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Der Höllenschlund unter London, genannt die Katakomben: ein in den 90er Jahren entdecktes Höhlensystem jenseits der U-Bahn-Tunnel, das Tausende Meter in die Tiefe reicht. Seinen Grund hat man bis heute nicht gefunden. Maeve O'Sullivan studiert an der University of Dublin und verfolgt das Ziel, zu einem Mudlark zu werden: einem eingefleischten Tiefenschürfer, der nach Schätzen in den Gewölben sucht. Angestachelt durch eine Wette steigt sie in die Tunnel hinab … verirrt sich jedoch. In dem Versuch, an die Oberfläche zurückzukehren, gelangt sie immer tiefer in dieses Netzwerk verworrener Korridore, bevölkert von grotesken Wesen wie heimtückischen Schlingpflanzen und wandernden Steinen. Dort begegnet sie dem rätselhaften Blaise. Er rettet sie vor dem sogenannten Wächter, einer Kreatur, die selbst die Mudlarks fürchten. Maeve wird von diesem mit einem Zeichen belegt, das sie zu einem Leben in der Tiefe verdammt – ohne die Möglichkeit, die Katakomben je wieder zu verlassen. Gemeinsam mit Blaise beginnt sie eine Reise in die Tiefe, mit dem Ziel, am Grund der Unterwelt eine Heilung zu finden.
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Seitenzahl: 433
Veröffentlichungsjahr: 2025
Für meinen Neffen Hieu
PROLOG
TEIL 1: FIRST DROP
TEIL 2: SECOND DROP
TEIL 3: THIRD DROP
TEIL 4: FOURTH DROP
EPILOG
Der Atem des Abgrundes begrüßte mich wie einen alten Freund. Stoßartig strömte die Luft aus dem Inneren der Erde hervor, eine Mischung aus Metall und Kälte, die mein Blut in Wallungen brachte – wenn da nicht das ständige Hupen der Autos gewesen wäre. Es störte diesen magischen Moment, einen Augenblick, den ich seit meinem Eintreffen in London herbeigesehnt hatte: den Eintritt in die Katakomben, jene Bereiche unterhalb der Stadt, die einst nur U-Bahn-Tunnel beherbergt hatten.
Unschlüssig betrachtete ich die unbarmherzigen Arme der Finsternis, die erst den Tourguide und dann alle weiteren Abenteuerlustigen erfassten. Nach und nach passierten sie die Barriere zwischen der hellen und der dunklen Welt.
Das Smartphone in meiner Umhängetasche vibrierte, eine leise Erinnerung an die panischen Nachrichten meiner Kommilitonin Amy, die sich auf dem Weg hierher immer weiter angehäuft hatten. Ich seufzte lautlos, die ungelesenen Nachrichten lagen inzwischen im dreistelligen Bereich. Die angezeigte Vorschau: »Tu das nicht, Maeve! Du musst niemandem etwas beweisen!«, wurde sofort von einer neuen Nachricht davongeschwemmt. Ich steckte das Telefon weg, ohne den Nachrichtendienst zu öffnen. Denn Amy irrte sich.
Hinabsteigen in die Dunkelheit, jedem einzelnen dieser verdammten Arschlöcher zeigen, dass ich sehr wohl das Zeug zum Mudlark hatte – ich wollte das, mehr als alles andere. Auch wenn es bedeutete, ein Risiko einzugehen.
»Die junge Dame mit den roten Haaren, beeilen Sie sich!«
Der Ausruf der Kartenverkäuferin beendete mein Grübeln, sodass ich mich eilends in Bewegung setzte – obwohl es in meinem Inneren brodelte. Junge Dame. Ja, so sah sie mich, die Verkäuferin hinter dem Glas und wohl auch die gesamte Welt. Es brachte nichts, sie zu korrigieren. Ich unterdrückte ein Schnauben und konzentrierte mich auf das, was vor mir lag. Die kühlen Sonnenstrahlen dieses gewöhnlichen Londoner Nachmittages blieben hinter mir zurück; immerhin hatte mich der übliche Regen auf dem Weg hierher verschont. Jetzt begegnete ich der klammen Umarmung des Untergrunds, gefolgt von einem Frösteln, das mir die feinen Armhärchen aufstellte.
»Es wird schnell kalt hier unten«, hörte ich den Tourguide sagen, dessen Ärmel ein grelles Emblem zierte: ein aufgesticktes Symbol in Form zweier Hände, die glänzende Juwelen umfassten. »Ziehen Sie Ihre Jacken über. Die Temperaturen werden noch weiter sinken und wir kehren erst in einer Stunde an die Oberfläche zurück.« Eine Stunde. Die Andeutung eines Lächelns eroberte meine Lippen. Das ist mehr als genug Zeit.
Ich folgte der Gruppe tiefer in den Tunnel hinein, nach wie vor hörte man die Geräusche der Stadt, begleitet vom natürlichen Licht der Oberfläche. Ein Kind neben mir betrachtete mit weit aufgerissenen Augen die kargen Steinwände: dunkelrot und rissig, doch nur Nachbauten, was dem Kleinen nicht bewusst sein konnte. Wie auch, immerhin bestand diese Gruppe hauptsächlich aus Touristen. Ich wusste es natürlich besser, hatte ich doch das Privileg, einen der europaweit begehrtesten Studienplätze ergattert zu haben.
Erst würden wir die ehemaligen U-Bahn-Tunnel passieren. Dahinter lag der echte, wahre Eingang zu den Katakomben. Ein lebensfeindlicher, unendlich tiefer Schlund, der laut den Legenden geradewegs in die Hölle führte. Touren wie diese brachten der Weltmetropole London Geld ein, obwohl sie nur an der Oberfläche dieser Untiefen kratzten: eine Attraktion sondergleichen, die den Menschen aus nah und fern die Wunder der uralten Gewölbe präsentierte – in abgespeckter, ungefährlicher Form natürlich.
Um mich herum säumten bestückte Fackelträger die Wände. Hier noch elektronisch, eine Spielerei, die die Atmosphäre des Untergrunds nachahmte. Ich unterdrückte den Drang, mit den Augen zu rollen. Bisher nur Theater für die Schaulustigen. Doch ich dürstete nach mehr.
»Etwa 35 Jahre liegt die Entdeckung der Katakomben nun zurück«, erläuterte unser Tourguide mit erhobener Stimme, während sie die Gruppe den düsteren Weg hinweg geleitete. »Zufällig von einem Schienenarbeiter im Jahr 1991 entdeckt und seither erforscht, birgt dieser Ort die letzten Geheimnisse unserer Weltgeschichte. Der Eingang, durch den wir heute eintreten, ist der erste, der gänzlich freigelegt wurde: direkt unter dem Londoner Covent Garden. Doch beherzigen Sie meine Warnung! Tiefenschürfer – auch Mudlarks genannt – berichten von abstrusen Kreaturen, die sich perfekt an die Finsternis angepasst haben, von dünner Luft und gefährlichen Pflanzen. Es ist Vorsicht geboten.« Sie verharrte vor einem kunstvoll an die Wand gemalten Graffiti, das in beeindruckender Weise die Tiefenschichten der Katakomben darstellte. Es zeigte ihren Querschnitt versehen mit einer Skala, die verdeutlichte, wie endlos der Höllenschlund in die Dunkelheit reichte. »Tiefer als der noch bis vor 35 Jahren als abgelegenster Ort der Welt bekannte Marianengraben und geheimnisvoller als die unbekannten Lebewesen des Meeres: Niemand weiß, wie weit die Katakomben Londons in die Tiefe reichen. Bisher hat man den Grund nicht gefunden.«
Ein ehrfurchtsvolles Raunen ging durch die Versammelten, nur ich stieg nicht mit ein. Hatte ich alles schon einmal gehört beziehungsweise gelesen. Mäßig interessiert betrachtete ich die Zeichnung vor mir und wanderte mit den Augen bis zur ersten Tiefenschicht, dem sogenannten First Drop, der die einstigen U-Bahn-Tunnel von den wahren Katakomben trennte. Mein Ziel. Bis dorthin reichte der Empfang der meisten Mobiltelefone, danach verlor sich das Signal im Nichts. Aber das würde mich nicht allzu lange kümmern.
»Bitte folgen Sie mir«, fuhr der Tourguide fort, die staunenden Touristen kamen ihrer Aufforderung nach. Ich ebenso, absichtlich bildete ich das Schlusslicht. Ich wollte nicht auffallen, möglichst unscheinbar wirken, um in einem unbeobachteten Moment meinen eigentlichen Plan umzusetzen. Es konnte jetzt nur noch Minuten dauern.
