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Wie Wissen die Seele entlastet
Das unfassbare Ausmaß an Schrecken, Leid und Schuld der NS-Zeit hat alle geprägt: Verfolgte, Flüchtlinge, Bombenopfer, Soldaten, Täter und Mitläufer. Viele meinen, mit wachsendem Zeitabstand werde Verschwiegenes, Verleugnetes, Verdrängtes von damals immer weniger wirksam. Das kann sein. Es kann aber auch genau das Gegenteil zutreffen. Oft finden sich noch tiefe Spuren in der zweiten und dritten Generation. Solche Nachwirkungen der NS-Zeit beobachtet der Psychotherapeut Jürgen Müller-Hohagen seit Jahren in seiner Arbeit. Immer wieder stellt er dabei fest, dass derartige Spätfolgen nicht in Betracht gezogen werden. Dann suchen Menschen an der falschen Stelle nach Wegen aus ihren heutigen Schwierigkeiten. Durch eine Annäherung an die verborgenen Anteile der eigenen Familiengeschichte ergeben sich oft unerwartet klare Lösungen.
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Seitenzahl: 431
Das Dachau Institut Psychologie & Pädagogik steht im Internet allen zur Verfügung, die sich intensiver über psychologische und pädagogische Folgen des Nationalsozialismus bis ins heutige Leben von Menschen informieren und eventuell austauschen wollen. Leitung: Dr. Jürgen Müller-Hohagen und Ingeborg Müller-Hohagen. Weitere Informationen unter www.dachau-institut.de Kontakt: [email protected]
In diesem Buch wird gezeigt, wie wichtig es sein kann, bei seelischen Schwierigkeiten auch an Verursachungen zu denken, die bis in die NS-Zeit zurückreichen.
Diese Epoche ist zwar historisch intensiv erforscht worden, und darüber wurde mittlerweile viel für die Öffentlichkeit publiziert, doch auf psychologischem Gebiet liegt immer noch vieles im Dunklen. Die psychologische Perspektive aber ist unverzichtbar, wenn Menschen sich aus Verstrickungen befreien wollen, die in jener Zeit begonnen haben, in ihrem eigenen Leben, in dem ihrer Eltern, ihrer Großeltern ...
Viele meinen, mit dem wachsenden Zeitabstand werde Verschwiegenes, Verleugnetes, Verdrängtes von damals immer weniger wirksam. Das kann sein. Vielleicht trifft bei jemand anderem aber exakt das Gegenteil zu. Hier gilt es genau hinzuschauen.
Es sind extreme Spannungsfelder, in denen sich die verschiedenen Themen dieses Buches bewegen.
Hintergrund ist die Zeit des Nationalsozialismus, also ein Meer von Leid.
Dies wahrzunehmen fällt auch Jahrzehnte später äußerst schwer, erzeugt großes Unbehagen.
Nochmals aber steigen die Spannungen, wenn der Blick auf die unbestreitbare Tatsache geht, dass jenes Meer von Leid nicht irgendwie entstanden, sondern die Summe von unzähligen konkreten Handlungen war, Handlungen von Menschen aus Fleisch und Blut.
In diesen Spannungsfeldern bewegt sich alles, was im Folgenden zu berichten sein wird.
Im Mittelpunkt des Buches stehen Nachkommen von Menschen aus jener Zeit, Nachkommen von Verfolgten, von Tätern und Tatbeteiligten, von Soldaten, Flüchtlingen, Vertriebenen, Verschleppten ... Es kommen auch einige Stimmen zu Wort, die es noch selbst erlebt haben.
