8,49 €
Der eiskalte Wind der Zeit macht vor nichts halt. Weder König-noch Kaiserreiche vermögen ihm zu widerstehen. Bündnisse brechen, Freundschaften verwehen, Feinde erstarken. Das Team der Timer-Force begibt sich in den Sturm der Zeit, um ihm seine Opfer abzutrotzen. Doch welchen Preis müssen sie dafür zahlen...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Der einzig wahre König
Timer Three
Myriam Werner &
Oliver Buck-Werner
Impressum
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
1. Edition, 2023
© Myriam Werner &
Oliver Buck-Werner 2023
Bessemerstr. 85
44793 Bochum
Umschlaggestaltung: Werner & Buck-Werner
Korrektorat: Oliver Buck-Werner
Lektorat: Oliver Buck-Werner
ISBN: 9783757958305
Aus Gründen der Rechtssicherheit weisen wir darauf hin, dass, gleichwohl sich dieses Buch an historischen Fakten orientiert, es ein Roman bleibt, dessen Charaktere und Handlung der Fantasie entsprungen sind. Die Interpretation bleibt den Leser*innen überlassen.
Der einzig wahre König
Timer Three
Myriam Werner &
Oliver Buck-Werner
Das Buch:
Ein Königreich mit zwei Königen, ein Kaiserreich mit einer freiheitsliebenden Kaiserin und ein Zarenreich, das vor dem Zerfall steht.
Kann es hier noch Gewinner geben? Wen kann das Team der Timer-Force retten?
Die Autoren:
leben in NRW und wollen mit ihren Leser*innen durch die Zeit reisen, um die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel zu erleben.
König Ludwig II. von Bayern
Immer
»Lieber Attentate als Ovationen.«
König Ludwig II. von Bayern
Das EEG zuckte ein letztes Mal schwach, dann verebbte auch die letzte Welle und lief in der gefürchteten Null-Linie aus. Eine tiefe und endgültige Stille erfüllte den Raum – Pjotr Lelenko war tot.
Sascha Saliczenko, der die Testreihe als leitender Mediziner begleitete, fluchte herzhaft. Bei dieser Art von Hirntod war jeder Versuch des Wiederbelebens sinnlos. Dies war bereits der dritte Proband, den sie in der Reizstrom-Phase verloren hatten. Zunächst lagen die Beta-Wellen jenseits der 30 Hertz, dann schossen die Gamma-Wellen in astronomische Höhen. Auch ohne die jetzt noch stattfindende zerebrale Perfusionstherapie und die Doppler-Sonographie wusste Dr. Saliczenko, dass es für Pjotr keine Rückkehr geben würde.
Langsam ging ihnen das Forschungsmaterial aus. Seitdem sie festgestellt hatten, dass die Sprünge zeitlich genauer durchgeführt werden konnten, wenn die Probanden Strom-Manschetten trugen, hatten sie die neuronale Stimulation stetig gesteigert. Doch die Belastungsgrenzen bei den Springern lagen unterschiedlich hoch, es bedurfte dringend weiterer Testreihen. Und genau da lag das Problem: In Russland war es gefährlich, aufzufallen. Besser, man verschwand in der Anonymität der Masse. Genau aus diesem Grund hatten sie immense Schwierigkeiten, Springer ausfindig zu machen. Die Kollegen vom CERN hatten es da weitaus leichter, wie Pierre Creuse berichtete. Dort nannten sie die SpringerTimer, und meist wurden sie durch psychologische Praxen in die entsprechende Studie überführt. Der Leiter des russischen Projekts Prygnut‘, Anatolij Lebedew, war fest dazu entschlossen, den Wettlauf um die zielgenauen Zeitsprünge zu gewinnen. Nach dem Debakel des verlorenen Rennens um die Mondlandung und dem Zerfall der UdSSR brauchte das Land endlich einen großen Erfolg. Hatte man sich früher ausschließlich mit den Amerikanern messen müssen, waren die Europäer inzwischen zu einem ebenso mächtigen Konkurrenten herangewachsen. Schade, dass Pierre Creuse anstelle von Tira Davis nicht Eve Linden mitgebracht hatte. Nach allem, was er bisher von ihr hörte, könnte sie das Zünglein an der Waage sein. Der extrem von sich eingenommene Franzose hingegen war inzwischen eigentlich überflüssig geworden. Sein Wissen hatte er bereitwillig ausgeplaudert und über eigene Fähigkeiten verfügte er nicht. Allerdings stellte er das Bindeglied zwischen dem ITEP und den beiden mitgebrachten Springern dar. Sascha konnte den unsympathischen Gernegroß nicht ausstehen und ging ihm möglichst aus dem Weg. Der Mann wurde ausschließlich von seinen Befindlichkeiten gesteuert und man hatte ihm versprechen müssen, dass man sich in sehr naher Zukunft um sein König-Ludwig-Problem kümmern werde. Der Franzose war blind vor Hass und so war ihm nicht klar, dass man zu gegebener Zeit auf ihn verzichten würde – und keinesfalls auf diesen pressetechnischen Traum eines Königs. Ein Klopfen riss den Arzt aus seinen Gedanken. »Ja?«, fragte er unwirsch.