Eine geradlinige Strecke offenbarte sich als ehemalige U-Bahn-Haltestelle. Man hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Sitzbänke oder längst unbrauchbaren Fahrpläne nebst Werbepostern zu beseitigen. Sie gewährten einen Einblick in das London der 90er-Jahre, das einst völlig anders ausgesehen hatte. Jetzt waren sie nur noch Relikte der Vergangenheit, Überbleibsel, die an die Entdeckung dieses für Schlagzeilen sorgenden Loches in die Tiefe erinnerten.
Gänsehaut kroch über meine Arme, trotz der mitgebrachten Strickjacke. Derweil hielt der Tourguide vor einem Abstieg an der Wand inne. Eine breite Steintreppe führte in die Dunkelheit, nur durchbrochen vom Licht züngelnder Flammen entlang der Mauern. Ab hier gab es keine Elektrizität mehr.
»Dies ist einer der rund ein Dutzend Eingänge zu den Katakomben. Hier fand man kurz nach Entdeckung der Gewölbe die ersten Splitterkristalle, die unsere mutigen Tiefenschürfer zu den Energiekristallen führten.« Sofort tauchte das Bild vor meinem geistigen Auge auf: die winzigen, leuchtenden Kristalle neben den viel größeren, vielfarbigen Kristallen, übertragen auf den hochauflösenden Bildschirm meines Computers. Splitterkristalle – es gab sie in nahezu allen Farben – hatten keinen nennenswerten Nutzen. Tiefenschürfende sammelten die zumeist fingergroßen Brocken in den frühen Jahren nach der Entdeckung der Katakomben ein. Den Großteil hielt man in den hiesigen Museen unter Verschluss. Künstliche Nachbildungen dieser Kristalle gab es in jedem Souvenirladen Londons. Anders als Energiekristalle, galten diese schließlich als die ultimative Energiequelle. Schon einer davon reichte aus, um eine Stadt in der Größe Londons mit Energie zu versorgen – ohne jemals auszubrennen. Im Laufe der Jahre hatte man lediglich vier dieser einzigartigen Relikte geborgen; jedes einzelne kam dem Vereinigten Königreich zugute – meiner Heimat Dublin also nicht. Woher die Energiekristalle stammten und was sie speiste? Darüber stritt sich die Wissenschaft bis heute. Tatsache war, dass jene Tiefenschürfer, die das Glück hatten, einen dieser Steine an die Oberfläche zu bringen, gewaltiges Ansehen in der Society of Scraping genossen – und entscheiden durften, welche Stadt in den Genuss des Reliktes kam. Eines Tages finde ich auch einen Energiekristall und stelle ihn meiner Heimatstadt zur Verfügung.
Der Tourguide winkte uns voran, und ich folgte der Gruppe die Treppe hinab. Ab hier spürte ich die abstoßende Wirkung des Abgrundes schon um ein Vielfaches deutlicher. Wie ein Wispern in meinem Kopf, ein Wind, der unter Tage nicht existieren konnte: Verschwinde! In der Tiefe lauert dein Tod! Die Drohungen der Katakomben, ein Phänomen, von dem man bereits seit ihrer Entdeckung berichtete. Die merkwürdige Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken; einige der Touristen zogen die Jacken enger um sich.
»Lassen Sie sich von dem Flüstern nicht verunsichern«, beruhigte der Tourguide eine Frau mit gefurchter Stirn. »Solange wir uns auf den vorgesehenen Pfaden aufhalten, haben Sie nichts zu befürchten.«
Ich gab ein leises Zischen von mir. Und ob man sich fürchten sollte! Vor allem in den 90er-Jahren hatte die im Volksmund als Whispering bezeichnete Erscheinung unzählige Leben gekostet. Angelockt von der Gefahr und beflügelt von der Vorstellung unglaublicher Schätze, hatten viele Unerfahrene den Sprung in die Katakomben gewagt. Damals kehrten nur wenige Abenteurer an die Oberfläche zurück – denn dass die Gewölbe ihre ganz eigenen Risiken bargen, verbreitete sich durch die Erzählungen der Mudlarks wie ein Lauffeuer. Allem voran durch Greyson Evans, Tiefenschürfer der ersten Stunde, Gründer der Society of Scraping und Finder des Energiekristalls, der London versorgte. Und der vor neunzehn Jahren mit seinem Verschwinden für Schlagzeilen gesorgt hatte. Eine Legende, der jeder aufstrebende Nachwuchsschürfer nacheiferte. So auch ich, Maeve O’Sullivan, drittes Semester an der wissenschaftlichen Fakultät der Universität Dublin, Schwerpunkt Katakombenforschung.
Ich streckte den Rücken durch, nun ernsthaft gespannt auf das, was am Ende der Treppe auf uns wartete. Eines Tages werde ich ebenfalls ein Mudlark. Dann werde ich die Katakomben ständig so betreten. Aber das hier … ist das erste Mal für mich. Mein vor Aufregung wild klopfendes Herz trommelte unkontrolliert gegen meinen Brustkorb. Mudlarks, einst die Bezeichnung für Menschen, die in der Themse nach allerlei weggeworfenen Kostbarkeiten gesucht hatten, heute bekannt als Tiefenschürfer, die hier unten Schätzen nachjagten. Ihnen wollte ich angehören, diesen Menschen, die sich so sehr von jenen auf der Oberfläche unterschieden. Ein Bund von Abenteuerlustigen, die jeden Mutigen dort draußen willkommen hießen – ganz gleich, was die Welt von ihm hielt. Doch zuvor musste ich mich auf meine Worte besinnen, auf mein Versprechen, nicht mit leeren Händen zurückzukehren. Nur deshalb war ich hier.
Die Treppe endete und gab den Blick auf einen weiten Raum frei. Anstatt einer wie in den Lehrbüchern beschriebenen, üppigen Untergrundlandschaft fand ich lediglich ein aufgeräumtes Gewölbe vor. Glascontainer, die an übergroße Käseglocken erinnerten, bargen einige Lebensformen aus den tieferen Schichten jenseits des First Drop: allerlei Gewächse, fernab des Fackelscheins. Sie vertrugen kein Licht, wie viele Daseinsformen hier unten. Eine Karte an der Wand kennzeichnete den aktuellen Standort, daneben führte ein schmalerer Durchgang aus der Halle hinaus. Enttäuscht kräuselte ich die Nase, wie so häufig, wenn mir etwas missfiel. Aber das hier war ja erst der Anfang.
»Das Pflanzenreich unter Tage lässt sich nicht mit dem an der Oberfläche vergleichen«, erklärte der Tourguide. »Viele der hier lebenden Gewächse sind ungefährlich und dienen als Nahrungsquelle für Tunnelgetier oder die Wandernden Steine. Andere hingegen haben das Potenzial, einem Menschen die Sinne zu rauben, ihn zu betäuben oder gar bei Kontakt zu töten. Hier sehen Sie ein Exemplar …« Eine ausführliche Beschreibung einer der ausgestellten Pflanzen in den Schatten folgte. Ich hörte nicht länger hin, konnte ich das Grünzeug doch längst zuordnen: eine Frenzy Plant, deren Ausdünstungen starke Halluzinationen hervorriefen, beheimatet an der Grenze zwischen First und Second Drop. Diese hier sah ausgedorrt aus, als fehlte ihr das Wasser. Dabei ernährte sie sich eigentlich von einer völlig anderen Flüssigkeit.
Es dauerte eine ganze Weile, bis die Gruppe ihren Weg fortsetzte, endlich hinaus aus diesem Raum und durch den schmalen Korridor, der zunächst ereignislos vor uns lag. Die starken Wände verschwanden und ein hölzernes Geländer säumte beide Seiten. Links gähnte der Abgrund, rechts ragte ein steiler Hang in die Höhe, hin und wieder durchbrochen von Tunneln, die tiefer in die Katakomben führten. Na endlich! Mein Puls beschleunigte sich.
Die Finsternis jenseits des Feuers drückte die Stimmung der Gruppe. Die meisten Touristen suchten Schutz in der Nähe des Hangs, doch ich trat staunend an den Abgrund heran. In kurzen Abständen prangten Schilder an dem starken Bauwerk: NICHT ANLEHNEN, LEBENSGEFAHR!
Das auf meinen Lippen entstehende Schmunzeln sprach von dem Kitzel der Herausforderung. Endlich sah ich den Schlund zur Hölle mit eigenen Augen – nicht nur dargestellt in einem Buch, besprochen in einem vollen Hörsaal oder vom Bildschirm meines Computers aus.
