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Der größte Verrat in der deutschen Geschichte war der Mord an König Ludwig II. von Bayern. Eve Linden, eine Frau mit außergewöhnlichen Fähigkeiten und ihr Team der Timer-Force des CERN decken die Hintergründe der schändlichen Tat auf. Aber können sie auch die Vergangenheit ändern?
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Myriam Werner
&
Oliver Buck-Werner
Das Buch:
Der größte Verrat in der deutschen Geschichte war der Mord an König Ludwig II. von Bayern. Eve Linden, eine Frau mit außergewöhnlichen Fähigkeiten und ihr Team der Timer-Force des CERN decken die Hintergründe der schändlichen Tat auf. Aber können sie auch die Vergangenheit ändern?
Die Autoren:
leben in NRW und wollen mit ihren Leser*innen durch die Zeit reisen, um die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel zu erleben.
Timer One
Myriam Werner
&
Oliver Buck-Werner
Impressum
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
1. Edition, 2023
© Myriam Werner &
Oliver Buck-Werner 2023
Bessemerstrasse 85
44793 Bochum
Umschlaggestaltung: Werner & Buck-Werner
Korrektorat: Oliver Buck-Werner
Lektorat: Oliver Buck-Werner
ISBN 9783757940980
Aus Gründen der Rechtssicherheit weisen wir darauf hin, dass, gleichwohl sich dieses Buch an historischen Fakten orientiert, es ein Roman bleibt, dessen Charaktere und Handlung der Fantasie entsprungen sind. Die Interpretation bleibt den Leser*innen überlassen.
Kühl strich die Nachtluft über Eves erhitztes Gesicht. Aus der Ferne drang das Geräusch eines startenden Motors an ihre Ohren und war kurz darauf auch schon wieder verstummt. Ohne zu wissen, was sie zu hören erhoffte oder gar befürchtete, lauschte sie wachsam in die Stille. Seufzend wälzte sie sich im Bett hin und her. Die grell-roten Ziffern des Radioweckers tätowierten ihr die Zeit in die Augen: 00:17 Uhr. Sie starrte in die Dunkelheit und nahm immer noch die roten Punkte der Leuchtziffern wahr. Es war ihr unmöglich, abzuschalten. Dabei hätte sie genau das tun sollen. Die Sendung, die sie vor dem Zubettgehen angesehen hatte, war ein lauwarmer Aufguss der Todesumstände König Ludwigs II. von Bayern. Seitdem drehten sich ihre Gedanken wie in einem Karussell unablässig im Kreis.
Verschwörungstheorien hatte der Moderator, der besser in eine Comedy-Show gepasst hätte als in eine Dokumentation, den feigen Königsmord genannt. Der Redaktion war es wohl eher darum gegangen, den Mainstream zu bedienen anstelle differenzierter Betrachtungsweisen oder gründlicher Recherche. Bei den inzwischen bekannten Fakten konnte kein Zweifel darüber bestehen, dass es Mord war.
Um sich abzukühlen, griff sie zu dem Mineralwasser, das neben ihrem Bett stand, setzte es an die Lippen und schloss ihre Augen. Sprudelnd floss das kühle Wasser in ihren trockenen Mund und löste augenblicklich ein merkwürdiges Prickeln im Kopf aus. Als das Gefühl langsam abebbte, musste sie blinzeln.
Flackerndes Kerzenlicht erhellte den Raum und ließ rußige Schwaden zu einer hohen Decke aufsteigen. Die Temperatur schien schlagartig um zehn Grad gefallen zu sein und sie zitterte vor Kälte. Es war so still, dass sie ihre Atemzüge hören konnte.Wo, um Gottes Willen, war sie? Träumte sie das? Ein Gefühl beklemmender Angst breitete sich in ihr aus. Sie drehte sich vorsichtig um und erschrak: Vor ihr stand eine nur undeutlich erkennbare Person. Scharf sog sie die Luft ein und schlug die Hand vor den Mund, ihr Gegenüber tat es ihr gleich. Sie blickte in einen Spiegel.
Ein schmerzerfülltes Stöhnen zerriss die Stille. Eve wandte sich in die Richtung, aus der das Geräusch kam: Am Ende des Raumes saß, eingehüllt in einen nachtblauen und kostbar schimmernden Morgenmantel, ein dunkelhaariger Mann. Er hatte den Kopf in beide Hände gestützt und stöhnte leise. Bisher hatte er sie nicht bemerkt. Trotz seiner gekrümmten Körperhaltung wirkte der Mann recht groß. Er kam ihr seltsam bekannt vor ...
»Hehem«, räusperte sie sich.
Er sah nicht auf. Je länger sie ihn beobachtete, desto mehr ...
»Hallo?«, versuchte sie es etwas lauter. Endlich hob er mit gequältem Gesichtsausdruck den Kopf.
»Haben Wir denn nie unsere Ruhe?!«
»Oh mein Gott!«, entfuhr es Eve. Vor ihr saß tatsächlich und leibhaftig König Ludwig II. von Bayern und sah sie mit finster umwölkter Stirn an.
»Wer ist sie und was ficht sie an, unaufgefordert das Wort an Seine Majestät zu richten?!« Meine Güte, diese Situation war unglaublich real. Selbst seine gestelzte Ausdrucksweise war passend. Ein Paar zornig blitzende Augen musterte sie. »Verzeihung, Majestät, aber ich hatte keine Ahnung, dass ich sie in einem Traum treffen würde, sonst hätte ich vorher selbstverständlich einen Kurs in höfischer Etikette besucht«, antwortete Eve schnippisch. Jetzt würde sie doch bestimmt aufwachen. Er starrte sie immer noch vorwurfsvoll an. »Warum ist sie so orientalisch gewandet und führt diesen befremdlichen Dialekt? Woher kommt sie und wie kommt sie hier herein? Wir verlangen umgehend ein Zeugnis!«
Das wurde ja immer merkwürdiger. Langsam kroch ihr die Kälte des Bodens über die Füße an den Beinen hoch. Sollte man im Traum frieren können? Na ja, vielleicht hatte sie sich abgedeckt. So lange sie noch in dieser seltsamen Posse steckte, konnte sie es genauso gut genießen. Denn eigentlich hätte sie den echten Ludwig wirklich gerne gekannt.
»Pardon, Majestät, aber nachts pflegt man ein Schlafgewand zu tragen und da ich nicht aus Bayern stamme, klingt meine Zunge wahrscheinlich ungewohnt in Eurer Majestät Ohren.« Na, das war doch wohl mehr als angemessen, oder?
