Verirrt - Michaela Kastel - E-Book

Verirrt E-Book

Michaela Kastel

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Beschreibung

»Ein Monster hat mich dazu gebracht, zu den Monstern meiner Kindheit zurückzukehren«

Bei Nacht und Nebel flieht Felizitas mit ihrer kleinen Tochter aus ihrem Zuhause. Sonst, so hat sie endlich verstanden, wird ihr gewalttätiger Mann sie zerstören. Doch ihr bleibt nur ein Zufluchtsort: das Haus ihrer Mutter im tiefen Wald. Am See, in dem die Kinderleichen ruhen. Wo die Schatten der Vergangenheit sie zu verschlingen drohen. Schon bald fürchtet sie, dass ihr Mann ihre Fährte aufgenommen hat. Oder lauern die wahren Schrecken wo anders?

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Seitenzahl: 410

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Das Buch

Viel zu lange hat Felizitas an der Hoffnung festgehalten, dass ihr Ehemann Marc aufhören wird, sie zu misshandeln. Aber jetzt weiß sie: Wenn sie nicht rechtzeitig flieht, wird sie sich nie mehr befreien können. Die einzige Zuflucht, die sie für sich und ihre neunjährige Tochter Vicki findet, ist das Haus ihrer Mutter, in dem sie groß geworden ist. Abgeschieden von der Welt im finsteren Wald gelegen, an einem nebligen See, in dem einst ein kleines Mädchen ertrunken sein soll. Nur vage kann sich Felizitas an schreckliche Szenen aus ihrer Kindheit erinnern, eine Höhle mit blutiger Kinderkleidung und an ein Monster, das sie überfallen hat. Oder entsprang das alles nur ihrer lebhaften Fantasie? Welche Rolle spielte dabei ihre Mutter, die sie jetzt äußerst kühl empfängt? Und wer treibt sich schon kurz nach Felizitas’ Ankunft nachts am See herum? Felizitas ahnt, dass sie sich dem wahren Grauen wird stellen müssen, wenn sie jemals wirklich frei sein will.

Die Autorin

Michaela Kastel, geboren 1987, studierte an der Universität Wien und arbeitete viele Jahre im Buchhandel. Seit 2019 widmet sie sich ganz dem Schreiben. Ihre Romane wurden bereits mehrfach für Preise nominiert, außerdem erhielt sie den Viktor Crime Award als verheißungsvolle neue Stimme im Spannungs-Genre. Zuletzt bei Heyne erschienen: »Unsterblich«.

MICHAELA KASTEL

Verirrt

THRILLER

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 08/2024

Copyright © 2024 Michaela Kastel

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Claudia Alt

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, unter Verwendung von Shutterstock/Sebastian Jakob, AndiHH77, R.Filip, food.kiro, Mona Monash, Gabriel Pahontu

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30914-5V001

www.michaelakastel.at

www.heyne.de

TEIL EINS

1.

Sie

Ich beobachte ihn über den Badezimmerspiegel hinweg. Ich kann alles sehen, was uns gehört, alles sehen, was wichtig ist. Dort steht die Kommode, die wir von seinen Eltern zum Einzug geschenkt bekommen haben. Ich fand sie hässlich, er mochte sie auf Anhieb. Ich habe Babyfotos darauf platziert, um sie mir sympathischer zu machen. Jetzt ist diese Kommode leer. Die Fotos in ihren Rahmen sind heruntergefallen, als ich mit dem Rücken dagegen gekracht bin. Überall Scherben. Daneben steht meine Schneiderpuppe. So eine wollte ich immer haben. Letztes Jahr hat er sie mir zum Geburtstag geschenkt. Für Weihnachten hat er mir das tolle Abendkleid versprochen, das ich neulich im Internet gesehen habe. Damit wir endlich mal gemeinsam auf einen Ball gehen können. Es wird kein Weihnachten mehr geben.

Höchstens dort drin, in diesem perfekten kleinen Spiegel-Universum, wo alles in Ordnung ist. Wo die Schreie und der Schmerz einfach zum Fenster hinausfliegen. Wie Motten auf der Suche nach dem Licht.

Ich kann meinen Blick nicht davon losreißen. Es ist wie das Eintauchen in eine andere Welt, in einen Wunschtraum, wo das Blut und die Tränen wie von Zauberhand verschwinden. Reglos starre ich hinein, während ich dastehe und mir die Hände wasche. Während das Blut von meinem Kinn tropft, aus meiner Nase, aus meinem Herzen, direkt auf die weiße Keramikoberfläche unseres blitzblanken Waschbeckens. Während dieses Blut im Abfluss versickert wie die Gedanken in meinem Kopf. Während alles in mir brüllt, zum Himmel schreit, sitzt er auf dem Bett und sortiert die frisch gewaschene Wäsche.

Ganz bedächtig tut er das. Pullover für Pullover. Sockenpaar für Sockenpaar. Ich hatte ihn bereits gestern darum gebeten. Ich musste mit Vicki zum Zahnarzt und hinterher noch in den Baumarkt, um endlich die kaputte Glühlampe im Abstellraum zu ersetzen, die mir seit Wochen den Nerv raubt. Auch das hatte ich ihm bereits mehrmals gesagt. Er möge doch bitte die Glühlampe wechseln. Er hat es nicht gemacht. Als ich ihn heute erneut daran erinnert habe, rammte er mir seine Faust gegen den Kiefer.

Schmerz.

Es gibt unterschiedliche Arten davon. Manchmal tut es weh, obwohl überhaupt nichts verletzt ist. Der Schock und die Scham reichen dann aus, um den letzten Widerstand in dir zu brechen. Um dich niederzuringen, ganz tief nach unten, bis du Dreck unter den Füßen anderer bist. Und dann gibt es richtigen Schmerz. Schmerz, der dich Farben sehen lässt, meistens Rot. Ich weiß nicht, welcher Schmerz schlimmer ist. Welcher dich mehr zerstört, jedes Mal aufs Neue, obwohl es sich nach jedem Mal so anfühlt, als wäre nichts mehr von dir übrig, das noch wehtun könnte.

Jetzt ist der Schmerz vorbei. Es zwickt bloß noch ganz leicht dort, wo seine Fingerknöchel gegen meine Lippe geprallt sind. Auch die Scham ist längst verraucht. Vielleicht ist es die Gewöhnung. Man gewöhnt sich an erschreckend viele Dinge. Ein Schutzmechanismus ohne jede Wirkung. Denn in Wahrheit blutet man weiter, außen wie auch innen. Man schluckt es hinunter. Das ist das Schlimmste daran – dass man im Prinzip selbst schuld ist. Weil man es einfach schluckt.

Die Ruhe ist tröstend. Die Szene da drin im Spiegel, die friedvolle Illusion einer perfekten Ehe, erinnert mich daran, wieso ich es all die Zeit hinausgezögert habe. Er kümmert sich um die Wäsche, ich kümmere mich um mein Gesicht. Bringe alles wieder auf Vordermann. Kein Stückchen Schmutz lasse ich übrig. Keine Spur der Verwüstung, keinen einzigen Beweis. Wenn ich dieses Badezimmer verlasse, wird nichts mehr von seinen Taten sichtbar sein. Ich bin Meisterin der Verkleidung. Selbst mein Lächeln ist dann wieder da, für ihn, für uns, für alles, was wir uns aufgebaut haben und was ich bis vor Kurzem mit meinem Leben beschützt hätte. Familie ist heilig.

Doch das war einmal.

Ich drehe den Wasserhahn ab und trockne mein Gesicht mit einem frischen Handtuch. Kurz überlege ich, einfach so zu verharren. Mit geschlossenen Augen in den weichen Stoff zu atmen, bis ich ersticke.