»Junge Dame!«, bellte der Tourguide mit einem Mal, ich erstarrte mitten in der Bewegung. Heiß ballte es sich in meiner Körpermitte zusammen. Schon wieder junge Dame.
»Jenseits des Zauns geht es mehr als hundert Meter in die Tiefe. Sind Sie sicher, dass Sie einen solchen Sturz wagen wollen?« Ganz klar versuchte sie, der Gruppe und auch mir Angst einzujagen. Doch in mir tobte ein gänzlich anderer Kampf. Ich bin keine Dame! Das wollte ich ihr entgegenschleudern, verkniff es mir aber. Diese Art von Aufmerksamkeit konnte ich gerade wirklich nicht brauchen, das würde mir nur in die Quere kommen. Schlimm genug, dass sie jetzt womöglich ein Auge auf mich haben würde. Widerstrebend trat ich zurück; mit einem Schnauben kehrte mir der Tourguide den Rücken und fuhr in ihren Erläuterungen fort, während sie die Schaulustigen in gerader Strecke den eingezäunten Pfad entlangführte. Wie ein Hirtenhund. Ich blieb kaum merklich zurück.
»Die Katakomben des First Drop erstrecken sich über eine Weite von etwas mehr als fünfzig Kilometern entlang der gesamten Fläche Londons. Nach unten hin verjüngt sich dieser Bereich, sodass der Second Drop nur noch einen Bruchteil dieser Fläche ausmacht. Die Gebiete innerhalb des Third Drop und jenseits sind in ihrer Größe nicht zu beziffern, da sie bislang kaum erforscht werden konnten …«
Ein allmählich anschwellendes Geräusch ließ mich die Ohren spitzen. Es klang gurgelnd auf eine Art, die mir sofort einen reißenden Fluss vor Augen führte. Und dann kam er in Sicht: Die Fackeln warfen unsteten Schein auf den brausenden, mehrere Meter breiten Wasserfall, der seitlich den Hang hinabrauschte. Er strömte unter dem befestigten Weg durch ein Loch unter uns hindurch, sodass er jenseits dessen in der Finsternis entschwand. Ein Laut der Überraschung ging durch die Versammelten, und das Kind von vorhin sprang zu dem Geländer hin, ungeachtet der Warnhinweise.
»Mama, sieh mal!«, rief es – und schaukelte gefährlich hin und her. Die vermeintliche Mutter kreischte auf, sogar der Tourguide machte einen Satz auf das Balg zu – und ich witterte meine Chance.
Jetzt oder nie! Kurzerhand drückte ich mich in die Schatten und stieg flink über den am Hang befindlichen Zaun. In Windeseile fand ich einen der Tunnel und stahl mich davon, meine Zunge klebte trocken an meinem Gaumen fest. Beeil dich, Maeve! Sonst entdecken sie dich! Noch hörte ich die aufgeregten Rufe der Reisegruppe wie einen summenden Insektenschwarm in meinem Rücken. Mit jedem weiteren Schritt verloren sich ihre Geräusche hinter mir, mein Abstand wuchs. Schließlich hörte ich sie nicht mehr. Steif marschierte ich tiefer in den in Eile auserkorenen Tunnel. Hier gab es Fackeln, die zumindest ein bisschen Licht verströmten.
Mit einem Stoßseufzer stützte ich die Arme auf die Oberschenkel, mein wilder Blick suchte die kargen Wände ab. Das reicht, ich bin tief genug. Jetzt nur noch … Mein Smartphone brachte Licht in die Dunkelheit jenseits der Fackeln.
»Komm schon! Ein Splitterkristall. Es muss hier doch irgendwo einer zu finden sein.« Die Gesichter meiner Kommilitonen kamen mir in den Sinn, allem voran Amys vor Besorgnis zusammengekniffene Augenbrauen.
Sie gehörte nicht zu den Mobbern, die seit Studienbeginn die zurückhaltenden Studierenden malträtierten – aber auch nicht zu ihren Opfern. Ebenso wenig wie ich, bisher hatte ich die Konfrontation vermieden. Man hielt mich ohnehin längst für merkwürdig, für anders. Aber dieses eine Mal hatte ich nicht länger zusehen können – weil ihre Taten unliebsame Erinnerungen in mir wachgerufen hatten. Harsche Worte, Beleidigungen, Unverständnis: Das alles kannte ich leider viel zu gut. Doch auch in dem großen Hörsaal hatten sie mich ausgelacht. Ihr Gelächter hallte wie ein fernes Echo durch meinen Kopf, es schürte meine Entschlossenheit.
Was mischst du dich ein, Ginger? Geh mir aus dem Weg.
Ginger. Eine der harmloseren Beleidigungen, mit der man zwar meine Knöpfe drückte, mich aber nur oberflächlich traf.
Was denn, glaubst du echt, aus dem Pack vor dir werden irgendwann Tiefenschürfer?
»Ja«, antwortete ich laut, als befände ich mich erneut in diesem Streitgespräch. »Genauso wie ich.« Das Echo kehrte zu mir zurück, als gehörten meine Worte nicht mir, sondern meinen Kommilitonen. Sogar die Höhlenwände verhöhnten mich.
Na, sieh mal einer an! Ganz schön große Klappe für ein kleines, schwaches Mädchen. Wie wäre es mit einem Deal? Wenn du wirklich so furchtlos bist, dann fahr nach London und steig in die Katakomben. Hol uns einen Splitterkristall aus dem First Drop. Falls du lebend zurückkommst, lassen wir dich und alle anderen in Ruhe. Hört sich doch gut an, oder etwa nicht?
Meine Handfläche kribbelte von der Erinnerung des Einschlagens. Ich biss die Zähne zusammen, immer auf der Suche nach einem entlarvenden Schimmern entlang der Wände. Es musste schnell gehen. Der kleine Hammer und mein winziger Meißel würden mir helfen, einen Splitterkristall aus dem groben Felsen herauszulösen. Dann würde ich einfach auf den Wanderweg zurückkehren und der versprengten Touristengruppe folgen – in meiner Hand den Beweis meiner Furchtlosigkeit. Ganz einfach. Zumindest in der Theorie. Denn die Wände waren leer. Sicherlich bereits vor Jahren von allen Splitterkristallen befreit. Ich kräuselte die Nase. Verdammt!
Unschlüssig holte ich mein Werkzeug hervor und hämmerte für eine kurze Weile auf das Gestein ein, in der Hoffnung, vielleicht doch eines der Relikte zu entdecken. Das Geräusch klang unnatürlich laut in meinen Ohren. Aussichtslos, wie erwartet. Unruhig wanderten meine Augen über den in die Tiefe führenden Korridor. Ich würde weitergehen müssen, wenn ich einen Splitterkristall finden wollte. Na los, Maeve, sei kein Feigling! Du bist jetzt schon so weit gekommen, da kannst du nicht mit leeren Händen zurückkehren!
Ich nahm all meinen Mut zusammen und glitt tiefer in die Dunkelheit hinein, stets darauf bedacht, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Hin und wieder testete ich das Gestein. Splitterkristalle gab es überall in den Katakomben. Ich musste einfach einen finden, den man übersehen hatte. So schwer konnte das nicht sein. Derweil strichen meine Finger über die rauen Höhlenwände; die Kälte ging irgendwann auf mich über, die metallene, ebenso kühle Oberfläche der Werkzeuge trug nicht unwesentlich dazu bei. Minutenlang erlaubte ich der Finsternis, mich zu verschlucken, immer tiefer hinein in diese schier endlosen Gewölbe. Das hier dauerte bereits länger, als ich mir selbst im Vorfeld zugestanden hatte. Ob man bemerkt hat, dass ich verschwunden bin? Unautorisiertes Schürfen bestrafte man streng. Doch sicherlich würde man einer neugierigen Studierenden nur desinteressiert auf die Finger klopfen – zumindest redete ich mir das ein.
»Ich kann es kaum erwarten, die verdammten Katakomben zu verlassen.«
Die aus dem Nichts zu mir herandringenden Worte ließen mich zur Salzsäule erstarren.
»Das kannst du laut sagen. Ich wünschte nur, wir hätten mehr mit nach oben gebracht. Der Plunder wird sich kaum zu Geld machen lassen. Dabei durften wir endlich mal in der Zwei schürfen.«
Mudlarks, schoss es mir durch den Kopf, es folgte Licht am Ende des Tunnels. Wenn man mich hier findet, stecke ich in gewaltigen Schwierigkeiten!