Der König starrte sie an. Auf seiner Stirn bildete sich eine steile Falte, die auf wachsenden Unmut schließen ließ. Oh je, es lief wohl doch nicht so gut ... Höchste Zeit zum Aufwachen! Sie kniff fest die Augenlider zusammen und ... und ... hörte Gelächter. Verwundert öffnete sie die Augen wieder. Er lachte? Der König lachte? Langsam wurde sie sauer.
»Haha, sehr witzig. Wirklich komisch. Darf ich fragen, was soo lustig ist? Außerdem ist es hier s.., ähm – sehr kalt!«
»Na – sie ist so komisch! Nachtgewand, ha. Beinkleider und ein Leibhemd. Sie wirkt seltsam auf Uns. Ist sie krank? Doch nicht im Geiste, oder?«
»Genauso wenig wie sie, Majestät! Bisher halte ich es für einen Traum, der eigentümlich real wirkt.«
»Sie wagt es doch nicht etwa, die Impertinenz zu besitzen, Uns ungefragt in ihren Träumen vorkommen zu lassen. Ohne, dass sie Uns vorgestellt wurde! Nein, das kann nicht sein. Wie soll es möglich sein, dass wir zeitgleich denselben Traum haben?«, wunderte sich der König.
Das war für bloße Einbildung nun wirklich zu viel der Logik. Langsam kamen Eve Zweifel. Fröstelnd schlang sie die Arme um die Schultern. Aufmerksam schaute der König sie an, dann rief er einen Diener herbei und orderte zwei Tassen heiße Schokolade und einen Sessel. Der Lakai stellte ihn in gebührendem Abstand auf und starrte sie an.
»Glotze er nicht dümmlich, sondern mache sich hinfort.«
Mit einer Handbewegung wedelte Ludwig den Diener weg.
»Bringe sie den Sessel näher heran, damit Wir sie besser in Augenschein nehmen können.«
Gehorsam schleifte Eve das schwere Möbel in Richtung des Königs, der ob des Geräuschs wieder schmerzhaft das Gesicht verzog.
»Das ist sehr befremdlich, ja nahezu spukistisch. Erzähle sie Uns mehr!«
Bitteschön, er hatte es so gewollt: »Ich komme aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert, Majestät. Genauer gesagt aus dem Jahr 2022.«
Der König riss die Augen auf. »2022? Kann sie das beweisen?«
»Ja, nein, also schon. Aber irgendwie gerade auch nicht. Da ich nicht weiß, wie ich in diese Zeitreise gerutscht bin, habe ich, wie Majestät selber sehen, nichts dabei. Ich könnte Majestät lediglich Dinge berichten, die erst noch geschehen werden. Wenn diese dann eintreffen, wüsste Ihre Majestät, dass ich die Wahrheit sage. Allerdings empfiehlt sich das nicht, weil es die Zukunft ändern könnte. Jedenfalls wird das in den Spielfilmen immer behauptet. Wer weiß, welche weitreichenden Auswirkungen das hätte ...«
Lange Zeit sagte der König nichts.
»Was sind Spielfilme? Und wenn das alles kein Traum ist, dann muss es einen Sinn haben. Aber welchen? Kann sie Uns von dem Leben in ihrer Zeit etwas, nun, Unverdächtiges berichten?«
Das war eine Herausforderung. Vielleicht sollte sie ihm vom technischen Fortschritt ihrer Zeit erzählen. Aus Büchern wusste sie, dass der König demgegenüber sehr aufgeschlossen war. Also verriet sie ihm einiges über Autos und mobile Telefone, über Flugzeuge und Raumflüge.
Der König wurde ganz aufgeregt. Mit gerötetem Gesicht und glänzenden Augen lauschte er ihren Worten. Sie genoss den letzten Schluck ihrer Schokolade, als die Uhr eins schlug. Erschrocken wurde ihr bewusst, dass dieser Traum zu reale Züge trug. Plötzlich zerrte derselbe Sog, der sie hergebracht hatte, wieder an ihr.
»Bleibe sie doch hier! Wir wollen doch noch ....«
Laute Musik dröhnte in ihren Ohren. Unwillig zog sie die Decke über den Kopf und schlug beim Versuch, den Wecker auszuschalten, mit dem Handgelenk am Nachttisch an.
»Aua! Verflixt!«
Endlich hatte sie das Gedröhne abgestellt und rieb sich das schmerzende Gelenk. Großartig, jetzt war sie so richtig wach. Sieben Uhr. Was für eine Nacht. Das war mit Abstand der seltsamste, aber auch interessanteste Traum, den sie je gehabt hatte. Seufzend schlüpfte sie in ihre Pantoffeln und schlurfte ins Bad. Im Spiegelschränkchen sah sie ihr müdes Gesicht. Und einen braun umrandeten Mund. Einen braun umrandeten Mund? Was zum ... wie konnte das sein? Rasch gab sie dem Bedürfnis ihrer Blase nach. Sie weigerte sich, beim Händewaschen in den Spiegel zu sehen. Unsinn, das war bestimmt nur Einbildung. Sie würde jetzt hineinschauen und nichts Auffallendes erkennen. Herausfordernd hob sie den Blick. Oh Gott, falls sie heute Nacht nicht den Kühlschrank geplündert hatte, musste das bedeuten ... Ihr wurde schwindelig.
Schnell setzte sie sich auf den WC-Deckel und stützte den Kopf in die Hände, genau wie der König vorhin ... Genau wie der König?!
»Das kann doch nicht wirklich geschehen sein! Unmöglich!«, sagte sie laut zu sich selbst.
Was, wenn das tatsächlich alles real war? Darüber könnte sie mit niemandem reden. Jeder würde glauben, sie sei verrückt! Genau wie der ... Nicht schon wieder!