Als ich wieder aufsehe, hat er die Socken in die Lade geschichtet. Er kümmert sich jetzt um die Unterwäsche. Wie entspannt er wirkt, voller Harmonie. Der Duft der Honigseife, mit der ich minutenlang meine Hände geschrubbt habe, liegt in der Luft. Es erfüllt den Raum mit einer Erinnerung, den Splittern eines alten, wunderbaren Traums. Ich will die Hand ausstrecken und Teil dieses Traums werden, möchte auf die andere Seite des Spiegels klettern und dem Mann auf dem Bett in die Arme fallen. Mit ihm auf die Matratze sinken und eng umschlungen liegen bleiben. Er weiß gar nicht, wie sehr ich ihn liebe. Ich glaube, er hat es vergessen. Wie das Austauschen der Glühlampe. Und manchmal vergisst er auch, wie sehr er mich liebt. Es fällt ihm erst hinterher wieder ein. Wenn es bereits zu spät ist.

Meine Mutter hat immer gesagt, Vergesslichkeit sei keine Sünde. Wir alle vergessen doch ab und zu gewisse Dinge. Man solle da nicht so streng sein.

Ist das wirklich so?

Ich habe vergessen, wie Glück sich anfühlt. Wie sich das Schlagen eines Herzens anhört, das nicht gebrochen ist.

Ich habe vergessen, wie man lacht. Selbst meine eigene Stimme erkenne ich nicht wieder, wenn er mir sagt, ich solle aufhören zu schreien.

Ich will nicht länger in diesem Vergessen leben. Ich will mich wieder erinnern. An diejenige, die ich einmal war. Die niemals Teil dieses Wahnsinns geworden wäre, hätte die Liebe nicht alles in ihr kaputtgemacht.

2.

Sie

Unsere Welt ist ein Vakuum. So war es immer. Atemlos, so wünscht man es sich, wenn man jung ist. Rasch, überstürzt, hitzköpfig. Nichts hat Platz neben der alles verschlingenden Liebe. Dabei ist es in Wahrheit bloß die Angst vor dem Alleinsein.

Ich habe keine Freunde. Sie sind mir im Laufe unserer Ehe einfach abhandengekommen. Zu meiner Mutter habe ich seit Jahren keinen Kontakt. Bloß unsere Tochter vermag den rosaroten Schleier, der jahrelang meine Sicht getrübt hat, zu durchbrechen – mit ihren großen, neugierigen Augen und dem frechen Lächeln, das sie eindeutig von ihrem Vater geerbt hat. Sie hat so viel von ihm, das mich tagtäglich an unsere schöne Zeit erinnert. An den Moment, als ich mich in ihn verliebt habe, in genau dieses freche Lächeln, und wenn ich es dann im Gesicht meiner Tochter sehe, ist der Schmerz plötzlich unerträglich. Ich habe Angst, dass er ihr noch mehr vermacht hat. Nicht nur das Lächeln, sondern auch das, was sich dahinter verbirgt, das Lügen, das Täuschen, die Gewalt. All das, was ich früher nicht gesehen habe, weil er es so gut versteckt hat.

Niemand weiß, was sich zwischen uns abspielt. Von dort draußen, in der stillen Dunkelheit außerhalb unseres Vakuums, muss unsere Liebe wie ein explodierender Stern aussehen – impulsiv, grell leuchtend, brennendheiß, wunderschön. Aber es ist genau das: etwas, das zu stark brennt, um am Leben zu bleiben. Etwas, das dein Innerstes auslöscht, es einfach verzehrt.

Er küsst mich auf die Stirn. Ungeheuer sanft, ein Atemhauch nur, fast nicht zu spüren. Wie jeden Abend vor dem Schlafengehen sagt er mir, dass er mich liebt. Wie leid es ihm tut. Dass so etwas nie wieder passieren wird. Dass ich für ihn das Wichtigste bin. Seine Welt, sein Ein und Alles. All diese Worte. Worte ohne jeden Wert. Er spuckt auf unsere Welt. Er tritt sie mit Füßen. So wie mich.

Es gab eine Zeit, da war seine Zärtlichkeit etwas Wohltuendes. Ich verkroch mich darin, suchte Schutz in der heilenden Ruhe nach dem Sturm, dabei wusste ich es, ich wusste, dass es nicht echt war, dass er mich anlog, jedes Mal, schamlos ins Gesicht.

Es wird wieder passieren. Solange ich bei ihm bleibe, wird es niemals aufhören.

Vor zehn Jahren haben wir geheiratet. Weder davor noch danach war ich jemals so glücklich wie an jenem wunderschönen Tag. Nicht einmal, als unsere Tochter ein Jahr später geboren wurde. Nicht einmal da.

Wir zogen in dieses Haus, und ich fühlte mich auf Anhieb geborgen. Nichts störte mich, alles war perfekt. Wir lebten den Traum, den so viele junge Paare haben. Rasch, überstürzt, hitzköpfig. Impulsiv, grell leuchtend, brennendheiß.

Wie naiv ich doch war. Zu denken, das alles hätte keinen Preis.

Ich höre ihn atmen. So seelenruhig liegt er da. Ahnt nichts, fühlt nichts – nichts außer Wärme und Sicherheit. So würde auch ich mich gerne fühlen. Geborgen, sicher, geliebt. Stattdessen zittere ich am ganzen Leib. Das Klappern meiner Zähne sollte ihn aus dem Schlaf reißen, aber er bemerkt es nicht, genauso wenig wie das Zurückschieben der Bettdecke, die Bewegung der Matratze, als ich ganz vorsichtig die Beine über die Bettkante hebe und aufstehe. Er schläft weiter, tief in seiner erlogenen Traumwelt versunken, in der es immer einen Ausweg gibt. In der ihm alles verziehen wird. Stur bleibt er da drin, während ich auf Zehenspitzen über den weichen Teppichboden unseres Schlafzimmers tappe.

Im Kleiderschrank habe ich meine Reisetasche versteckt. Ganz weit hinten, verdeckt von Bettlaken, Handtüchern und Pullovern. Gepackt habe ich sie vor Monaten. Heute Nacht werde ich es tun. Ich werde endlich tun, was mir all die Zeit unmöglich erschien, dabei ist es das Einfachste überhaupt. Man muss nur stark sein, und das ist die Herausforderung: zu lernen, wieder auf eigenen Beinen zu stehen, nachdem man jahrelang über die Scherben seines zerbrochenen Glücks gekrochen ist.

Ich bin ganz leise. Arbeite mich Zentimeter für Zentimeter voran. Als ich die Reisetasche herausziehe, regt er sich leicht im Schlaf. Abrupt halte ich inne, mein Atem stockt. Ich höre, wie er stöhnt, fasse nach der Schranktür, um sie schnell wieder zuzumachen. Doch er dreht sich bloß auf die andere Seite und schläft weiter. Gefangen in seiner Blase. Fast könnte man Mitleid mit ihm haben.

Ich warte ein paar Minuten. Sehe ihn da liegen, kämpfe mit aller Kraft gegen meine Gefühle an. Gegen die Stimme in meinem Kopf, die mich anfleht, es mir wieder zu überlegen. Er liebt mich doch. Und ich liebe ihn. Großer Gott, ich liebe ihn so sehr.

Aber dann verlasse ich das Zimmer. Ich schließe die Tür hinter mir und beginne noch auf dem Flur damit, mich anzuziehen. Hose, Socken, Pulli. Unterwäsche hatte ich bereits an. Auf dem Weg in Vickis Zimmer streife ich mit der Tasche die Wand. Es ratscht laut, ein Schrecken durchzuckt mich, aber diesmal bleibe ich nicht stehen. Ich stoße mit der Schulter die angelehnte Tür auf, eile an ihr Bett und rüttle sie sanft aus dem Schlaf. Noch während sie zu sich kommt, öffne ich ihren Kleiderschrank, wo ich ebenfalls eine gepackte Reisetasche deponiert habe. Im rosafarbenen Zwielicht ihres Nachtlichts erkenne ich ihr verwirrtes Gesicht. Sie sieht ihm so ähnlich.