Instinktiv wich ich zurück, das Werkzeug in meiner Hand fest umklammert, auf der Suche nach einem Ausweg – und fand ihn in Form eines abzweigenden Durchgangs, den ich bisher in der Schwärze übersehen haben musste.
Ich hechtete los, im Begriff, mich innerhalb des Tunnels zu verstecken – und blieb an einem hervorstehenden Stein am Eingang hängen. Ich ächzte auf, der Hammer entglitt meinen Fingern und rauschte mit einem viel zu gut hörbaren Klirren zu Boden.
»Was war das?«, rief jemand in kaum nennenswerter Entfernung, das Herz rutschte mir in die Hose. Eilig sprang ich in den Korridor hinein – und sah mich abschüssigem Gelände gegenüber. Schlitternd suchten meine Füße nach Halt, meine Hände wollten sich festkrallen, ganz gleich wo, doch da gab es nichts. Ich kippte vornüber und schlug einen Purzelbaum, danach befand ich mich in freiem Fall.
Der Luftstrom riss an mir. Er zerrte an meiner Haut, meinem Haar, meiner Kleidung, zeitgleich öffnete ich die Lippen für einen Schrei, der nicht kam. Abgewürgt von der harten Berührung des Schuttes in meinem Rücken, fast wie vor ein paar Jahren bei einem Treppensturz. Unkontrolliert rutschte ich weiter, meine Ellbogen schrammten über das Gestein, nur spärlich gedämpft durch die Strickjacke. Doch ich wurde nicht langsamer. Hilflos sank ich immer tiefer in die alles umgebende Schwärze – und erreichte ohne Vorwarnung den Grund.
Stille, bis auf meine eigenen, abgehackten Atemzüge. Und Schmerz. Meine Unterarme brannten, ebenso wie mein Hintern, der den Großteil der Strapazen abgefedert hatte. Ansonsten blieb ich völlig regungslos. Was ist da gerade passiert? Vielfach hallte diese Frage in meinem Kopf wider, die Antwort kristallisierte sich geradezu schmerzlich heraus: Ich bin den Abhang runtergefallen.
Zittrig wanderten meine Finger bis hin zu einem meiner brennenden Unterarme. Sie fanden angeraute Wollfäden. Ich konnte nichts sehen, daher nur mutmaßen, dass ich mir womöglich die Haut aufgeschrammt hatte. Mein wummerndes Herz machte es fast unmöglich, in mich hineinzuhorchen, doch ich stellte fest, dass mir ansonsten nichts fehlte. Glück im Unglück. Fahrig flog mein Blick nach oben, dorthin, von wo aus ich gefallen sein musste. Um mich herum herrschte Dunkelheit. In einer ersten Eingebung kramte ich mein Smartphone heraus – und blinzelte. Die plötzliche Helligkeit stach mir in den Augen, ich spähte aus zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm.
Scheiße!
Feine Risse durchzogen das Frontglas, musste bei der Rutschpartie passiert sein. Aber dagegen konnte ich jetzt nichts tun. Weder schwarze Punkte noch ein unsauberes Bild, also wenigstens kein Displayschaden. Ich wechselte zur Handy-Taschenlampe, um meine Umgebung in Augenschein zu nehmen.
In einem dunklen Bereich neben dem Hang, wenige Meter von mir entfernt, entdeckte ich Tunneleingänge. Mehr gab es hier unten nicht. Behutsam rappelte ich mich auf, tatsächlich fühlte ich mich bis auf den Schrecken ganz gut. Ich bin im First Drop. Die Erkenntnis kam so unvermittelt, dass mir die Knie weich wurden. Mist! Ich wollte nie so tief … Wie komme ich hier wieder raus? Jetzt bloß nicht in Panik geraten. Für einen Moment erwog ich zu schreien. Würde man mich hören, hier unten, fernab der Wanderwege? Ich würde es herausfinden.
»Hallo?« Meine eigene Stimme klang seltsam gepresst. »Bitte, ich brauche Hilfe! Ich bin runtergefallen!« Das mir entgegenschlagende Echo jagte mir einen Schauer über den Rücken. »Kann mich jemand hören?«
Die Stille antwortete auf die wohl unbarmherzigste Art. Ihr Schweigen wollte mir die Tränen in die Augen treiben. Was jetzt? Soll ich hier warten? Und wenn niemand kommt? Ich habe weder Wasser noch Essen. Und mein Smartphone … Das Kreissymbol mit dem schrägen Strich in der Mitte bewies, dass es hier keinerlei Empfang gab. Ich versuchte es dennoch. Ruhelos lief ich ein Stück hin und her, das Gerät in meinem ausgestreckten Arm, den Notruf gewählt. Kein Freizeichen. Kein Klingeln. Mein Atem beschleunigte. Ruhig bleiben. Wenn du niemanden rufen kannst, dann … Ich rief mir meine Lehrbücher in Erinnerung, die den Aufbau der Katakomben beschrieben. Der First Drop besaß unzählige Aufgänge zu den alten U-Bahn-Tunneln. Da würde es ja wohl nicht so schwer sein, einen davon zu finden. Ich musste es nur wagen. Geräuschvoll glitt mir der Atem über die Lippen. Ich komme hier raus, solange ich mich an meine Vorlesungen erinnere. Ich kenne die Welt hier unten. Ich muss mich nur zusammenreißen.
Der First Drop erstreckte sich über eine weite Fläche. Weitestgehend erschlossen, relativ ungefährlich, wenn man mal das Risiko eines Falls außer Acht ließ. Denk nach, Maeve. Wo bist du? Vor meinem inneren Auge manifestierte ich die Bezirke der Stadt, samt Covent Garden im Londoner West End – also das Zentrum. Ich befinde mich unterhalb des Stadtzentrums. Ich könnte versuchen, den Big Stream zu erreichen. Ja, das ist es!
Ruhiger betrachtete ich die Akkuanzeige meines Telefons. neunundachtzig Prozent. Ohne saugende Hintergrundprozesse würde das eine ganze Weile reichen, das Smartphone kalkulierte im Stromsparmodus eine Laufzeit von etwas mehr als zwei Tagen. Ich zog die Brauen zusammen. Das ist machbar. Ich muss nur konzentriert bleiben!
Mit steifen Schritten näherte ich mich dem erstbesten Durchgang, vorsichtiger diesmal, weil ich keinen zweiten Absturz riskieren wollte. Das Licht des Handys leuchtete mir den Weg, zumindest erlaubte der Lichtkegel, dass ich mir einen Überblick verschaffte. Der Tunnel sah sauber aus. Nicht ganz so sehr wie in den Bereichen für Touristen, in denen man sogar die scharfen Kanten aus dem Felsen geschliffen hatte. Hier existierten zahllose Unebenheiten, auf die ich besser achten sollte. Meine Unterarme meldeten sich schmerzhaft zurück, ich rieb darüber, um den Schmerz zu verdrängen. Meine Finger zitterten. Ich habe Angst. Natürlich. Wer hätte keine verdammte Angst in einem stockdunklen Tunnelsystem, in dem allerlei Kreaturen …
Ein plötzlicher, infernalischer Laut entlockte mir ein Japsen. Ich schrak so heftig zurück, dass ich gegen die Tunnelwand taumelte. Mit Mühe hielt ich mich auf den Beinen. Das Geschrei – ich wusste instinktiv, dass etwas Lebendiges dieses Geräusch verursachte – hallte nach. Nicht für lange, doch stark genug, dass sich mir die Nackenhaare aufstellten. Sekundenlang verharrte ich, fixiert auf das grauenvolle Wehklagen. Diesen gewaltigen, ungebändigten Schrei, ausgestoßen von einem Wesen, das allein die Katakomben bewohnte. Meine Glieder versteiften sich. Das Tiefengebrüll, benannte ich das Phänomen, das bereits unzählige Mudlarks beschrieben hatten. Niemand wusste, welcher Kreatur dieses Geräusch entstammte, keiner hatte sie je gesehen. In den Lehrbüchern hieß es nur, dass sie jenseits der kartierten Bereiche des Höhlensystems leben musste, irgendwo unterhalb des Second Drop.
Mein Herzschlag beruhigte sich nur langsam. Es war eine Sache, davon zu lesen. Es aber mit eigenen Ohren zu hören, in dieser Situation, in einem Augenblick, der mich gänzlich meinen Ängsten auslieferte, brachte mich vollkommen aus dem Konzept. Was auch immer das war, es ist nicht hier. Du bist in Sicherheit, Maeve. Folg einfach dem Tunnel. Alles wird gut.
