Verraten und verkauft - Ralph Kretschmann - E-Book

Verraten und verkauft E-Book

Ralph Kretschmann

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Beschreibung

Pochende Kopfschmerzen, der Geschmack im Mund faulig, säuerlich, und die Mundhöhle trocken wie Wüstensand, ein quälendes Ziehen in den Armen und Handgelenken, taube Finger und obendrein ein würgendes Gefühl im Magen. Roberta Stone fühlte sich schlecht in allen Bereichen, auf allen Wellenlängen und in jeder Beziehung. Was war nur passiert? Sie versuchte sich zu bewegen. Das Ziehen in den Armen nahm zu und wurde schmerzhaft. War sie gelähmt? Sie konnte aus irgendeinem Grund die Augen nicht öffnen, so sehr sie es auch versuchte. Das Licht war so grell, dass es in ihren Augen trotz der geschlossenen Lider weh tat. Es war warm, sogar heiß. War sie in der Wüste? Der Schmerz in ihrem Kopf pochte so heftig in ihren Schläfen, dass sie kaum klar denken konnte. Was war das Letzte, an das sie sich erinnerte? Sie war zum Einkaufen in die Stadt gefahren … in diese Edelboutique mit der schleimigen Verkäuferin … und dann? Da war die Erinnerung an ein Geräusch, das Klirren zerbrechenden Glases. Hatte sie etwas kaputt gemacht? Aber was war mit ihr los? Sie versuchte erneut die Augen zu öffnen. Gleißende Helligkeit. Eine Träne quoll aus ihrem Auge, als sie die Lider heftig zusammenpresste. Sie stellte fest, dass sie ihren Kopf nicht heben konnte. Ihr Nacken schmerzte. Sie fühlte ihr Haar an den Oberarmen … lag sie? Sie versuchte die Beine zu bewegen, ab da war ein Widerstand … ihre Beine waren angebunden. Angebunden? Sie stöhnte und bewegte sich heftig. Schmerzen in den Handgelenken! Das Klopfen in den Schläfen nahm ein rasendes Tempo an. Sie war gefesselt. Gefesselt! Verflucht, was war hier los? Roberta Stone war keine sehr impulsive Person. Sie war immer kühl und berechnend gewesen. Trotz des Kopfschmerzes riss sie sich zusammen. Sie spürte ihren Puls rasen. Ganz ruhig, Bobby! Du darfst jetzt nicht ausflippen! Sie stellte ihr sinnloses Gezappel ein. Sie war gekidnappt worden, so viel war einmal klar. Von wem? Das würde sich wohl noch zeigen, aber sicher war es jemand, der Geld haben wollte. Warum sonst sollte sie jemand entführen und bewegungsunfähig aufhängen? Da wollte jemand an das Geld ihres Mannes. Alexander Stone war ein sehr reicher Mann. Das war allgemein bekannt. Sie musste also nur ruhig bleiben. Und auf ihre Chance warten. Niemand konnte garantieren, dass sie auch frei kam, wenn Alex das Lösegeld bezahlt hatte. Also musste sie ihre Kräfte schonen und auf eine Gelegenheit warten, die ihr die Flucht ermöglichte. Was, wenn der oder die Entführer sie einfach hier hängen und verfaulen ließen? Nein! Sie rief sich zur Ordnung. Keine negativen Gedanken! Du kommst hier raus! Bobby kommt überall raus! Wenn nur der Kopf nicht so hämmern würde! Sie versuchte ihre Zunge zu bewegen. Da war etwas in ihrem Mund … etwas, das verhinderte, dass sie die Zunge aus dem Mund strecken konnte. Sie war auch noch geknebelt. Roberta Stone begann wütend zu werden. Sie übte Macht aus! Sie war es gewohnt, Befehle zu geben und dass die Leute sprangen, wenn Sie pfiff! ... und jetzt pfeift ein anderer. Ohnmacht und Angst - diese Empfindungen hatte die steinreiche, entführte Mrs. Stone bisher immer für ihre Sklaven und Untergebenen reserviert - für sie so ziemlich dasselbe. Weiter um die nächste Ecke in diesem seltsamen Hinterhof-Refugium … Detective Maurer stieß einen Pfiff aus. Ein riesiges Bett stand in einem großzügigen Freiraum. Die Wände waren mit der Imitation von Burgmauersteinen dekoriert worden, die so lackiert worden waren, dass sie feucht wirkten. Sehr kunstvoll! Neben dem Bett, das anscheinend mit schwarzem Latex bezogen war, stand eine Kiste. Maurer kannte nicht alle Spielzeuge, die darin lagen … Hinter ihm tappten Schritte auf dem teuren Teppichboden. "Das ist eine richtige Lasterhöhle!", zischte Sergeant Finnegan angeekelt. "Dahinten gibt's eine Abteilung für Gummi und eine für Peitschen!" - "Die Spurensicherung soll die Blutspuren an den Peitschen analysieren. Das volle Programm.

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Seitenzahl: 424

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Verraten und verkauft

Daddys langer Schatten

SM-Thriller

von

Ralph G. Kretschmann

MMXV/MMXXI

Impressum Ebook-Ausgabe:

© 2021 by Marterpfahl Verlag

Rüdiger Happ, D-72147 Nehren

Titelbild: R. Happ unter Verwendung

eines Fotos von »Tom Bauer« in der

»Sklavenzentrale«

Marterpfahl_Verlag @ gmx.de

https://marterpfahlverlag.wixsite.com/erotikbuch

eISBN 978-3-944145-88-4

Impressum der Paperback-Ausgabe:

© 2015 by Marterpfahl Verlag

Rüdiger Happ, D-72147 Nehren

Omnia eius editionis iura reservantur

www.marterpfahlverlag.com

[email protected]

Einbandgestaltung: Lisa Keskin, Wien, unter Verwendungeines vom Verfasser gelieferten Fotos

Gedruckt in der EU

ISBN 978-3-944145-44-0

Inhalt

Epilog

Es war heiß in dem Kellergewölbe. Stickige Schwüle lag in der abgestandenen Luft. Die einzige Glühbirne, die an blanken Drähten von der Decke hing, warf ein fahles Licht auf die Dinge in dem Raum und vermischte sich mit dem Flackern des Feuers, das durch die Roste des Ofens schien, der eine sengende Hitze ausstrahlte. Der Schweiß lief dem Mann den Rücken herunter und stand in feinen Perlen auf seiner Stirn. Er stieß die Ofenklappe mit dem Schürhaken zu, den er in der Hand hielt. Das Eisen war heiß, aber er spürte es nicht. Dicke Hornhäute schützten seine Handflächen. Der kleine Finger der Hand fehlte.

Der Mann stellte das Schüreisen in eine Halterung, die zu diesem Zweck neben ihm an der Mauer befestigt war. Die Mauer, feucht, kalt, von Ablagerungen überzogen, die Sickerwasser im Laufe vieler Jahre hinterlassen hatte, spiegelte das Licht wider, das aus der Ofentür drang. Tropfen von Kondenswasser liefen an den rauen Steinen herunter und sammelte sich in kleinen Pfützen auf dem Fußboden. Reglos stand der Mann da, den Rücken zum Ofen. Auf dem Boden, halb in der Türöffnung liegend, ein großer Sack, in dem sich etwas befand, etwas von der Größe eines Kindes, eines Halbwüchsigen, etwas, das sich leise bewegte. Der Mann wusste, dass er sich nicht beeilen musste. Es würden noch Stunden vergehen, bis das Betäubungsmittel seine Wirkung verlieren würde.

Er seufzte, als fiele es ihm schwer, sich aufzuraffen, um zu tun, was er tun musste. Er zog den Verschluss seiner Jacke auf, streifte die Jacke ab und legte sie auf die Werkbank, die sich an der einen Wand befand. Das Werkzeug hing sauber an den dafür gedachten Haken, und der Staubfilm zeigte, dass hier schon seit geraumer Zeit nicht mehr gearbeitet worden war. Der Mann zog sein T-Shirt über den Kopf und legte es zu der Jacke. Seine Haut war blass, von einer bläulichen, ungesunden Blässe. Das lange Haar war grau, nahezu weiß, von einem schmutzigen Weiß, wie das Weiß von Schnee, der schon seit Stunden antaut und zu verharschen beginnt, wenn sich graue und schwarze Partikel an der Oberfläche des schmelzenden Schnees sammeln. Der Oberkörper des Mannes, seine Brust, Hals und sogar das Gesicht war von einem dichten Netz aus alten und neuen Narben überzogen. Bei einigen konnte man noch erkennen, dass sie wenig fachgerecht genäht worden waren, andere waren wulstig und schienen ohne Behandlung abgeheilt zu sein. Da waren Schnittnarben an den Armen und am Hals, eine rote Linie teilte die linke Wange, die Nase war krumm, die Stirn ein Friedhof. Der Mann hatte Brandnarben auf dem Rücken, den Hals hinauf und bis zum Kinn hoch. Kein Gramm Fett fand sich unter dieser geschundenen Haut. Jede Sehne, jeder Muskel war überdeutlich zu sehen durch die wächserne Blässe seiner Haut. Er bot trotz allem keinen Grauen erweckenden Eindruck. Es lag an seinen Augen; große, braune Augen, hellwach und voller Leben.