»Was ist los?«, fragt sie verschlafen.

Ich lege ihr den Finger an den Mund, damit sie still ist. »Hier, zieh dich an«, flüstere ich und drücke ihr frische Kleidung in die Hand. »Beeil dich. Aber sei ganz leise.«

Sie tut, was ich sage, ihre Augen blicken fragend zu mir hoch. Ich nehme beide Reisetaschen an mich und warte angespannt, bis sie fertig ist. Dann scheuche ich sie vom Bett auf und lotse sie rasch aus dem Zimmer.

Unten sind wir schnell. Das Haus ist neu, nichts knarrt oder ächzt. Es war mein Traum, dieses Haus. Jetzt gehört es ihm. Soll er es behalten. Soll er darin verrotten.

Ich nehme den Autoschlüssel meines Fords, den ich gestern extra eine Straße weiter geparkt habe. Dann spüre ich Vickis Hand am Ärmel meiner Jacke.

»Fahren wir weg?«, flüstert sie.

Ich nicke, achte alarmiert auf Geräusche im ersten Stock.

»Wieso in der Nacht?«

Nichts zu hören. Er schläft. Jetzt oder nie.

Ich nehme sie bei der Hand und verlasse mit ihr das Haus.

Kälte strömt uns aus den Tiefen der Nacht entgegen. Vicki dreht sich nach der Haustür um, schaut hoch zu den dunklen Fenstern, dann erneut verwirrt in mein Gesicht. Ich möchte es ihr erklären, aber die Angst raubt mir die Stimme, also ziehe ich sie stumm weg. Je weiter das Haus hinter uns zurückfällt, desto lauter pocht mein Herz. Ich höre nichts anderes mehr als das.

»Schnell«, sage ich heiser, als wir das Auto erreicht haben. »Steig ein.«

»Wieso kommt Papa nicht mit?«

»Du sollst einsteigen, hab ich gesagt!«

Sie klettert auf den Beifahrersitz und legt artig den Gurt an.

Atemlos schaue ich mich um. Niemand ist da. Die Straßen sind leer.

»Ich erkläre dir alles, wenn wir hier weg sind«, sage ich, nachdem ich die Taschen auf dem Rücksitz gepackt und mich hinters Steuer gesetzt habe. »Hab keine Angst. Alles ist gut.«

Sie nickt, als würde sie verstehen. Es gibt im Grunde auch nicht mehr zu sagen. Mama passt auf sie auf. Sie weiß das.

Ich starte den Wagen und fahre los. Straßenlaternen rauschen an uns vorbei wie verschwommene Lichter in einem tiefen, dunklen Wald. Und genau das war es auch – eine Wildnis, ein undurchdringliches Labyrinth. Ich hatte mich verirrt, aber jetzt kenne ich meinen Weg. Das Tor in die Freiheit ist zum Greifen nahe. Nur nicht stehen bleiben. Kein Blick zurück. Keine Angst. Das ist das Wichtigste. Keine Angst. Nie wieder.

3.

Er

Sie ist weg.

Und sie hat die Kleine mitgenommen.

Er fühlt sich wie ein Raubtier, das viel zu lange kein frisches Fleisch mehr gefressen hat. Desorientiert läuft er umher, durchsucht Zimmer für Zimmer, findet nichts, bleibt stehen, ruft ihren Namen. Alles hätte man ihm wegnehmen können, alles, bloß nicht sie. Ihr Zimmer wirkt unverändert, nichts fehlt, das Nachtlicht ist an, bloß das Bett, das ist leer.

Sie hat sie gestohlen. Sie hat seine Tochter gestohlen.

Dafür wird sie büßen.

4.

Sie

Es ist eine dieser Nächte, die Kindern den Schlaf rauben. Kein Mond, keine Sterne. Alles schwarz. Die Straßenlichter sind das Einzige, was von der bekannten Welt übrig ist. An ihrem schwachen Schein orientiere ich mich. In diesem mageren, aber unerschütterlichen Leuchten erkenne ich, dass der Weg vor mir der richtige ist.

Im Wageninneren ist es angenehm warm. Vicki ist auf dem Beifahrersitz eingeschlafen. Unsere Taschen liegen sicher auf der Rückbank verstaut. Unser ganzes Leben befindet sich darin, die wenigen essenziellen Dinge, die wir für einen Neuanfang brauchen. Den Rest haben wir zurückgelassen. Es wird ihr fehlen, unser altes Leben. Es ging ihr darin sehr gut. Sie hat er nie geschlagen. Nicht einmal ein Klaps, wenn sie frech war, niemals. Er hat auch mich niemals geschlagen, wenn sie dabei war. Er hat sie aus alldem rausgehalten. Das fand ich immer am merkwürdigsten. Als wüsste er es. Als wüsste er ganz genau, was für ein Monster er ist, und würde alles tun, um das vor seiner Tochter zu verbergen.

Die Ironie ist, dass ich mich mit Monstern eigentlich sehr gut auskenne. Mein erstes sah ich, da war ich drei. Es sind verschwommene Bilder, wild durcheinandergewürfelt und ohne jeden Bezug zur Realität, aber die Gefühle sind noch genauso stark und echt wie damals. Vor allem die Angst. Eine Angst, wie man sie nur als Kind empfinden kann, überwältigend, lähmend, alles bisher Dagewesene überschattend. Eine Angst, die über Jahrzehnte hinweg nicht schwächer geworden ist, obwohl es keinen rationalen Nährboden mehr dafür gibt, bloß die bruchstückhaften Erinnerungen, die ich tief in meinem Kopf weggesperrt habe, um sie nicht länger mit mir herumzutragen.

Dennoch sind sie da. So viele Fragen, auf die ich keine Antwort weiß. Ganz plötzlich war es da, eine Erscheinung bloß, verschwommen und übermenschlich groß. Es packte mich und rannte mit mir davon, bis auf die andere Seite des Sees, wo meine Mutter uns schließlich einholte. Ich erinnere mich an seine hagere Gestalt, es hatte Arme und Beine wie ein Mensch, doch alles an ihm war so monströs, verformt, dämonisch, riesige Pranken und glühende Augen. Es sprach mit mir, ganz in Schwarz war es gehüllt, ein Trugbild, entsprungen meiner lebhaften Fantasie, und doch will mein Verstand mir einreden, dass es echt war, denn bevor meine Mutter es mit dem Schürhaken zu Boden schlug, spürte ich seine Hand. Es griff nach mir, versuchte, mich zu packen.

Dieses eine Bild hat sich mit allen Details in meinen Kopf gebrannt – eine riesige, dunkle Klaue unmittelbar vor meinem Gesicht.

Meine Mutter erzählte mir, sie habe seinen Körper im Wald verscharrt, aber es sei nicht lange dort geblieben. Das Monster sei noch am Leben. Seit zwanzig Jahren hole es Kinder zu sich in den Wald und hänge deren Kleider an die Äste der Bäume.

Seit ich denken kann, tut diese Frau nichts anderes, als mir Angst einzujagen – und jetzt möchte ich wieder zu ihr zurück? Doch ich habe keine andere Wahl. In meinem alten Leben bleiben kann ich nicht. Sie ist alles, was ich noch habe. Meine einzige Zuflucht.