Eigentlich hatte sie für zehn Uhr einen Kundentermin vereinbart, doch den würde sie lieber auf später verschieben: Ein junger Mann, der nichts mit dem geerbten Plunder (er pflegte sich so auszudrücken!) seiner kinderlos verstorbenen Großtante anzufangen wusste und sich deshalb ratsuchend an das kleine, aber feine Antiquariat Oldtimer gewandt hatte, für das Eve arbeitete. Doch was waren schon ein paar Antiquitäten im Vergleich zu einer Reise in das vorletzte Jahrhundert? Sie musste dringend über Zeitreisen nachforschen! Im Rekordtempo erledigte sie ihr Duschprogramm und warf den Wasserkocher an, um sich frischen Kaffee aufzubrühen. Den hatte sie jetzt wirklich nötig. Um acht Uhr rief sie den ausgesprochen verärgerten Herrn Risch an, um den Termin auf den späten Vormittag zu verschieben. Nicht ohne unzählige Male ihr Verständnis beteuert zu haben, dass er den sogenannten Plunder schnellstmöglich zu Geld machen wollte. Ja, sie wisse, dass Beerdigungen wirklich teuer seien, aber die paar Stunden wären doch sicher zu verkraften.
Endlich saß sie vor ihrem Laptop und gab Zeitreise in die Suchmaske ein. Oh, das war zu ungenau. Ein neuer Versuch mit: Sind Zeitreisen möglich? Ein weiterer mit: Kann ich in der Zeit gereist sein? Nach eineinhalb Stunden sinnloser Recherche stellte sie die Frage in ein Forum ein. Voller Ungeduld tigerte sie in der Küche auf und ab, goss sich wieder einen Kaffee ein, als das Pling des Laptops ertönte. Endlich ein Kommentar! Hallo?!? Nein, sie hatte es noch nicht mit Prozac versucht, dämlicher Depp! Zur zweiten Bemerkung: Nein, sie verrät nicht, woher sie ihr Gras bezieht! Enttäuscht ließ sie sich auf den Stuhl sinken. Einfach weitermachen, als sei nichts geschehen, kam für sie nicht in Frage. Aber an wen sollte sie sich wenden?
Lustlos biss sie in ihr Frühstücksbrot mit der sonst so geschätzten Schoko-Creme. Ja, genau! Plötzlich fiel es ihr siedendheiß wieder ein. Vor einiger Zeit hatte sie auf einer Fortbildung mit einer ehemaligen Schulkollegin das Zimmer geteilt, deren Bruder mittlerweile beim CERN arbeitete. Sie hatten sich auf Anhieb wieder verstanden und waren oft nach den Lerneinheiten in einem Café oder Pub gelandet. Wie hieß die bloß nochmal? Es war so ein niedlich klingender Nachname. Kuschel vielleicht? Fellchen? Nee, das war es alles nicht. Aber so ähnlich. Sie flitzte zum Schrank und suchte ihr altes Adressbuch heraus. Gut, dass sie solche Sachen aufbewahrte. Manchmal war es doch von Vorteil, ein wenig retro zu sein. Beim Durchblättern erkannte sie den Eintrag sofort: Pelz, Lucy! Genau, der niedlich klingende Name war Pelz und ihr Spitzname lautete das Pelztier.
Inzwischen waren im Forum weitere Kommentare aufgelaufen. Leider war immer noch nichts Brauchbares dabei. Nur Leute, die ihre angeblichen Entführungserlebnisse durch Außerirdische schilderten oder darauf hinwiesen, dass eine Nervenerkrankung die Ursache sein könnte.
Rasch wählte sie die Nummer des Pelztierchens. Hoffentlich war es noch dieselbe. Angestrengt horchte sie auf den Klingelton, der scheinbar endlos lang ertönte. Dann kam eine Mailbox-Ansage – leider nur mit der Nennung des gewählten Anschlusses. Egal, sie hatte ja nichts zu verlieren. »Hallo Pelztier, hier ist Eve. Ich weiß, wir haben länger nichts voneinander gehört, aber falls du Zeit hast, wäre es toll, wenn du mich zurückrufen würdest. Ich brauche deine Hilfe in einer kniffligen Angelegenheit.« Sie hinterließ ihre Mobilnummer und sicherheitshalber auch die ihres Festnetz-Anschlusses.
Langsam wurde es Zeit, sich für ihren aufgeschobenen Termin fertigzumachen. Sie schlüpfte in ihren Hosenanzug und zog ein Zopfgummi in die halblangen, sandfarbenen Haare. Die vorderen Strähnen rutschten wieder heraus, was sie mit einem verärgerten Schnauben quittierte. Gott sei Dank sprang wenigstens ihr alter Opel sofort an. Zügig durchquerte sie den kleinen Vorort, um die Abfahrt in die nächstgrößere Stadt zu nehmen. Nach fünfundzwanzig Minuten hatte sie ihr Ziel erreicht. Tizian Risch wartete an seinen schwarzen SUV gelehnt und musterte Eves alten Opel missbilligend. Mit der Fußspitze scharrte er gelangweilt Muster in die gekieste Auffahrt. Selbstverständlich war er bis direkt an das Haus gefahren. Die historische Stadtvilla seiner verstorbenen Tante war zwar ein wenig heruntergekommen, strahlte aber noch immer den Charme einer besseren Zeit aus.
»Na endlich!«, murrte der junge Erbe mit einem Blick auf die Uhr. »Also können wir dann?«
Na, der hat ja Charme, dachte Eve. Ist als Kind wohl mit dem Porsche zur Kita gefahren worden. Sie selbst hatte etwas weiter von der Rasenfläche entfernt geparkt und schritt ihm jetzt verbindlich lächelnd entgegen.
»Ja gerne, gehen wir doch hinein. Wie ich ihnen bereits am Telefon erklärt habe, kann ich auf die Schnelle lediglich eine grobe Schätzung abgeben. Für eine genaue Bewertung müssten sie uns dann etwas mehr Zeit einräumen.«
»Ja, ja. Hauptsache, sie verraten mir, ob alles Plunder ist und ich auch noch die Kosten für die Entsorgung tragen darf, oder ob unter dem Strich für mich etwas dabei herausspringt.«
Undankbarer Blödmann, schoss es Eve durch den Kopf. Die arme Tante würde sich im Grab umdrehen, wenn sie das wüsste. Hätte sie lieber den Tierschutz als Erben eingesetzt; da wäre das Vermögen sicher besser gewürdigt worden!
Es roch muffig und abgestanden. Seit dem Tod seiner Tante hatte wohl niemand mehr gelüftet. Eve begleitete ihren Kunden durch alle Räume und machte sich Notizen. Zwischendurch seufzte Tizian Risch mehrmals gelangweilt auf.
»Dauert das noch lange? Ich habe auch andere Termine. Hätten sie nicht verschoben ...«
Anklagend sah er Eve an. Ja sicher, dachte sie. Andere Termine. Er musste bestimmt noch irgendwo anders den reichen Erben raushängen lassen.