Der Mann zog den Sack in das Kellergewölbe herein. Er knotete den Strick auf, der den groben Sack zugehalten hatte, zog die Öffnung auseinander. Dann schloss er die schwere Tür aus mehrere Zentimeter dicken Eisenplatten. Es hallte dumpf, als der Riegel in die Zuhaltung schnappte. Er drehte den Schlüssel mehrmals um, versicherte sich, dass die Tür fest verschlossen war.

Er begab sich wieder zu dem Sack, den er hereingezogen hatte. Der Keller war ein altes Gemäuer mit einer hohen Gewölbedecke und massigen Pfeilern, die sie trugen und den Raum so unterteilten, dass man ihn nie in seiner ganzen Größe sehen konnte. Behutsam begann der Mann den Inhalt von der Hülle zu befreien. Seine Bewegungen waren vorsichtig, als handele es sich um feinstes Porzellan, das bei zu grober Berührung schon zerspringen könnte. Als er fertig war, knüllte er den Sack zusammen und warf ihn in den Schlund des Ofens.

Die junge Frau atmete tief und gleichmäßig. Langes, blondes Haar fiel ihr über den Rücken und die sündhaft teuren Designersachen, die sie trug. Ihre Augen waren geschlossen. Lange Wimpern, eine fein geschwungene Nase und sinnliche Lippen von tiefstem Kirschrot. Er wusste, dass ihre Augen von einem blässlichen Meergrün waren, mit einem Hauch Himmelblau darin. Er drehte sie auf den Rücken und musterte lange ihre Züge. Mit einer zarten Geste strich er ihr eine Strähne ihres blonden Haares aus der Stirn. Eigentlich waren sie dunkelbraun. Sie verwendete viel Zeit und Geld auf eine perfekte Färbung. Zweimal in der Woche hatte sie ihre festen Termine bei ihrem Friseur.

Der Mann schob seine Arme unter ihren Körper und hob sie hoch. Gegenüber der Werkbank stand eine Pritsche, darauf eine dünne Decke. Er legte sie vorsichtig ab. Dann begann er, sie zu entkleiden; Jacke, Bluse, Strümpfe, Rock. Er zögerte einen Moment, sog scharf die Luft ein, bevor er ihr den Slip vom Körper zog; dann noch der Büstenhalter.

Auch diese Sachen wanderten in den Ofen. Das Feuer flackerte hell auf. Er ließ noch ein paar Kohlen aus dem Vorrat in den Brennraum fallen, indem er an der Kette zog, die neben dem Ofen herabhing. Es war ein raffiniertes, aber simples System, das auf Zug an der Kette aus einem darüber liegenden Raum Kohlen in den Ofen rutschen ließ.

Nackt lag der Körper vor ihm. Sie war gepflegt, sehr gepflegt. Perfekt manikürte Nägel an Händen und Füßen, kein Haar an ihrem ganzen Körper. Beine, Arme und der Schritt waren völlig enthaart, die Augenbrauen symmetrisch gezupft …

Der Mann trat an sein Opfer heran und zog ihr die Ringe von den Fingern, den Reif vom Arm. Er nahm ihr die Kette ab, die sie um den Hals trug, und er entfernte die Ohrstecker aus ihren Ohrläppchen. Er holte einen Lappen und ein Fläschchen Aceton und säuberte ihre Fuß- und Fingernägel von der roten Lackierung.

An einer der Säulen, die das Gewölbe stützten, befand sich ein Wasserhahn. Er füllte einen Eimer und erwärmte das Wasser in der offenen Tür des vor sich hin prasselnden Ofens. Dann wusch er seine Gefangene. Sorgfältig rieb er sie mit dem Lappen ab, wusch Puder, Schminke, Abdeckstift und Rouge von ihrem Gesicht. Den Lippenstift, das blaue Augen-Make-up entfernte er mit Fettcreme. Als er fertig war, lag sie so vor ihm, wie sie selbst ihr Mann noch nie gesehen hatte, entblößt und so, wie sie geschaffen worden war.

Der Mann trat von der Pritsche zurück. Sie war wunderschön, und er hätte sie stundenlang betrachten mögen, aber es war an der Zeit, mit der Arbeit fortzufahren. Sie würde nicht ewig bewusstlos bleiben, und es gab noch einiges zu tun, bevor sie erwachte.

Aus der hintersten Ecke des Gewölbes trug der Mann ein Gewirr aus Stangen und Ketten zu der Pritsche. Er wählte eine lange Stange aus, an deren beiden Enden sich zwei Schellen befanden, die er um die Fesseln der bewusstlosen Frau legte. Die Stange war gut einen Meter lang und zwang sie, den Schritt weit zu öffnen. Dann nahm er eine Art Eisenring aus dem Wust, an dem zwei etwas kleinere Schellen angeschweißt waren. Er wickelte Stoffstreifen um ihre Handgelenke, bevor er die Schellen um ihre Gelenke schloss. Schließlich öffnete er ihr den Mund und drückte einen Gummiball in ihre Mundhöhle. Er band einen Streifen Stoff um ihren Mund, damit sie den Knebel nicht wieder ausspucken konnte.

Dann erhitzte er mehr Wasser und holte aus einer Tasche, die er in einer der nicht einsehbaren Nischen des Gewölbes deponiert hatte, ein Färbemittel. Er musste die genaue Menge schätzen, die nötig war, um den Farbton wiederherzustellen, den ihre Haare ursprünglich gehabt hatten. Haar anfeuchten, Färbemittel auftragen, einwirken lassen und auswaschen. Er hielt ihren Kopf behutsam fest, achtete darauf, dass nichts von dem Mittel in ihr Gesicht oder die Augen geriet. Er trocknete ihr Haar und bürstete es, bis es locker und feucht durch seine Finger glitt.

Da lag sie. Nackt und in Ketten. Ein Frösteln lief dem Mann über den Rücken. Er hob die gefesselte Frau hoch und trug sie zu dem Freiraum vor dem Ofen. Von der Decke hingen einige Ketten herunter, mit denen die schweren Eisenteile des Ofens bewegt werden konnten, wenn eine Reparatur anstand. Ein paar davon liefen über Rollen und Züge an der Decke entlang. Zielsicher wählte der Mann eine davon aus und ließ sie herunter. Mit einem Karabinerhaken klinkte er das Ende der Kette in den eisernen Ring der Handfessel. Mit festen Bewegungen zog er die Kette an. Sie ratterte über die Rollen und langsam wurde der schlaffe Körper der jungen Frau hochgezogen, bis sie eine Handbreit über dem Boden baumelte. Ihr Kopf war ihr auf die Brust gesunken. Langsam drehte sie sich an ihrer Kette, direkt vor seinen Augen. Er trat an den hängenden Körper heran. Wie gut sie duftete! Er schloss die Augen und näherte sich ihrer Haut, atmete ihren Geruch ein: teure Öle, Pflege für ihre kostbare Haut. Obwohl er sie gründlich gewaschen hatte, konnte er noch ihr Parfum riechen.

Abrupt richtete er sich auf. Ein wildes Knurren entfuhr ihm. Er schüttelte sich, und eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Er krümmte sich zusammen. Der Schmerz war bohrend, zog sich durch seine Eingeweide und brannte in seiner Brust. Er hustete trocken. Sein Atem ging stockend, und er presste die Fäuste gegen den schmerzenden Leib. Langsam richtete er sich auf. Es tat weh. Wie mit Rasierklingen schnitt der Schmerz durch seinen Körper. Es war ein wohlbekannter Schmerz, und er wusste, wie er ihn unter Kontrolle bekam. Er atmete tief ein, trotz der Stiche hinter den gepeinigten Lippen. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Schmerz, lokalisierte ihn. Er musste die Schmerzen annehmen, sie zulassen und sich in ihnen auflösen, dann würden sie ihn nicht mehr beherrschen, sondern er würde den Schmerz beherrschen, ihn nutzen, zu seinem Gehilfen machen.