Über die NS-Vergangenheit wurde anschließend viel geschwiegen – oder übermäßig und einseitig geredet, was in der Wirkung dasselbe sein kann. Verdrängung und Verleugnung taten auf dieser Grundlage ihr Übriges. Und so wurden geschichtliche Tatsachen oft nur unvollständig oder widersprüchlich tradiert, oder es stand intellektuelles Wissen unverbunden einer weitgehenden Ausblendung persönlicher und familiärer Bezüge gegenüber. Oder es wurde das eine Leid gegen das der anderen gestellt, das der Flüchtlinge gegen den Horror auf Seiten der Verfolgten oder die Schuld der ehemaligen Volksgenossen1 gegen die Verbrechen der Sowjetsoldaten oder gegen israelische Besatzungspolitik von heute.
Die Perspektive dieses Buches ist die von psychologischer Beratung und Psychotherapie. Es geht um seelische Nachwirkungen der NS-Zeit, wie sie bis heute anzutreffen sind bei Menschen, die den Nationalsozialismus erlebt haben, bei ihren Kindern und Kindeskindern.
Berichtet wird aus der ganz »normalen« Arbeit an einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle in München, an die sich Menschen angesichts von Problemen rund um die Familie wenden. Dabei hat sich wiederholt herausgestellt, dass Hintergründe aus der Zeit des Nationalsozialismus einen ungeahnt großen Einfluss haben können.
Ein anderer Teil der hier vorgelegten Berichte stammt aus der psychotherapeutischen Praxis in Dachau, die ich nebenberuflich in kleinem Umfang betreibe. Hierher kommen mittlerweile überwiegend Menschen, die sich ausdrücklich mit Auswirkungen aus der NS-Zeit auf ihr persönliches Leben befassen möchten.
Darüber hinaus liegen diesem Buch Erfahrungen von Vorträgen oder Lesungen zugrunde, aus Arbeitsgruppen mit Kolleginnen und Kollegen sowie Mitteilungen in Briefen, E-Mails, Gesprächen.
Prägenden Einfluss hatten ehemalige KZ-Häftlinge.
Überhaupt war der Umstand, seit 1982 in Dachau zu wohnen, eine entscheidende Voraussetzung, mich diesen Themen umfassender zu nähern.
Im Folgenden werden vor allem Geschichten wiedergegeben, Geschichten, wie sie sich in dem besonderen kommunikativen Raum entwickelt haben, den Psychotherapie und psychologische Beratung ermöglichen können. Das sind keine »objektiven, wissenschaftlichen Wahrheiten« und auch keine distanzierten »Fallberichte«, doch ebenso wenig »rein subjektive Empfindungen«, sondern Ergebnisse eines komplexen Verständigungsprozesses im geschützten Raum des Sprechzimmers. Die eigene Subjektivität des Therapeuten lässt sich dabei nicht ausklammern, war sie doch unerlässlich für das Zustandekommen der Geschichten. Wohl aber wird sie möglichst genau reflektiert.
1988 habe ich bereits ein Buch fast gleichen Titels im Kösel-Verlag publiziert. Lange Zeit war es vergriffen. Immer wieder meldeten sich Stimmen, es erneut herauszubringen. Doch die Zeit ist nicht stehen geblieben. Atemberaubende weltgeschichtliche Umwälzungen haben stattgefunden, die noch im Jahre 1988 kaum jemand ernsthaft für möglich hielt. Der Fall des Eisernen Vorhangs, der Berliner Mauer, die deutsche Vereinigung, das Ende des Kalten Kriegs, doch dann auch die andere Seite, das Zerbrechen Jugoslawiens und damit – zuvor ebenfalls für undenkbar angesehen – lokale Kriege mitten in Europa, dann weltweite Auseinandersetzungen mit internationalem Terrorismus, neue Allianzen, grundlegende Veränderungen im Status Deutschlands, Beteiligung – auch das noch vor so wenigen Jahren völlig ausgeschlossen – an multinationalen Militäreinsätzen weltweit.
Veränderungen solchen Ausmaßes in der Gegenwart beeinflussen auch den Blick auf die Vergangenheit, lassen unter Umständen Geschichte in anderen Akzenten erscheinen. Das war zu bedenken bei den Überlegungen für die neue Veröffentlichung.