»Verzeihung, Genosse Saliczenko. Die zerebrale Perfusionstherapie und die Doppler-Sonographie sind abgeschlossen. Er ist tot.«
»Danke.«
Saliczenko seufzte. Es war an der Zeit, Anatolij zu informieren.
»Herein!« Die befehlsgewohnte Stimme Anatolij Lebedews schaffte es problemlos durch die dicke Sicherheitstür. Ohne ihm einen Stuhl anzubieten, ließ Anatolij Sascha den traurigen Bericht über den heutigen Misserfolg erstatten.
»So ein elender Mist!«, fluchte der Leiter des Projekts Prygnut‘. Die Ader auf seiner Stirn schwoll gefährlich an. »Wie es aussieht, ruhen all unsere Hoffnungen jetzt auf diesem liebeskranken Deutschen, der mit Pierre Creuse hergekommen ist. Er hat bei weitem das größte Potential und wenn er einige Trainingssprünge unter Neurostimulation absolviert hat, muss er es einfach schaffen, die Statue hierher zu bringen!«
Sascha sah seinen Chef besorgt an. »Der Deutsche hat auf jeden Fall eine hervorragende Kondition, ähnlich wie unser Springer aus dem Wolga-Gebiet, Konstantin Gansen. Leider ist seine Fähigkeit etwas schwächer ausgeprägt. Die junge Amerikanerin ist allerdings, konditionell betrachtet, ein Totalausfall. Wir testen zwar mit ihr, aber es geht nur sehr langsam voran, weil sie nichts aushält. Ich frage mich, ob sie im CERN keine vernünftigen Sportprogramme anbieten. Wahrscheinlich hat Creuse sie nur mitgebracht, weil sie mit Marcel Ricken befreundet ist. Aber, wenn sie mir die Frage gestatten: Bei all den Schätzen, die die Romanows ihr Eigen nannten, warum soll er ausgerechnet diese Statue besorgen? Es gibt doch bestimmt viel wertvollere Juwelen oder Kunstgegenstände.«
Endlich deutete Anatolij auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Dann kramte er eine noch halbvolle Flasche Wodka und zwei Gläser aus seinem Schränkchen. Lebedew goss die Gläser bis an den Rand voll und schob Sascha ein Glas zu.
»Sa Sdorówje – zum Wohl!« Kaum war der Inhalt in seinem Hals verschwunden, füllte er die Gläser erneut nach. »Ich erzähle ihnen eine kleine Geschichte – ein Märchen ist sie allerdings nicht, da. Thales, ein Grieche, und der Erste der sieben Weisen, berichtete in seinen verborgenen Schriften aus dem Jahre fünfhundertachtzig vor Christus zum ersten Mal über die Kugel, welche die Statue in der Hand hält. Ihr Alter war schon damals nicht zu beziffern, aber Thales’ junger Assistent, Anaximandros, der die Kugel untersuchte, wies plötzlich besondere geistige Fähigkeiten auf. Die Kugel strahlte eine Art von Energie ab, die eine Veränderung der neuronalen Vernetzung zur Folge zu haben schien. Plötzlich zeigte Anaximandros häufige Phasen geistiger Abwesenheit, nach denen er unglaubliche Geschichten von Erlebnissen in der Vergangenheit erzählte. Sie begannen, mit der Kugel zu experimentieren und Thales suchte seinem Assistenten Zielpersonen aus, die für ihn selbst von Interesse waren. Immer häufiger und in kürzeren Abständen sprang der junge Mann in die Vergangenheit, bis ihn eines Tages einer dieser Sprünge das Leben kostete. Thales verfluchte seinen übergroßen Ehrgeiz und die Schuldgefühle drückten ihn nieder. Immerhin hinterließ Anaximandros seine Frau und seinen kleinen Sohn. Der Grieche beschloss, die Kugel für immer an einen sicheren Ort zu verbannen, auf dass nie wieder ein Leid wie dieses geschehen möge. Doch viele Jahrhunderte später und auf vielen Umwegen gelangte die Kugel in die Hände des preußischen Königs Friedrich I. Der ahnte zwar nichts von den Fähigkeiten der Kugel, doch seine Danziger Bernsteinmeister Ernst Schacht und Gottfried Turau fertigten eine wunderschöne Statue, die in ihrer rechten Hand genau diese Kugel hält. Nun, die Geschichte des legendären Bernstein-Zimmers dürfte ihnen ja hinreichend bekannt sein. Unser Geheimdienst hat dann nach Ende des Zweiten Weltkrieges in den Geheimarchiven der Nazis die Schriften des Thales aufgespürt und die Zusammenhänge ans Licht gebracht.« Lebedew goss die Gläser ein drittes Mal voll.