Meine Beine gehorchten nur widerwillig. Ich setzte mich in Bewegung, es blieb für lange Zeit still. Ich nahm all das wie losgelöst wahr, als geschähe es nicht mir. Wahrscheinlich stand ich unter Schock. Befand ich mich tatsächlich innerhalb des First Drop der Katakomben Londons? Stand mir ein ähnlich schreckliches Schicksal wie dem Cave Diver bevor, der so tragisch innerhalb der Nutty Putty Cave sein Leben gelassen hatte? Den man nie hatte bergen können? Bullshit! So weit kommt es nicht. Man findet mich und in ein paar Tagen verbuche ich das hier als unglücklichen Zwischenfall. So was passiert nie einem selbst. Nur anderen … Hoffe ich.
Irgendwann verlor ich das Zeitgefühl. Mein Smartphone zeigte mir, dass es kurz nach 16 Uhr war. Erst vor etwa einer Stunde hatte ich den Untergrund betreten. Die Gruppe musste längst an die Oberfläche zurückgekehrt sein und mein Fehlen bemerkt haben. Ob man nach mir suchte? Vielleicht hätte ich am Ort meines Absturzes bleiben und warten sollen. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
Meine Füße taten allmählich weh vom Laufen, meine Unterarme brannten, verständlich nach dem Fall – und dann beleuchtete das Licht meines Smartphones etwas an der Wand. Ich merkte auf – und kräuselte die Nase. Wirklich?
Ein gelb leuchtendes Fragment, verführerisch eingebettet im Felsen. Ein Splitterkristall. Ausgerechnet hier unten, ausgerechnet jetzt. Unschlüssig fasste ich ihn aufmerksamer ins Auge, ich spiegelte mich auf seiner Oberfläche: wunderschön schimmerte er, fast so durchlässig wie Glas, doch robuster als die meisten Materialien der Oberflächenwelt. Mit dem Meißel allein würde ich ihn kaum herauslösen können, dazu fehlte mir der verlorene Hammer. Trotzdem rührte ich mich nicht von der Stelle. Wenn ich ihnen das nächste Mal gegenüberstand, würde ich nichts vorweisen können. Selbst wenn mein unerlaubter Abstieg Konsequenzen mit sich brachte.
Automatisch fanden meine Finger den Meißel in meiner Tasche. Ich entdeckte ein herumliegendes Gesteinsstück und stemmte den Meißel in die Kerbe im Fels. Drei beherzte Schläge später hielt ich den Splitterkristall in Händen. Das Lächeln eroberte meine Lippen schon beinahe ohne mein Zutun. Na bitte! Sorgsam schob ich den Beweis meines Mutes in die Umhängetasche, ich wickelte ihn sogar in ein mitgebrachtes Taschentuch. Amy hatte recht. Ich hätte nie auf die Provokation eingehen dürfen. Das habe ich jetzt davon. Ich schüttelte meine Locken – und erhaschte eine Bewegung unweit von mir, gefolgt von einem kurzen Piepsen. Wieder schrak ich zusammen, jedoch nicht so heftig wie während des Tiefengebrülls. Runde Augen, in denen sich das Licht fing, Fell so weiß wie Schnee. Ein Höhlenhermelin! Es huschte davon, gerade einmal so lang wie mein Unterarm. Sie zählten zu den ungefährlichsten Bewohnern des First Drop, die sich hauptsächlich von Cave Shrooms ernährten, im Volksmund auch Leuchtpilze genannt.
Ich hatte weder die Tierchen noch die Pflanze je lebendig zu Gesicht bekommen, doch ihr Erscheinen machte mir Mut. Wo es Cave Shrooms gab, existierte auch Wasser. Und wo sich Wasser befand … Kurzum beschleunigte ich meine Schritte in die Richtung, aus der ich das Piepsen vernahm. Weitere Höhlenhermeline kreuzten meinen Weg. Hatte ich mich unfreiwillig in einem Bereich verirrt, der ihnen als Nistplatz diente? Darüber stand nichts in den Büchern. Wahrscheinlich, weil die Tiere kaum Interesse weckten. Wie die meisten Lebewesen unterhalb Londons konnten auch sie an der Oberfläche nicht überleben. Sie starben, wenn man sie über die Schwelle des Höhlensystems brachte – also die U-Bahn-Tunnel. Das machte jeden Versuch, sie als exotische Haustiere zu vertreiben, schon im Ansatz zunichte. Daher ließ man sie vollkommen in Ruhe. Die beständigen Geräusche ihrer trippelnden Füßchen verschafften mir ein Gefühl der Sicherheit. Solange sie emsig durcheinanderhuschten, offenbar wenig beeindruckt von meiner Präsenz, hatte ich nichts zu befürchten. Zumindest wollte ich das glauben.
Verschwinde! Das einsame Wort reichte, um mich mitten in der Bewegung erstarren zu lassen. Geh dorthin zurück, wo du hergekommen bist! Diese Höhlen sind dein Tod. Das Whispering. Es erfüllte meinen Kopf mit aller Macht, strich wie ein Luftzug über meine Wangen, eine Warnung, die ich nur zu gern beherzigt hätte. Seit geraumer Zeit fiel der Weg ab, wahrscheinlich suchte es mich deshalb heim. Meter um Meter zog es mich in die Tiefe, hin zum unbarmherzigen Schlund der Unterwelt. Wie weit befand ich mich mittlerweile von der Oberfläche entfernt? Ohne ein Tiefenmessgerät konnte ich nur mutmaßen. Allein der First Drop reichte etwa 500 Meter nach unten. Aber für mich gab es lediglich diesen einen Weg, diese eine Richtung. Also musste ich das Whispering ignorieren.
Als würde das etwas helfen, presste ich mir die Hände auf die Ohren. Leider hörte ich es trotzdem. Du wirst einen grausamen Tod erleiden. So ohne jede Gesellschaft fühlte sich die Stimme unangenehm persönlich an. Als folgte sie mir wie ein konturloses Gespenst, lauernd auf jeden meiner Schritte. Ging es so allen Mudlarks, die sich in die tieferen Ebenen der Katakomben begaben?
Schließlich endete der Strom der Worte. Sie lösten sich auf und ließen mich mit mir selbst zurück. Erleichtert atmete ich durch und beschleunigte meine Schritte. Ich konnte es kaum erwarten, den Untergrund zu verlassen. Zu einem späteren Zeitpunkt wollte ich zurückkehren, mit Ausrüstung und in Begleitung fähiger Tiefenschürfender. Die Vorstellung gefiel mir. Am Ende meines Studiums würde ich dazu imstande sein – vorausgesetzt, ich bestand die Eignungsprüfung.
Ein Rauschen unterbrach meine Gedanken jäh. Hoffnungsvoll stürzte ich weiter, hin zu dem gewaltigen Geräusch, dem Versprechen auf Rettung.
Und dann wurde das Licht meines Smartphones überflüssig. Leuchtende Pilze kreuzten meinen Weg, groß und dick und überall entlang der Wände. Cave Shrooms. Diese hier schimmerten bläulich und verliehen den kargen Höhlenwänden einen kalten Schein. Ihre Zahl wuchs, ein dichter Garten aus Pilzgewächsen, der schließlich in eine Höhle mündete, so gewaltig, dass man sie kaum mit einem Blick erfassen konnte.
Zum ersten Mal erblickte ich ihn mit eigenen Augen, beleuchtet vom Glanz der Gewächse: den Boden des Big Stream, des die Katakomben speisenden Wasserfalls. Er folgte den abfallenden Felsterrassen, sodass man kaum von einem einzigen, geraden Strom sprechen konnte. Mehr von vielen einzelnen, die sich am Grund in zahlreiche, abzweigende Flussarme aufteilten. Über mir rauschte das fallende Wasser durch gewaltige Höhen, die gänzlich in der Dunkelheit versickerten. Dort oben musste es weitere Pilze geben, denn ihr fernes Leuchten erschien mir wie der Glanz der Sterne. Fast wie der Nachthimmel.
Ich erspähte einige Höhlenhermeline. Die emsigen Kletterer manövrierten spielend leicht auf der zerklüfteten Oberfläche, wahrscheinlich lebten sie in den Zwischenräumen. Meine Fingerspitzen kribbelten vor Aufregung. Ich sog den Anblick in mich auf, in der Ahnung, dass es nicht vielen Studierenden vergönnt sein würde, dieses Wunder der Tiefe aus der Nähe zu betrachten. Viele begannen das Studium, doch mit einer Abbruchquote jenseits der 70 Prozent stellte die Schwierigkeit selbst die anerkanntesten Studiengänge weit in den Schatten.