Wir kommen in eine Ortschaft, und ich halte an, um zu tanken. Bald wird die Dämmerung anbrechen. In ungefähr drei Stunden sollten wir da sein, pünktlich zur Frühstückszeit.

Ich rüttle Vicki vorsichtig aus dem Schlaf, und sie richtet sich aufgeregt auf. »Sind wir da?«

»Noch nicht. Aber ich gehe kurz rein, um zu bezahlen. Möchtest du was zu essen oder trinken?«

Sie sinkt enttäuscht in den Sitz zurück und schüttelt den Kopf.

»Ich erkläre dir alles, versprochen«, sage ich sanft.

Sie sieht wortlos aus dem Fenster. Sie ist bereits neun, sie wird längst begriffen haben, was los ist. Aber welche Gedanken sich hinter dem dunklen Ponyhaarschnitt und den haselnussbraunen Augen tatsächlich drehen, kann ich nur vermuten. Vielleicht beginnt sie mich gerade zu hassen, weil wir ihren Vater verlassen haben. Dass sie ihre ganzen Sachen zurücklassen musste, nur weil ich so nicht mehr weitermachen konnte. Oder aber sie versteht mich. Ihr stiller Blick aus dem Fenster könnte alles bedeuten.

»Bin gleich zurück. Warte hier.« Ich steige aus und betrete den kleinen Shop, der zur Tankstelle gehört.

Es sind noch drei andere Kunden im Laden, ein Motorradfahrer und ein junges Pärchen, dessen VW gleich hinter meinem Auto an der Zapfsäule steht. Äußerst gut besucht für fünf Uhr morgens. Der Mann hinter dem Tresen wirkt nicht sonderlich motiviert, als ich die Tankfüllung bezahle und außerdem noch zwei Mineralwasserflaschen und ein paar Müsliriegel kaufe. Er braucht ewig, um mir mein Wechselgeld zu übergeben. Während er unter sichtlicher Anstrengung die Münzen sortiert, bemerke ich aus dem Augenwinkel, dass sich jemand meinem Auto nähert. Ein Mann in Uniform. Mein Puls schnalzt alarmiert in die Höhe, und ich ziehe panisch die Münzen vom Tresen. Der Verkäufer ruft mir nach, dass ich etwas liegen gelassen habe, offenbar einen Müsliriegel, aber ich eile nach draußen und gehe schnell, aber mit beherrschtem Gesicht auf den Polizisten zu, der gerade mit Vicki spricht. Wieso hat sie die Fensterscheibe herunterlassen?

»Hallo«, sage ich so ruhig und freundlich wie möglich. »Gibt es ein Problem?«

Der Polizist tritt vom Wagen zurück und mustert mich ausführlich. Ob ihm die geschwollene Lippe auffällt? Garantiert fällt sie ihm auf.

»Ist das deine Mutter?«, fragt er Vicki.

Sie nickt.

»Gibt es ein Problem?«, wiederhole ich.

Er behält seine strenge, abschätzende Miene konsequent bei. Erneut wandert sein Blick über mein zerschundenes Gesicht, und die Angst packt mich ganz unerwartet. Er kann nicht meinetwegen hier sein. Es ist viel zu früh. Mein Ehemann liegt tief schlummernd im Bett und träumt vom nächsten Schlag, den er mir verpassen kann. Unmöglich kann er bereits die Polizei alarmiert haben, und unmöglich können sie wissen, wohin ich unterwegs bin.

»Ist nur eine Routinekontrolle«, sagt er mit Blick auf mein Kennzeichen. »Führerschein und Zulassung bitte.«

Das wird immer merkwürdiger. Ich öffne die Fahrertür und krame die Wagenpapiere aus dem Handschuhfach, dann übergebe ich ihm meinen Führerschein. Er betrachtet alles sehr ausführlich, sieht immer wieder zu Vicki, die sichtlich nervöser geworden ist.

»Wohin sind Sie unterwegs?«, möchte er wissen.

»Zu meiner Mutter. Sie wohnt sehr weit weg, und wir möchten zeitig da sein.«

Er nickt, gibt mir meine Papiere zurück und lässt mich einsteigen.

»Hier in der Gegend ist vor Kurzem ein Mädchen verschwunden«, sagt er. »Wir behalten deswegen alles im Auge. Das verstehen Sie sicher.«

»Natürlich. Wie schrecklich.«

»Gute Weiterfahrt. Passen Sie auf sich auf. Und auf Ihre Tochter.«

Sein letzter Satz hallt in meinem Kopf wider wie ein Glockenschlag. Ich schnalle mich an und verlasse in gesittetem Tempo die Tankstelle. Im Rückspiegel beobachte ich, wie der Polizist uns nachsieht.

Dass er meine Papiere geprüft hat, ist nicht gut. Jetzt kann man meine Spur aufnehmen. Ich kann nur hoffen, dass er sich nichts weiter gedacht hat und meine Daten nirgends notiert.

»Was hat er mit dir geredet?«, frage ich Vicki, als er außer Sichtweite ist.

»Er hat wissen wollen, wie ich heiße und was ich hier mache.«

»Und was hast du ihm gesagt?«

»Dass ich hier mit meiner Mutter bin, die gerade fürs Tanken bezahlt.«

»Und sonst?«

Ihr muss der nervöse Klang meiner Stimme auffallen. Sie runzelt die Stirn. »Haben wir Probleme?«

»Nein, es ist alles gut. Nur das nächste Mal rede bitte erst gar nicht mit solchen Leuten, okay?«

»Aber er war doch Polizist.«

»Das ist egal!«, fahre ich sie an.

Erschrocken zuckt sie zusammen und murmelt ein beinahe unverständliches »Okay«.

Dann wird es still zwischen uns. Meine Angst verebbt, und ich zwinge mich, klarzusehen. Es war eine Routinekontrolle. Weil hier erst vor Kurzem ein Kind verschwunden ist. Gut, dass sie aufpassen. Es hatte nichts mit uns zu tun.

Am Horizont beginnt der Himmel sich allmählich zu lichten. Bald wird sein Wecker klingeln, und er wird aufwachen und es merken. Ich weiß gar nicht, wie er reagieren wird. Alles kurz und klein schlagen? Unser Schlafzimmer, unser Haus, alles, was einmal Bedeutung für mich hatte, zertrümmern? Oder wird er ganz ruhig bleiben? Bloß zum Telefon greifen und seinen Freunden bei der Polizei die für ihn einzige Wahrheit berichten: »Sie hat meine Tochter entführt.«

Welch abartige Ironie, dass ausgerechnet jemand wie er Polizist ist. Auf diese Weise hat er es stets verheimlichen können. Hatte alles unter Kontrolle. Weil all seine Freunde ebenfalls Polizisten sind. Die halten zusammen wie Pech und Schwefel. Die Ehefrau, die ist das Problem. Erzählt doch nichts als Lügen. Und jetzt hat sie auch noch das gemeinsame Kind entführt. Was für eine makellose Story. Er wird sich einiges ausdenken, um das hier mir in die Schuhe zu schieben, denn er kann beinahe so gut lügen, wie er zuschlagen kann.

»Er hat so wie Papa ausgesehen.«

Ich blinzle, tauche schlagartig aus meinen Gedanken auf. »Was?«

»Der Polizist. Er hat ein bisschen so wie Papa ausgesehen. Ich glaube, deswegen habe ich mit ihm geredet. Verstehst du das?«

Ich spüre einen Klumpen in meiner Kehle, der mir beim Schlucken bis in die Magengrube sackt. Ich greife nach ihrer Hand, die verkrampft auf ihrem Schoß liegt. »Ich weiß, du hast ihn sehr lieb. Es tut mir leid, dass es so weit kommen musste. Es tut mir so leid.«

»Wo fahren wir hin?«

»Zu Oma.«

»Aber ich dachte, die ist schon gestorben«, antwortet sie verwirrt.