»Die Griechen bezeichnen Bernstein übrigens als Elektron. Auf jeden Fall ist es nun an uns, Genosse Saliczenko, Mütterchen Russland Stolz zu machen, indem wir die Statue herbringen. Wer diese Kugel besitzt, wird die Welt beherrschen, so viel steht fest. Und wir beide werden an diesem Triumph beteiligt sein – Sa Sdorówje!«
Mit in den Nacken gelegtem Kopf ließ er den Wodka verschwinden. Gezwungenermaßen leerte auch Sascha sein Glas erneut. Er verabscheute Alkohol und trank ausschließlich, wenn er gar nicht darum herum kam. »Ich bedanke mich für ihr Vertrauen – und natürlich für den Wodka.«
Lebedew blickte ihn aus seinen wässrigen Augen an.
»Danken sie mir durch Erfolge. Ein Versagen ist nicht vorgesehen.«
Dann wedelte er Sascha zur Tür hinaus.
Mein Gott, wie hatte das Ganze nur derart entgleisen können, dachte Lennart frustriert. Nachdem er Eve gefeuert hatte, war sie noch in derselben Nacht abgereist. Lukas Pelz hatte ihn derart zusammengefaltet, dass er froh war, ohne ein blaues Auge davongekommen zu sein. Ludwig hatte ihn nur tieftraurig angesehen und vielsagend geseufzt. Also reiste auch Lennart unverzüglich ab. Da man ihn erst später zurückerwartete, beschloss er, im BAF nach dem Rechten zu sehen.
Nun stand er zwischen den von Eve ordentlich beschrifteten Kisten und sah sich die jeweils obenauf liegenden Verzeichnisse an. Sie hatte wirklich hervorragende Arbeit geleistet und war trotz der häufigen Abwesenheit weit gekommen. In einer auffallend blauen Box, die in der Ecke stand, befanden sich Eves persönliche Arbeitsmaterialien. Magisch davon angezogen, konnte Lennart nicht widerstehen, einen Blick hineinzuwerfen. Unter einem Gegenstand, der Lennart an eine Zange erinnerte, wie sie so gerne in den allgegenwärtigen Koch-Shows benutzt wurde, lugte ein gelbes Post-it hervor. Neugierig zog er den Zettel heraus.
Freitag-Abend Treffen mit L.H. Unbedingt noch vorher angemessene Kleidung shoppen!
Darunter hatte sie ein fröhliches Kneifaugen-Smiley gemalt.