Und angesichts der Vorsicht mancher Formulierungen von 1988 wurde deutlich, um wie vieles die Auseinandersetzungen mit der NS-Zeit mittlerweile klarer geworden sind und dass Spannungen sich heute besser aushalten lassen. Auch das Wissen in erheblichen Teilen der Bevölkerung ist gestiegen dank vieler Aktivitäten, die bis in den Alltag reichen. Lokalgeschichte wurde erforscht, ebenso die Verwicklung ganzer Berufsgruppen, Dokumentationen erstellt über Schicksale von Verfolgten, Ausstellungen organisiert, Publikationen zu vielen Aspekten der NS-Verbrechen erarbeitet. Das alles fand Resonanz in breiten öffentlichen Diskussionen bis hin zu den Massenmedien.
In den achtziger Jahren war es noch wichtig, Dokumente auszubreiten, um einer weit weniger als heute informierten Öffentlichkeit (und dem Autor selbst) vor Augen zu halten, »wie es damals war«. Stattdessen kann der Blick heute zentral auf die Lebensgeschichten und persönlichen Berichte gehen. Und es muss nicht mehr dafür geworben werden, grundsätzlich überhaupt den Gedanken zuzulassen, die NS-Zeit könne zu seelischen Nachwirkungen geführt haben.
Wenn diese im Folgenden eingehender betrachtet werden, soll damit eine untergründige Realität, die bis heute besteht, besser sichtbar werden. Erst wenn das geschehen ist, lassen sich Verstrickungen aufheben, die einer lebendigen Auseinandersetzung mit Gegenwart und Zukunft im Wege stehen.
Das wiederum ist von hoher Bedeutung in Zeiten von Globalisierung und Terrorbedrohung, angesichts von Massenarbeitslosigkeit und neuer Armut, von Postmoderne und schon wieder deren Veralten, Umbau von Wirtschaft und Sozialstaat, Aufweichen religiöser und ethischer Gewissheiten, in Zeiten also von großer Verunsicherung.
Hier liegen die Gründe, warum von der alten Ausgabe sozusagen kein Stein auf dem anderen blieb. Der gesamte Rahmen wurde verändert, die Gliederung völlig neu konzipiert, viele Erkenntnisse und Lebensberichte aus gut fünfzehn Jahren weiterer Beschäftigung mit diesen Themen hinzugefügt. Erhalten blieb von damals nur eine Reihe von Geschichten, die auch weiterhin sehr aussagekräftig sind.
So ist hier insgesamt ein ganz neues Buch entstanden, das Einsichten und Perspektiven aus mittlerweile mehr als zwanzigjähriger intensiver Beschäftigung mit seelischen Nachwirkungen der NS-Zeit wiedergibt. Die gesamte Breite der Hintergründe – von den Verfolgten bis zu den Flüchtlingen und Ausgebombten – wird berücksichtigt.
Mein fachlicher Hintergrund ist vor allem durch die Psychoanalyse geprägt, außerdem durch verschiedene Ansätze der systemischen Familientherapie. Entscheidend für meine Arbeit aber ist mir, mit möglichst wenig Scheuklappen meinen Klientinnen und Klienten zu begegnen. Offenheit ist mir wichtiger als dogmatische Festlegungen. Theorien sollen dazu dienen, Erfahrungen überhaupt erst begreifbar zu machen, nicht aber sie zu erdrücken.
Zum Abschluss dieser Einleitung ein persönliches Wort zur Frage, ob es nicht zu belastend sei, sich mit diesen schweren Themen zu befassen und das über so lange Zeit. Das stimmt. Aber es gilt auch das Gegenteil: Es kann befreiend wirken.
