall gestolpert war und darüber sein Glück verloren hatte.

Damals, als alles anfing, hatte er sich wie ausgeknockt gefühlt. Ein permanenter Zustand von Missmut hatte sich seiner bemächtigt. Und trotzdem hatte er nicht von dem Fall lassen können.

Jäh riss sich Habersaat aus seinen Erinnerungen. Er klopfte auf einen der vielen Stapel mit Zeitungsausschnitten und Notizen, leerte den Aschenbecher in den Mülleimer und trug ihn mit den scheppernden leeren Konservendosen der letzten Woche nach draußen.

Er zog die Paradeuniform an, überprüfte ihren Sitz und klopfte ein letztes Mal auf die Jackentaschen, um sich zu vergewissern, dass er alles dabeihatte.

Dann zog er die Tür hinter sich zu.

 

Habersaat hätte erwartet, dass trotz allem ein paar mehr Menschen zum Empfang erscheinen würden. Menschen, denen er im Lauf der Jahre beigestanden hatte, in persönlichen Krisen, bei Nachbarschaftsquerelen oder sonstigem Ärger. Auf jeden Fall hatte er mit einigen pensionierten Kollegen der Schutzpolizei von Nexø gerechnet und vielleicht auch mit dem einen oder anderen ehemaligen Gemeinderatsmitglied. Aber als er sah, dass außer den paar Bekannten, die er persönlich eingeladen hatte, lediglich der Bürgervorsteher und der stellvertretende Zuständige für Wirtschaftsfragen, der Polizeipräsident, seine nächsten Vorgesetzten sowie ein Abgeordneter der Polizeigewerkschaft pflichtschuldig erschienen waren, entschied er sich gegen die Langversion seiner vorbereiteten Rede.

»Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, dass Sie gekommen sind«, sagte er und gab seinem Fast-Nachbarn Sam mit einem Nicken zu verstehen, dass er nun mit dem Filmen beginnen könne. Dann schenkte er Weißwein in Plastikgläser ein und füllte Erdnüsse und Chips in Schalen. Keiner bot ihm seine Hilfe an.

Er trat einen Schritt vor und forderte die Anwesenden auf, sich ein Glas zu nehmen. Während sie sich im Halbkreis aufstellten, entsicherte er mit einem Griff in die Tasche seine Pistole.

»Sehr zum Wohl, meine Herrschaften«, sagte er und nickte jedem Einzelnen zu. »Zum Abschluss noch mal gute Miene machen, was?« Er lächelte. »Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, dass Sie gekommen sind. Sie, die Sie alle noch bei klarem Verstand sind, wissen, was ich durchgemacht habe. Sie wissen, dass ich einmal war wie alle anderen, insbesondere wie die meisten meiner Kollegen bei der Polizei. Dass ich früher ein ruhiger und umgänglicher Typ war, der schon mal einen Fischer mit zu viel Adrenalin im Blut und einer zerbrochenen Bierflasche in der Faust überreden konnte, sie rauszurücken. Stimmt’s?«

Sam hob den Daumen und hielt ihn vor die Kamera. Aber nur einer der anderen nickte. Immerhin schienen einzelne der zu Boden gerichteten Blicke Zustimmung zu signalisieren.

»Natürlich tut es mir leid, dass ich nach vierzig Dienstjahren vor allem als der in Erinnerung bleiben werde, dessen Kerze wegen eines hoffnungslosen Falls von beiden Enden brannte. Was mich meine Familie, meine Lebensfreude und viele Freundschaften gekostet hat. Dafür möchte ich mich entschuldigen, ebenso wie für meine Bitterkeit über so viele Jahre hinweg. Es tut mir leid, dass ich nicht rechtzeitig aufgehört habe.«

Nun wandte er sich seinen Vorgesetzten zu. Sein Lächeln verschwand, und er steckte die Hand in die Tasche. »Euch jüngeren Kollegen möchte ich eins sagen. Ihr seid noch so neu im Geschäft, euch kann man für die Widrigkeiten nicht kritisieren, mit denen ich zu kämpfen hatte. Ihr erledigt eure Arbeit einwandfrei und genau so, wie die Politiker ohne Sachverstand es von euch erwarten. Aber nicht nur ich vermisste den Rückhalt etlicher älterer Kollegen, eurer Vorgänger. Auch eine junge Frau wurde von ihnen im Stich gelassen, durch Gleichgültigkeit und mangelnden Einsatz. Für ein solches System, dessen Repräsentanten ihr heute seid, habe ich nur noch Verachtung übrig. Ein System, das nicht imstande ist, die ordnungsgemäße Erfüllung der polizeilichen Aufgaben zu gewährleisten. Heutzutage zählen allein die Statistiken und nicht, ob man den Dingen wirklich auf den Grund gegangen ist. Daran habe ich mich nie gewöhnen können.«

Wie nicht anders zu erwarten, protestierte der Vertreter der Polizeigewerkschaft leise und halbherzig. Ein anderer monierte den vermeintlich unpassenden Ton an ausgerechnet diesem Tag.

Habersaat nickte. Sie hatten ja recht. Der Ton war unpassend, genau wie auch sonst das meiste, mit dem er ihnen viele Jahre lang in den Ohren gelegen hatte. Das musste ein Ende haben. Es musste ein Schlussstrich gezogen und ein Exempel statuiert werden, eines, das die Kollegen niemals vergessen würden. Gern tat er es nicht, aber es war an der Zeit.

Mit einem Ruck zog er die Pistole aus der Jackentasche. Die Anwesenden im Raum erstarrten.

Einen Moment lang ließ er die Angst und das Entsetzen seiner Vorgesetzten auf sich wirken, während er die Pistole auf sie richtete.

Dann ließ er den Dingen ihren Lauf.

3

Mittwoch, 30. April 2014

Die Nacht war so beschissen gewesen wie immer. Carl knallte im Büro als Erstes die Beine auf den Schreibtisch, um ein bisschen Schlaf nachzuholen. Nachdem die letzten Fälle abgeschlossen waren, hatten sich die darauffolgenden Wochen zu einem diffusen Brei widerstreitender Gefühle vermischt. Die Wintermonate waren privat ziemlich finster gewesen, und dann noch dieser Zwang, sich Lars Bjørns Autorität unterordnen zu müssen: Drei Jahre ging das jetzt schon so. »Lustig« war anders. Gewöhnung? Sein Widerwille wurde von Tag zu Tag größer. Und jetzt auch noch diese Geschichte mit Ronny und seinem Scheißgeschmiere. Nachtschlaf? Ja, wie denn!? Der Tag danach war dann ja auch immer entsprechend. Er hatte keine Ahnung, wie er das auf lange Sicht durchhalten sollte.