»Ich weiß, das hab ich dir erzählt, aber es stimmt nicht. Wir haben bloß keinen Kontakt.«

»Das heißt, du hast gelogen? Warum?«

»Meine Mutter und ich hatten früher ziemliche Probleme. Ich wollte sie aus meinem Leben raushalten, aber das war nicht richtig. Sie gehört zur Familie. Du wirst sie mögen.«

Damit scheint sie sich fürs Erste zufriedenzugeben. Während sie wieder schweigend aus dem Fenster starrt, sehe ich bereits das Haus vor meinem inneren Auge. Und damit alles, wovor ich einst weggelaufen bin. Die Geschichten, die Einsamkeit, die erschlagende Stille des Waldes. In dem angeblich irgendwo ein Monster wohnt.

Es schreit doch zum Himmel, dass mich ausgerechnet ein anderes Monster dazu gebracht hat, dorthin zurückzukehren. Offenbar bin ich nirgends vor ihnen sicher. Sie vermehren sich wie Ungeziefer, ungesehen in den Schatten. Doch ich bin kein Kind mehr, das sich von den Geschichten seiner Mutter einschüchtern lässt. Die wahren Monster leben nicht in Wäldern und ernähren sich von den Seelen kleiner Mädchen. Sie sind da draußen, gleich in deiner Nähe, sie sind dein Nachbar, dein Freund, dein Ehemann. Sie tarnen sich gut. Sie wissen, was zu tun ist, um sich in dein Leben zu schleichen. Um dein Herz zu stehlen, ohne auch nur ein einziges Mal die Krallen auszufahren. Wahre Monster fressen ihre Beute nicht. Sie vergiften sie lediglich, bloß mit ein paar Worten.

Es tut mir so leid. Bitte verzeih mir, dass ich das getan habe. Es wird nie wieder passieren.

Jahre haben mich diese Worte gekostet. Weil ich sie immer wieder geglaubt habe. Von ganzem Herzen wollte ich glauben, dass er die Wahrheit sagt. Es hat ihm wahrscheinlich sogar wirklich leidgetan, und das ist das Schlimmste. Es gibt etwas Gutes in ihm. Doch sich daran festzuklammern lässt dich verhungern. Es frisst dich auf. Ganz langsam, bis du stirbst, ohne es zu merken.

5.

Sie

Mamas Haus liegt an einem großen See, im Herzen der Wildnis, am Fuße eines hohen, dicht bewaldeten Berges. Gleich am Ufer steht eine rund gebogene, uralte Trauerweide, deren gelb belaubte Äste bis fast an die trübe Wasseroberfläche reichen. Über einen Steg geht es ein Stück aufs Wasser hinaus, und manchmal kann man das andere Ufer erkennen, wenn der Nebel sich lichtet und die Umrisse des kleinen, heruntergekommenen Nachbarhauses sichtbar werden.

Die Kante des Stegs war früher einer meiner Lieblingsplätze. Hier zu sitzen und ins Wasser zu schauen ist wie ins Innere deines eigenen Herzens zu blicken, so tief geht es in die Dunkelheit hinab, und wenn du nicht aufpasst, verlierst du dich darin, und alles, was von dir bleibt, ist ein Abdruck im Holz, ein Flüstern, eine Geistergeschichte.

Mama erzählte mir früher, es wäre einmal ein Mädchen in den See gefallen und darin ertrunken. Auf der anderen Seite, wo das hohe Schilfgras wuchert, soll es passiert sein. An stillen Tagen hört man das Mädchen angeblich heute noch um Hilfe rufen. Als Kind war ich mal dort, um nachzusehen. Ich stieg mit Gummistiefeln in den Sumpf und stocherte mit einem Stock im Wasser, doch außer Algen, fetten Kröten und verrottetem Laub fand ich nichts. Viele Jahre ist das nun her, und ich frage mich, ob die Leiche noch irgendwo dort drin liegt. Es muss ein furchtbarer Tod gewesen sein. In die Tiefe gerissen, in die absolute Dunkelheit. Begraben unter den schlammigen Wassermassen des Sees.

Nach all den Jahren so plötzlich hierher zurückzukehren fühlt sich merkwürdig an. Ein bisschen wie Schuld, dabei war es richtig, von hier wegzugehen. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten. In dieser Einsamkeit, der kompletten Isolation, in Mamas verrückter Traumwelt. Man verliert den Verstand, wenn man zu lange ihrem Einfluss ausgesetzt ist. Ich lernte das bereits sehr früh, als meine Gedanken von kinderfressenden Monstern beherrscht wurden, von ertrunkenen kleinen Mädchen und von Wäldern voller blutiger nasser Kinderkleider.

Es waren diese Bilder, die mich von hier fortgetrieben haben. Ich wollte wissen, ob die Welt da draußen tatsächlich so finster ist, wie Mama immer sagte, oder ob die wahre Finsternis nicht doch hier im Wald stattfand, in ihrem Kopf und somit auch in meinem.

Die Fahrt wird ruckelig, als ich den Wagen im Schneckentempo über den unebenen Forstweg lenke. Vor gut zehn Minuten sind wir von der Landstraße abgebogen und in die vermeintliche Wildnis eingedrungen, was Vicki bereits zweimal mit »Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?« kommentiert hat. Und wie ich mir sicher bin. Trotz der langen Zeit könnte ich den Weg hierher mit verbundenen Augen finden. Den Weg nach Hause.

»Es ist unheimlich hier«, sagt Vicki mit Blick aus dem Fenster. »Der Wald ist so dicht.«

»Es ist sehr schattig um diese Uhrzeit, das ändert sich im Laufe des Tages.«

Sie öffnet das Fenster und lässt die klare, rauchige Luft herein. »Wie heißt der Berg dort?«, fragt sie, als hinter den Wipfeln die Konturen einer mächtigen grauen Gebirgsformation auftauchen.

»Das ist der Geisterberg. Zumindest hat ihn meine Mutter immer so genannt. In Wahrheit heißt er irgendwie anders.«

»Wieso denn Geisterberg? Klingt gruselig.«

»So ziemlich alles, was mit Oma zu tun hat, ist auf den ersten Blick gruselig. Aber du wirst sie mögen, ganz bestimmt.«

Sie schließt das Fenster und sieht wieder nach vorne, und genau in dem Moment erscheint hinter der Kurve die Lichtung mit dem Haus.

Es ist ein Haus ganz aus Holz, mit drei Stockwerken und einer riesengroßen, komplett verglasten Veranda. Sehr gut in Schuss gehalten und alles andere als ein Hexenhaus, jedoch bemerkt man auf den ersten Blick, dass hier jemand Besonderes wohnt. Unzählige Windspiele hängen von den Dachrinnen, Fensterbrettern und an den Ästen der beiden Nussbäume, die auf der Lichtung nahe des Seeufers stehen. Am Briefkasten baumelt ein uralter Traumfänger, genau wie über dem Eingang, der Verandatür und der Hintertür. Alte heidnische Symbole wurden in die Rinden der Bäume geschnitzt, Mama erklärte mir einmal, dass sie Schutz bedeuten und böse Kreaturen fernhalten sollen. Neben dem Haus liegt ein eingezäunter Kräutergarten, in dem neben diversem Grünzeug auch große gelbe Kürbisse gedeihen. Eigentlich ist es doch ein Hexenhaus. Mama praktiziert eine Art althergebrachte Heilkunde, seit Jahren verdient sie damit gutes Geld, verkauft ihre selbst gemachten Pasten, Tinkturen und Tees an eine kleine, aber feine Stammkundschaft und hat auch einen Ruf als Kartenlegerin.