Der Mann zwang sich, langsam ein- und wieder auszuatmen. Einatmen, ausatmen, regelmäßig, langsam und bedächtig. Das Gefühl trat in den Hintergrund, und seine Gedanken wurden klar.

Die Anstrengung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Die tiefen Falten und Narben in seinem zerstörten Gesicht waren noch eine Schattierung dunkler geworden. In der Tasche der Jacke, die er auf der Werkbank abgelegt hatte, befand sich ein Fläschchen mit Tabletten. Er nahm zwei davon mit einem Glas Wasser. In der Brusttasche bewahrte er seine Uhr auf. Er bevorzugte Taschenuhren. Ein Druck auf die Krone ließ den Deckel aufspringen. Er hatte noch mehr als genug Zeit. Das Betäubungsmittel wirkte noch für mindestens vier Stunden.

Er goss neues Wasser in sein Glas und lehnte sich an die Werkbank.

Wie schön sie war! Ihr Körper hatte aufgehört, sich zu drehen. Schlank und elegant hing sie an der Kette von der Decke, wie eine schwebende Statuette. Sie hatte sich immer gut gepflegt. Feste Muskeln unter makelloser Haut. Sie hatte es sich auch leisten können. Geld hatte für sie nie eine Rolle gespielt. Er betrachtete die sanften Kurven ihrer Hüften, den Schwung ihrer Brüste und den Schwall feuchten, braunen Haares, der darüber fiel. Er gähnte. Noch vier Stunden, bis sie wieder zu Bewusstsein kommen würde. Er schob die Jacke ans Ende der Bank und räumte die darauf liegenden Werkzeuge beiseite. Er legte sich so, dass er den hängenden Körper im Blick hatte. Er hatte gelernt, auf Kommando zu schlafen. Er schloss die Augen und schlief fast sofort ein.

Bevor sein Geist abdriftete, musste er an die Frau in der Boutique denken, und ein Lächeln spielte um seine Lippen. Die Narbe eines Schnittes, die quer über den Mund lief, entstellte das Lächeln zu einer schon fast teuflisch wirkenden Grimasse.

»Gelb?«, fragte Detective Maurer ungläubig.

»Gelb!«, bestätigte die Zeugin, heftig nickend. »Gelb wie ein Kanarienvogel! Ein quietschgelber Volkswagenbus. Aber nicht, dass sie jetzt an so ein Hippieauto denken! Nein, nein, der Wagen war neu! Und das war eine Sonderlackierung, da bin ich mir sicher.«

»Sie kennen sich mit so etwas aus?« Maurer beschloss in diesem Moment, sich von gar nichts mehr überraschen zu lassen. Die Frau machte nicht den Eindruck, als kenne sie sich mit Autotuning aus. Rund und adrett saß sie da vor ihm, das Bild einer gestandenen gutsituierten Dame der mittelreichen Gesellschaft. Die Geschichte, die sie ihm erzählte, passte überhaupt nicht zu ihrem Äußeren.

»Mein Sohn liebt es, mir von seinem Bus zu berichten und was er grade wieder damit vorhat. Er plant dauernd neue Umbauten oder Verbesserungen!«, sagte sie entschuldigend.

Maurer hatte während der ganzen Zeit der Aussage der Frau auf einem Stuhl gesessen, genau ihr gegenüber. Jetzt stand er auf, schob den Stuhl beiseite und begann, im Raum herumzulaufen.

»Ich fasse noch mal zusammen, was sie mir da grade berichtet haben«, sagte er mehr zu sich selbst als zu den beiden anderen Personen im Raum, der Zeugin und der Assistentin, die ihm vom Kommissariat aufs Auge gedrückt worden war.

»Etwa um elf Uhr heute Vormittag kam eine langjährige Kundin, um neue Kleider zu kaufen. Sie kennen die Dame schon lang und wissen mit Sicherheit, dass es sich um Mrs. Roberta Stone handelt, die Frau von Alexander Stone, dem Verleger.«

Die Dame nickte zustimmend, aber Maurer nahm das nicht wahr. Er starrte auf den Boden, lief ruhelos umher und rekapitulierte weiter:

»Mrs. Stone hatte sich eben das zweite Kleid zeigen lassen, als ein knallgelber Volkswagenbus auf den Gehweg fuhr und den Eingang versperrte. Ein Mann war aus der offenstehenden Seitentür in den Laden gestiegen, in jeder Hand eine Schusswaffe. Er ist zu ihnen herübergekommen, hat mit der einen Waffe die Vitrine zerschossen und mit der anderen auf Mrs. Stone, die daraufhin umfiel. Dann hat der Mann sie in den VW-Bus getragen und ist fortgefahren. Ist das so richtig?«

Maurer war stehengeblieben und sah zu seiner Zeugin hinüber.

»Ja, schon …«, antwortete sie zögerlich, »Aber es war viel, viel unwirklicher, als es sich anhört, wenn sie es so erzählen. Wissen Sie, es war schon seltsam, wie er hereinkam …«

Maurer legte den Kopf schief. »Ja, fahren Sie fort …«, ermunterte er die Zeugin.

»Er kam so … so langsam herein, ganz ohne Eile, als wenn er alle Zeit der Welt hätte. Er kam zu uns herüber und musterte uns eine ganze Weile. Mrs. Stone war ziemlich ungehalten und hat ihn noch angegiftet. Dann hat er ganz langsam die Waffe gehoben und auf die Glasvitrine geschossen. Das hat uns so erschreckt, dass wir wie erstarrt waren. Hier wird nicht oft geschossen, wissen Sie. Und dann hat er, auch ganz langsam, auf die arme Mrs. Stone mit der anderen Waffe geschossen. Auch als er sie dann verschleppte, hat er sich Zeit gelassen, dabei schrillten doch schon die Sirenen wegen der zerstörten Vitrine.«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Vielleicht hatte er Drogen genommen«, mutmaßte sie. »Ich kannte mal eine Frau, die sich ähnlich benahm, wenn sie ihre Tranquilizer genommen hatte.«

Maurer bezweifelte, dass das der Grund war, hütete sich aber, das zu erwähnen, um den sonst folgenden Redeschwall zu vermeiden. Die Dame redete gern und viel, und Maurer versprach sich nicht mehr viel an neuen Informationen.

Er dankte der Zeugin und komplimentierte sie hinaus. Die ganze Sache verwirrte ihn. Nichts entsprach dem Lehrbuch. Was sollte er davon halten? Er lehnte sich an die Wand und sah zu seiner Assistentin hinüber. Die Polizistin entsprach auch in keiner Weise seiner Vorstellung einer tüchtigen Beamtin. Die junge Frau hatte unübersehbar afrikanische Vorfahren – unter anderem. Sie war klein, höchstens einen Meter sechzig, mit riesigen Augen und einer Figur, die für Maurers Geschmack einfach zu weiblich war. Er schämte sich ein wenig dafür, dass er nicht anders konnte, aber er musste sie sich nackt vorstellen …

»Nun, was halten sie von der Angelegenheit?«, fragte er und versuchte, sich an ihren Namen zu erinnern. Flannegan? O’Flaherty? Diese Frau machte ihn nervös.

»Ich weiß nicht, Sir«, antwortete sie mit erstaunlich heller Stimme. »Das klingt alles so … erfunden – als wenn sie sich das ausgedacht hat, um sich wichtig zu machen.«

»Stimmt, Finnegan, aber die anderen Zeugen bestätigen Teile ihrer Geschichte, und ich neige dazu, ihr Glauben zu schenken.« Ihm fiel auf, dass sie gut durchtrainiert wirkte, ganz im Gegenteil zu ihm selbst. Er hasste Sport und tat nie mehr als nötig. Selbst Sport im Fernsehen war ihm zuwider.

»Ich glaube zwar nicht, dass es etwas bringen wird, aber wir sollten die Fahndung nach dem gelben VW-Bus einleiten«, fuhr er fort. »Die Kollegen in Uniform sollen in der Gegend die Geschäfte absuchen und fragen, ob es noch mehr Zeugen gibt, ob jemand den Bus gesehen hat, woher er kam oder wo er nach der Tat hinfuhr. Veranlassen sie das bitte, Sergeant Finnegan.«

Sie nickte und zog ihren Schreibblock aus der Tasche.