Laut sagte sie: »Nein, höchstens zwanzig Minuten. Ich denke, dann sind wir erstmal durch.«
Als Antwort ertönte lediglich ein erneutes Seufzen. Im letzten Zimmer schließlich entdeckte Eve ein exquisites Gemälde, das ein echter Monet zu sein schien. Sprachlos stand sie vor dem Bild.
»Was für ein albernes Gekleckse ist das denn? Hat das ein Kind gemalt? Das ist ja alles total verschwommen«, maulte Herr Risch.
»Aber das ist doch wunderschön! Wissen sie ...«, wollte Eve ihm gerade erklären, als er ihr harsch ins Wort fiel.
»Meinetwegen können sie den Schinken haben, selbst der Rahmen ist hässlich, total altmodisch. Wenn sie den Rest etwas höher bewerten, schenke ich ihnen die Schmiererei.«
Gönnerhaft schaute er Eve an. Einen seligen Moment lang gab sie sich der Vorstellung hin, was er wohl sagen würde, wenn er nach dem Verschenken erfahren würde, dass dieses sogenannte Gekleckse mehr wert war als der ganze Rest zusammen. Leider verbot ihr die Berufsethik, solche Geschenke anzunehmen.
Sie gab ihm die Telefonnummer eines Sachverständigen und verabschiedete sich endlich von dem arroganten Bübchen. Tizian Risch stieg befriedigt in seinen SUV und ließ den Kies spritzen. Eve überquerte den Rasenstreifen vor dem Haus und wäre beinahe ausgerutscht.
»Scheiße!«
Und genau das war es. Ein satter Hundehaufen, den sie leider übersehen hatte. Fluchend zog sie die Sohle über das Gras. Das schien es jedoch eher schlimmer als besser zu machen. Seufzend fummelte sie in ihrer Tasche nach einem Tuch, als ihr Handy brummte. Vier Flüche später hatte sie zwar das Smartphone in der Hand, aber der Ruf war auf der Mailbox gelandet. Schnell tippte Eve die Ziffern zur Wiedergabe ein.
»Hey Eve, alte Socke! Dass du dich endlich wieder meldest! Ich bin morgen Abend sowieso in der Stadt. Wenn du Lust hast, dann lass uns doch zusammen noch eine Piña colada schlürfen wie in alten Zeiten. Ich bringe dir auch eine Überraschung mit. Wie wäre es um acht im Greyhound? Ich werde dort sein, also komm einfach hin, wenn du kannst. Bin schon ganz gespannt, bei welchem Fall du meine Hilfe brauchst. Also: hoffentlich bis morgen! Tschö mit ö!«
Eve grinste. Gerade so, als wäre keine Zeit vergangen. Das lief ja besser als erhofft. Wieder versöhnt, stopfte sie ihr Handy zurück in die Tasche und säuberte mit einem Tuch notdürftig ihren Schuh. Angewidert verzog sie das Gesicht. Jetzt würde sie schnell beim Bäcker ein lecker belegtes Brötchen und ein paar Schokoküsse besorgen und dann ab zum Antiquariat.
Ihr Chef war ein liebenswerter betagter Herr der alten Schule, der eine ausgesprochene Schwäche für diese Nascherei hatte. Eifrig gestikulierend erzählte Eve ihm die Geschichte von dem Gekleckse. Missbilligend schüttelte er den Kopf und schnalzte mit der Zunge.
»Die Jugend von heute, tzz. Sicher hat er die arme Frau nie besucht und erbt jetzt trotzdem alles.«
»Glauben sie mir, die Tante wäre bestimmt freiwillig früher gestorben, wenn er sie öfter besucht hätte. Der ist ein echter Kotzbrocken!«
Uups. Sie schlug die Hand vor den Mund. War es doch, wie so oft, mal wieder mit ihr durchgegangen. Ihr Chef lachte und drohte launig mit dem Finger.
»Eve, Eve, zügeln sie ihr Temperament. Immerhin ist er ein Kunde. Sie sollten sich endlich einmal Urlaub gönnen, das würde auch ihrem Geduldsfaden guttun. Sie haben das mehr als verdient«, spielte er auf die hohen Umsätze an, die Eve bisher eingebracht hatte. Etwas später fuhr sie gutgelaunt nach Hause. Wie üblich warf sie zuerst den Wasserkocher an, denn das aromatische Heißgetränk war einfach ihr Lebenselixier. Während der Kaffee duftend durch den Filter zog, stöpselte Eve ihr Handy an das Ladekabel. Jetzt noch einmal fix das Forum nach hilfreichen Kommentaren abchecken. Hm, das meiste war leider unbrauchbar, ein Beitrag hob sich jedoch ab. Der Nickname Esoteria war gruselig, der Inhalt dafür aber brauchbar. Esoteria wies darauf hin, dass es eine statistische Häufung seltsamer Begebenheiten bei Menschen zu geben schien, die zwischen null und ein Uhr morgens geboren wurden. Nicht umsonst bezeichnete man auch heute noch diese Stunde oft als Geisterstunde. Das würde ja genau auf sie zutreffen! Ihre Geburtszeit war mit null Uhr zwanzig angegeben. Der restliche Nachmittag wich schnell dem Abend. Da Eve sich bereits den ganzen Tag lang müde fühlte, gab sie der Versuchung nach, sich nur einmal kurz auf das weiche, einladende Bett zu legen. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann schlief sie ein. Wirre Träume von Ludwig, der die Nase über ihren beschmutzten Schuh rümpfte und dabei Schokoküsse verspeiste, ließen sie aus dem Schlaf hochschrecken. Da sie sich nicht ausgezogen hatte, fing sie an zu schwitzen. Durstig griff sie nach dem Mineralwasser und trank in gierigen Zügen. Noch während sie die Flasche abstellte, spürte sie wieder den gleichen Sog wie in der Nacht zuvor. Eve schaffte es gerade noch, sich die neben ihr liegende Handtasche zu schnappen und auf den Wecker zu schauen: Null Uhr zwanzig.
»Da ist sie ja wieder! Wir sagen doch, Wir sind nicht verrückt!«, dröhnte es in Eves Ohren.
Taumelnd versuchte Eve, ihr Gleichgewicht zu finden.