Als Kind war ich Teil dieses bunten, naturbezogenen Lebensstils, trug selbst gestrickte Kleidung, aß Rohkost und half meiner Mutter beim Herstellen ihrer fragwürdigen Medizin. In der Umgebung war ich als Bauernmädchen verschrien, weil ich oft schmutzige Hände von der Gartenarbeit hatte und meine Mutter ohnehin der Meinung war, Erde sei kein Schmutz, sondern der Feenstaub des Waldes. Es wunderte mich nie, warum sie mir diesen schrecklichen Namen gegeben hat. Fee. Vor einigen Jahren ließ ich ihn in Felizitas umändern, um mich nicht länger mit Erklärungen herumschlagen zu müssen. Kaum jemand verstand die Bedeutung des Namens, die Leute fanden ihn einfach nur schräg. Meine Mutter fand ihn perfekt. Für sie war ich Teil der Magie, die sie umgab. Ihre kleine Fee.

Vicki scheint nicht ganz zu wissen, was sie von all dem halten soll. Unser eigenes Haus ist ein typischer Neubau, wie sie zuhauf in den Vorstädten und Ortschaften zu finden sind. Einrichtungstechnisch haben er und ich uns diesem Stil angepasst, keine Spur von Esoterik oder mystischen Anwandlungen, sondern alles sehr modern und einheitlich. Das war auch durchaus beabsichtigt, schließlich wollte ich nichts mehr mit Mamas obskurer Lebensweise zu tun haben. Dass ihre Oma offenbar eine Art Kräuterhexe ist, scheint Vicki in gleichem Maße zu verunsichern, wie es sie begeistert.

»Es sieht … urig aus«, sagt sie, als wir anhalten.

»Gefällt es dir?«

Sie überlegt. »Ja«, antwortet sie schließlich lächelnd.

Der Himmel ist grau, die Bäume rauschen im kühlen Wind, als würden sie miteinander flüstern. Wir steigen aus, und ich hole unsere Taschen vom Rücksitz. Vicki möchte ihre selbst tragen. Wie einen Schatz drückt sie sich die Tasche an die Brust. Als wüsste sie, dass sich ihr ganzes Leben darin befindet, obwohl ich nur das Nötigste an Kleidung und Kosmetikartikeln sowie ihre persönlichen Dokumente eingepackt habe. Keine Spielsachen, nichts für die Schule, nicht einmal ihr heiß geliebtes Nachtlicht. Sie ist ohnehin viel zu alt dafür.

»Weiß Oma, dass wir kommen?«, fragt sie auf dem Weg zur Tür.

»Ich habe sie vorgestern angerufen und ihr Bescheid gegeben.« Um genau zu sein, von einem Prepaid-Handy, das ich ab jetzt benutzen werde. Nicht die kleinste Spur soll ihn hierherführen.

»Oh, okay.« Sie blickt zum Seeufer und entdeckt den Steg. Meistens ist er von Nebel umhüllt, doch heute sieht man sogar bis ans andere Ufer. »Da kann man im Sommer sicher super schwimmen!«

»Ich weiß nicht, hab es nie ausprobiert.«

»Was? Wieso nicht?«

Na, wegen der Leiche.

Ich zwinge ein Lächeln auf meine Lippen, das erste Lächeln seit Tagen. »Ich war als Kind meistens im Haus oder auf der Wiese rund um den See. Hab mir nicht so viel aus Schwimmen gemacht.«

»Das ist aber schade! Warst du nicht mal im Wald? Da gibt’s sicher total viele Wege, die man auskundschaften kann!«

»Das auf jeden Fall. Dir wird garantiert nicht langweilig werden.«

»Das glaub ich auch!« Mein Lächeln steckt sie an, und sie wirft einen vorfreudigen Blick in den Wald. »Bei Nacht ist es hier sicher voll gespenstisch.«

»Man gewöhnt sich daran. So, jetzt aber aufgepasst. Oma und ich haben uns ewig nicht gesehen. Ich weiß nicht, wie unser Wiedersehen sein wird. Mach dich auf alles gefasst.«

»Wenn du willst, kann ich den Anfang machen. Mich mag eigentlich jeder gleich.«

Ich streiche ihr über die Wange und drücke die Klingel.

Im Inneren höre ich Schritte. Kurz darauf wird die Tür geöffnet, und der Wind bringt die Windspiele in den Ästen und am Haus zum Klingen. Dadurch wirkt es, als würde Mamas Auftritt von etwas Magischem begleitet. Ein stiller Hauch des Jenseitigen, das sie schon immer umgab und das als Kind so normal für mich war. Heute jagt es mir unwillkürlich einen Schauer über den Rücken.

»Fee«, sagt sie in ihrer sanften, federleichten Stimme, mit der sie mich problemlos in den Schlaf wiegen konnte, wenn ich Albträume hatte oder Angst vor dem Monster im Wald. »Da bist du ja endlich. Meine Fee.«

»Hallo, Mama.«

Sie hat sich kaum verändert in all der Zeit, bloß ihr langes gewelltes Haar ist über die Jahre grau geworden. Sie trägt es offen, wie damals, wie immer mit einem bunten gestrickten Stirnband. Sie mit ihren langen farbenfrohen Röcken, den weiten Blusen und dem Blumenschmuck im Haar. Jetzt umarmt sie mich ohne Umschweife, und es fühlt sich nicht fest und verzweifelt an, das ist keine Umarmung, die lange auf sich warten ließ. Es ist eine Umarmung wie früher. Sanft, liebevoll, ohne jeden Druck, ohne den Hauch von Unsicherheit. Als wären wir nie getrennt gewesen. Als hätte ich sie nie so verletzt.

»Wie schön, dass du da bist«, sagt sie, immer noch hält sie mich, immer noch fühlt es sich eigenartig an. Nicht passend, nicht nach über zwölf Jahren. »Du bist so lange nicht hier gewesen. Erkennst du das Haus überhaupt wieder?«

»Natürlich. Es hat sich nichts verändert.«

Sie lässt mich los und betrachtet mich für einen Augenblick. Auch ihr muss die geschwollene Lippe sofort auffallen, aber sie sagt nichts dazu und wendet sich an Vicki. »Und du bist?«

»Viktoria«, stellt sie sich höflich vor und reicht ihrer Oma die Hand.

»Schön, dich kennenzulernen, Viktoria. Du bist deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Das stimmt nicht. Aber auch ich sage nichts dazu.

»Wie alt bist du denn, Viktoria?«

»Neun.«

»Neun Jahre. So lange hat dich deine Mutter von mir ferngehalten. Unverzeihlich.«

Sie sagt das mit einem verschmitzten Lächeln, aber dem aggressiven Blitzen ihrer Augen traue ich mehr. Jetzt zeigt sie langsam, was sie wirklich umtreibt: eine uralte, nicht wieder gutzumachende Kränkung.

»Aber kommt nur, kommt herein! Es ist kalt draußen. Das Haus hat nur auf euch gewartet.«

Es erstaunt mich, dass ich ihre subtilen Hinweise immer noch auf Anhieb durchschaue. Das Haus hat nur auf euch gewartet – allerdings, die Höhle, die Fallgrube, das Loch, aus dem man nie wieder herauskommt. Andererseits: Sie ist meine Mutter. Ich gehöre zu ihr. Auch wenn ich jahrelang versucht habe, das zu vergessen.

6.

Sie

Es ist wie ein uralter, verklärter Traum, in den man nach vielen Jahren völlig unvorbereitet wieder hineingeworfen wird. Zunächst muss man sich ein wenig zurechtfinden, aber mit der Zeit stellt sich Vertrautheit ein. Der Geruch nach Mamas Kräutermischungen gleich nach dem Eintreten. Nicht dominant, mehr wie eine kaum wahrnehmbare Untermalung, etwas Vergessenes, das schlagartig zurück ins Gedächtnis kehrt. Das im Kopf anschwillt wie ein riesiger bunter Ballon und die Gedankenwelt mit lebendigen Bildern von früher füllt.