Ich bin tief dankbar für unzählige Begegnungen, für Augenblicke der Unterstützung, des Miteinanders, der Verbundenheit, die das Leben von uns allen, die daran beteiligt waren, bereichert haben, die Brücken waren und sind angesichts der Abgründe von damals und ihrem Nachwirken bis heute. Ich hoffe, auch davon etwas weitergeben zu können.
Im Folgenden berichte ich über Nachwirkungen der Nazizeit, denen ich innerhalb meiner psychologischen und psychotherapeutischen Arbeit begegnet bin.
Dabei muss ein Punkt von vornherein festgehalten werden: Die Bedeutung dieses Themas hat sich erst ganz allmählich aus meiner »normalen« Tätigkeit heraus entwickelt. Ich habe also nicht etwa aktiv danach gesucht, sondern war beschäftigt mit den psychischen Problemen bei Erwachsenen, Kindern und Familien und interessierte mich dabei entsprechend meinem von der Psychoanalyse herkommenden Ansatz auch für deren Vergangenheit.
Es wäre deshalb ein Missverständnis, würde man angesichts der folgenden Darstellungen meinen, ich hätte es gezielt mit Menschen zu tun gehabt, die in besonderem Maße von der NS-Zeit gezeichnet sind. Es war über Jahre hinweg niemand aus diesem Grund zu mir gekommen, erst später durch die Veröffentlichungen – in der Regel in meiner Praxis –, und auch dann machte dies vom quantitativen Umfang her nur einen geringen Teil meiner beruflichen Tätigkeit aus. »Spezialist« für diese Thematik bin ich also nicht geworden, weil ich es mit einem ausgewählten Personenkreis zu tun gehabt hätte, sondern nur dadurch, dass ich allmählich sensibler dafür wurde und dementsprechend mehr wahrnahm als früher.
Vielmehr stellen die etwa 1500 Familien und Einzelklienten und -klientinnen, mit denen ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren am Kinderzentrum München und in der Beratungsstelle gearbeitet habe, einen breiten Querschnitt durch die Bevölkerung dar. Sie gehören eher nicht zu den Menschen, für die es einigermaßen selbstverständlich geworden ist, zum Psychotherapeuten zu gehen, sondern sie sahen sich durch Behinderungen, Störungen ihrer Kinder, Partnerprobleme, Trennung und Scheidung, seelisches Durcheinander gezwungen, nach fachlicher Hilfe zu suchen – oftmals zunächst widerstrebend. Andererseits ist gerade im sozial schwierigen Gebiet München Hasenbergl oft mehr Vertrauensbereitschaft zu finden, sobald die Hürden überwunden sind, als in finanziell besser gestellten Gegenden. Insgesamt sah ich nicht nur Familien aus der beim Psychologen meist überrepräsentierten Mittelschicht, sondern sehr viele von ganz »unten«, aber auch solche von weit »oben«.
Damit dürfte der Erfahrungshintergrund für die folgenden Darstellungen ausreichend benannt sein. Ich habe also nicht nach Kindern von Nazis gesucht1 oder nach denen von Verfolgten,2 sondern ich habe so, wie in Psychologie und Psychotherapie üblich, mit Klientinnen und Klienten an den heute sie beschäftigenden Schwierigkeiten gearbeitet und dabei Hintergründe aus der NS-Zeit mehr und mehr als einen möglicherweise bestimmenden Teil mit zu berücksichtigen gelernt.