»Ludwig?! Äh Pardon: Majestät? Unglaublich! Ich bin schon wieder hier. Gut, dass ich nicht in Frankreich gelandet bin oder im Krieg der Schotten gegen die Engländer ...!«
»Was hat sie gegen Frankreich einzuwenden? Wir schätzen es als ein Land voller Kultur und majestätischem Absolutismus. Sicher ...«, seufzte der König, »... auch dort sind die guten Zeiten leider Vergangenheit. Dieses Mal muss sie länger verweilen und Uns mehr von ihrer aufregenden Zeit berichten.«
Ludwig rieb sich die Stirn.
»Haben Majestät wieder Kopfweh?«, fragte Eve mitfühlend.
»Woher weiß sie das? Ach ja … Berichtet man Jahre später noch über die Kopfschmerzen des Königs? Wie ordinär!«
Ludwig schüttelte schmerzerfüllt den Kopf.
Eve kramte in ihrer gut gefüllten Handtasche, die – wie bei den meisten Frauen üblich – ein Aspirin enthielt.
»Ich habe mir erlaubt, für Eure Majestät ein Mittel gegen das Kopfweh mitzubringen. Es muss in einem Glas Wasser aufgelöst werden. Die Schmerzen sollten dann nach einer kleinen Weile nachlassen.«
Ludwig lächelte breit.
»Wie überaus aufmerksam sie ist. Zwar seltsam, aber aufmerksam. Sie darf sich nähern.«
Eve trat zögernd zu dem verspielt wirkenden goldenen Schreibtisch, auf dem – natürlich – ein Schwan stand und ein Glas Wasser. Sprudelnd brauste das Aspirin auf. Mit großem Interesse verfolgte der König den Vorgang.
»Sie können es jetzt zu sich nehmen, Majestät«, bemerkte Eve.
Mit vorsichtigen Schlucken trank der König.
»Hm, schmackhaft ist das eher nicht ... Ist sie heilkundig?«
»Das ist im Jahr 2022 nicht ungewöhnlich, Majestät. Da ist praktisch jeder ein kleiner Doktor.«
Belustigt dachte sie an Dr. google.
Ludwig erhob sich.
»Wir würden sie gerne zu einer Schlitten-Kutschfahrt mitnehmen, da können wir uns besser unterhalten.«
Er läutete nach dem Diener.
»Lutz, ist der Osterholzer bereit? Er soll ein zusätzliches Fell in den Schlitten legen, Wir haben einen Gast. Und keine weitere Begleitung heute, nur der Osterholzer!«
Eve schluckte.
»Majestät, ich bin mir nicht sicher, wie lange ich hierbleiben kann und ob es mir möglich sein wird, den Ort zu wechseln ...«
Der König runzelte die Stirn.
»Das werden wir ja dann herausfinden. Wenigstens ist sie heute etwas, nun, sagen wir: mehr bekleidet.«
Bald darauf saßen Eve und der König in einer wunderschönen Schlitten-Kutsche, die innen komplett mit Samt ausgekleidet war. Dicke, weiche Felle lagen zum Schutz vor der Kälte der Nacht bereit. Über ihnen prangte ein riesiger Mond. Es herrschte fast absolute Stille. Eve kam sich vor wie bei ihrem Besuch im Planetarium vor einigen Jahren. Der Himmel schien aus Abermillionen Sternen zu bestehen. Der blütenweiße Schnee knirschte unter den Füßen, die bald darauf in einem mollig warmen Fußsack steckten. Das Schnauben der Pferde verwandelte sich in dampfende kleine Wölkchen. Die Kutsche zog an, das Zug-Geschirr klirrte und die Leder-Zügel klatschten. »Hey!«, rief Eve erbost. »Der wird doch wohl nicht die Pferde schlagen?! Sonst kann er die Kutsche gleich selbst ziehen!«
Amüsiert lachte Ludwig auf.
»Ruhig Blut, kleine Walküre, niemand würde es wagen, die Pferde des Königs zu züchtigen. Wir lieben diese edlen Tiere und würden ein solches Benehmen niemals tolerieren. Im Übrigen ist es ein Affront, über den König hinweg zu brüllen. Ist das in ihrer Zeit so üblich? Überhaupt führt sie eine wilde Rede.«
Eves Herz klopfte ein Stakkato, ihr stieg das Blut zu Kopf. Fast wäre sie mit einer weiteren unpassenden Bemerkung herausgeplatzt. Nachdem sie tief durchgeatmet hatte, beschloss sie, den König über die Umgangsformen im einundzwanzigsten Jahrhundert aufzuklären.
»Keine echten Könige mehr?« Ludwig seufzte tief. »Der Plebs ist also gleich geworden. Alle sagen einander Du, egal welchen Standes? Und – leben die Menschen dadurch zufriedener?«
Darüber musste Eve nicht lange nachdenken.
»Nein, Majestät. Daran hat sich leider nichts geändert. Man hat nur viel weniger Privatsphäre.«
»Das wäre Uns ein Gräuel«, rief der König entsetzt aus. »Noch weniger Privatsphäre?! Wir bauen an abgelegenen Orten Schlösser, um wenigstens dort ungestört und unbeobachtet zu sein. Aber selbst das möchten sie Uns verleiden, diese Kleingeister!«, redete er sich in Rage.
»Ich weiß«, platzte Eve heraus. »Oh.«
Das hätte sie nicht sagen sollen. Ludwig beugte sich auf sie zu.
»Dann gibt es sie in ihrer Zeit noch? Unsere Schlösser? Wer wohnt darin?«
Heiliger bim-bam, was hatte sie da bloß angestellt.
»Also, ich würde lieber nicht ...«
Erregt schälte sich der König aus der Decke.
»Bitte. Sie muss es Uns sagen! Werden sich Unsere Träume erfüllen? Wir hoffen, es steht nicht jeden Tag der Plebs davor wie in Versailles!«
Eve schluckte.
»Majestät, Eure Bauten sind auch in meiner Zeit noch beeindruckende und viel bestaunte Traumgebilde. Einfach wunderschön.«
Unaufhaltsam stiegen ihr Tränen in die Augen. Ludwig betrachtete sie bestürzt.
»Haben Wir sie echauffiert? Das wollten Wir nicht. Warum ist sie auf einmal so betrübt? Stimmt etwas nicht?«
Bei den ehrlich besorgten Worten verlor Eve völlig ihre Beherrschung. Eine dicke Träne rollte ihr die Wange herab. Sofort zückte der König ein Tuch und wischte ihr sanft über das Gesicht.
»Nicht weinen, kleine Walküre. Wir werden sie nicht mehr danach fragen.«
Betretenes Schweigen erfüllte die Kutsche. Ludwig wies den Kutscher an, zu halten.