Es ist ein schönes Gefühl, ich will das gar nicht abstreiten. Ich weiß, ich bin wieder zu Hause, auch wenn es nie das Zuhause war, das ich wollte. Unfassbar, dass sie immer noch so viel Lavendel in ihren Mischungen verwendet. Als Kind war dieser Geruch etwas Wunderbares für mich. Ich unterschied ihn nicht von frisch gebackenem Kuchen oder dem Duft sauberer Wäsche. Er bedeutete Heimat. Seit ich von hier weg bin, habe ich Lavendel gemieden. Nicht einmal die Farbe kann ich mehr leiden.

Während Vicki beim Eintreten noch schüchtern meine Hand gehalten hat, geht sie nun neugierig voran. Gleich nach dem länglichen Vorzimmer, wo noch immer derselbe alte Spiegel hängt, kommt man in die einzelnen Räume; rechts geht es ins Wohnzimmer, links in die geräumige Küche mit dem großen einladenden Esstisch. Geradeaus liegt die im Verhältnis recht enge, dunkle Treppe, die in die beiden oberen Stockwerke führt. Ich fragte mich immer, wozu meine Mutter dieses riesige Haus überhaupt braucht. Selbst für uns beide war der Platz zu viel. Wie oft habe ich mich einsam gefühlt in dieser unendlichen Aneinanderreihung von Zimmern, umgeben von diesem dichten, riesigen Wald, der wiederum von diesem gigantischen Berg bewacht wird. Wie oft kam ich mir verloren vor trotz der Vertrautheit. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wäre mein Vater noch am Leben und hätte diese einsame Welt mit uns geteilt. Er hat vor vielen Jahren Selbstmord begangen, ich war noch sehr klein. Ein Strick am Dachboden, ganz wie man es kennt. Erst danach sind Mama und ich hierhergezogen. Vielleicht wollte sie den Verlust damit vergessen – indem sie die Gefühle und Erinnerungen in den einzelnen Räumen wegsperrte. So viele Räume für so viele Gefühle. Wenn ich darüber nachdenke, kam mir dieses Haus immer etwas heimgesucht vor. Als beherbergten die einzelnen Räume mehr als bloß Möbel und warme Luft. Früher dachte ich, es wäre von Gespenstern bevölkert, dabei waren es womöglich bloß die Geister der Vergangenheit.

»Wow, ist dieses Haus cool!« Vicki kommt aus dem Wohnzimmer gelaufen und rennt überdreht die Treppe hoch. Ich wende mich fragend an Mama, doch die winkt gelassen ab.

»Soll sich die Kleine ruhig ein bisschen umsehen«, sagt sie. »Schließlich ist das ihr neues Zuhause.«

Im ersten Stock trampeln Schritte über den Holzboden. Türen werden der Reihe nach aufgerissen, dann macht sie sich in den zweiten Stock auf.

»Hast du oben immer noch dein Atelier?«, frage ich Mama.

»Ja, aber keine Sorge, die Tür ist versperrt. Sie kommt da nicht rein.«

Kurz darauf dringt Vickis enttäuschte Stimme zu uns nach unten. »Was ist denn hinter der Tür ganz hinten im Gang? Ich krieg sie nicht auf!«

»Das ist nur meine Malstube, Schätzchen!«, ruft Mama zurück. »Die sperre ich immer ab.«

»Und warum?«

»Ach, weißt du, da drin sind einfach viele heikle Sachen. Farben, teure Pinsel, Terpentin und dergleichen, da soll nichts kaputtgehen.«

Richtig, so hat sie es mir früher auch immer erklärt. Nachdem ich angeblich einmal unerlaubt ins Atelier gegangen war und mit meinen ungeschickten Kinderhänden allerhand Chaos verursacht hatte, galt der Raum offiziell als Sperrgebiet. Da ich mich aber an nichts dergleichen erinnern kann, glaube ich, dass das nur ein Vorwand war, um die verschlossene Tür zu rechtfertigen. Als Kind gab ich mich damit zufrieden – jetzt stutze ich. Warum sperrt sie die Malstube immer noch ab? Wenn doch außer ihr niemand da ist?

»Möchtest du wieder runterkommen?«, ruft Mama die Treppe rauf. »Deine Mutter und du wollt bestimmt einen leckeren Tee.«

Als sich nichts tut, schreite ich ein. »Komm jetzt runter, Vicki, Oma macht uns Tee.«

Die Schritte bewegen sich zurück in unsere Richtung. Mama hebt eine Braue und wickelt sich mit einem gespielten Schmollen eine lange graue Strähne um den Finger. »Oma … Bin ich nicht viel zu jung, um Oma genannt zu werden?«

»Wie soll sie dich stattdessen nennen?«

»Beatrix wäre mir recht.«

Ich unterdrücke ein Augenrollen. So musste ich sie früher nennen. Und ich fand es furchtbar. Es schafft Distanz, wo keine sein sollte.

»Ich finde Oma besser«, antworte ich knapp, im selben Moment taucht Vicki neben uns auf.

»Das ist ein sehr schönes Haus!«, sagt sie zu meiner Mutter. »Wozu die ganzen Zimmer? Oben sind viele leer.«

Mama lacht. »Nun, ich brauche eben nicht alle, aber ich bin froh, dass ich so viel Platz habe. Jetzt, wo wir drei zusammenwohnen werden, ist das sehr praktisch.«

In Vickis Gesicht stiehlt sich ein Hauch von Traurigkeit, als wäre ihr in diesem Moment wieder eingefallen, dass »wir drei« ihren Vater fortan ausschließt. Aber als Mama in die Küche geht, lächelt sie wieder und folgt ihr auf Entdeckungstour.

Ich wage ebenfalls einen Blick in die Küche. Die alten Holzmöbel wurden frisch lackiert, der Esstisch hat neue Stühle bekommen. Dennoch wirkt auch hier alles vertraut. Der Backofen sieht noch genauso rustikal aus wie früher. Draußen an den Fenstern ranken sich Rosensträucher, die im Sommer die Aussicht auf den See versperren. Der Kräutergeruch ist in diesem Raum am stärksten. Obwohl sie unzählige andere Zimmer zur Verfügung hätte, um ihre Zaubertränke herzustellen oder zumindest die etlichen platzeinnehmenden Zutaten zu lagern, war Mama schon immer sehr pragmatisch, was ihre Arbeit angeht. Gebraut wird ausschließlich in der Küche, weswegen haufenweise Töpfe in Betrieb sind, in denen stets irgendetwas erhitzt wird, auskühlt oder geheimnisvoll vor sich hin blubbert.

Schon sehe ich mich wieder als kleines Mädchen auf einem der Stühle stehen, um Mama beim Brauen zu assistieren. Ich durfte lediglich beim Rühren und Abwiegen helfen, was mir als Aufgabe aber schon genügte. Es ging um den Moment, um die gemeinsame Beschäftigung, und manchmal war ich insgeheim auch dankbar für die Ablenkung, wenn ich mal wieder zu viel über das Monster im Wald nachdenken musste. Oder über das tote Mädchen im See. Den Geist in den Wänden. Oft hörte ich ihn schaben, wenn es ganz still war. Wahrscheinlich waren es bloß Mäuse, aber Mama sagte, es wäre ein Geist. So viele unterschiedliche Geschichten hat sie mir eingetrichtert. Wozu? Was hatte sie davon, mich permanent in Angst und Schrecken zu versetzen?