Hier würde man mich finden, ganz bestimmt. Das Areal um den Big Stream galt als gut besucht, ein Zufluchtsort für Mudlarks, die rasten wollten. Von nun an wähnte ich mich in Sicherheit, zumindest vorerst. Ich musste lediglich warten und geduldig sein.
Ergriffen machte ich ein halbes Dutzend Schritte in die Höhle hinein, noch befand ich mich am Rand. Irgendwann hatte ich gelesen, dass der Durchmesser dieses Gewölbes etwas mehr als einen Kilometer betragen musste. Viele der hier befindlichen Wasserfälle traten ins Gestein ein, um sodann, umschlossen vom Fels, weiter in die Tiefe zu wandern. Man vermutete ein kompliziert verzweigtes Flusssystem, das alle Schichten durchdrang. Ich durfte also nicht ins Wasser fallen. Die Strömungen galten als tückisch, denn wenn man einmal unterging, kam auch der beste Schwimmer nicht wieder an die Oberfläche. Daher umging ich die Flussarme weitläufig. Neben einem großen Pilz, der mich deutlich überragte, sank ich in die Knie. Meine Füße schmerzten vom langen Laufen, meine Unterarme fühlten sich warm an. Trotz der Kälte streifte ich die Strickjacke über die Schultern. Rötliche Schürfwunden, nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Kurz verharrte mein Blick auf der gezackten Narbe, die sich senkrecht von meinem linken Handgelenk in Richtung Arm zog. Schnell bedeckte ich sie mit dem Saum. Ich konnte von Glück sprechen, dass mir bei dem Sturz nicht mehr zugestoßen war. Sofort zog ich die Strickjacke wieder an und den Stoff enger um mich. Hier gab es Licht, notfalls sogar Wasser und Nahrung. Meine Zuversicht wuchs, die Angst verging.
Die Müdigkeit forderte ihren Tribut, denn die Aufregung hatte meinen Körper ausgezehrt. Und so fielen mir die Augen zu. Nur etwas ausruhen. Wenn ich aufwache, ist jemand da, um mich zu retten.
Die Zeit wurde träge, der Schlaf übermannte mich, meine Glieder entspannten sich. Ich träumte von wirren Dingen, nicht greifbaren Farben und Formen, geboren aus den Eindrücken der Unterwelt. Nichts davon ängstigte mich, im Gegenteil, es zog mich an. Wie ein Strudel unter Wasser, der mich mit jedem Herzschlag tiefer hinabzog.
»Shit!«
Der hervorgestoßene Fluch brachte mich zurück, riss mich aus dem Land der Träume und hinein in den Anblick zweier grünlicher Brillengläser, kaum mehr als einige Handbreit von mir entfernt. Die Gläser gehörten zu keiner gewöhnlichen Brille, denn dicke Riemen hielten sie an Ort und Stelle. Sekundenlang starrte ich den Fremden an, fassungslos, erschrocken, dann öffnete ich die Lippen. Der aus mir herausbrechende Schrei ließ mein Gegenüber zusammenfahren. Ruckartig richtete er sich auf und suchte das Weite, mit seinen Händen umklammerte er …
»Meine Tasche!«, polterte ich, mit einem Mal völlig klar. Ich sprang auf, bereits im Begriff, ihm nachzusetzen, doch mein erschöpfter Körper wollte nicht. Als ich endlich stand, sah ich ihn nur noch einen der Flussarme überspringen. Weiter, als ich es einem gewöhnlichen Menschen zutraute, und mit einer Koordination, die ihresgleichen suchte. Sodann verschwand er in den Tiefen eines angrenzenden Tunnels.
Wie vor den Kopf gestoßen, starrte ich ihm nach. Das war kein Mudlark. Sein zur Hälfte von dieser fremdartigen Brille verdecktes Gesicht mit der hellbraunen Haut, das rabenschwarze Haar, die sehnige Statur – nichts Ungewöhnliches, wenn ihm denn nicht jegliche Ausrüstung gefehlt hätte. Wer war das? Perplex fixierte ich den Tunneleingang. Und warum hat er meine Tasche gestohlen? Siedend heiß kam mir der darin verborgene Splitterkristall in den Sinn. Nein! Ohne ihn bin ich ganz umsonst hierhergekommen!
Unschlüssig stand ich herum, durfte mich eigentlich nicht von hier wegbewegen. Schließlich musste ich auf einen richtigen Mudlark warten, der mich aufgabeln und an die Oberfläche zurückbringen sollte. Mein Blick fiel auf die Stelle, an der ich eben noch gelegen hatte. Das Smartphone ruhte am Boden, es musste wohl aus meiner Hosentasche gefallen sein. Und daneben … Stutzend ging ich in die Knie. Ein Ring. Silbrig, schlicht und recht schmutzig, als habe man ihn jahrelang mit sich herumgetragen, ohne ihn je richtig zu reinigen. Aber das war nicht alles. Unweit davon befand sich ein mir allzu bekanntes, rechteckiges Päckchen. Es trug den Namen eines Londoner Pubs. Streichhölzer. Ob der Fremde die beiden Gegenstande während seiner überstürzten Flucht hatte fallen lassen? Möglicherweise doch ein Tiefenschürfer?
Kurzum nahm ich die Streichhölzer und den Ring an mich, zumindest ein leises Gefühl der Befriedigung in der Magengrube. Nun hatte nicht nur ich etwas verloren. Aber meinen Splitterkristall ersetzt das nicht. Wieder wandte ich mich der Höhlenöffnung zu, durch die der Fremde den Abgang gemacht hatte. Schadete es, einen Blick zu riskieren? Vielleicht hatte er die Tasche längst beiseitegeworfen, denn etwas Nützliches befand sich darin ohnehin nicht. Außer er sammelte Studierenden-Ausweise.
Mit einem kräftigen Atemzug machte ich mich auf den Weg. An einer Stelle wurde der Flussarm schmal genug, dass ich ihn mit einem beherzten Sprung überqueren konnte. Kurz darauf erreichte ich den noch weiter in die Tiefe führenden Schlund. Der Weg fiel deutlich ab; was auch immer vor mir lag, ich musste vorsichtig sein. Hier gab es keine Cave Shrooms mehr, nur Dunkelheit, die absolute Schwärze. Mutig straffte ich meine Schultern.
»Hey!«, rief ich, die Hand seitlich an den Mund gelegt, das Echo kam zu mir zurück. »Du hast etwas, das mir gehört!«
Keine Antwort. Natürlich nicht. Wäre ja auch zu einfach gewesen. Ratlos starrte ich in den vor mir liegenden Korridor. Na schön. Ich schaue kurz nach. Dann drehe ich sofort um und gehe zurück. Ich muss es wenigstens versuchen! Meiner Überzeugung treu, wagte ich mich in die Höhle hinein. Augenblicklich holte ich mein Smartphone hervor, die Taschenlampe verscheuchte die Schwärze. Sah ungefährlich aus. Karge Wände, ein abschüssiger Weg. Ich atmete auf und suchte den Boden ab. Federleicht setzte ich meine Füße auf, immer bedacht auf ein Geräusch, das mir einen Hinweis auf den Fremden lieferte. Doch es blieb still bis auf das sich entfernende Rauschen des Wasserfalls. Beherzt ging ich weiter. Ich wollte diesen Splitterkristall unbedingt zurück, um jeden Preis. Und wenn ich es mir eingestand, musste ich zugeben, dass mich die Gestalt neugierig machte. Handelte es sich wirklich um einen Mudlark? Das recht neue Päckchen Streichhölzer ließ darauf schließen. Aber weshalb hatte er sich dann davongestohlen? Das sah einem Tiefenschürfer nicht ähnlich, es ergab keinen Sinn. Und warum roch es hier so süßlich?
»Maeve!«
Ich hielt inne, verdattert suchte ich nach dem Ursprung der Stimme und fand – zu meinem Entsetzen – eine mir wohlbekannte Person. Sie kauerte an der Wand, Tränen glitzerten in ihren Augen, ihre Schultern bebten. »Oh Maeve!«
Sie sprang auf und fiel mir um den Hals, die Berührung fühlte sich merkwürdig kalt an. »Endlich bist du da. Ich dachte schon, ich würde für immer hier feststecken!«
»Amy«, nannte ich sie beim Namen, entsetzt und erleichtert zugleich. »Wie … Wie bist du hierhergekommen?«
Sie schüttelte nur den Kopf. »Komm, lass uns von hier verschwinden. Gemeinsam können wir es schaffen.« Sie packte meine Hand und zog mich mit, weiter in den Tunnel hinein. Ich ließ es geschehen, zu perplex über ihr unverhofftes Erscheinen.