Unwillkürlich musste Lennart bei der Erinnerung an ihre erste Verabredung lächeln, trotzdem zog sich seine Brust schmerzhaft zusammen. Ach Eve … Warum musst du nur so verdammt stur sein?! Zunächst war er unglaublich empört und wütend über die Dinge, die sie ihm an den Kopf geworfen hatte. Jetzt wünschte er sich, er hätte besonnener reagiert. Sah denn niemand, dass er sich opferte? Er wollte diese Ehe schließlich am wenigsten, aber es gab nur diesen einen Weg. Wie sollte er sonst das Erbe seines Vaters, König Ludwigs II. von Bayern, antreten? Trotzdem – mit der Kündigung hatte er es übertrieben, zumal sie nun nicht einmal mehr einen Ort hatten, an dem sie sich zufällig begegnen konnten. Eine Versöhnung erschien unmöglich. Eve würde nicht nachgeben, da war er sich ganz sicher. Und in seinem Fall war es klüger, wenn er es nicht tat. Diese belastende Situation war schon schwer genug zu ertragen. Das konnte er keinesfalls durchstehen, wenn Eve ihn unter Dauerbeschuss setzte. Natürlich hatte sie recht. Er liebte Posie nicht. Sie war gesund, gebildet und skandalfrei. In den Kreisen, auf die es ankam, unbekannt und im besten Alter. Aber vor allen Dingen war sie einverstanden mit der Regelung, wie alles zu laufen hatte. Mit ihr würde es keine unangenehmen Überraschungen geben. Und wenn die Presse erst einmal mit hinreichend Babyfotos gefüttert war, konnte er sich ein kleines Stück seiner Freiheit zurückholen. Aus einer sentimentalen Laune heraus beschloss er, das Post-it einzustecken. Eves iPod mit den Kopfhörern war das Nächste, was ihm in die Hände fiel. Der Akku war noch zu sechzig Prozent geladen und so steckte er sich die buds in die Ohren und aktivierte die Wiederholung der zuletzt gespielten Playlist. Im Textfeld wurde ihm Ludwigs Theme angezeigt und schon schmeichelte Joshua Bells Interpretation von Rachmaninoffs VocaliseOpus 34/14 seinen Ohren. Wieder musste er lächeln. Genau dieses Album hatten sie in seinem Schweizer Appartement gehört, als sie sich gegenseitig das Herz ausgeschüttet hatten. Unwillig schüttelte Lennart den Kopf. Es hatte keinen Sinn, in Nostalgie zu schwelgen.
Er wollte gerade die Kopfhörer herausnehmen, als sein Blick die etwas abseits stehende, große Metallbox streifte. Er löste die Verschlüsse und sah als Erstes ein Blatt Papier in einer Klarsichtfolie. In Eves großzügiger Handschrift waren das Tagesdatum und Mindestens zehntägige Entfeuchtung durch Trocknungssalz, keinesfalls vorher bearbeiten! zu lesen.
Sie hatte wohl einen ihrer überaus nützlichen Antiquariatstricks eingesetzt, um die Unterlagen möglichst verlustfrei bearbeiten zu können. Vorsichtig nahm er einen kleinen Stapel heraus, den er zumindest überfliegen wollte, als sein Blick auf einen unförmigen, unappetitlich braunen Klumpen fiel. Nachdenklich drehte er das seltsame kleine Päckchen in seinen Händen, als sich auch schon ein Teil löste und zu Boden fiel. Vor lauter Schreck ließ er beinahe den Rest auch noch fallen. Eve würde sich furchtbar aufregen über seine Nachlässigkeit! Für den Moment war es ihm tatsächlich entfallen, dass sie nicht mehr hier tätig war. Unter den Klängen von Verdis Don Carlo hob Lennart das unansehnliche Stück vom Boden auf. Nach seiner Einschätzung handelte es sich um Leder, das einen erheblichen Feuchtigkeitsschaden aufwies. Beim Aufheben lösten sich einige der stark vergilbten Blätter und flatterten lautlos zu Boden. Mit spitzen Fingern las Lennart die Pergamente auf und versuchte, mit zusammengekniffenen Augen die stark verblichene Schrift zu entziffern. Ein Wort war von energischer Hand durchgestrichen und durch ein darüberstehendes, mit einem Ausrufezeichen versehenes, ersetzt worden.
Otto Wilhelm Luitpold Adalbert Waldemar
König!
Prinz von Bayern
»Oh Kathy, ich bin dir so dankbar, es ist einfach unglaublich!«, strahlte Eve ihre Freundin an. »Wenn ich das Bild vielleicht noch ein klitzekleines Momentchen betrachten dürfte?« Hoffnungsvoll blickte sie Kathy an, die seufzend mit den Augen rollte.