»Vertrete er sich einstweilen die Beine. Wir rufen ihn, wenn Wir weiter wollen.«
Dann geschah etwas Undenkbares: Der König griff nach Eves Hand. »Wir wollten ihr das Herz nicht schwer machen«, sprach er mit leiser Stimme. »Uns ist bewusst, dass Wir in ihrer Zeit nicht mehr leben und die Schlösser wahrscheinlich verändert sind. Es ist doch nicht ihre Schuld. Wir wissen es zu schätzen, dass sie Uns so ehrlich Auskunft gibt. Unser Kopfweh ist übrigens viel besser geworden. Das ist doch ein Grund zur Freude, oder? Wenn sie häufiger käme, ginge es Uns also besser«, lächelte Ludwig sie an.
Eve schluckte ein paar Mal. Was sollte sie nur tun? Sie musste ihn doch retten können! Er war so nett und kein bisschen verrückt. Seltsam, okay. Aber das war ja auch eine andere Zeit. Der Gedanke, dass sie ihn verleumden und bedrängen würden, um ihn schließlich zu ermorden, war ihr unerträglich.
»Sie werden Majestät töten!«, brach es aus ihr heraus. Ludwig wurde bleich. Eve sah gerade noch, wie seine Pupillen sich weiteten. Dann sah sie nichts mehr.
Als sie wach wurde, dröhnte ihr der Kopf und ihre Augen waren total verquollen. Ach du lieber Himmel, was hatte sie getan? War sie inzwischen verrückt geworden? Schnell sprang sie vom Bett und sah sich hektisch um. Da, ihre Handtasche. Gott sei Dank hatte sie die wieder mitgenommen. Erschöpft ließ Eve sich auf die Bettkante sinken und legte das Gesicht in die Hände. Wenn sie nur lange genug so sitzen blieb, wurde die Welt vielleicht wieder normal. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?! Der arme Ludwig. Man kann doch nicht jemandem sagen, dass er ermordet wird und danach verschwinden. Sie musste das dringend in Ordnung bringen. Aber, was hieß in Ordnung? In Ordnung gebracht wäre es ja wohl nur dann, wenn der König nicht getötet würde. Beeinflusste das nicht auf jeden Fall die Vergangenheit? Was, wenn er noch heiraten und Kinder bekommen würde? Was, wenn auf einer seiner vermutlich weiteren Baustellen jemand verunglücken würde und dadurch dessen gesamte Nachkommenschaft ausgelöscht wären? Oh Gott, was sollte sie nur unternehmen? Deprimiert schaute Eve auf den verräterischen Wecker.
»Und du bist überhaupt an allem schuld! Vielleicht sollte ich dir endlich mal den Stecker ziehen!« Unbeeindruckt, ja geradezu frech grellte der sie weiter an: Zehn vor neun. Eve stöhnte. So, wie sie sich fühlte, konnte sie unmöglich arbeiten.
Schnell griff sie zum Telefon und rief Pia an. Die befreundete Kollegin und sie wechselten sich mit dem Innen- und Außendienst ab. Pia war noch nicht lange für Oldtimer tätig und hatte hier bisher keine eigene Wohnung gefunden. Sie wohnte zu ihrem Bedauern in einer überaus quirligen Wohngemeinschaft, gute zwanzig Kilometer entfernt. Ihr unbequemer Arbeitsweg führte sie über eine hoch frequentierte Autobahn. Pia ging beim zweiten Klingeln ran und versprach, einzuspringen. Auch Eves Chef zeigte sich sofort einverstanden mit dem Spontan-Urlaub. Jetzt hatte sie erst einmal Luft. Nach einer ausgiebigen Dusche belegte sich Eve eine Scheibe Brot mit Veggie-Aufschnitt und kochte eine Kanne starken Kaffee. Mit Herzklopfen klappte sie ihren Laptop auf und gab Ludwig II. von Bayern ein. Hatte sich inzwischen etwas geändert? Hatte ihre unbedachte Äußerung gegenüber dem König bereits Folgen? Ihre Augen flogen über die Suchergebnisse und blieben an dem Bild Ludwigs hängen. So ein netter, aufgeschlossener Mensch. Warum war das Schicksal dermaßen ungnädig? Als sie bei derÜberprüfung keine Veränderung feststellen konnte, atmete sie erleichtert auf. Zum Abschluss würde sie sicherheitshalber noch auf der Seite der Bayerischen Schlösserverwaltung BSV vorbeisurfen. Auch hier schien alles unverändert bis auf ein rot markiertes Feld mit Stellenangeboten.
Das war ja interessant: Gesucht wurde jemand, der praktisch ein Allround-Talent war. Kaufmännische Ausbildung, fließend Englisch, Grundkenntnisse in Französisch, Erfahrung im Umgang mit Kunden, hohe Stressresilienz, exzellente Kenntnisse über das Leben von Ludwig und seine Bauten, Befristung auf ein Jahr. Früher wäre Eve für diesen Job gestorben. Jetzt hatte sie eine Stelle, mit der sie sich wohl fühlte, und einen wirklichen netten Chef. Das wollte gut überlegt sein. Ihre Gedanken wanderten wieder zu Ludwig. Gab es denn gar keine Möglichkeit, ihm zu helfen? Um eine Rettung auch nur in Erwägung zu ziehen, müsste sie jedoch detailliertere Kenntnisse über den Tathergang haben. Wie sollte sie an dieses Wissen gelangen? Sie hatte zwar eine Theorie, wer dahinter steckte, aber schlussendlich war es gerade nur das: eine Theorie. Ganz abgesehen von den zeittechnischen Problemen, die sich aus einer Rettung ergaben. Eve seufzte. Irgendwie drehte sich alles im Kreis. Wenn doch nur ihr Vater noch leben würde. Der war ein gebildeter, belesener Mann gewesen und hatte sich immer für Raumzeitvarianten und Dimensionsverschiebungen interessiert. Er hätte sicher einen guten Rat für sie gehabt. Eve schüttelte die Traurigkeit ab, die sie stets befiel, wenn sie an ihn dachte. Zehn Jahre und sie vermisste ihn noch immer. Trotzdem lächelte sie, denn ihr Vater hätte an dieser Stelle bestimmt gesagt: »Mädchen, du hast deinen Kopf nicht nur zum Haareschneiden. Denk nach, dann fällt dir auch ein Weg ein, wie es weitergehen kann.«
Ja, genau. Sie musste jetzt noch keine Lösung haben, nur einen Weg. Vielleicht würde sie das Treffen mit Lucy weiterbringen.