»W-warte doch mal. Amy, der Big Stream liegt hinter uns. Wenn wir umkehren …«
»Nein, wir müssen hier entlang!« Die Heftigkeit ihrer Worte erstaunte mich. So sprach sie sonst nie, das sah ihr kein bisschen ähnlich. Ruckartig zog ich meinen Arm zurück und blieb stehen.
»Amy, stopp! So gelangen wir nur tiefer in die Katakomben. Wir müssen …«
»Ich habe gesagt, dass du mir folgen sollst!« Ihr Ausbruch raubte mir die Stimme, das ärgerliche Funkeln stahl mir den Wind aus den Segeln. Für den Bruchteil eines Augenblicks sah ich das verschüchterte Mädchen vor mir, meine Kommilitonin mit der überragenden Sanftheit. Das hier passte nicht zu ihr, zu der Amy, die ich kannte.
»Beruhig dich bitte und hör mir zu. Ich habe den Big Stream gesehen. Wenn du hinhörst, kann man sogar den Wasserfall …«
»Du hättest nicht herkommen dürfen!« Das folgende, tiefe Knurren schickte mich auf Abstand. Die Wut in ihrer Stimme schien fast greifbar. Sie strahlte mir entgegen, nein, Amy selbst leuchtete. Wie ein Farbspektrum, ein wild wirbelndes Kaleidoskop, das mich ins Wanken brachte. Was …?
»Was ist hier los?«, hörte ich jemanden stammeln, ehe ich begriff, dass ich meine eigene Stimme vernahm. Ich suchte Amys Blick – und fand ihn nicht, denn ihrem Gesicht fehlten die Augen. Auch Mund und Nase gab es nicht mehr. Die Gestalt, das Ding, das Wesen, das ich für meine Mitstudentin gehalten hatte, holte aus. Lange grüne Arme ohne Kontur fegten mir das Smartphone aus den Fingern, obwohl die Kreatur ein paar Schritte von mir entfernt stand. Das Gerät wurde gegen die Wand katapultiert; meine Beine wollten mich nicht viel länger tragen. Ich fing mich mit den Händen ab, mein Handy blieb auf der Vorderseite liegen. Die nach oben gerichtete Taschenlampe flackerte, gleichzeitig machte die falsche Amy einen Satz auf mich zu.
»Komm mit!«
Ihr Kreischen erschütterte mich. In meinem Kopf herrschte dichter Nebel. All meine Gedanken waberten langsam, so langsam durch meine Wahrnehmung wie ein Stau auf den Motorways meiner Heimat. Und dann erstarb das Licht der Taschenlampe.
Fahrig, umgeben von vollkommener Dunkelheit, tastete ich den Untergrund auf der Suche nach meinem Telefon ab – da hörte ich es. Ein Geräusch, weder von Wasser noch von umherwandernden Höhlenhermelinen. Es klang wie das Rauschen der Blätter im Wind. Für einen Wimpernschlag vermutete ich das Zurückkehren des Whispering, doch dann berührte es mich. Es packte mein Handgelenk, ich verstand nicht recht, wie mir geschah. Keine Finger, kein Griff, denn es schlängelte sich einen meiner Arme hinauf. Wieder dieser süße Geruch. Es klickte in meinem Kopf. Weil ich wusste, was ich vor mir hatte. Ich kannte die Antwort, schmeckte sie fast auf der Zungenspitze. Eine Frenzy Plant!
Halluzinationen, unechte Bilder, hervorgerufen von der Macht dieser in den Katakomben lebenden Pflanze. Ein weiterer Fangarm – das musste mich gepackt haben – wanderte mein Bein hinauf. Ich zuckte zurück, doch der Zug des Gewächses blieb unerbittlich. Mit einem Aufschrei landete ich auf dem Hosenboden und wurde über das Gestein geschleift. Nein! Meine Gedanken rasten, ich versuchte hektisch, mich loszureißen, trat sogar nach dem unsichtbaren Feind. Einer meiner Ärmel verfing sich an den in der Finsternis versteckten Dornen und zerstörte einen Teil der ohnehin in Mitleidenschaft gezogenen Strickjacke. Ich spürte förmlich, wie die feine Membran des Unterwelt-Lebewesens die Schürfwunde berührte. In meinem Kopf herrschte nichts als Chaos. Ich sah den Hörsaal vor mir, getränkt im Sonnenlicht des Vormittages: meine Kommilitonen, die Dozentin ganz vorn. Frenzy Plant. Ein hämatophages Gewächs, das Blut zum Wachsen benötigt. Beheimatet in den Grenzgebieten des First Drop. Süßlicher Geruch, der Halluzinationen hervorruft. Scheut Licht.
»Licht!«
Reflexartig tastete ich nach meinem Smartphone, doch selbst wenn ich es fand, hatte es den Aufprall wohl nicht überlebt. Fiebrig schoss mir die Angst durch die Glieder, ein widerliches Gefühl, das mich zu lähmen drohte. Meine freie Hand fuhr in meine Hosentasche. Ich schob den alten Ring beiseite und stieß mit den Fingerspitzen auf den kleinen Karton. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Die Streichhölzer! Rasch zog ich sie hervor, mein eigener Atem klang viel zu laut in meinen Ohren, begleitet vom wilden Galopp meines Herzens. Ich ertastete eines der winzigen Stäbchen und brachte das Kästchen eilig in meine von Pflanzensträngen umklammerte Hand. Der mit einem Mal aufflammende Schein des Feuers wollte mir den Verstand rauben – weil er offenbarte, was sich in der Dunkelheit versteckt hielt. Die Höhle beherbergte die wohl gewaltigste Frenzy Plant, die ich je gesehen hatte: Ihr gegenüber erschien mir die ausgedorrte Version für die Touristen geradezu irrwitzig. Wie ein Korken verschloss sie den Korridor, hatte ihn vollständig erobert. Und ich lag vor ihr auf dem Boden, klein und machtlos im Angesicht der Gefahren der Katakomben.
Doch das dunkelgrüne Monstrum wich zurück. Das flackernde Flämmchen genügte, um sie zu verletzen, so empfindlich war sie gegenüber jedem Licht. Dennoch ließ sie mich nicht los. Schraubstockartig fesselte der dicke Fangarm meinen Arm, ein zweiter kroch mein Bein hinauf. Zarte grüne Blätter neben Dornen, an denen Reste von Wollfäden hingen. Panisch führte ich das Streichholz zu der Pflanze, eines der Blätter fing Feuer – und die Flamme sprang auf einen morschen Zweig über. Von da an fraß sie sich an der Frenzy Plant empor; das Gewächs konnte nicht schreien, besaß keinen Schlund oder gar Zähne und eine Zunge. Dennoch vibrierte ihr ganzer Körper und somit auch mein umschlungener Arm, ein Widerhall des Schmerzes, der das Lebewesen ohne jede Vorwarnung erfasste. Sie ließ meinen Arm los und schleuderte die brennende Ranke umher, wodurch sie noch viele weitere Feuer entfachte. Mein Bein hielt sie nach wie vor fest und mein Streichholz erlosch, doch der Schaden war bereits angerichtet. Die Flammen tanzten überall an den grünen Fangarmen. Sie verschlangen dieses Wesen der Katakomben, labten sich an ihm, wie die Pflanze selbst es mit mir beabsichtigt hatte. Es machte den Anschein, als wiche sie zurück. Tiefer in die Höhle hinein, aber nicht von mir weg. Sie zog mich mit.
»Lass mich los!«
Meine Fingernägel krallten sich in die grüne Masse. Stück für Stück rutschte ich über den Boden. Immer mehr Brandherde entstanden, schließlich stand das gesamte Gewächs in Flammen. Wie ein riesiger, lebendiger Baum, der sich gegen ein unabwendbares Schicksal wehrte. Und dann, ohne jede Vorwarnung, brach die Pflanze in sich zusammen. Doch anstatt erschlafft liegen zu bleiben, ein Haufen verbrennender Triebe, sackte sie ab. Ein Ruck folgte, wurde zu einem Rutschen und dann einem schnellen Reißen. Die Frenzy Plant fiel durch den Boden und nahm mich mit, hinein in ein schwarzes Loch, aus dem es keine Rückkehr gab.