»Und Mister Stone?«, fragte sie, während sie sich Notizen machte. »Den sollten wir schnellstens unterrichten, oder?«

Maurer nickte abwesend. Er hatte das schon in die Wege geleitet, als er noch auf dem Weg hierher war. Der Verkehr stockte oft genug, dass er telefonisch ein paar Anweisungen hatte geben können. Was hatten die Leute nur gemacht, als es noch keine Mobiltelefone gab? Er wusste, dass Mr. Alexander F. Stone noch in der Luft war und noch für eine gute weitere Stunde sein würde. Er flog von Seattle nach New York und würde erst gegen 17 Uhr in La Guardia eintreffen. Dort standen Beamte bereit, die ihn informieren würden und ihn direkt zu ihm bringen sollten. Stone flog die Maschine selbst, weshalb man darauf verzichtet hatte, ihn noch in der Luft zu informieren. Der Stress war so schon groß genug und Mr. Stone nicht mehr der Jüngste. Honi soit qui male y pense!

Maurer wusste auch, dass bislang keine Lösegeldvorderung eingegangen war, nicht bei Mr. Stone persönlich noch in seinem Büro bei Stone Enterprises. Sergeant Finnegan war das nicht bekannt. Sie war mit der Subway gekommen, da sie nur ein paar Blocks entfernt war, als der Anruf kam, eine Entführung habe stattgefunden. Die Strecke mit dem Wagen zu fahren hätte sie ein Mehrfaches an Zeit gekostet. Der Verkehr in New York war selbst in seinen harmlosen Momenten mörderisch, und jetzt war Hauptverkehrszeit. Also war sie zur nächsten Station gerannt, in den nächsten Zug gesprungen und drei Stationen weiter und vier Minuten später schon am Ort der Entführung eingetroffen.

»Mr. Stone kommt so um halb sechs. Bis dahin können wir schon ein bisschen vorarbeiten …«

Finnegan runzelte etwas irritiert die Stirn.

»Um halb sechs? Sicher?« Maurer nickte. Er war bei der Aussage der Frau. Sie drehte sich in seinem Kopf, und er beleuchtete sie von allen Seiten. »Ja, siebzehndreißig, so in etwa. Kommen sie mal mit, Finnegan.« Er stiefelte an ihr vorbei in den Schauraum. Der Tatort. Auf dem teuren Teppichboden lagen die Splitter der Vitrinenglasscheiben herum. Der Schuss musste aus einer Schrotflinte abgefeuert worden sein. Keine Kugel konnte so etwas anrichten. Eine Kugel, egal, wie groß oder wie klein sie auch sein mochte, würde immer ein mehr oder weniger exaktes Loch hinterlassen. Die Glasvitrine war in tausende von Splittern zerplatzt. Es knirschte, als Maurer hinüberging. Die Leute von der Spurensicherung waren eifrig damit beschäftigt, Spuren zu sichern, stäubten und klebten und sammelten alles mögliche in saubere kleine Plastiktüten, um sie dann sauber und ordentlich zu beschriften.

»Hendrix …?«, fragte Maurer und blieb neben einem baumlangen Farbigen in einem blauen Overall stehen. Der lange Mensch richtete sich auf und überragte Maurer, der nicht eben klein war, noch um gut einen Kopf.

»Verdammte Scheiße!«, stöhnte er und presste sich die Hand in den Rücken. »Diese Bückerei bringt mich noch um!«

»Werden sie doch Apfelpflücker!«, schlug Maurer vor. Hendrix verzog sein Gesicht.

»Booh! Den kannte ich noch nicht … Ganz toll!« Er streckte sich, und man hörte es vernehmlich knacken. Hendrix seufzte. »Ah, das ist besser!«

Maurer deutete auf den Scherbensalat.

»Habt ihr schon etwas gefunden, das uns weiterhelfen könnte? Munitionshülsen? Schuhabdrücke?«

»Ja. Nein. Ja«, sagte Hendrix. Maurer sah ihn verwirrt an.

»Ja, nein, ja? Wie soll ich das verstehen?«

»Sie haben drei Fragen an mich gestellt und das waren die Antworten: Haben wir etwas gefunden? Antwort eins: Ja, haben wir. Zweitens: Munitionshülsen? Nein, haben wir nicht; und drittens wieder ein Ja, auf die Frage, ob wir Schuhabdrücke haben. Allerdings bezweifle ich, dass die uns weiterhelfen …«

Maurer seufzte. Scheinbar musste er Hendrix alle Antworten einzeln aus den Rippen leiern.

»Und warum bezweifelt der verehrte Experte die Nützlichkeit der Abdrücke?«

»Haben Sie gedient, Detective?« Hendrix zog Polaroidfotos aus der Tasche und reichte sie Maurer. Darauf waren die Schuhabdrücke zu sehen. Der Entführer hatte sie in dem weichen Teppichflor hinterlassen, als er Mrs. Stone hochgehoben hatte, und die Fasern hatten sich noch nicht wieder aufgerichtet.

»Nein, ich war untauglich … körperlich, wegen meiner Augen.« Maurer hatte sich damals geschworen, nie wieder über seine Kurzsichtigkeit zu nörgeln, als man ihn wegen der Fehlsichtigkeit ausmusterte.

»Ich war bei den Marines«, sagte Hendrix und tippte auf das Polaroid. »Und ich erkenne den Abdruck eines Springerstiefels, wenn ich einen vor mir habe; und das hier ist unter Garantie der Abdruck eines US-amerikanischen Militärstiefels, wie er von den Marines getragen wird – und von zigtausend Zivilisten.« Hendrix schnippte mit den Fingern. »Viel Spaß beim Suchen!«

Maurer deutete auf den Metallrahmen, der von der Vitrine übrig geblieben war.

»Was für eine Waffe kann das gewesen sein?«

»Zwölfer Schrot – oder Hackblei. Wir suchen noch nach Partikeln, aber die sind nicht so einfach zu finden in dem Glassalat. Aber wenn da welche sind, dann finden wir sie.« Hendrix rieb sich das Kinn. »Wenn der mit so was auf die Frau geschossen hat, dann ist sie Hackfleisch. Dann müsste hier alles voller Blut und Eingeweide sein. Auf so kurze Entfernung hätte es sie in zwei Teile zerfetzt. Aber hier ist kein Blut. Nur Glassplitter!«

Maurer reichte Hendrix das Foto zurück. »Es müssen zwei verschiedene Waffen gewesen sein. Die Zeugen sagen einheitlich aus, der erste Schuss sei viel lauter gewesen als der zweite.«

Hendrix schüttelte den Kopf.

»Diese Geschichte ist irgendwie schräg, das sage ich Ihnen … Ich mache den Job nicht erst seit gestern, und ich sage Ihnen, da ist was faul!« Er tippte sich an die Stirn.

Maurer nickte. Hendrix hatte recht. Das war kein normales Verbrechen. Er war sich sicher, dass er sich im Verlauf der Ermittlungen noch einige Male würde wundern dürfen. Er zog sein Mobiltelefon heraus und überlegte, welche Kollegen er als erste an die Arbeit schicken sollte. Er fuhr eilig herum und prallte gegen Finnegan, die während seines Gesprächs mit Hendrix wortlos hinter ihrem Chef gestanden hatte.

»Kommen Sie, Finnegan!«, schnauzte Maurer und versuchte das Kribbeln zu ignorieren, das ihm den Rücken herunterlief, als er gegen seine Untergebene gestoßen war. »Wir haben zu tun!« Und er fegte zum Ausgang, zu seinem Wagen. Sergeant Finnegan folgte ihm mit hochgezogenen Augenbrauen und einem winzigen Lächeln in ihren Mundwinkeln.

Pochende Kopfschmerzen, der Geschmack im Mund faulig, säuerlich, und die Mundhöhle trocken wie Wüstensand, ein quälendes Ziehen in den Armen und Handgelenken, taube Finger und obendrein ein würgendes Gefühl im Magen. Roberta Stone fühlte sich schlecht in allen Bereichen, auf allen Wellenlängen und in jeder Beziehung. Was war nur passiert? Sie versuchte sich zu bewegen. Das Ziehen in den Armen nahm zu und wurde schmerzhaft. War sie gelähmt? Sie konnte aus irgendeinem Grund die Augen nicht öffnen, so sehr sie es auch versuchte. Das Licht war so grell, dass es in ihren Augen trotz der geschlossenen Lider weh tat. Es war warm, sogar heiß. War sie in der Wüste? Der Schmerz in ihrem Kopf pochte so heftig in ihren Schläfen, dass sie kaum klar denken konnte. Was war das Letzte, an das sie sich erinnerte? Sie war zum Einkaufen in die Stadt gefahren … in diese Edelboutique mit der schleimigen Verkäuferin … und dann? Da war die Erinnerung an ein Geräusch, das Klirren zerbrechenden Glases. Hatte sie etwas kaputt gemacht? Aber was war mit ihr los?