»So viele?«
In der Erstfassung dieses Buches hatte ich eine vorsichtige Schätzung abgegeben, dass bei etwa jeder fünften Familie, die damals zu mir kam, Zusammenhänge mit der Nazizeit in der Vorgeschichte eine wesentliche Rolle spielten.3 Diese Frage ließ mir anschließend keine Ruhe, zumal verschiedene Fachleute sie für weit zu hoch hielten, und so habe ich eine gezielte Statistik über meine Klientenfamilien in der Beratungsstelle angelegt und kam für das Jahr 1988 auf 43 Prozent, bei denen ich mir solcher Zusammenhänge völlig oder weitgehend sicher war. Und keine dieser Familien hatte zuvor etwas von meiner Beschäftigung mit dem NS-Thema gewusst. Und da ich prinzipiell niemals systematisch nach Hintergründen aus dieser Zeit gefragt habe, weder damals noch heute, sondern nur, wenn sich dafür Gründe ergaben, ist eher anzunehmen, dass in Wirklichkeit der Prozentsatz höher liegen dürfte. Diese Erfahrung ist ein Hinweis auf Verleugnung, auch bei uns Fachleuten.
Wenn man nun bedenkt, dass in etwa die gleiche Größenordnung für die Gesamtbevölkerung gelten kann, mag man erschrecken. So viele? Ließe es sich auf der Straße im Sinne einer »Meinungsbefragung« erforschen? »Halten Sie sich oder Ihre Kinder noch für betroffen von der Nazizeit?« Gründe für eine derartige »Meinungsbefragung« beständen eigentlich genug. Verfolgte und deren Nachkommen gibt es häufiger in Deutschland, als im naiven Alltagsbewusstsein gemeint wird, und das Gewicht auf ihnen riefe eigentlich auch jenseits der bekannten Namen nach größerer öffentlicher Anteilnahme. Dann sind da die Millionen an Flüchtlingen, Vertriebenen, Verschleppten. Und die Millionen von Soldaten, Millionen von Kriegerwitwen und Halbwaisen, Millionen von Bombenkrieggeschädigten – sie alle und ihre Kinder könnten doch auf jene Frage mit Ja antworten. Und die Millionen von Parteigenossen und Funktionsträgern, wollen sie und ihre Nachkommen denn letztlich an der Mär von der »Stunde Null« festhalten, indem sie Nachwirkungen der NS-Zeit auf persönlichem Gebiet leugnen?
Betroffen sind sehr viele von uns – und nicht etwa nur ein paar Menschen wie die Klienten, über die ich im Folgenden berichte.
Auf allen Seiten kann sich viel übertragen haben zu den nachfolgenden Generationen. Manches davon ist eingekapselt, oft kaum noch kenntlich, selbst in einer sorgfältigen psychotherapeutischen Arbeit.
Auch wenn dies grundsätzlich für alle Seiten gelten kann, für Nachkommen von Tätern also durchaus ähnlich wie bei denen von Verfolgten, so ist hier von vornherein auf einen fundamentalen Unterschied zwischen diesen beiden Bereichen hinzuweisen. Oft wird behauptet, das Schweigen sei gleich gewesen, in den Familien von Verfolgten ebenso wie in denen der ehemaligen Nazis. Das ist grundfalsch, gilt nur für den oberflächlichen Blick. In Wirklichkeit ist es absolut nicht dasselbe, ob die eigenen Eltern oder Großeltern eigentlich zur Vernichtung vorgesehen waren und angesichts dessen nur noch schweigen konnten oder ob unsere Vorfahren an den Nazi-Verbrechen und ihrer Organisation, wie auch immer, beteiligt waren und darüber geschwiegen haben.
Bei den einen ist es Schweigen angesichts des Unsagbaren, bei den anderen ist es ein Verschweigen dessen, was sie getan, befürwortet, zugelassen oder auch ohne Einflussmöglichkeiten und doch dem Kollektiv der Verfolger zugehörig geduldet haben.
Schweigen und Schweigen ist hier einfach nicht dasselbe.
Ähnlich gilt: Schuld und Schuld, Schuldgefühl und Schuldgefühl, sie können etwas ganz Verschiedenes bedeuten, können in völlig anderen Kontexten stehen.4
Diese Unterscheidungen sind keine moralistischen Spitzfindigkeiten, wollen auch nicht eine »Kollektivschuld für alle Zeiten« festschreiben, sind eher Feststellungen mit dem Blick des Kindes aus Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, Feststellungen dessen, was eigentlich offensichtlich ist.