Der Aufprall presste mir alle Luft aus der Lunge. Weich federte der Untergrund nach, denn ich landete direkt auf der Frenzy Plant. Das Feuer war noch während des Falls erloschen, die Pflanze starb; jetzt rührte sich unter mir nichts mehr. Auch der Griff um mein Bein verschwand, leblos ließ der Fangarm von mir ab. Doch ich konnte mich nicht bewegen. Zittrig blieb ich für eine Weile auf den Überresten des Gewächses liegen, umgeben von Schwärze und nicht fähig, nur einen einzigen Finger zu krümmen. Das Pochen meines Herzens eroberte meine Ohren, ich konzentrierte mich darauf, meinen hektischen Atem zu beruhigen.
Ich stecke in der Patsche. So verdammt tief wie noch nie zuvor. Wortwörtlich. Hier lag ich nun, am Grunde der Unterwelt, auf einer Frenzy Plant, die mich Sekunden zuvor hatte töten wollen. Unter anderen Umständen hätte ich lachen wollen. All das ähnelte den verdammt miesen Horrorfilmen, die ich mir nur allzu gern ansah. Doch in diesen Streifen geschah das Elend niemals mir, sondern irgendeiner blonden, naiven Schauspielerin. Das hier musste meine ganz eigene Art von Horrorfilm sein. Einer, den ich nicht kategorisch auseinandernehmen und dessen Logik ich hinterfragen konnte. Was soll ich nur tun?
Ein Rascheln neben mir ließ mich zusammenfahren, gefolgt vom Geräusch eines Atmens. »Du lebst ja noch, Mädchen. Alle Achtung!«
Aus dem Affekt sprang ich auf die Beine und holte aus, mehr meine erwachenden Überlebensinstinkte als alles andere – vielleicht auch ein bisschen Verärgerung darüber, dass man mich Mädchen genannt hatte. Kampf oder Flucht – ich hatte mich binnen eines Herzschlags für Gewalt entschieden. Mein umherfliegender Ellbogen traf, ein aggressives Fauchen folgte, kurz darauf eine unverständliche Beschimpfung in einer Sprache, die ich nicht verstand. Zumindest klang es wie ein Schimpfwort. »Scheiße, das hat wehgetan!«
»Nenn mich nicht Mädchen!«
Mein Ausruf klang nach, verloren in dieser Situation, wohl kaum der Lage angemessen. In dem Versuch, etwas in der Dunkelheit auszumachen, kniff ich die Augen zusammen. Doch hier gab es kein Licht. Nicht einmal einen winzigen Schimmer. Eine Halluzination? Etwa Reste des benebelnden Dunstes der Pflanze? Glaubte ich vielleicht deshalb, jemanden vor mir zu haben? Aber es riecht nicht süßlich …
Mein vermeintliches Gegenüber antwortete nicht, zumindest nicht sofort. Es klang, als reibe er sich über die schmerzende Wange. »’tschuldige, Mudlark. Wollte bestimmt nicht deine zarten Gefühle verletzen.«
»Wer bist du?«, entgegnete ich scharf, obwohl ich noch immer eine Halluzination vermutete.
»Nur eine flüchtige Erinnerung. Hier unten wirst du nicht lange überleben, Tiefenschürfer. Schon gar nicht ohne Ausrüstung. Hoffe, es ist deiner Zunft eine Lehre.« Ich hörte an seinen Worten, dass er mir den Rücken kehrte, wohl im Begriff, mich hier zurückzulassen. Ob Trugbild oder nicht, ich wollte nach jedem Strohhalm greifen.
»Warte!«
Harsch packte ich, was ich zu fassen bekam. Den Saum von Kleidung, womöglich ein Hemd? Eine Jacke? Egal. »Ich bin kein Mudlark. Bitte, ich habe mich verlaufen.«
Mit einem Ruck riss sich der Fremde von mir los; die Berührung erschien mir zu echt, um nicht real zu sein. Er brummte mit seiner tiefen Stimme.
»Wenn du kein Tiefenschürfer bist, was bist du dann?«
»Dasselbe könnte ich dich auch fragen.«
Der Konter machte wohl wenig Eindruck, denn diesmal erhielt ich tatsächlich keine Antwort. Ich kräuselte die Nase. »Ich … Ich bin noch im Studium. Universität Dublin, Studiengang Katakombenforschung. Ich wollte …« Mein Zögern dauerte kurz an. »Ich wollte einen Splitterkristall finden. Einen echten. Um ihn mit nach Hause zu nehmen.«
»Einen Splitterkristall? Du bist wegen Scheiße in den Höllenschlund getaucht? Wirklich?« Das Amüsement in den Worten meines Gesprächspartners irritierte mich. Worüber machte er sich lustig?
»Ist ja jetzt auch egal. Allein schaffe ich es nicht nach oben. Würdest du …?«
»Dir helfen?«, fiel er mir ins Wort. »Nein, schon gar nicht, nachdem du den kürzesten Weg in Flammen hast aufgehen lassen.« Der deutliche Vorwurf verwirrte mich. »Es wird ewig dauern, eine neue Pflanze zu finden. Danke übrigens auch für den Schlag ins Gesicht. Das spüre ich wahrscheinlich morgen noch.«
Ich verstand kein Wort. »Ich möchte doch nur nach Hause.«
Der Fremde summte nachdenklich. »Wenn du hier unten verreckst, finden sie deine Überreste über kurz oder lang. Das heißt, wenn dich die Wandernden Steine nicht vorher beseitigen. Vielleicht hält sie das davon ab, weitere Tunnel zu sprengen.« Emotionslos verhallten seine Worte, ich schluckte ein paarmal trocken. Das vor mir war zwar kein Mudlark, aber ein Mensch. Jemand, der sich eigenmächtig Zugang zu den Katakomben verschafft hatte? Ein Schatzjäger? Eigentlich ausgeschlossen, man hatte sie noch bis vor Jahrzehnten heftig bekämpft. Doch womöglich gab es weit mehr Zugangswege zum Untergrund, als der Öffentlichkeit bekannt war. Für einen Moment kam mir der eigenartige Dieb vom Big Stream in den Sinn. Ja, seine Stimme klang recht ähnlich. Ich setzte alles auf eine Karte.
»Du hast mich bestohlen.«
Das Echo trug weit.
»Und wenn schon!«, kam es zurück.
Ich straffte den Rücken. Bingo! Also wirklich ein Schatzjäger. »Wenn du mir meine Sachen schon nicht zurückgibst, bring mich wenigstens nach oben. Dann kannst du sie behalten.« Auch wenn ich damit den Splitterkristall opfere.
»Wohl eher nicht. Der Plunder war nichts wert. Ich kann mit Papieren nichts anfangen. Aber danke für den kleinen Meißel, der ist nett.«
Die plötzliche Wut schlug Purzelbäume in meiner Magengegend. Zum Glück hielt ich ja noch einen letzten Trumpf in den Händen. »Was ist mit dem Ring? Ist der dir auch egal?«
Ich hörte, wie der Fremde stockte. Es raschelte wie von Fingern, die Taschen durchwühlten, dann wieder ein Fluch in einer Sprache, die ich nicht verstand. Spanisch? Nein. Französisch? Klang ähnlich, aber das traf es nicht ganz. Irgendeine unbekannte Tonmelodie, die ich so noch nie vernommen hatte.
»Wo ist er? Gib ihn mir sofort zurück! Oder …!«
»Oder was?« Ich forderte es heraus, spielte ein gefährliches Spiel, das mich ganz leicht das Leben kosten konnte – doch ohne die Hilfe des Fremden stand ich völlig allein da. Einen anderen Weg gab es nicht. Wo auch immer ich mich gerade befand: Ob mich nun die Katakomben töteten oder ein Schatzjäger, das machte keinen Unterschied mehr. Selbstbewusst starrte ich ins Dunkel, obwohl ich nichts sah. Du musst so tun, als ob. Sei stark. Gib nicht nach!
Der unverhoffte Zug an meinem Kragen ging mir durch Mark und Bein, meine Entschlossenheit geriet ins Wanken, doch ich fasste mich sofort wieder. Unbeirrbar mobilisierte ich all den mir zur Verfügung stehenden Mut. »Was? Willst du mir jetzt etwa drohen?«
»Rück ihn einfach raus. Ich werde mir deinetwegen nicht die Hände schmutzig machen.« Die Abscheu in seinem Knurren stellte die feinen Härchen in meinem Nacken auf. Warmer Atem dicht vor meinem Gesicht. Ein Geruch nach Asche und Gestein.