Sie versuchte erneut die Augen zu öffnen. Gleißende Helligkeit. Eine Träne quoll aus ihrem Auge, als sie die Lider heftig zusammenpresste. Sie stellte fest, dass sie ihren Kopf nicht heben konnte. Ihr Nacken schmerzte. Sie fühlte ihr Haar an den Oberarmen … lag sie? Sie versuchte die Beine zu bewegen, aber da war ein Widerstand … Ihre Beine waren angebunden. Angebunden? Sie stöhnte und bewegte sich heftig. Schmerzen in den Handgelenken! Das Klopfen in den Schläfen nahm ein rasendes Tempo an. Sie war gefesselt. Gefesselt! Verflucht, was war hier los? Roberta Stone war keine sehr impulsive Person. Sie war immer kühl und berechnend gewesen. Trotz des Kopfschmerzes riss sie sich zusammen. Sie spürte ihren Puls rasen. Ganz ruhig, Bobby! Du darfst jetzt nicht ausflippen!

Sie stellte ihr sinnloses Gezappel ein. Sie war gekidnappt worden, so viel war einmal klar. Von wem? Das würde sich wohl noch zeigen, aber sicher war es jemand, der Geld haben wollte. Warum sonst sollte sie jemand entführen und bewegungsunfähig aufhängen? Da wollte jemand an das Geld ihres Mannes. Alexander Stone war ein sehr reicher Mann. Das war allgemein bekannt. Sie musste also nur ruhig bleiben und auf ihre Chance warten. Niemand konnte garantieren, dass sie auch frei kam, wenn Alex das Lösegeld bezahlt hatte. Also musste sie ihre Kräfte schonen und auf eine Gelegenheit warten, die ihr die Flucht ermöglichte. Was, wenn der oder die Entführer sie einfach hier hängen und verfaulen ließen? Nein! Sie rief sich zur Ordnung. Keine negativen Gedanken! Du kommst hier raus! Bobby kommt überall raus!

Wenn nur der Kopf nicht so hämmern würde!

Sie versuchte ihre Zunge zu bewegen. Da war etwas in ihrem Mund … etwas, das verhinderte, dass sie die Zunge aus dem Mund strecken konnte. Sie war auch noch geknebelt. Roberta Stone begann wütend zu werden. Sie übte Macht aus! Sie war es gewohnt, Befehle zu geben und dass die Leute sprangen, wenn sie pfiff – und jetzt hing sie hier, war nicht in der Lage sich zu bewegen, hilflos der Gewalt von irgendwelchen Kidnappern ausgeliefert! Sie malte sich aus, was sie mit ihren Entführern anstellen würde, wenn sie sie in die Finger bekäme.

Was konnte sie tun? Sie war zu absoluter Passivität verurteilt. Wenn ihr niemand half, würde sie hängend verrotten. Angst mischte sich in ihre Wut. Ein Gefühl, das sie nicht oft in ihrem Leben gehabt hatte. Bobby Stone stand über den Dingen.

So konnte es doch nicht zu Ende gehen? Sie war reich, relativ jung, skrupellos und hatte noch so große Pläne …

Roberta Stone, Frau eines der reichsten Männer der USA, verwitwete Mrs. Bernhard Fouley, erfolgreicher Anwalt, der ihr ein erkleckliches Vermögen hinterlassen hatte; Wohltäterin, Gönnerin und einiges mehr – und nicht alles davon war ehrenhaft. Bobby wusste als einzige um ihre zahllosen Missetaten. Nie war sie erwischt worden oder nur der kleinste Anschein eines Verdachtes auf sie gefallen, dazu war sie immer zu raffiniert gewesen – und zu gründlich. Sie hatte immer sauber die Scherben hinter sich aufgeräumt.

Was, wenn diesmal sie selbst das Opfer sein würde, wenn sie auf der Strecke bliebe, wie so viele, die ihr im Weg gestanden hatten? Bobby lief ein Frösteln über den Körper bei dem Gedanken an ein gewaltsames Ende. Sie spürte, wie sich ihr Nackenhaar aufstellte und sich ihre Brustwarzen aufrichteten. Seltsam. Sie vermisste das vertraute Gefühl des schützenden Büstenhalters. Sie bewegte den Oberkörper leicht hin und her. Das Gefühl von Stoff fehlte. Sie zog ihre Gesäßmuskeln zusammen. Auch hier nicht das Empfinden einer Berührung, wie man es hat, wenn die Haut in der Kleidung gleitet. Sie war nackt!

Verdammnis! War sie einem Perversen in die Hände gefallen? Das war doch krank! Sie hing hier nackt, entführt, und, wie ihr schien, mit gespreizten Beinen, bewegungsunfähig, wie in einem billigen Sadomaso-Pornofilm! Gleich würde eine Horde als Ku-Klux-Klan-Anhänger verkleidete Footballspieler hereinstürmen und sie vergewaltigen! Nun, wenn es nur das war! Bobby hatte freiwillig schon Schlimmeres getan! Aber was, wenn es ein psychopathischer Killer war, der sie hier hin gehängt hatte? Ein Serienkiller, dem sie als nächstes Schlachtopfer dienen sollte? Panik schlich sich in ihre Gedanken. Bobby war es gewohnt, zu handeln. Jetzt war das das Einzige, was sie nicht konnte. Und somit konnte sie gar nichts tun. Sie musste warten und sehen, was ihre Entführer machen würden.

Wenn nur ihr Kopf nicht so schmerzen würde! Und wenn nur das Licht nicht so grell scheinen würde …

Der Mann setzte sich auf. Er war schon seit geraumer Zeit wach und hatte beobachtet, wie seine Gefangene zu sich kam. Sie würde hässliche Kopfschmerzen haben, und ihre Augen würden übermäßig lichtempfindlich sein. Das lag an den Drogen, die er ihr verabreicht hatte. Er hatte darauf geachtet, nur das unbedingt nötige Maß an Substanzen zu benutzen, das eben nötig war, damit er sein Vorhaben umsetzen konnte, ohne jemanden in Gefahr zu bringen. Nein, er wollte sie sicher nicht unnötig verletzen. Er wusste nur zu gut, wie es war, wenn man verletzt wurde.

Er betrachtete den Körper, der da ein kleines Stück über dem Steinboden baumelte. Nur langsam wurde sich die Erwachende ihrer Situation bewusst. Sie bäumte sich in ihrer Fesselung auf, soweit diese das zuließ. Sie kämpfte dagegen an, wand sich, aber letztendlich sah sie das Ausweglose ihrer Lage ein. Als sie ruhig da hing und er mehrere Minuten lang keine Bewegung vermerken konnte, schien es ihm an der Zeit zu sein, seinen Plan voranzutreiben. Er hatte nicht endlos Zeit.

Genau genommen hatte er überhaupt keine Zeit.

Aus seiner Tasche, die er neben der Werkbank abgelegt hatte, nahm er eine Kerze und ein Sturmfeuerzeug, ähnlich einem Zippo. Die billige Kopie würde niemand zurückverfolgen können. Er durfte nichts zurücklassen, das der Polizei als Hinweis dienen konnte, wer er war – und wer er gewesen war.

Er ging hinüber zu seiner Gefangenen. Er bewegte sich lautlos über den rauen Steinboden, ging in einem Halbkreis um die Hängende herum, bis er ihr ins Gesicht sehen konnte. Sie hielt die Augen geschlossen. Das war der Lichtempfindlichkeitseffekt. Er trat ein paar Schritte zurück. An der Wand befand sich ein Schalter für die einzige Glühbirne, die Licht spendete.

Es war ein alter Knebelschalter, bei dem man einen Knopf drehen muss, der dann den Schaltvorgang vollführt. Mit lautem Knacken rastete die Mechanik ein. Das Licht erlosch. Es war schlagartig stockfinster. Bobby Stone schrak heftig zusammen. Durch die geschlossenen Lieder nahm sie wahr, dass das Licht aus war. Ganz aus oder nur dunkler? Sie riss ihre Augen auf. Schwärze.