Dabei geht es zugleich um psychologische wie um ethische Fragen. Für Kinder gehört das zusammen. Sie haben feinste Antennen für die Dimension von Wahrheit und Lüge, brauchen das, um sich darüber zu orientieren, ob sie existenziell sicher sind oder nicht. Löcher in dem, was für Wirklichkeit erklärt wird, machen sie verrückt, verwirren sie, lassen sie nicht in Ruhe sein. Das Kind in Andersens Märchen ist noch nicht so verbogen, auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu verzichten.
Lange Vorspanne ermüden. Deshalb werden die Perspektiven, unter denen dieses Buch zustande gekommen ist, erst später erläutert. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen Lebensgeschichten, wie sie sich in Therapien und Beratungen gezeigt haben. Namen und äußere Daten sind selbstverständlich so geändert, dass die Anonymität gewahrt ist. Ich danke sehr für die Einwilligungen zur Veröffentlichung.
Menschen, die der Hölle von KZ und Holocaust entronnen sind, betonen, wie schwer oder ganz unmöglich es ist, das Erlebte mitzuteilen. Deshalb blieb hier anschließend so vieles im Schweigen.
Der Überlebende Elie Wiesel schrieb: »Jene, die es nicht erlebt haben, werden nie wissen, wie es war; jene, die es wissen, werden es nie sagen; nicht wirklich, nicht alles. Die Vergangenheit gehört den Toten, und die Überlebenden erkennen sich nicht in den Bildern und Ideen, die man sich von ihnen macht. Auschwitz, das ist der Tod, der totale, absolute Tod des Menschen, aller Menschen, der Sprache und der Vorstellungskraft, der Zeit und des Geistes.«5
»Denket, dass solches gewesen«
Die Berichte der Verfolgten und das Wissen, dass hinter ihnen, wie hier von Elie Wiesel gesagt, noch mehr ist, Unsagbares, sind der immer anwesende Horizont dieses ganzen Buches. Wer meint, davon schon genug zu wissen, irrt. Erst wenn wir die Berichte wieder und wieder zur Hand nehmen, merken wir vielleicht,
wie schwer uns das fällt,wie vieles wir wieder vergessen hatten,wie der Horror sich in unserer Erinnerung auf ein erträgliches Maß eingependelt hatte,wie unser eigener Hintergrund – Nachkommen ehemaliger Volksgenossen, von Verfolgten, aber auch noch von Fernerstehenden (Migranten) – plötzlich von größter Bedeutung ist ...Zugleich: Kann es überhaupt Fernerstehende, Außenstehende geben hinsichtlich dieser Schrecken, welche die ganze Menschheit angehen?
Ihr, die ihr gesichert lebetIn behaglicher Wohnung;Ihr, die ihr abends beim HeimkehrenWarme Speise findet und vertraute Gesichter:
Denket, ob dies ein Mann sei,Der schuftet im Schlamm,Der Frieden nicht kennt,Der kämpft um ein halbes Brot,Der stirbt auf ein Ja oder Nein.Denket, ob dies eine Frau sei,Die kein Haar mehr hat und keinen Namen,Die zum Erinnern keine Kraft mehr hat,Leer die Augen und kalt ihr SchoßWie im Winter die Kröte.Denket, dass solches gewesen.
Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen.Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzetIn einem Hause, wenn ihr geht auf euren Wegen,Wenn ihr euch niederlegt und wenn ihr aufsteht;Ihr sollt sie einschärfen euern Kindern.
Oder eure Wohnstatt soll zerbrechen,Krankheit soll euch niederringen,Eure Kinder sollen das Antlitz von euch wenden.
Das sind Worte von Primo Levi aus seinem Buch Ist das ein Mensch, die sich auch in der Gedenkstätte Auschwitz im Eingang des Italienischen Hauses finden.
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