»Dass die Krauts sich alle so für Kennedy begeistern, ist schon strange. Aber nimm dir ruhig noch ein paar Minuten, ich warte so lange bei Noah. Aber nicht heimlich spionieren, right?« Sie zwinkerte Eve zu und ging in ihrem forschen Army-Schritt den Gang hinunter. Sie war heilfroh, dass es ihr endlich gelungen war, Eve etwas aufzuheitern. Als die völlig überraschend vor ihrer Tür stand, ahnte Kathy bereits, dass etwas passiert sein musste. Noch kurz zuvor hatte Eve die in einem Telefonat ausgesprochene Einladung für ein Treffen mit dem Hinweis auf ihre berufliche Unabkömmlichkeit ausgeschlagen. Da Kathy ohnehin gerade Urlaub hatte, kam ihr der Besuch jedoch mehr als recht und sie schleifte die deprimiert wirkende Eve gnadenlos von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten. Bei der Army hatte Kathy schon früh gelernt, keine überflüssigen Fragen zu stellen, und gab Eve darum die Gelegenheit, erst einmal wieder zu sich selbst zu finden. Doch das war jetzt das erste Mal, dass Eve ehrlich enthusiastisch wirkte, und Kathy freute sich über ihre sichtliche Begeisterung. Ihr Freund Noah Mitchell gehörte zum Stab Joe Bidens und hatte nur deshalb diese exklusive Führung organisieren können.
Nachdenklich betrachtete Eve das Bild des tragischen Präsidenten. Auch John F. Kennedys Leben endete viel zu früh, dazu noch auf die gleiche erbarmungslose Weise wie das von Ludwig. Vielleicht war das der Grund dafür, dass sie sich schon immer für diesen Mord interessierte. Sie war eine glühende Verfechterin der Theorie, dass Lee Harvey Oswald nicht der Täter war, sondern es sich um ein Komplott gehandelt hatte, ähnlich dem in Bayern 1886. Aber nicht nur Kennedys Tod war tragisch, nein, sein Leben war von Anfang an nicht gerade das, was man als rosig bezeichnen konnte. Der durch seinen Vater ausgeübte Leistungsdruck, der Tod seines älteren Bruders und die ehrgeizigen Pläne seiner Mutter hatten ihn nicht nur in die Ehe mit Jacqueline Bouvier, sondern auch in das Präsidentenamt getrieben. Dabei hatten sie weder Rücksicht auf seine bereits früh angeschlagene Gesundheit, noch auf sein eher schüchternes Wesen genommen. Trotzdem war aus ihm ein großer Politiker geworden, an den die Welt sich noch heute erinnerte. Im Gegenzug schien er leider ein grauenhafter Ehemann gewesen zu sein. Jedenfalls sagte man ihm unzählige Affären nach, was Eve nicht wunderte. Bei dem Charisma ... Sie hätte diesen faszinierenden Mann und interessanten Menschen wirklich gerne gekannt. Unvermittelt wurde ihr warm und sie fühlte einen aufsteigenden Schwindel. Um das Bild besser betrachten zu können, hatte sie den Kopf in den Nacken gelegt – sicher wurde ihr deshalb flau. Tief durchatmend trat sie einen Schritt zurück und sah den Gang hinunter.
Im selben Moment betraten zwei, in ein lebhaftes Gespräch vertiefte, Männer den Flur. Der Kleinere der beiden redete intensiv auf den Größeren ein, der innehielt und sich nachdenklich das Kinn rieb. Dann hob er den Kopf und sah Eve direkt in die Augen. Wie ein blauer Funkleitstrahl zog sein Blick den ihren magisch an. Ein ungläubiges Lächeln erschien auf seinem leicht gebräunten Gesicht und ließ Eves Herz aus dem Takt geraten. Es waren die Augen von John Fitzgerald Kennedy, dem fünfunddreissigsten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.
»Jack? Jack, was hast du? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen?!« Besorgt sah Robert seinen Bruder an.
»Ich weiß es nicht ... Ja, vielleicht. Aber wenn das ein Geist war, war es ein sehr attraktiver ...«
In den langen Gängen des CERN herrschte eine ungewohnte Leere. Obwohl die Feiertage vorüber waren, befanden sich viele der Angestellten noch im wohlverdienten Urlaub. Bis man hier wieder die übliche Geschäftigkeit vorfand, würden noch einige Tage verstreichen.