Da war ein Geräusch gewesen, bevor das Licht ausgegangen war! Das war ein Schalter. Schalter schalten sich normalerweise nicht selbst, es musste also jemand hier sein. Oder hatte eine Uhr das Licht automatisch ausgemacht? Wenn sie nur rufen oder reden könnte! Aber alle Versuche, den Gegenstand, von dem sie mittlerweile glaubte, dass es ein Gummiball war, aus dem Mund zu stoßen, hatten nur zur Folge gehabt, dass ihr nun die Zungenspitze weh tat.

Ein neues Geräusch: ein metallisches Klicken, gefolgt von einem drehend-reibenden Geräusch, gefolgt von einem »Wupp!«. Ein Feuerzeug! Im selben Moment kroch flackernd das Licht einer kleinen Flamme über ihre gequälten Netzhäute. Sie blinzelte, denn obwohl die Flamme nur spärliche Helligkeit verbreitete, war sie es nach der langen Dunkelheit und mit den von der Droge lichtempfindlichen Augen nicht gewohnt, ins Licht zu sehen.

Der Mann hielt den Docht der Kerze in die Flamme seines Feuerzeugs und wartete, bis der Docht Feuer gefangen hatte. Er ließ das Feuerzeug zuschnappen, hielt die brennende Kerze höher und trat an die hängende Roberta Stone heran.

»Guten Abend, Mistress Stone!«, sagte er leise, mit überraschend wohlklingender Stimme.

In Roberta Stones Augen stand Furcht, als sie in das verwüstete Gesicht ihres Entführers starrte. Der Mensch schien nur noch aus Narbengewebe zu bestehen. Schnitt- Brand- und andere Verletzungen hatten auf ihm ihre Spuren hinterlassen. Das flackernde Licht der Kerze verstärkte den Eindruck noch, sie sei das Opfer von Jack the Ripper oder Quasimodo.

Unter den Narben bewegten sich harte Muskelstränge, man konnte jede einzelne Sehne erkennen. Der Mann hatte nicht ein Gramm Fett am Leib. Sie konnte sehen, wie die Muskeln unter der Haut zuckten, sich streckten und zusammenzogen.

»Du fragst dich bestimmt, wer ich bin, hm?«, fuhr die sanfte Stimme fort. Sie hatte einen seltsam gutturalen Unterton, etwas Ausländisches, obwohl der Mann perfektes amerikanisches Englisch sprach. »Keine Sorge, du kommst schon noch dahinter! Nur so viel für den Anfang: Wir haben uns einmal gekannt!«

Er ging in die Hocke und tropfte etwas Wachs auf den Boden, klebte darauf die Kerze fest. »Wenn die Kerze erloschen ist, komme ich wieder. Oh, eins solltest du noch wissen: Wenn wir miteinander fertig sind, wird es keine Roberta Stone mehr geben!«

Roberta Stone bäumte sich wild auf und rüttelte erfolglos an ihren Ketten. Sie schwang hin und her und drehte sich am Ende ihrer Kette. Ihre Brüste schwangen hin und her. Sie hätte geschrien, wenn sie der Knebel nicht daran gehindert hätte. Angst? Wut? Hass? Von allem etwas.

»Du verschwendest deine Kraft!« sagte der Mann tadelnd. Er griff nach ihren Unterschenkeln und stoppte die Drehbewegung, bis sein Opfer ruhig hing. Er ließ sie langsam los, und beim Fortnehmen der Hand streifte er wie unabsichtlich ihren Oberschenkel.

Er drehte sich weg, ging zum Ofen, warf Kohlen nach und verließ den Raum dann leise durch die eiserne Tür. Roberta Stone blieb allein mit der flackernden Kerze und ihren Gedanken.

Maurers Schreibtisch bog sich unter der Last der Akten. Er hatte Finnegan beauftragt, alle obskuren Überfälle oder anderen seltsamen Delikte der letzten zehn Jahre zusammenzustellen, und das hier war das Ergebnis von vier Stunden Arbeit. Die Frau machte ihre Sache gründlich.

Maurer hatte Perkins schon mit der Aufgabe betraut, den Stapel zu sichten. Finnegan brauchte er für andere Aufgaben. Der Fall mit der entführten Frau Millionär gestaltete sich immer seltsamer. Mister Alexander Stone würde jeden Moment hier eintreffen, und sie konnten ihm nichts erzählen. Sie wussten nichts. »Ein schwarz gekleideter Mann hat ihre Frau entführt und eine Verkaufsvitrine erschossen, Sir«, das konnte er dem Mann der Entführten erzählen. Sie hatten keine Spuren, keine Hinweise, keine Lösegeldforderung.

In einer Viertelstunde würde Stone hier eintreffen. Maurer hatte eine Abordnung von Beamten zum Flugplatz geschickt, um Alexander Stone unverzüglich und ohne Medienrummel herbringen zu lassen. Bis jetzt hatte er es geschafft, nichts durchsickern zu lassen. Maurer griff zum Telefon. Vielleicht hatte die Fahndung nach dem gelben VW-Bus schon etwas gebracht. So viele gelbe Busse fuhren in New York nun auch nicht herum. Eigentlich musste so ein Gefährt selbst in dieser Millionenmetropole jemandem aufgefallen sein. Er wählte die Nummer des zuständigen Kollegen. Nach fünf Mal Klingeln nahm der Beamte ab und knurrte seinen Namen in den Hörer. Maurer stellte seine Frage.

»Na ja«, antwortete der Mann aus der Verkehrsabteilung. »Wir haben einen brennenden VW-Bus in Brooklyn und einen, der in der Nähe der Queensborough Bridge im Hudson versunken sein soll. Der ist aber nicht gelb genug. Dann haben wir eine Meldung aus Newark, da soll ein Bus über eine rote Ampel gerast sein und einen Unfall mit Fahrerflucht verursacht haben. An allen Fällen sind die Kollegen Plattfüße noch dran …«

Also nichts Konkretes. Maurer bedankte sich und mahnte noch mal an, dass er unverzüglich unterrichtet werden sollte, wenn es etwas Neues gab. Er legte auf, ohne eine Erwiderung abzuwarten.

Die Tür wurde schwungvoll geöffnet, und Sergeant Finnegan steckte ihren hübschen Kopf herein. »Mr. Stone ist da, Sir!«, sagte sie und machte dann Platz für den Ehemann der Entführten. Mister Alexander Stone war ein kleiner, etwas übergewichtiger Mann mit schütterem grauem Haar und weichen Zügen. Er trug einen unauffälligen maßgeschneiderten Anzug und eine schlichte Metallbrille, die zu groß für sein kleines Gesicht war. Er sah ein wenig aus wie James Cagney ohne Haare.

Maurer bot Mr. Stone einen Platz an. Finnegan machte eine fragende Geste. Ob sie bleiben solle?

»Sergeant Finnegan, wenn sie vielleicht bleiben könnten?«

Maurer wies auf den Hocker, der an der Seite des kleinen Büros stand. Finnegan schob sich auf das Sitzmöbel. Sie hatte gehofft, dabeisein zu können, wenn der Chef mit Stone sprach.

»Sir«, begann Maurer und räusperte sich, »Sie wissen schon, dass ihre Frau entführt wurde?«

Stone nickte stumm. Maurer nickte ebenfalls. »Gut, denn viel mehr wissen wir zurzeit auch nicht, wie ich zugeben muss … Das Verbrechen muss von langer Hand vorbereitet worden sein. Bisher hat der Täter noch keinen Fehler gemacht.« Stone sah Maurer stumm aus wässrigen Augen an.

»Können Sie uns weiterhelfen, Sir? Ich meine, gibt es jemanden, dem sie so eine Verbrechen zutrauen? Haben Sie Feinde, die eventuell zu solchen Mitteln greifen würden? Hat Ihre Frau Feinde?«

Stone schüttelte langsam den Kopf.

»Ich wüsste nicht!«, antwortete er dann. Seine Stimme war hoch und heiser. »Ich bin seit Jahren schon nicht mehr im Geschäft. Wenn ich überhaupt jemals einen Feind gehabt haben sollte, dann fiele es mir schwer zu glauben, er würde mit einer etwaigen Racheaktion so lange gewartet haben … Nein, ich denke nicht, dass ein Feind hinter der Entführung meiner Frau steckt. Und sie selbst? Nun, ich bin nicht im Detail über alle Aktivitäten meiner Angetrauten informiert, doch halte ich eine Annahme in dieser Richtung für ebenso wenig angezeigt. Es wird wohl auf ein Lösegeld hinauslaufen, meinen Sie nicht?«

Maurer hatte noch nie jemanden so gestelzt reden hören wie diesen Menschen, der da vor seinem Tisch saß.