Wahllos zog er eine der Akten aus dem Stapel, legte sie sich auf den Schoß und nahm einen Kuli in die Hand. Inzwischen hatte er verschiedene Haltungen ausprobiert und wusste, wie er es vermeiden konnte, den Stift fallen zu lassen, wenn er mal kurz einnickte. Trotzdem fiel der Kuli jetzt geräuschvoll zu Boden: Roses Gekreische grenzte wirklich an Körperverletzung.

Ein müder Blick auf die Uhr zeigte Carl, dass er doch fast eine Stunde weg gewesen war. Nicht schlecht.

Er reckte sich und versuchte, Roses säuerliche Miene bestmöglich zu ignorieren. Dann legte er die Akte auf den Schreibtisch und hob den Kuli auf.

»Ich hatte gerade Kontakt mit der Polizei in Rønne«, sagte sie. »Der Grund dafür wird dich nicht allzu sehr erfreuen.«

»So.«

»Also, pass auf: Vor einer Stunde kam Polizeiassistent Christian Habersaat ins Bürgerhaus von Listed. Da fand der Empfang zu seiner Verabschiedung statt. Vor fünfzig Minuten entsicherte er seine Pistole und schoss sich in den Kopf. Vor den Augen der entgeisterten Gäste.«

Carls Augenbrauen schossen in die Höhe, und Rose nickte.

»Tja, Carl, ganz schön beschissen, um’s mal vorsichtig auszudrücken, was?«, kommentierte sie unnötigerweise. »Sobald der Polizeichef wieder in seinem Büro in Rønne ist, weiß ich mehr, der war auch dabei. In der Zwischenzeit versuche ich mal, uns auf den nächsten Flug zu buchen.«

»Okay, das ist ja nun wirklich bedauerlich. Aber was faselst du da von einem Flug? Wohin willst du fliegen, Rose?« Carl bemühte sich, verständnislos auszusehen, obwohl er ahnte, worauf das hinauslief. Etwas, das er jetzt echt nicht brauchte! »Das mit diesem Haber-Laber ist tragisch, keine Frage. Aber wenn du glaubst, dass ich mich deshalb in eine fliegende Sardinenbüchse nach Bornholm quetsche, dann täuschst du dich. Außerdem …«

»Wenn du Schiss hast zu fliegen«, unterbrach ihn Rose, »dann sieh zu, dass du Tickets für die Schnellfähre nach Rønne kriegst, Abfahrt zwölf Uhr dreißig von Ystad. Kannst dich selber drum kümmern, während ich mit dem Polizeichef telefoniere. Immerhin ist es deine Schuld, dass wir überhaupt ausrücken müssen. Ich sag Assad kurz Bescheid, dass er mit dem Farbgekleckse im Assistentenzimmer aufhören kann und sich fertig machen soll.« Rose funkelte ihn an, als hätte er höchstpersönlich Habersaat erschossen.

Carl kniff die Augen zusammen. War er wach oder träumte er?

 

Weder die Fahrt vom Präsidium nach Ystad durch das frühlingshafte Schonen noch die anderthalbstündige Überfahrt nach Bornholm hatten Rose irgendwie besänftigen können.

Carl hatte sein Gesicht kurz im Rückspiegel betrachtet. Wenn er nicht aufpasste, würde er bald aussehen wie sein Großvater mütterlicherseits, mit matten Augen und glanzloser Haut.

Dann hatte er den Spiegel verstellt und freie Aussicht auf Roses Vulkanausbruchsmiene gehabt.

»Warum hast du nicht mit ihm geredet, Carl?« Nachdem sie diese Frage zum x-ten Mal in ihrem vorwurfsvollsten Ton vom Rücksitz nach vorn geworfen hatte, wünschte er sich eine Scheibe wie im Taxi, die man einfach zuschieben konnte.

Jetzt hockten sie in der Cafeteria des Riesenkatamarans und blickten aufs Meer. Der aus Sibirien herüberfegende Wind sorgte für Schaumkronen auf den Wellen, die Assad mit wachsender Skepsis beäugte. Aber die Kälte des schneidenden Ostwinds war nichts gegen Rose: »Dein Verhalten gegenüber Habersaat, Carl, würde man in weniger toleranten Kreisen durchaus als Amtspflichtsverletzung bezeichnen …«

Carl gab sich alle Mühe, sie zu ignorieren. Schließlich war Rose trotz allem Rose.

»… wenn nicht sogar als fahrlässige Tötung«, fuhr sie fort, und da platzte Carl der Kragen.

»Jetzt reicht’s aber!« Mit einem Knall landete seine Faust auf dem Tisch, dass die Gläser und Flaschen klirrten.

Nicht das gefährliche Funkeln in Roses Augen bremste ihn, sondern Assad. Der nickte den Gästen der Cafeteria zu, deren Kuchengabeln auf halbem Weg zum Mund in der Luft hingen, während sie zu ihnen herüberstarrten.

»Die, äh, die proben gerade«, entschuldigte er sich mit einem Lächeln in die Runde. »Ein Theaterstück. Aber der Schluss wird nicht verraten, das verspreche ich!«

Ein paar der Gaffer grübelten ganz offensichtlich, wo sie diese Schauspieler schon mal gesehen hatten.

Carl lehnte sich über den Tisch und versuchte jetzt doch, den Ton zu dämpfen. Alles in allem war Rose ja okay. Wie oft war sie nicht im Lauf der Jahre für Assad und ihn da gewesen? Und wie sie sich im Fall Marco vor drei Jahren um ihn gekümmert hatte, als er kurz vor einem veritablen Burn-out stand, rechnete er ihr immer noch hoch an. Man musste nur vermeiden, an ihren Eigentümlichkeiten herumzumäkeln, dann funktionierte sie ganz gut. Klar, sie war manchmal ein bisschen instabil. Aber zu mehr Stabilität verhalf man ihr nicht, indem man ihre Schläge erwiderte. Man musste sie abfedern, sonst verfestigte sich alles nur.

Er holte tief Luft. »Rose, bitte hör mir zu. Du darfst nicht glauben, dass mir nicht leidtut, was passiert ist. Aber darf ich dich daran erinnern, dass es allein Habersaats Entscheidung war? Schließlich hätte er ja zurückrufen können. Oder drangehen – du hast ihn ja angerufen. Wir hatten doch gar keine Ahnung, was er von uns wollte, sonst wären wir doch sofort … oder etwa nicht, Fräulein Päpstlicher-als-der-Papst?«

Er versuchte ein versöhnliches Lächeln, aber Roses Blick blieb vernichtend. Okay, die letzte Bemerkung hätte er sich wahrscheinlich schenken können.