Lukas war als einer der Ersten zurückgekehrt. Das Desaster am Heiligen Abend hatte ihm den Urlaub verleidet und er sah keinen Sinn darin, länger fortzubleiben, wenn seine Gedanken doch ständig bei der Timer-Force weilten. Seine Schwester Lucy war noch im elterlichen Nest geblieben und ließ sich dort nach Strich und Faden verwöhnen und trösten. Viel Zeit blieb auch ihr nicht mehr, denn sie würde für das Museum, in dem sie angestellt war, eine bedeutende Ausstellung organisieren. Nachdenklich zog er das auf dem Schreibtisch stehende Foto näher zu sich heran. Die Teammitglieder, Lucy und Eve strahlten um die Wette. Lukas seufzte tief. Ob es wohl jemals wieder einen solchen Moment geben würde? Der Arzt des Teams, Tom Thelen, hatte sich bei der NASA beworben und dadurch seine noch junge Beziehung zu Lucy aufs Spiel gesetzt. Eve, der es gelungen war, König Ludwig II. von Bayern zu retten, hatte nach der fristlosen Kündigung durch seinen Sohn Lennart, dem Junior-Chef des Bayerischen Adelsfonds, BAF, fluchtartig die Schweiz verlassen und Lukas wusste nicht einmal, wo sie sich zurzeit aufhielt. Ihm wurde so schwer ums Herz, dass er den Zeitpunkt für ideal befand, sich einen kleinen Trosttrunk zu genehmigen. Bei seiner Vermögenslage reichte es zwar nicht für einen Macallan 40, aber Pierre Creuse hatte seine Flasche zurückgelassen und es wäre Verschwendung, ihn nicht zu genießen. Gerade, als er die goldene Flüssigkeit mit einem freundlichen Glucksen in das Glas laufen ließ, klopfte es an der Tür. »Herein«, rief er erstaunt.
Die große, schlanke Gestalt des leitenden Psychologen, Dr. David Reimer, füllte den Türrahmen aus.
»Hey, hat es dich auch nicht länger im Urlaub gehalten? Ich konnte jedenfalls nicht abschalten, da bin ich lieber zurückgekommen.«
Lukas grinste seinen Freund und Kollegen erfreut an. »Halleluja, ich habe schon befürchtet, ich müsse den guten Fusel alleine vernichten! Möchtest du auch einen? Pierre Creuse lädt uns ein.«
Bei dem Namen Pierre Creuse verzog David das Gesicht. »Na, dann ist der wenigstens einmal zu etwas gut ... Hast du inzwischen etwas von ihm gehört? Oder von Eve?«
Lukas schüttelte den Kopf. »Nein. Und ehe du weiter fragst, auch nicht von Tom. Martin schwelgt wohl in seinem Familienglück und Raven ist noch mit seinen Modell-Eisenbahnern unterwegs. Es fühlt sich an, als seien wir dieses Mal in ein Zeitloch gefallen.«
Genießerisch roch David an seinem Whiskey. Die feine Zitrusnote war mit einem Hauch von Amber unterlegt und wenn er seine Augen schloss und tief inhalierte, konnte er sogar die alten Sherryfässer auf seiner Zunge schmecken.
»Wenigstens hier hat Creuse einen guten Geschmack bewiesen. Es fällt mir immer noch schwer, zu glauben, dass er etwas mit dem Tod Walther Uhrichs zu tun hat. Andererseits hätte er schon längst zurück sein müssen, wenn es nur der Schock über den Unfall gewesen ist. Ich wüsste wirklich gern, wo er sich jetzt aufhält.«
Lukas nickte zustimmend. »Glaubst du, Eve könnte recht haben und er hat wirklich versucht, dem König etwas anzutun? Und Uhrich ist irgendwie da hineingeraten?«
David zog eine Augenbraue hoch. »Na ja, aus psychologischer Sicht wäre es durchaus vorstellbar, dass er so etwas wie einen Ahnenkomplex hat. Er sieht sich in der Verpflichtung, seinen Vorfahren zu rächen, oder zumindest das von ihm angestrebte Ziel zu erreichen. So etwas kann sich durchaus bis hin zur Besessenheit steigern.«
Düster starrten die beiden Männer in ihre Gläser.