»Äh, nein – ehrlich gesagt, glaube ich das nicht, Sir!«

»Was bringt Sie zu dieser abweichenden Meinung, Mr. … äh?«

»Detective«, sagte Maurer, ohne seinen Namen zu nennen. »Nicht meine Meinung ist abweichend, Sir, sondern die Ihre!« Maurer gefiel dieser seltsame Weichling überhaupt nicht. »Nach polizeilichen Erkenntnissen geht eine Lösegeldforderung immer recht zügig nach der erfolgten Entführung bei den Erpressten oder bei uns ein. Wenn das nicht geschieht, Sir, und das ist hier der Fall, wie mir scheint, dann liegt meistens ein anderer Grund für die Entführung vor als rein pekuniäre Motivationen.«

Stone legte den Kopf zur Seite und sah Maurer irritiert an.

»Ja, aber welchen anderen Grund für eine Entführung kann es denn geben?«

Maurer hob theatralisch seine Arme.

»Vielleicht will jemand ein politisches Zeichen setzen? Oder es war ein Irrtum, und die haben die Falsche entführt! Oder es handelt sich um ein Verbrechen aus Leidenschaft! Hatte ihre Frau einen Liebhaber? Ist sie einem Serienkiller in die Hände gefallen?«

Stone war puterrot angelaufen. Er sprang fast aus seinem Sessel heraus: »Meine Frau hatte keinen Liebhaber, Sir!«

Mit hochrotem Kopf stand er da und war eine Karikatur seiner selbst. In diesem Moment war Maurer sicher, dass Mrs. Stone einen Liebhaber gehabt hatte – mindestens einen!

Roberta Stone grübelte. Sie konnte diese Ruine von einem Gesicht nicht einordnen. Der Mann hatte gesagt, sie würden einander kennen. Wer mochte er sein? Sie konnte sich an niemanden erinnern, der auch nur entfernt in Frage kommen würde. Und er hatte ihr den Tod angekündigt. Wenn er mit ihr fertig sein würde, gäbe es keine Roberta Stone mehr, hatte er gesagt. Was hatte sie für eine Chance?

Sie konnte nur hoffen, dass der Mann einen Fehler machen würde. Jeder machte Fehler … nur sie nicht; nicht Roberta Stone. Sie hatte nie einen Fehler gemacht. Es gab keine Zeugen ihrer Missetaten – entweder weil sie es so geschickt angestellt hatte, dass keiner wusste, dass sie hinter einem Geschehen steckte, oder weil sie keine Gefangenen machte. Sie erinnerte sich an die Sache mit Morley. Sie hatte ihn um sein Vermögen, seine Familie und seine Ehre gebracht, und als er dahinter kam, hatte sie ihn von einem Auftragsmörder beseitigen lassen. Der Hitman war in ihrem Bett gelandet, und nach gehabtem Vergnügen hatte sie sich seiner mit seiner eigenen Waffe entledigt. Als die Polizei ihn fand, lautete die Diagnose: Selbstmord eines Auftragskillers.

Roberta Stone machte keine Fehler. Doch – einen musste sie gemacht haben, denn sonst würde sie jetzt nicht hier hängen. Die Kerze war zu einem Stummel von höchstens noch einem Zoll zusammengeschmolzen. Wenn sie abgebrannt war, kam er wieder zurück, der Vernarbte. Vielleicht nahm er ihr ja den Knebel aus dem Mund; dann würde sie ihm Fragen stellen können. Sie musste wissen, wer er war und weshalb er ihr das hier antat. Wie sonst sollte sie eine Strategie entwickeln? Wie sollte sie bekämpfen, was sie nicht kannte?

Vielleicht konnte sie ihre weiblichen Reize einsetzen. Noch jeder Mann war darauf hereingefallen. Bobby hatte sie alle genommen. Ihr war es egal, wer da in ihr steckte. Sie hatte mit jedem ihren Spaß, denn ihr Sex fand in ihrem Kopf statt. Ihr Fetisch war Macht, ihre Geilheit hieß Herrschen. Das machte sie an! Selbst in ihrer aussichtslosen Situation fühlte sie, wie sich ihr Unterleib zusammenzog bei dem Gedanken.

Sie war bereit alles zu tun, um zu überleben. Hinterher konnte man dann sehen und Rache nehmen, falls das nötig sein sollte. Sie würde überleben! Roberta Stone, Survivoress.

Der Mann regulierte die Flamme des Schneidbrenners nach, um die Flamme auf optimaler Schneidleistung zu halten. Wieder und wieder fraß sich die heiße Flamme aus Sauerstoff und Acetylengas durch das Metall des Volkswagenbusses. Deutsche Wertarbeit – das ließ sich nicht so eben mal nebenbei zerlegen!

Er hatte viel gelernt beim Militär. Vive la Légion! Mit dem Schneidbrenner machte ihm kaum jemand etwas vor. Routiniert zerteilte er den Wagen, erst die Bleche, dann die Aufbauten, Getriebe, Motorblock, Achsen. Die Halle, in der er arbeitete, stand unten am Hafen und war zu einer Seite hin offen. Der Mann schweißte, schraubte, und nach gut zwei Stunden war von dem gelben Bus nichts mehr übrig außer einem Foto, das der Mann vorher mit einer Polaroidkamera gemacht hatte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und ignorierte die Schmerzen, die in seinen Eingeweiden wüteten.

Alle Autoteile, die verräterisch hätten sein können, hatte er im Hudson versenkt, die anderen in der ganzen Halle verteilt. Schließlich schob er das Schweißgeschirr in eine Ecke, warf einen alten, zerschlissenen Sack darüber und lehnte einige alte Bretter davor.

Der Mann warf einen letzten Blick in die leere Halle. Der Bus war verschwunden, und er hatte seine Spuren verwischt – bis auf diejenigen, die er absichtlich für die Polizei hier gelassen hatte. Aber nur, wer wusste, dass er suchen musste, würde auf die Idee kommen, hier nach irgendetwas zu stöbern. Niemand würde hier nach irgendetwas suchen. Er drehte sich um und machte sich auf den Weg. Noch rund zwanzig Minuten. Dann würde die Kerze heruntergebrannt sein, und er musste zurück sein bei seiner Gefangenen. Im Laufen zog er einen Umschlag aus der Innentasche seiner schwarzen Jacke und steckte das Foto hinein. Er leckte den Kleberand an, verschloss den Umschlag, auf dem schon Marken in Höhe des nötigen Portos klebten, und warf ihn am nächsten Briefkasten ein.

Er lief gleichmäßig, militärisch präzise. Er würde es schaffen. Er würde rechtzeitig vor dem Erlöschen der Kerze zurück sein. Über die große Kreuzung, dann zweite Straße links. Im Hinterhof der Wäscherei stand ein Schuppen; in dem Schuppen gab es eine Falltür, die zu einer Treppe führte. Er hastete die Treppe hinunter. Hier lagerte der Wäschereibesitzer seine Vorräte an Seifen und Stärke, und es roch frisch und rein.

Der Mann lief quer durch den Raum voller Regale, öffnete eine Tür, ging in den Gang dahinter, der nach gut fünf Metern an einer Metallwand endete. Rostiges Eisen, faustgroße Nieten. Der Mann schob zwei von den dicken Halbkugeln hoch und drückte gegen die Eisenwand. Knarrend schwang sie nach hinten; er schlüpfte hindurch und schob die Wand sofort wieder an ihre alte Position zurück. Hörbar rasteten die Verschlüsse ein. Die Tür war wieder eine Wand. Der Mann lief weiter. Die Treppe führte mehrere Stockwerke in die Tiefe. Hier standen früher die riesigen Kessel einer Brauerei, tief im Untergrund von New York verborgen, und unterhalb dieser Katakomben zogen sich noch ältere und seltsamere Stollen entlang. Der Mann kannte den Weg gut. Er war ihn in den letzten Jahren oft gegangen, mal mit und mal ohne Licht. Er kannte sich hier blind aus. Er hatte noch ein paar weitere Abzweigungen und Tunnel vor sich, er musste auf die Zeit achten. Weiter durch die Gänge.