Zum Glück kam Assad einer Vertiefung des Dialogs zuvor.

»Rose, ich verstehe dich ja. Aber Habersaat hat sich das Leben genommen, daran können wir jetzt nichts mehr ändern.« Abrupt hielt er inne, schluckte ein paar Mal und blickte dann irgendwie traurig über die Wellenkämme. »Wollen wir nicht einfach versuchen herauszufinden, warum er das getan hat?« Er klang richtig matt. »Sind wir nicht deshalb auf diesem sonderbaren Schiff unterwegs nach Bornholm?«

Rose nickte, aber Lachfältchen in ihrem Gesicht konnten nur Kenner ausmachen. Sie war die perfekte Schauspielerin.

Carl blickte Assad dankbar an und ließ sich zurücksinken. Assads Gesichtsfarbe changierte in Sekundenbruchteilen von nahöstlicher Glut über bleigrau bis ins Grünliche. Der Ärmste. Aber was konnte man von jemandem erwarten, der schon auf einer Luftmatratze im Swimmingpool seekrank wurde?

»Seefahren ist nicht so mein Ding.« Assad sprach verdächtig leise.

»Draußen auf den Toiletten gibt’s Kotztüten«, erklärte Rose trocken und zog einen Bornholm-Führer aus der Tasche.

Assad schüttelte den Kopf. »Nein, nein, geht schon. Das beschließe ich jetzt einfach.«

Langweilig wurde es mit den beiden nie.

 

Dänemarks mit Abstand kleinster Polizeibezirk mit eigenem Polizeipräsidenten und zirka sechzig Mitarbeitern war die Ostseeinsel Bornholm. Auf den knapp sechshundert Quadratkilometern der Insel gab es nur noch eine einzige Polizeiwache, die rund um die Uhr besetzt war. Sie allein war zuständig für die fünfundvierzigtausend Inselbewohner und die mehr als sechshunderttausend Touristen im Jahr. Bornholm war ein eigener Mikrokosmos mit seinen dunklen Äckern, den Klippen und Felsen und jeder Menge größerer und kleinerer Attraktionen, die lokale Touristenvereine als einzigartig hervorzuheben bemüht waren. Die größte Rundkirche, die kleinste, die älteste, die höchste, die rundeste. Alle Gemeinden mit etwas Selbstachtung hatten jeweils das, was die Insel zu dieser so unglaublichen Sehenswürdigkeit machte.

 

Auf der Wache baten die beiden hochgewachsenen Polizisten sie, einen Augenblick zu warten. Auf der Fähre, mit der sie gerade gekommen waren, hatte sich anscheinend ein Lkw mit großer Überlast befunden, da musste erst noch einiges geregelt werden.

Angesichts eines so kapitalen Vergehens muss selbstverständlich alles andere zurückstehen, dachte Carl und grinste. Genau da erhob sich einer der beiden Polizisten und deutete auffordernd auf die Tür, die sie nehmen sollten.

Im Besprechungsraum im ersten Stock empfing man sie mit Plunderteilchen und jeder Menge Kaffeetassen. Der Polizeipräsident hatte die Paradeuniform noch nicht abgelegt. Er ließ keinen Zweifel daran, wer hier das Sagen hatte, und machte kein Hehl daraus, dass ihr Kommen – selbst vor dem Hintergrund des tragischen Ereignisses – ihn doch erstaunte.

»Sie haben einen weiten Weg auf sich genommen«, begann er und meinte vermutlich einen »zu« weiten. »Nun ja. Unser Kollege Christian Habersaat hat seinen Abschied auf ziemlich dramatische Weise begangen«, fuhr er fort und wirkte nun tatsächlich erschüttert.

Carl sah das nicht zum ersten Mal. Dänische Polizeipräsidenten, die allesamt den akademischen Weg eingeschlagen und deshalb nie so richtig die Hände im Dreck gehabt hatten, reagierten oft extrem empfindlich, wenn die Hirnmasse eines Kollegen an die Wand spritzte.

Carl nickte. »Gestern Nachmittag habe ich einen Anruf von Christian Habersaat bekommen. Ich weiß nur, dass er mich für einen Fall interessieren wollte und dass ich vielleicht nicht hellhörig genug war. Deshalb sind wir hier. Ich vermute, wir werden Ihre Arbeit nicht stören, wenn wir besagten Fall mal etwas näher unter die Lupe nehmen. Das sehen Sie doch sicher genauso?«

Falls zusammengekniffene Augen und heruntergezogene Mundwinkel auf Bornholmisch »Ja« bedeuteten, war die Frage schon mal geklärt.

»Haben Sie eine Vorstellung, was er in seiner Mail gemeint haben könnte mit der Bemerkung, das Sonderdezernat Q sei seine letzte Hoffnung?«

Der Polizeipräsident schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hatte er eine, wollte aber nicht damit rausrücken. Für so etwas hatte er schließlich seine Leute.

Er winkte einen Polizisten herbei, ebenfalls in Paradeuniform. »Das ist Polizeikommissar John Birkedal. Er wurde auf der Insel geboren und kannte Habersaat lange vor meiner Zeit. John und ich und unser Personalvertreter waren die Einzigen von der Wache, die an Habersaats Abschiedsfeier teilgenommen haben.«

Assad streckte ihm als Erster die Hand hin. »Mein Beileid«, sagte er.

Etwas verdutzt ergriff Birkedal die Hand. Als er sich Carl zuwandte, kam dem der Blick bekannt vor.

»Tach, Carl. Long time no see.«

Carl versuchte mühsam, ein Stirnrunzeln zu unterdrücken.

Der Mann vor ihm war Anfang fünfzig, also etwa im gleichen Alter. Schnurrbart, bleischwere Lider … Herr im Himmel, wo hatte er ihn schon mal gesehen?

Birkedal lachte. »Klar, kannst du dich nicht an mich erinnern. Ich war im Jahrgang nach dir auf der Polizeischule draußen auf Amager. Wir haben zusammen Tennis gespielt – ich habe übrigens dreimal hintereinander gewonnen. Da hattest du dann irgendwann keine Lust mehr.«

War das Rose, die hinter ihm stand und feixte? Das wollte er um ihretwillen nicht hoffen.

»Na ja, also …« Carl probierte ein Lächeln. »Ach was, von wegen, keine Lust. Da war doch was mit dem Knöchel, oder?« Er konnte sich an überhaupt nichts erinnern. Falls er jemals Tennis gespielt hatte, so hatte er diesen Irrtum längst verdrängt.