Nachdem Eve ihrer Kollegin Pia einige Unterlagen gemailt hatte, gönnte sie sich ein Mittagsschläfchen. Diese Zeit-Sprünge waren in der Tat kräftezehrend. Nach einer erfrischenden Dusche zog sie sich für das Treffen an. Lucy trug stets die neuesten Trends und hatte oft über Eves saloppe Art, sich zu kleiden, die Nase gerümpft. Vor allem ihre bequemen Sneaker zu lässigen Jeans hatten Lucy zum Stöhnen gebracht. Als sie ihren alten Opel erreichte, tätschelte sie zur Begrüßung liebevoll seinen Kotflügel. Hoffentlich fand sie einen Parkplatz in der Nähe des Pubs – sie hasste es, in das Parkhaus fahren zu müssen. Die Stellplätze waren so eng, dass anschließend garantiert eine neue Schramme den Lack verzierte. Bei der dritten Runde um den kleinen Stadtkern erspähte Eve endlich einen Parkplatz, als ihr plötzlich ein schicker roter Flitzer den Weg abschnitt und vor ihrer Nase in die Lücke zog. So ein Blödmann! Schnösel! Und natürlich nicht von hier, dieser Ar ... Fluchend ließ Eve die Scheibe herunter, um ein kräftiges »Asozialer Rowdy!« aus dem Fenster zu brüllen. Nach zwei weiteren Runden um den Stadtkern wurde zufällig die Lücke neben dem Blödmann frei. Na warte, dachte Eve und holte aus ihrem Handschuhfach einen Zettel und einen Stift. Aufgrund ihrer asozialen Fahrweise besteht der Verdacht, dass sie auch in anderen Lebensbereichen des sozialen Miteinanders nicht fähig sind. Es wäre nett, wenn Sie zukünftig in Ihrer Stadt bleiben würden, Sie Arsch! Befriedigt klemmte sie den Zettel unter den Scheibenwischer. Jetzt aber flott, das Pelztierchen wartete doch bestimmt schon auf sie. Schwungvoll betrat Eve den Pub, der bisher nur mäßig gefüllt war und sah sich suchend um. Außer ihr schien keine Single-Frau anwesend zu sein. Ein gutaussehender Mann mit wuscheligen braunen Haaren stand alleine an einem der Clubtische und bekam gerade sein Getränk. Die Bedienung lachte über irgendetwas, das der Strubbelige von sich gab und schüttelte den Kopf. Dabei sah sie in Eves Richtung. Sie schien etwas zu erwidern und deutete auf Eve. Beide Augenpaare richteten sich auf sie. Während die Kellnerin abzog, machte der Typ einen Schritt auf sie zu.
»Eve? Wir haben uns zwar seit Jahren nicht mehr gesehen, aber ich müsste mich doch sehr täuschen ...?«, strahlte er sie an.
Echt jetzt? Wer ... Hm, nein! Das konnte unmöglich der nerdige Bruder von Lucy sein, oder?
»Lukas? Meine Güte siehst du ... hast du dich verändert!«
Eve kam aus dem Staunen nicht heraus. Als sie Lukas zuletzt gesehen hatte, war er kurz vor dem Abschluss seines hochkomplizierten Studienganges und hatte für nichts und niemanden ein Interesse, der nicht Einstein, Feynman oder Hawking hieß. Junge, der hatte sich aber rausgemacht!
»Wie kommt es, dass du hier bist? Ich denke, du arbeitest in der Schweiz? Und wo ist Lucy?«
Lukas lachte.
»Na, du hast dich nicht verändert. Immer noch alles im Schnellvorlauf, oder? Lucy wird gleich von einem Bekannten abgesetzt und ich hatte an der hiesigen Uni einen Gastvortrag. Hoffentlich störe ich euch nicht bei der Besprechung deines Problems?«
»Neiiin, ich bin sogar superfroh, dass du hier bist! Mein Problem fällt in dein Fachgebiet und ich wollte Lucy anbetteln, dass sie mal bei dir nachfragt.«
Mit großen Augen sah Lukas sie fragend an. »Dein Problem hat mit Physik zu tun?« Mittlerweile war auch die Bedienung wieder am Tisch, um Eves Bestellung aufzunehmen. Dass sie dabei Lukas anlächelte, ließ einen leisen Unmut in ihr aufsteigen. Hinter der Kellnerin öffnete sich die Tür und Lucy stürmte herein, begleitet von der für sie üblichen dezenten Parfümwolke. »Hey, wie cool ist das denn?«
Und dann sprachen sie synchron: »Bei jedem alten Dinge – denk ich zuerst an den Herrn der Ringe!«
Lachend fielen sie sich um den Hals. Das war schon immer ihr Wahlspruch. Hatten sie doch beide die Hoffnung, irgendwann auch einmal einen besonderen Schatz zu finden. Unter großem Gekicher und unzähligen Weißt du noch? besprachen sie ausführlich, was sich inzwischen beruflich so getan hatte. »Ich komme mir vor wie im Gänsestall, da wird auch nicht mehr geschnattert«, grinste Lukas.
Lucy knuffte ihren Bruder in die Seite.
»Na ja, hättest dir ja einen lebendigeren Job aussuchen können, Bruderherz. Dröge Physik ist eben kein Burner ...«
»Könnte aber einer werden«, meinte Eve. »Zumindest wäre das jetzt der passende Zeitpunkt, euch in meine Misere einzuweihen. Doch ich warne euch: Wehe, ich muss mir blöde Sprüche anhören. Wir, also ich, brauche wirklich eure Hilfe.«
Lucy sah überrascht aus und Lukas legte die Stirn in Falten.
»Na, nun spann uns mal nicht länger auf die Folter und leg los.«
Eve erzählte zunächst stockend, dann aber immer flüssiger ihre Geschichte, ohne nur ein einziges Mal unterbrochen zu werden. Als sie fertig war, sah sie die beiden erwartungsvoll an.
»Also, bin ich irre? Was meint ihr?«
Lucy starrte in ihr Getränk.
»Oh man, das muss ich erstmal sacken lassen«, flüsterte sie.