Die letzte Tür. Er spähte hinein. Ein flackernder Schein. Die Kerze brannte noch. Der Schmerz in seinem Bauch hatte sich etwas gelegt, und der Mann atmete tief ein. Er legte seine Kleider am Eingang ab, und nur in seinen Hosen ging er leise um die Pfeiler herum, die ihm den direkten Blick bislang verwehrt hatten. Die Kerze blakte noch in den letzten Zügen ein paar Fetzen trüben Lichtes hervor, dann kippte der Docht in seiner Lache aus geschmolzenem Wachs um und erlosch. Die Dunkelheit währte nur einen Herzschlag lang, dann flammte eine Fackel auf. Er hatte alles vorbereitet. Vier Fackeln steckten in Wandhalterungen. Er ging mit der Fackel, die er in der Hand hielt, herum und entzündete die anderen der Reihe nach. In eine fünfte Halterung steckte er seine. Die fünf Fackeln ließen fünf lange Schatten der hängenden Roberta Stone über die Wände tanzen. Ihr Körper wurde von dem warmen Licht von allen Seiten ausgeleuchtet. Er konnte jede kleine Einzelheit erkennen: die perfekten Kurven ihrer Hüften, den Schwung ihrer festen Brüste und den nicht ganz symmetrischen Bogen, den ihre unteren Rippen beschrieben. Mit den Armen hoch über dem Kopf saßen ihre Brüste ein wenig zu hoch, aber das lag eben an ihrer Haltung. Ihr Haar fiel ihr an den Seiten herab … diese wunderschönen, braunen Locken, die im Sonnenlicht einen rötlichen Schimmer bekamen, die ihr als kleines Mädchen bis auf die Hüften gereicht hatten. Es gab da dieses Foto von ihrem neunten Geburtstag …

Roberta konnte ihn nicht sehen, da wo er stand, und so sah sie nicht die Träne aus seinem Auge rollen. Sie fiel auf den Steinboden und verdunstete innerhalb von Sekunden. Es war mehr als warm in dem Kellergewölbe. Trotzdem ging der Mann zum Ofen und legte nach. Er schürte die Glut und trieb die Temperatur weiter in die Höhe. Ein leichter Schweißfilm bedeckte seinen Oberkörper.

Er ging zu seiner Bank und trank von seinem mitgebrachten Wasservorrat. Dann nahm er den verbliebenen Schlüssel zur Hand. Die Tür hatte er sicher verriegelt. Er spannte den Schlüssel ein wie den ersten und feilte auch diesen herunter. Nun gab es keine Möglichkeit mehr, das Schloss zu öffnen. Wer immer hinaus oder herein wollte, würde die Tür aufbrechen müssen. Er trank noch einen tiefen Schluck. Seine Gefangene würde auch Durst haben, besonders nach den Drogen, und der Gummiball in ihrem Mund würde den Wunsch nach Wasser noch verstärken.

Er wischte sich die Lippen trocken und trat zu seiner Gefangenen. Langsam ging er um sie herum. Sie nahm ihn schon aus dem Augenwinkel war. Er war groß, kein Riese, aber groß gewachsen. Breite Schultern. Das lange, graue Haar stand ihm nicht. Andererseits war das bei dem, was von seinem Gesicht noch übrig war, ziemlich egal. Sie folgte ihm mit ihrem Blick. Kraftvolle Bewegungen. Ein Raubtier, geschmeidige Bewegungen, eine Tätowierung auf dem Oberarm. Etwas Militärisches? Etwas vornüber gebeugt blieb er vor ihr stehen, als stemme er sich gegen etwas Unsichtbares. In ihrem Sex-Zirkel, den sie alle vierzehn Tage aufsuchte, hätte er sicherlich Interesse geweckt. Der Mann hatte etwas Wildes, Animalisches an sich, etwas Gefährliches. Roberta kannte den Typ Mann. Er hatte das Töten gelernt, und er hatte seinen Beruf ausgeübt. Sie konnte das erkennen. Der Mann vor ihr hatte schon getötet. Dazu musste sie keine Hellseherin sein. Die Narben hatte er sich nicht bei der Gartenarbeit zugezogen.

Er sah sie an. Sie hing vor ihm, und sie war in seiner Gewalt. Endlich. Jetzt war es an ihm, dafür zu sorgen, dass Roberta Stone nie wieder jemandem Schaden zufügen würde.

»Du tust mir leid«, sagte er tonlos.

Roberta hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit.

»Du bist ein verdammtes Miststück, eine Hure, eine Mörderin, Verleumderin, Lügnerin, Ehebrecherin, Verräterin, Betrügerin. Du bist so ziemlich das letzte Stück Dreck unter den Frauen dieser Welt, Roberta Emilia Lucia Stone, verwitwete Mrs. Fouley, geborene Osterman.«

Er sagte das alles mit tiefer Traurigkeit, mit einem schmerzenden Bedauern in der Stimme, ohne auch nur den Anklang einer Anklage oder des Vorwurfs, aber mit einer gewissen Bitterkeit. Er sprach leise, aber sie hörte jedes Wort, als hätte er es herausgeschrien.

Roberta schrak zusammen. Er wusste gut Bescheid. Ihren Geburtsnamen hatte sie selbst seit Jahren nicht mehr gehört. Sie hatte ihn nicht mehr hören wollen. Osterman. Eine kleine, mistige Familie bornierter Möchtegerndiplomaten – Vergangenheit. Außerdem lebte keiner mehr von ihren Anverwandten. Aber was maßte sich dieser Scheißkerl von einem Kidnapper an, sie als Hure, Ehebrecherin, Lügnerin und Mörderin zu bezeichnen! Wut kochte in ihr hoch. Oh, wenn sie doch könnte, wie sie wollte!

»Jedenfalls wirst du heute deinen Mann nicht umbringen«, sagte der Mann in immer noch regungslosem Tonfall. Trotz der Hitze wurde Roberta Stone kalt, eiskalt. Wie konnte er das wissen?

»Du fragst dich, woher ich das weiß?« Der Mann griff in seine Tasche und hielt ein Metallplättchen in der ausgestreckten Hand, kaum größer als ein Zehn-Cent-Stück. »Du hast es mir verraten … Du neigst zu Selbstgesprächen, wenn du Pläne schmiedest, Roberta!«

Er hatte ihre Wohnung verwanzt! Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte einen Fehler gemacht … Sie hatte ihre eigene Wohnung als sicher betrachtet … Aber Moment mal! Ihr wurde noch etwas kälter. Das konnte er nur in ihrer Wohnung aufgefangen haben, nicht in der ehelichen in der Fifth Avenue, sondern in ihrem kleinen, konspirativen Versteck, von dem sie angenommen hatte, dass es niemandem bekannt sei außer ihr selbst. Er hatte ihr Refugium verwanzt!

»Ich war in deinem Versteck, Roberta. Ich kenne deine Pläne. Du wirst nichts davon umsetzen, das verspreche ich dir. Die Börsenmanipulation, den Versicherungsschwindel und den Wochenendurlaub mit dem Mann deiner Freundin Jamie kannst du auch vergessen.«

Der Mann lächelte, und die Narbe ließ ihn grinsen. »Sie sind jetzt sicher vor dir.«

Rotglühende Wut tobte durch Roberta Stone, die hilflos den Anschuldigungen zuhörte; und jede einzelne entsprach der Wahrheit. Ja, sie hatte geplant, mit dem Mann ihrer Freundin in die Berge zu fahren, ihn in ihr Bett zu locken, ihn dann zu erpressen und ein paar Insidergeschäfte an der Börse zu tätigen. Ja, sie hatte einen Versicherungsbetrug in Arbeit – ein paar alte und völlig überversicherte Häuser würden in Flammen aufgehen.

Und sie hatte geplant, ihren zweiten Ehemann zu beerben – nachdem sie ihn beim Ableben unterstützt haben würde … Aber das war jetzt hinfällig. Alles aus.

All ihre Illusionen zerplatzten wie Seifenblasen. Sie hatte schon in den letzten Stunden, die sie allein mit der Kerze verbracht hatte, die Hoffnung auf einen Fluchtversuch aufgegeben. Sie konnte nicht nach oben sehen, aber unten konnte sie ihre Füße erkennen. Eine Stange von gut einem Meter Länge spreizte ihre Beine auseinander, an deren Enden massive, eiserne Fußschellen saßen, die sich um ihre Gelenke schlossen. Wie sollte sie ohne Hilfe da herankommen, mit den Händen über dem Kopf, an einer Kette hängend? Wie lange konnte sie das überhaupt aushalten? Ihre Finger spürte sie kaum noch. Sicher würden sie bald absterben. Aber was machte das schon, denn der Kerl, ihr Entführer, würde sie sowieso früher oder später umbringen.

»Du wirst dich an jedes deiner Verbrechen erinnern, Roberta Stone, dafür werde ich sorgen.«

Sie glaubte ihm jedes Wort und hasste ihn dafür.