»Na, das mit Christian, das war jedenfalls ein Schock«, beendete der Polizeikommissar von sich aus das Sportthema. »Man muss dazu vielleicht sagen, dass er schon seit Jahren schwermütig wirkte, obwohl wir hier auf der Wache davon sicher noch am wenigsten mitbekommen haben. Ich glaube auch nicht, dass wir irgendetwas Negatives über seine Arbeit sagen können. Oder, Peter?«

Der Polizeipräsident schüttelte den Kopf.

»Aber zu Hause in Listed muss es übel gewesen sein: Er war geschieden, lebte allein, war total verbittert wegen eines alten Falls. Den aufzuklären hatte er sich irgendwie zur Lebensaufgabe gemacht. Dabei war er ja nicht mal bei der Kripo. Das war eine belanglose Geschichte von Fahrerflucht, jedenfalls wurde das damals so gesehen. Obwohl – so belanglos war die Sache dann wohl doch nicht, denn der Unfall kostete ein junges Mädchen das Leben.«

»Fahrerflucht also, aha.« Carl sah aus dem Fenster. Diese Fälle kannte er, entweder hatte man sie ganz schnell aufgeklärt, oder man archivierte sie. Das würde ein kurzer Inselaufenthalt werden.

»Und den Fahrer des Wagens hat man nicht gefunden, stimmt’s?«, fragte Rose, während sie Birkedal die Hand gab.

»Genau. Hätte man ihn gefunden, würde Christian vermutlich noch leben. Aber ich muss jetzt leider los. Ihr könnt euch sicher vorstellen, dass wir nach dieser Geschichte ein paar Formalitäten zu erledigen haben. Von der Pressemeldung ganz zu schweigen, die müssen wir als Erstes angehen. Soll ich später noch mal im Hotel vorbeikommen? Da könnten wir in Ruhe reden.«

 

»Sie sind sicher die von der Polizei aus Kopenhagen«, stellte die Empfangsdame im Sverres Hotel leidenschaftslos fest. Routiniert wählte sie die Schlüssel zu den Zimmern aus, die mit Sicherheit zu den am wenigsten luxuriösen in ihrem Repertoire zählten. Rose hatte vermutlich wieder penetrant gefeilscht.

John Birkedal fanden sie in einem der kunstledernen Sessel im Raum hinter dem Speisesaal. Hier im ersten Stock hatte man den Industriehafen und die Rückseite des Supermarkts im Blick – ein wenig erfreuliches Panorama. Eigentlich fehlten nur noch zwei Schnellstraßen, dann wäre die Komposition perfekt. Alles in allem nicht der geeignetste Ort, um einen Reiseführer über diese an sich so märchenhafte Insel zu schreiben.

»Ich will ehrlich sein. Ich konnte Habersaat nicht ausstehen«, begann Birkedal. »Aber zuzusehen, wie sich ein Kollege in den Kopf schießt, weil er das Gefühl hatte, versagt zu haben, also das ist fast nicht auszuhalten. Ich habe in meinen Jahren bei der Polizei viel erlebt, aber dieses Bild werde ich nie mehr aus meinem Kopf bekommen. Das war einfach schrecklich.«

»Entschuldige, nur damit ich das gleich richtig verstehe«, unterbrach ihn Assad. »Er hat sich mit einer Pistole in den Kopf geschossen? Aber doch wohl nicht mit seiner Dienstpistole?«

Birkedal schüttelte den Kopf. »Nein, die hat er vorschriftsgemäß abgegeben, kurz bevor er seine ID-Karte und die Schlüssel für die Wache ausgehändigt hat. Die liegt im Waffenschrank. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, woher er die Pistole hatte. Aber es war eine 9mm Beretta 92. Ein schreckliches Teil, mit dem man normalerweise nicht herumrennt. Kennt ihr doch sicher aus ›Lethal Weapon‹, oder? Mel Gibson?«

Keiner antwortete.

»Na ja. Ist jedenfalls ziemlich groß und schwer. Als er sie aus der Tasche zog und auf den Polizeipräsidenten und mich zielte, da hab ich erst geglaubt, es sei eine Attrappe. Für dieses Ding hatte er ja gar keinen Waffenschein. Aber wir wissen, dass eine ähnliche Pistole vor fünf, sechs Jahren aus einem Nachlass verschwand. Ob das allerdings diese Waffe war, lässt sich nicht sagen, denn der damalige Besitzer hatte keine Papiere.«

»Ein Nachlass? 2009?« Rose lächelte ihn mit einem süßen Schmollmund an. Stand sie jetzt etwa auf Typen wie Birkedal?

»Ja. Einer der Lehrer an der Heimvolkshochschule starb während eines Kurses. Die Obduktion ergab, dass es ein natürlicher Tod war, der Typ hatte ein schwaches Herz. Aber als die Wohnung durchsucht wurde, wirkte Habersaat an diesem Todesfall über die Maßen interessiert. Der Verstorbene, ein Jakob Swiatek, hatte nach Aussagen früherer Schüler und Kollegen ein ziemliches Faible für Handfeuerwaffen. Mehr als einmal soll er Schülern eine Pistole gezeigt haben, die ihrer Beschreibung nach mit der übereinstimmen könnte, die Habersaat heute Morgen benutzt hat.«

»Ja, solche halbautomatischen Waffen sieht man nicht alle Tage, und da habe ich auch gleich noch eine Frage«, ging Assad dazwischen. »Handelte es sich bei der Beretta um das Standardmodell, oder war es eine 92S, 92SB oder 92F, FG oder FS? Eine 92A1 kann es nicht gewesen sein, die Serie gibt es erst seit 2010.«

Carl drehte sich entgeistert zu Assad um. War dem die Überfahrt ins Hirn gestiegen?

Birkedal schüttelte langsam den Kopf, er machte einen heillos überfragten Eindruck. Ob er die Sache wohl geklärt haben würde, ehe die Sonne über dem Hafen von Rønne untergegangen war?

»Hm. Vielleicht sollte ich mal kurz zusammenfassen, was Habersaats Problem war und was er die letzten Jahre durchgemacht hat?«, griff Birkedal den Faden wieder auf. »Ihr bekommt später die Schlüssel für sein Haus, dann könnt ihr auf eigene Faust weitermachen. Sie werden heute Abend an der Rezeption für euch hinterlegt. Ich habe mich mit dem Polizeipräsidenten besprochen, er gibt euch relativ freie Hand. Ich glaube, die Kollegen sind mit dem Haus schon fertig, ihr könnt also bald hinein. Aber wir mussten natürlich überprüfen, ob er einen Abschiedsbrief oder Ähnliches hinterlassen hat. Ach, wem sag ich das. Das ist ja euer täglich Brot.«

Assad nickte und hielt einen Finger hoch, aber Carl bremste ihn mit einem Blick. Mit was für einer Pistole sich der Kerl das Hirn rausgepustet hatte, war doch vollkommen egal. Denn was Carl anging, waren sie nicht zu diesem abgelegenen Außenposten gefahren, um aufzudecken, warum sich Habersaat das Leben genommen hatte. Nein, sie waren hier, damit Rose begriff, dass der Fall, von dem sie gewollt hätte, dass Carl ihn Habersaat von den Schultern nimmt, dass dieser Fall sie in Wahrheit einen feuchten Dreck anging.