»Was ist das alles?« Vicki hat sämtliche Schränke und Stellagen durchforstet und dabei natürlich allerhand komisches Zeug gefunden. Diverse Tiegel, Bottiche und Gläser mit Kräutern, Gewürzen und Heilpflanzen stehen überall herum, zwar sehr streng sortiert, aber die schiere Menge ist erschlagend. Kaum mehr vorstellbar, dass ich mich früher mit alldem auskannte. Ich wusste genau, wo was steht und was wozu verwendet wird.

»Das sind meine Zutaten, Schätzchen. Ich braue Heiltränke, weißt du. In der Natur verbirgt sich mehr Magie, als dir lieb ist.«

»Heiltränke? Du meinst, so wie eine Hexe?«

»Es ist alternative Medizin«, komme ich Mama zuvor, ehe sie die Hexentheorie bestätigen kann. »Oma kennt sich sehr gut mit Naturheilkunde aus. Das ist ein anerkanntes wissenschaftliches Gebiet.«

»Also bist du Ärztin«, schlussfolgert Vicki stirnrunzelnd.

Mama schiebt sich pikiert ihr Haarband zurecht. »Hexe ist mir lieber.«

»Du bist echt cool«, sagt Vicki grinsend, und Mama grinst verschwörerisch zurück. Nur mein Gesicht bleibt starr.

»Wir wollten doch einen Tee für euch beide aussuchen. Willst du sehen, was ich alles habe, Schätzchen?«

»Oh ja!«

Mama öffnet einen Schrank, in dem abgefüllte Gläschen stehen. »Das ist alles aus meinem Garten.«

»Wow«, staunt Vicki. »Den ganzen Tee hast du selbst gemacht? Ich dachte, den muss man kaufen.«

»Nicht, wenn man eine Blumenwiese vor der Haustür hat, Schätzchen.«

Während meine Mutter Vicki die einzelnen Sorten erklärt, stehle ich mich aus dem Raum und begebe mich ins Wohnzimmer.

Und auch hier: alles wie früher. Die riesige verglaste Verandafront lässt so viel Licht herein, dass untertags in diesem Raum niemals Lampen eingeschaltet werden müssen. Die Möbel sind aus dunklem Holz und verbreiten einen leichten Geruch nach Harz, der seit Jahren in diesem Haus zirkuliert wie unsichtbarer Goldstaub. Inzwischen gibt es einen Fernseher, das war nicht immer so. Ich bin ohne jede Technologie aufgewachsen, Fernsehen, Computer und Radio legten wir uns erst viel später zu. Aber es war nicht so, dass mir solche Dinge abgingen. Ich verstand es hervorragend, mich auf andere Weise beschäftigt zu halten, mit Malen, Gärtnern oder dem Schreiben von Geschichten. Bereits sehr früh brachte mir meine Mutter Lesen und Schreiben bei und unterrichtete mich auch später zu Hause. Dank ihres bereitwilligen Inputs hatte ich eine blühende Fantasie, schrieb Geschichten über Feen in magischen Wäldern und Ungeheuer im See und in den Höhlen des Berges. Es ist lange her, und doch erfüllt mich allein die Erinnerung daran mit dem Wunsch, zu Stift und Papier zu greifen.

Andächtig drehe ich eine Runde durch das Wohnzimmer. In der großen Vitrine steht nach wie vor das alte Zinngeschirr. Offenbar poliert sie es immer noch voller Hingabe – ich erkenne kein einziges Staubkorn, keinen einzigen Fleck. Als ein Lichtstreifen durch die Wolkendecke sticht, füllt sich der ganze Raum mit Wärme und Helligkeit, und ich trete nostalgisch gestimmt an die große Fensterfront.

Von hier aus kann man den See betrachten. Heute ist die Oberfläche so still, dass sich der Himmel, der Waldrand und die Berge darin spiegeln. Aber es gibt auch ganz andere Tage. Tage voller Nebel, Tage im Sturm, da wirkt dieser See wie eine Pforte zur Unterwelt. Manchmal ist der Wind so stark, dass du glaubst, das Haus, der Wald und alles, was du vor dir siehst, wird früher oder später vom Erdboden gefegt, und das Einzige, was bleibt, ist der See. Als wäre er das Zentrum dieser unheilvollen Naturgewalt. Als würde alles dort seinen Ursprung nehmen. In diesen dunklen Tiefen. In denen irgendwo ein totes Mädchen schwimmt.

Geschirr klappert. Als ich mich umdrehe, steckt Vicki den Kopf ins Wohnzimmer, in der Hand eine volle Teetasse. »Der schmeckt echt gut!«, flötet sie.

»Pass auf, dass du ihn nicht zu schnell trinkst, hörst du? Omas Tee kann ganz schön einfahren.«

»Was soll das heißen, einfahren?«

»Nicht so wichtig«, weiche ich aus.

Sie kommt langsam auf mich zu, um den Tee nicht zu verschütten. »Hier drin riecht’s komisch.«

»Das sind die alten Holzmöbel.«

»Riecht irgendwie verrottet.«

»Das bildest du dir ein.«

»Aber sonst ist es wirklich schön hier. Wieso waren wir nie zu Besuch? Oma ist doch voll nett.«

»Es freut mich, dass du sie magst.«

Sie wartet, dann wiederholt sie ihre Frage.

Ich seufze. »Wir haben uns nicht immer gut verstanden, das habe ich dir doch gesagt. Sie kann sehr … eigen sein.«

»Meinst du dieses ganze Hexen-Zeug? Ja, das ist schon schräg.« Sie nimmt einen schlürfenden Schluck und fügt hinzu: »Aber ist ja alles nicht echt.«

»Hat sie dir das gesagt?«

»Nein, aber das weiß man doch! Hexen gibt es nicht.«

»Warte mal ab, bis sie mit ihren Geistergeschichten daherkommt«, murmle ich.

»Was hast du gesagt?«

»Ich sagte: Ich frage mich, ob dort drüben immer noch der alte Hinterberger wohnt.«

Sie folgt meiner Blickrichtung und entdeckt die etwas heruntergekommene Holzhütte, die am anderen Ufer hinter den Nadelbäumen hervorlugt. »Meinst du das alte Haus dort? Da wohnt sicher niemand.«

»Doch, früher hat dort der Förster gewohnt. Ein komischer Kerl. Als Kind hatte ich immer Angst vor ihm.«

»Warum?«

»Ich weiß nicht … er war mir irgendwie unheimlich. Wie er aussah und wie seine Stimme klang. Einfach zum Fürchten.«

Sie trinkt weiter ihren Tee, und meine Gedanken driften ab, vom alten Hinterberger hin zum Wald. Zu der Höhle, tief versteckt in der Wildnis, von der meine Mutter oft erzählt hat. Sie hat mir niemals verboten, das Haus zu verlassen oder in den Wald zu gehen. Ich hätte überallhin gehen können, es gab nur eine Regel, die nicht gebrochen werden durfte: Geh niemals dort hinein. Meine Mutter nannte diese Höhle Folter. Allein der Name reichte aus, um mich nicht nur an die Regel zu halten, sondern auch um den Wald einen großen Bogen zu machen.

»Schätzchen, wie schmeckt dir der Tee?«

»Super!«, ruft Vicki in die Küche. »Der ist so richtig schön süß!«

»Das ist der Honig, Schätzchen. Stammt vom hiesigen Imker.«

Ich gebe Vicki einen leichten Schubs Richtung Küche. »Geh doch zu Oma und unterhalte dich mit ihr. Lernt euch ein bisschen kennen.«

»Kommst du nicht mit?«

Ich kenne sie bereits gut genug. »Später dann. Ich würde gerne ein bisschen allein sein.«