Lukas fixierte sie aus zu Schlitzen verengten Augen. Dann rief er: »Hallo? Wir würden gerne zahlen.«
Eve schaute ihn entgeistert an. Hatte der jetzt Angst vor ihr oder wollte nicht länger mit einer Irren an einem Tisch stehen? Die Bedienung kam zu ihnen und Lukas bezahlte die komplette Rechnung plus Trinkgeld. Den Bierdeckel, auf den die Kellnerin ihren Namen und ihre Telefonnummer geschrieben hatte, übersah er geflissentlich. Er drängte die Frauen aus der Tür. Langsam kam wieder Leben in die beiden.
»Hey, bist du narrisch? Das ist jetzt kein Grund, so zu reagieren! Wir können doch vernünftig darüber reden!«, empörte sich Lucy.
»Ich denke, es ist besser, wenn wir das Gespräch mit weniger Ohren fortsetzen«, meinte Lukas.
»Äh, ja klar, lasst uns doch zu mir fahren, mein Wagen steht praktisch vor der Tür«, beeilte sich Eve zu sagen.
»Ich steige natürlich bei dir ein«, verlautete Lucy.
»Gut, ich folge euch mit meinem Wagen«, ließ Lukas die beiden wissen und steuerte auf den roten Flitzer neben Eve zu.
»Oh, ist das etwa deiner?«
Verlegen sah Eve ihn an.
Lukas war dabei, den Zettel unter dem Scheibenwischer hervorzuklauben. »Ah, dann ist der kleine Liebesbrief hier also von dir?«
»Du hast mir die Parklücke vor der Nase weggeschnappt, da ...«
»Ich will euch ja nicht unterbrechen, aber wollten wir nicht zu Eve?«, meinte Lucy ungeduldig.
Auf der Fahrt erzählte Eve ihr von der kleinen Auseinandersetzung um den Parkplatz.
»Du hast dich wirklich nicht verändert. Eines Tages verhaut dich mal so ein Macho-Kleiderschrank«, prophezeite Lucy.
Während Lukas Eves Wagen folgte, stiegen in ihm Erinnerungen an seine Schulzeit auf. Zuerst hatte er Eve einfach nur cool gefunden. Sie war von Anfang an anders als alle anderen, die er kannte. Nie machte sie bei etwas mit, nur um dazuzugehören. Dadurch wurde sie oft zum Außenseiter. Stets hatte Eve eine eigene Meinung, zu der sie konsequent stand und die sie auch vertrat. Notfalls auch gegen alle anderen. In der Oberstufe wurde aus dem Cool-Finden dann eine intensive Schwärmerei. Er selbst kämpfte zu dieser Zeit leider heftig gegen die Pubertätsakne. Ein Kampf, den er in dem Alter nicht gewinnen konnte. Entsprechend unsicher, konzentrierte er sich auf ein Gebiet, auf dem er den anderen nicht nur voraus, sondern absolut überlegen war: Physik.
Lucy brachte Eve oft mit nach Hause, aber entweder gab Eve ihr Nachhilfe in Politik-Wissenschaften oder sie beschäftigten sich mit Mädchenkram. Aus seiner Unsicherheit heraus war er leider auch nie wirklich nett zu Eve gewesen. Eher kurz angebunden oder gar mürrisch. Sie hielt ihn damals wohl für einen absoluten Nerd. Einmal hörte er sie zu Lucy sagen: »Dein Bruder wird bestimmt der nächste Einstein. Oder er initiiert die erste bemannte Marslandung.«
Das schmeichelte ihm zwar, lieber hätte er jedoch gehört: »Dein Bruder ist ein heißer Typ, der wird bestimmt der nächste Brad Pitt!«
Die On/Off-Freundschaft, die in dem Alter für Mädchen charakteristisch war, führte dazu, dass er Eve zunehmend seltener sah. Bis er dann, bedingt durch sein Physik-Studium, ganz wegzog. In größeren Abständen erkundigte er sich immer wieder bei Lucy nach Eve, doch meist wusste seine Schwester nichts Neues. Die darauffolgende Zeit wurde er von seinen schwierigen und aufwändigen Studien vollkommen vereinnahmt. Gott sei Dank verschwand in dieser Lebensphase auch sein Akne-Problem. Das ließ ihn in seinem ganzen Auftreten wesentlich lockerer und selbstbewusster werden. Auf Frauen wirkte er nunmehr anziehend und bekam die Gelegenheit, entsprechend Erfahrungen zu sammeln. Echte Beziehungen mied er jedoch wie der Teufel das Weihwasser. Zwischen zwei und vier Monate dauerten seine Lovestorys in der Regel, der Rekord waren fünf Monate. Seine Freundin hatte drei Wochen davon mit ihren Eltern an der Côte d’Azur verbracht.
Gerade, als er seiner beruflichen Orientierung eine neue Richtung geben wollte, trat ein Headhunter an ihn heran. In den immer konkreter werdenden Gesprächen wurde ihm schließlich die vielversprechende Position am Genfer CERN in Aussicht gestellt. Obwohl er nie vorgehabt hatte, in die Schweiz zu ziehen, nahm er das Angebot freudig an. Die Möglichkeiten, die sich daraus ergaben, waren einfach phänomenal. Forschung und Praxis kombiniert mit größtmöglichem persönlichen Freiraum bildeten ein unschlagbar attraktives Paket.
Beim CERN gab es die sogenannten Frischlingsquartale. Kleine, drei bis fünf Personen umfassende Teams wurden über drei Monate mit den Abläufen innerhalb des Instituts vertraut gemacht, bevor sie dann eigenen Projekten zugeteilt wurden. Sein Frischlingsteam bestand aus Pierre Creuse, Tom Thelen und Dominik Gauss. Pierre Creuse war von Anfang an der Störfaktor des Teams. Wie ein Fremdkörper verursachte er allen ständig ein unangenehmes Gefühl und reizte die anderen bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Er sah sich nie als Teamplayer, sondern von Anfang an als Leader. Hochintelligent und mit einer extrem schnellen Auffassungsgabe ausgestattet, versuchte er durch Ellbogentaktik immer überall der Erste zu sein. Tom Thelen, der das CERN als Arzt im medizinischen Bereich verstärken sollte, ließ das kalt. Pierres Boshaftigkeiten und sein intrigantes Agieren schienen einfach von ihm abzuprallen. Bei Dominik Gauss war das leider nicht so. Gegen Ende des Einführungsprogramms bekam Lukas mit, wie Dominik weinend beim Leiter des Programms, Karsten Grenzik, im Büro saß und sich über das Mobbing durch Creuse beschwerte.