Für die etwa fünfzig Teilnehmer, die siebzehn Jahre zuvor im Winterhalbjahr an der Heimvolkshochschule von Bornholm in den Kursen Musik, Glas, Acryl oder Ton eingeschrieben waren, war der 20. November 1997 ein ganz normaler Tag gewesen. Nichts habe die gute Stimmung getrübt, erklärte Birkedal. Eine ganz normale Gruppe junger Menschen, die Spaß miteinander hatten.

Noch wussten sie nicht, dass Alberte, das sanfteste, hübscheste und beliebteste Mädchen aus der Gruppe, an diesem Morgen ihr Leben gelassen hatte.

Erst am nächsten Tag fand man sie, und zwar so weit oben in einem Baum hängend, dass ihre Entdeckung reiner Zufall war. Der Mann, der seinen Blick genau in dem Moment nach oben richtete, als er mit dem Auto an diesem Baum vorbeifuhr, war Christian Habersaat, damals Polizeiassistent der Schutzpolizei in Nexø. Und damit hatte Habersaats persönliches Unglück seinen Lauf genommen.

Der Anblick des schlaffen Körpers, der kopfüber vom Baum herabhing, ließ ihn nie wieder los, ebenso wenig wie der Blick des Mädchens.

Sie hing im Baum infolge eines äußerst heftigen Autounfalls – so lautete die Erklärung, trotz magerer Belege. Vom Unfallverursacher fehlte bis heute jede Spur. Für Bornholm war das eine wirklich üble Geschichte, und sie unterschied sich erheblich von allen anderen bekannten Fahrerfluchtdelikten.

Man hatte nach Bremsspuren gesucht, aber keine gefunden. Man hatte gehofft, an der Kleidung des Mädchens Lackreste zu finden, aber das Fahrzeug hatte keinerlei Spuren daran hinterlassen. Man hatte Leute befragt, die an der Straße wohnten, aber niemand konnte irgendetwas Brauchbares beisteuern. Nur ein einziges Anwohnerpaar hatte gehört, wie ein Auto mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Landstraße gerast war.

Möglicherweise wegen verdächtiger Umstände oder weil keine anderen wichtigen Fälle drängten, leitete man daraufhin eine systematische Fahndung nach Fahrzeugen mit auffälligen Beulen in der Frontpartie ein. Und obwohl es eigentlich schon einen Tag zu spät war, inspizierte man eine Woche lang sämtliche Autos bei den Fährabfahrten nach Schweden und Kopenhagen, während man gleichzeitig alle zwanzigtausend Bornholmer Fahrzeuge zur Kontrolle nach Rønne und Nexø einbestellte.

 

Für die Menschen vor Ort war das lästig gewesen, aber sie hatten erstaunlich viel Verständnis gezeigt und darüber hinaus so aktiv mitgearbeitet, dass sich kein Tourist auf vier Rädern bewegen konnte, ohne dass seine Kühlerpartie argwöhnisch beäugt wurde.

Birkedal zuckte die Achseln. »Und das Resultat war trotz aller Anstrengungen gleich null.«

Die Mitglieder des Sonderdezernats Q sahen den Polizeikommissar mit müden Augen an. Wer hatte schon Lust, an einer Rechenaufgabe herumzudoktern, deren Ergebnis, wie auch immer man es anstellte, null ergab?

»Ihr wisst also mit Sicherheit, dass die Todesursache der Verkehrsunfall war?«, hakte Carl nach. »Könnte es nicht auch etwas anderes gewesen sein? Welche Rückschlüsse hat man denn bei der Obduktion aus den Verletzungen gezogen? Und was habt ihr am Unfallort selbst vorgefunden?«

»Es sieht so aus, als hätte sie noch eine ganze Weile gelebt, nachdem sie in den Baum geschleudert worden war. Ansonsten das Übliche: Frakturen, innere und äußere Blutungen. Und wir fanden das Fahrrad, das Alberte sich von der Heimvolkshochschule ausgeliehen hatte. Es lag tief im Gebüsch versteckt und war bis zur Unkenntlichkeit demoliert.«

»Sie war also mit dem Fahrrad unterwegs gewesen«, bemerkte Rose. »Habt ihr das Rad noch?«

Polizeikommissar Birkedal zuckte die Achseln. »Das ist siebzehn Jahre her, lange vor meiner Zeit. Nein, ich weiß es nicht. Höchstwahrscheinlich nicht.«

»Ich fände es schön, wenn du mir den Gefallen tätest, das herauszufinden«, säuselte Rose mit halb gesenkten Lidern.

Birkedals Kopf fuhr zurück. Wahrscheinlich war er ein anständiger und verheirateter Mann, der genau wusste, wann das Eis dünn wird.

»Warum ist man so überzeugt davon, dass sie in den Baum geschleudert wurde?«, kam es nachdenklich von Assad. »Kann sie nicht auch nach oben gezogen worden sein? Hat man nach Spuren von Tauwerk an den Ästen oberhalb der Leiche gesucht? Könnte dort möglicherweise ein Flaschenzug angebracht gewesen sein?«

Carl traute seinen Ohren nicht. Hatte Assad gerade die Worte »Tauwerk« und »Flaschenzug« benutzt? Wahrlich sonderbares Vokabular aus seinem Mund.

Birkedal nickte, die Fragen waren durchaus plausibel. »Nein, die Techniker fanden nichts, das darauf hingedeutet hätte.«

»Sie können sich einfach an der Kaffeekanne im Speisesaal bedienen«, bemerkte die an der Tür stehende Gastwirtin.

Sekundenbruchteile später glänzte es rabenschwarz in Assads Tasse, und den Zucker kippte er direkt aus der Zuckerdose dazu. Wie bewältigten seine armen, leidgeprüften Geschmacksknospen bloß all diese Herausforderungen?

Mit einem Kopfschütteln lehnten die anderen sein Angebot ab, ihnen einzuschenken.

»Sie wurde also angefahren. Wie kann es sein, dass auf der Straße nichts davon zu sehen war?«, fragte er und rührte um. »Man würde doch Bremsspuren erwarten? Hatte es geregnet?«

»Nein, nicht dass ich wüsste«, antwortete Birkedal. »In dem Bericht steht, dass die Fahrbahn einigermaßen trocken war.«

»Und wie erklärt man sich die Position der Leiche im Baum? Wie genau soll sie dort raufgekommen sein?«, fuhr Carl fort. »Hat man das gründlich rekonstruiert? Was weiß ich: Äste, die vom Körper auf dem Weg hinauf in die Krone nach oben geknickt wurden – oder so? Dasselbe gilt natürlich auch für die Lage des Fahrrads im Gebüsch.«

»Aus der Zeugenaussage eines älteren Ehepaars, das auf einem Hof hinter der Kurve etwas weiter unten wohnte, zog man den Schluss, dass am Morgen ein Fahrzeug mit hoher Geschwindigkeit von Westen durch die Kurve vor ihrem Wohnhaus gefahren sein muss. Die beiden Alten hatten das Fahrzeug nicht gesehen, aber sie hatten gehört, dass es direkt vorm Haus ungewöhnlich stark beschleunigte und in hohem Tempo auf die letzte Kurve zufuhr, wo der fragliche Baum stand.

Wir sind einigermaßen sicher, dass es sich dabei um den Wagen des Unfallbeteiligten handelte, der das Mädchen bei der Baumgruppe rammte und danach, ohne das Tempo zu drosseln, weiter auf die kreuzende Landstraße zuhielt.«

»Worauf stützt ihr diese Vermutung?«

»Auf die Zeugenaussage und auf die Erfahrungen der Techniker aus früheren Fällen, bei denen jemand angefahren wurde.«

»Aha.« Carl schüttelte den Kopf. All diese sich aufdrängenden Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten, all diese bekannten und unbekannten Parameter. Allein schon der Gedanke daran machte ihn müde. Und sein gemütlicher Schreibtisch im Präsidium war plötzlich so verdammt weit weg.

»Wer war das Opfer denn eigentlich?«, kam schließlich die unvermeidliche Frage, der point of no return, sobald man die Antwort kannte.

»Alberte Goldschmid. Trotz ihres eleganten Nachnamens war sie ein ganz normales Mädchen. Eine von denen, die in gebührender Entfernung von den Eltern das Leben und die Freiheit in vollen Zügen genießen. Sie war nicht gerade eine Männerfresserin, hatte aber wohl das eine oder andere am Laufen. Alles deutet jedenfalls darauf hin, dass sie die wenigen Wochen, in denen sie hier war, ziemlich intensiv nutzte.«

»Intensiv? Wie meinst du das?«, hakte Rose nach.

»Na ja, sie hatte nicht nur einen Mann.«

»Aha. War sie eigentlich schwanger?«

»Das Ergebnis der Obduktion war negativ.«

»Und nach fremder DNA an der Leiche zu fragen ist wohl überflüssig?«, fuhr sie fort.

»Es war 1997, das war drei Jahre, bevor das zentrale DNA-Register eingerichtet wurde. Ich glaube auch nicht, dass man überhaupt danach suchte. Nein. Man fand weder Sperma in oder auf ihr noch fremde Haut unter ihren Fingernägeln. Sie war so frisch wie eine, die gerade aus der Dusche kommt. Und das war sie wahrscheinlich auch, denn sie hatte sich auf ihr Rad geschwungen, noch bevor sich die übrigen Kursteilnehmer zum Frühstück versammelten.«

»Ihr wisst also tatsächlich nichts – habe ich das jetzt richtig verstanden?« Carl staunte. »Das hier ist die Geschichte von einem Mord im geschlossenen Raum, und Habersaat war euer lokaler Sherlock Holmes, der leider dieses Mal zu keinem Ergebnis kam.«

Wieder nur Achselzucken von Birkedal, was sollte er darauf auch antworten?

»Na gut.« Assad kippte den heißen, pappsüßen Kaffee in einem Zug runter. »Dann, glaube ich, können wir die Tafel aufheben.«

Hatte Assad das jetzt wirklich gesagt!?

Rose wandte sich unbeirrt Birkedal zu, wieder mit diesem zuckersüßen Blick. »Jetzt setzen wir drei uns erst mal in aller Ruhe hin und lesen das ganze Material, das du mitgebracht hast. Das wird wahrscheinlich eine Stunde dauern oder auch zwei. Und wenn wir damit fertig sind, machen wir uns ein bisschen schlau über Habersaat selbst und seine Nachforschungen.«

Da erschienen auf Birkedals stoischer Maske ein paar Lachfältchen. Es war ihm offensichtlich ziemlich schnuppe, was sie taten – solange sie ihn nicht mit hineinzogen.

»Glaubst du, wir finden was? Etwas, das ihr schon längst hättet finden sollen? Etwas, das uns dem Rätsel um das Mädchen im Baum näherbringt?« Sie ließ einfach nicht locker.

»Das weiß ich nicht, aber ich hoffe es. Kern des Ganzen ist doch wohl Habersaats Hypothese, dass es mehr war als fahrlässige Tötung mit Fahrerflucht. Für ihn war es Mord. Das versuchte er auf Teufel komm raus zu beweisen. Warum er sich dieser Sache so sicher war, weiß ich nicht. Aber es gibt Kollegen, die mehr dazu sagen können, ganz zu schweigen natürlich von Habersaats Exfrau.«

Er legte eine DVD-Hülle auf den Tisch. »So, ich muss jetzt wieder auf die Wache. Aber schaut euch dieses Video an. Dann wisst ihr, was ihr über seinen Tod wissen müsst. Einer von Habersaats Freunden, der auch zum Empfang eingeladen war, hat alles gefilmt. Er heißt Villy, aber er wird von allen Onkel Sam oder Sam genannt. Ich nehme an, ihr habt einen Laptop dabei, auf dem ihr das Video abspielen könnt? Viel Vergnügen, wenn man das so nennen kann.« Dann stand er abrupt auf.

Carl fiel auf, wie sich Roses Blick an sein durchtrainiertes Hinterteil heftete, als er ging.

Ein Blick, der kaum den Beifall von Birkedals Ehefrau gefunden hätte.

 

Habersaats Frau hatte die Vergangenheit so radikal hinter sich gelassen, dass sie nicht nur den Namen ihres Exmannes abgelegt hatte, sondern auch sonst alles Mögliche, das Erinnerungen hätte wachrufen können. Daraus machte sie kein Hehl, als Carl mit ihr zu telefonieren versuchte.

»Und falls Sie glauben, nur weil der Mann jetzt tot ist, wäre ich gewillt, seine und unsere privaten Katastrophen auszubreiten, dann haben Sie sich getäuscht. Christian hat sich in schweren Zeiten gegen die Familie entschieden, als ich und besonders sein Sohn ihn dringend gebraucht hätten. Jetzt hat er eben die Konsequenzen gezogen aus all seinen falschen Entscheidungen und sich feige per Selbstmord aus der Affäre gezogen. Wenn Sie mehr über die Leidenschaft seines Lebens erfahren wollen, müssen Sie woanders suchen. Bei mir sind Sie an der falschen Adresse.«

Carl blickte zu Rose und Assad, die ihm beide bedeuteten, er solle sich nicht abwimmeln lassen. Als wäre das nötig gewesen.

»Wollen Sie damit sagen, er sei in den Fall Alberte verliebt gewesen oder womöglich sogar in das Opfer selbst?«

»Ihr Bullen lasst nicht locker, wie? Ich hab doch gesagt, ihr sollt mich in Frieden lassen.«

Dann war ein Klicken zu hören.

»Sie wusste, dass jemand mithört«, erklärte Assad. »Wir hätten zu ihr fahren sollen, wie ich es gesagt habe.«

Carl zuckte die Achseln. Ja, vielleicht hatte er recht. Aber es war spät, und Carl fand immer, es gäbe zwei Arten von Zeugen, von denen man sich fernhalten müsse: die, die zu viel redeten, und die, die schwiegen.

Rose tippte auf ihren Notizblock. »Ich habe hier die Adresse von Habersaats Sohn Bjarke. Er hat ein Zimmer am Nordrand von Rønne gemietet. Wir könnten in zehn Minuten da sein. Gehen wir?«

Sie stand schon.

4

Das gepflegte Haus am Sandflugtsvej lag etwas zurückgesetzt von der Straße. Hier war alles aufeinander abgestimmt, von den französischen Balkonen über die Türklopfer und Messingschilder bis hin zum fein getrimmten Rasen. Demonstrative Statussymbole in der dänischen Provinz.

An der Tür stand nur ein Name, Nelly Rasmussen.

»Doch, Bjarke Habersaat wohnt hier.« Das Staubtuch steckte in ihrem Dekolleté, die Filterzigarette zwischen zwei affig gespreizten Fingern. »Aber rechnen Sie lieber nicht damit, dass er in der Stimmung ist, mit Ihnen zu sprechen.«

Unbeeindruckt überflog sie Carls Dienstausweis. Carl schätzte sie auf etwa fünfundfünfzig. Blauer Kittel, selbst gefärbte Dauerwelle mit Spliss und am Handgelenk eine sensationell verunglückte Tätowierung: Der wandelnde Beweis für das fehlgeschlagene Bemühen, irgendwie exotisch zu wirken.

»Meinen Sie nicht, dass Sie ihn nach diesem Schock erst mal in Ruhe lassen sollten? Immerhin hat sich sein Vater gerade umgebracht, Gott sei ihm gnädig.«

Assad trat einen Schritt vor. »Das ist ja wirklich rührend, wie Sie sich um Ihren Mieter kümmern. Aber was wäre, wenn wir einen letzten Brief seines Vaters für ihn hätten? Oder seine Mutter sich gerade auch noch das Leben genommen hätte? Oder sich nun herausstellen sollte, dass wir Bjarke wegen Brandstiftung verhaften müssen? Meinen Sie, es ist okay, wenn Sie hier auf Ihren High Heels Polizeibeamte am Vollzug ihrer Arbeit hindern?«

Ihr Gesicht geriet leicht aus den Fugen, während sie an Assads Wortschwall herumkaute. Als der ihr dann noch den Arm tätschelte und ihr gleichzeitig versicherte, wie groß sein Verständnis für ihr Mitgefühl mit dem armen Mieter sei, war ihre Verwirrung perfekt – oder zumindest so umfassend, dass sie die Türklinke losließ und Carl sofort seine Schuhspitze in den Türspalt schob.

»Bjarke«, rief sie etwas verhalten nach oben. »Du hast Besuch.« Sie sah die beiden Männer an. »Warten Sie kurz hier im Flur, bis er aufmacht, ja? Er ist wie gesagt nicht in bester Verfassung.«

Bjarkes schlechte Verfassung war schon auf der Hälfte der Treppe zu riechen. Es stank wie an einem Donnerstagabend in den Hasch-Cafés draußen in Nørrebro, wenn gerade die Stütze ausbezahlt worden war.

»Skunk«, sagte Assad. »Ein schöner, kräftiger Geruch. Nicht so hintergründig und säuerlich wie Haschisch.«

Carl runzelte die Stirn. Was für einen Klugscheißer hatte er denn da im Schlepptau? Skunk oder Hasch – der Gestank nach Verfall war so oder so deprimierend.

»Und vergessen Sie nicht anzuklopfen!«, kam es noch mal von unten.

Allerdings drang das offenbar nicht bis zu Assads Hörorganen vor, der hatte die Tür längst geöffnet und war erstarrt: Carl schob sich an ihm vorbei und sah sofort, warum.

»Hey, Rose, bleib da«, sagte er etwas zu laut und versuchte, sie zurückzuhalten.

In einem abgewetzten Sessel hing Bjarke mit einer Flasche Lösungsmittel in der Hand.

Er war nackt. Und er war tot. Das war selbst in dieser von Haschischschwaden geschwängerten Luft zu erkennen. Der Sessel stand in einer Lache Blut, das aus seinen Pulsadern tropfte. Seine halb offenen Augen hatten einen träumerischen Ausdruck. Es war kein schwerer Tod gewesen.

»Du hast keinen Skunk gerochen, Assad, sondern bloß Hasch plus Lösungsmittel.«

»Jetzt macht schon, was ist denn?«, fauchte Rose von hinten und versuchte, sich zwischen den beiden Männern hindurchzuquetschen.

»Bleib einfach, wo du bist, Rose, das ist wirklich kein schöner Anblick. Bjarke ist tot, okay? Eine totale Sauerei hier, überall Blut. Wirklich, ich habe in meiner Karriere noch nie so viel Blut aus dem Körper eines einzelnen Menschen fließen sehen.«

Assad schüttelte den Kopf. »Du hast WAS nicht, Carl? Na, dann hab ich wohl schon ein paar Tote mehr gesehen als du.«

 

Es dauerte, bis die Techniker kamen und der Arzt, der den Totenschein ausstellen sollte. Derweil klammerte sich Bjarkes Hauswirtin an die drei vom Sonderdezernat Q und jammerte ihnen etwas vor. Wie konnte etwas so Entsetzliches in ihr beschauliches Dasein einbrechen? Wie sollte sie bloß den Teppichboden erstattet bekommen und den Sessel, wo sie dafür doch keine Quittungen mehr hatte?

Als ihr am Ende doch ins Bewusstsein drang, dass sie im Erdgeschoss Staub gewischt hatte, während sich ihr Mieter die Pulsadern aufgeschnitten hatte, da blieb ihr die Luft weg, und sie musste sich setzen.

»Und wenn ihn nun jemand umgebracht hat?«, flüsterte sie immer wieder.

»Dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Es sei denn, Sie hätten etwas Ungewöhnliches gehört. Haben Sie in den letzten Stunden irgendwelche Fremden auf der Treppe gesehen? Oder kann man das Zimmer von der Hausrückseite erreichen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Und ich darf davon ausgehen, dass Sie selbst es nicht getan haben?«, fuhr Carl fort.

Nelly Rasmussens Gesichtszüge entgleisten nun vollends, und sie verfiel in Schnappatmung.

»Gut«, sagte Carl. »Dann hat er sich die Pulsadern aufgeschnitten. Er war in einem Zustand, in dem man zu fast allem fähig ist.«

Sie presste die Lippen zusammen, hatte sich aber schnell wieder gefangen und murmelte allerlei Unverständliches vor sich hin. Schließlich wollte sie wissen, ob sie sich womöglich strafbar gemacht hätte, weil sie an jemanden vermietet hatte, der euphorisierende Pilze auf der Fensterbank zog und zwischen sich und seine Atemluft am liebsten ein Shillum schaltete.

An dem Punkt überließ Carl die Frau den beiden Kollegen und ging vors Haus. Im herrlichsten Sonnenschein zündete er sich eine Zigarette an.

 

Die Durchsuchung von Bjarkes Zimmer, die Beschlagnahmung seines Computers und des Messers, mit dem er sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte, das Sammeln technischer Daten, die Leichenschau und der Abtransport der Leiche gingen verblüffend schnell über die Bühne. Carl hatte sich erst die fünfte Zigarette angesteckt, als Birkedal mit einem weiteren Ermittler und einem Techniker zu ihm trat und mit einer Plastiktüte wedelte, in der ein Blatt Papier lag.

Carl las laut vor. »Entschuldige, Vater«, mehr stand nicht auf dem Zettel.

»Sonderbar«, kommentierte Assad.

Carl nickte. Die kurze und direkte Form des Abschieds war irgendwie rührend. Aber warum stand da nicht »Entschuldige, Mutter«? Anders als ihr Exmann hätte sie mit der Botschaft noch etwas anfangen können.

Carl sah Rose an. »Wie alt war Bjarke?«

»Fünfunddreißig.«

»Dann war er 1997, als sein Vater anfing, sich mit dem Fall auseinanderzusetzen, gerade mal achtzehn. Hm.«

»Habt ihr schon mit June Habersaat gesprochen?«, unterbrach ihn Birkedal.

»Äh, gesprochen? Na ja. Sie war etwas spröde.«

»Na, dann gebe ich euch die Gelegenheit, es noch einmal zu versuchen.«

»Aha. Und wie das?«

»Ihr könntet doch nach Aakirkeby fahren und sie vom Tod ihres Sohnes unterrichten. Bei der Gelegenheit könnt ihr sicher alle Fragen loswerden, die euch unter den Nägeln brennen. Und wir haben mehr Zeit, das Zimmer zu verplomben und den Abtransport des Leichnams zur Rechtsmedizin in Kopenhagen zu organisieren.«

Carl schüttelte den Kopf. Wie lange wollte er sich denn damit beschäftigen?

5

Wanda Phinn hatte einen englischen Kricketspieler geheiratet, der nach Jamaika gekommen war, um den schwarzen Menschen das beizubringen, was er am besten konnte: Kricket spielen und Innings gewinnen. Weil Chris McCullum sicherer auf den Beinen stand als die meisten anderen weiß gekleideten Spieler, hatte man ihn für sechs Monate engagiert, in der Hoffnung, die jamaikanische Nationalmannschaft würde ihre Leistung mit seiner Hilfe um mindestens zehn Prozent steigern.

Das war der Grund, weshalb McCullum von März bis September unter glühend heißer Sonne auf versengtem Rasen stand und stärker schwitzte als jemals zuvor in seinem Leben.

Während eines Trainings hatte er sie zum ersten Mal gesehen: Das Erste, worauf sein Blick fiel, waren Wandas endlose, muskulöse Beine, deren Haut in der Sonne glänzte wie Gold, während sie auf der Aschenbahn ihre Runden drehte. Er war fast sicher, Halluzinationen zu haben.

Wanda wusste genau, was die Leute über sie dachten, seit ihr Körper Formen angenommen und sie gelernt hatte, sich wie eine Gazelle über die Bahn zu bewegen.

»Bist du Merlene Ottey?«, fragte McCullum sie gleich nach dem Training.

Wenn Wanda lachte, fiel der Blick auf makellos weiße Zähne. Sie kannte diese Frage nur zu gut, und irgendwie schmeichelte ihr der Vergleich natürlich – auch wenn Merlene Ottey mindestens zwanzig Jahre älter war. Denn Merlene Ottey, jahrelang Jamaikas Sprintmeisterin, war schön wie eine Göttin.

Und so flirtete Wanda ein bisschen mit McCullum –, bis er sie schließlich mit nach England nahm.

Wanda liebte weiße Männer, obwohl sie beileibe nicht die sinnlichsten waren, nein, das konnte man ihnen nicht nachsagen. Ein Jamaikaner trug die Glut vieler Nationalitäten in sich, da konnten die Weißen einpacken. Aber dafür wussten diese weißen Männer immer, wer sie waren, und noch wichtiger: was sie im Leben erreichen wollten. Bei ihnen konnte man Sicherheit finden und eine Zukunft, was durchaus keine Selbstverständlichkeit war in Tivoli Gardens, dem Slumviertel in West Kingston, in dem Wanda aufgewachsen war. Für jemanden, dessen Alltag sich zwischen Kokaindealern und Schießereien in Hinterhöfen abspielte, war Chris McCullums Antrag ein Märchen, das bestenfalls nach einer Millisekunde Bedenkzeit verlangte.

Chris brachte Wanda in einem sehr kleinen Reihenhaus in Romford am Stadtrand Londons unter, wo sie sich zu Tode langweilte. Bis zu dem Tag, an dem sich McCullum den Knöchel brach und sich gezwungen sah, nicht nur das Haus zu verkaufen, sondern auch die Scheidung einzureichen. Denn wollte er auch künftig den Lebensstandard halten, von dem er meinte, dass er ihm zustand, musste er eine Frau finden, die in der Lage war, ihn angemessen zu versorgen.

Und damit war Wanda wirtschaftlich wieder bei null gelandet.