»Ich hoffe, Eve kommt bald zurück. Nicht nur wegen unserer Forschung – ich habe das Gefühl, sie irgendwie im Stich gelassen zu haben. Andererseits begreife ich nicht, warum ihr die Hochzeit von Prinz Charming so nahegeht. Meinst du nicht, sie hegt vielleicht doch Gefühle für ihn und ist deshalb enttäuscht?« Fragend sah Lukas seinen Freund an, doch der schüttelte den Kopf. »Nein, nicht diese Art von Gefühlen. Ich vermute, sie sieht in ihm die Möglichkeit, das an Ludwig verübte Unrecht auszugleichen. Wenn sein Vater schon nicht glücklich sein durfte, dann doch wenigstens der Sohn. Dass der, in Eves Augen freiwillig, darauf verzichtet, kann sie ihm nicht verzeihen. Es fühlt sich für sie so an, als würde auch er Ludwig verraten. Und sie möchte beide Männer glücklich sehen, damit endlich der Gerechtigkeit Genüge getan ist. Dann macht er ihr so mir nichts, dir nichts, einen Strich durch die Rechnung, an deren Begleichung sie so hart gearbeitet hat.«
Lukas setzte gerade zu einer Antwort an, als die Tür zu seinem Büro aufgerissen wurde und Martin Gröger, genannt Teddy, hineinstürmte.
»Schnell, schaltet den Fernseher ein, schnell! Das müsst ihr unbedingt sehen!« Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte er bereits selbst die restlichen Schritte zum Fernseher und suchte mit der danebenliegenden Fernbedienung das Programm von NTV. Total verwirrt und erschrocken starrten Lukas und David den Techniker des Teams an, von dem sie gerade eben noch vermutet hatten, er schwelge im Familienglück.
Die elegant gekleideten Moderatoren diskutierten über eine Pressemitteilung des russischen ITEP, die erneut im Hintergrund eingespielt wurde. Der Leiter des Institutes war stolz über internationale Neuzugänge. Lukas runzelte die Stirn. Sicher, das war interessant, aber dafür solch einen Auftritt hinzulegen, und das von dem stets ruhigen und ausgeglichenen Familienvater, war schon etwas überzogen. Doch dann zoomte das Bild auf den bulligen Mann, der neben Wiktor Jurjewitsch Jegorytschew stand – Pierre Creuse ...
Gestorben.
Gestorben. Sie haben gesagt, er sei gestorben. Malsen und von Pranckh haben gesagt, er sei gestorben. Oh, wie ist es mir weh! Wer behütet mich nun? Mein liebster, liebster Bruder und König ist gestorben. Es war ein Unfall, haben sie gesagt. Malsen, und von Pranckh. Sie denken, ich habe es nicht bemerkt, weil es bei mir rappelt, aber ich habe sehr wohl die Blicke gesehen, die sie einander zuwarfen. Ob sie ihm auch Gift verabreicht haben, wie sie es ständig bei mir versuchen? Ertrunken sei er. Er, der bis zur Roseninsel schwimmen konnte. Der König sei malad gewesen, ähnlich wie ich. Haben sie gesagt. Malsen, und von Pranckh. Mein geliebter, stolzer Bruder war mitunter ein wenig größenwahnsinnig, aber malad? Malad waren nur seine Zähne. Mein schöner Bruder, was haben sie ihm nur angetan? Ach, könnte ich ihm doch folgen ... Wer bin ich – ohne ihn? König, haben sie gesagt. Malsen, und von Pranckh. König Otto von Bayern. Wie seltsam das klingt. Und wie falsch. Es war doch seine Aufgabe, König zu sein. Nie hat Gott einen edleren, würdigeren König erwählt. Und ich? Der stolze, schöne Prinz an seiner Seite. Zerrissen haben sie uns. Mit ihren Worten und Taten vergiftet. Doch ich weiß, dass er mich nie aufgegeben hat. Er liebt mich. Nein, liebte. Denn er ist ja tot. Ich will das nicht, man soll das rückgängig machen. Ich bin der König, ich will es so! Den Gedanken, ihn nie wiederzusehen, ertrage ich nicht. Mit ihnen allein gelassen, werde ich wahnsinnig! Endlich. Sie werden auch mich töten. Ich bin doch bereits lebendig begraben. Und nun gibt es niemanden mehr, der sich meiner erinnert. Therese. Thereschen wird mir helfen. Doch werden ihre Brüder das zu verhindern wissen. Ich bin verzweifelt. Majestät haben sie mich genannt. Malsen, und von Pranckh. Gelächelt habe ich. Weil ich sie durchschaut habe. In Sicherheit wollten sie mich wiegen.
Ludwig, ich habe Angst.
Mit zitternden Händen legte Lennart die wertvollen Fundstücke zurück in die Kiste. Erschüttert strich er sich durch das etwas zu lange, gewellte Haar. Konnte das wahr sein? Nein, das war nun wirklich zu absurd! Alle, ja wirklich alle wussten doch, dass Otto sich schon in seiner Kindheit seltsam verhalten hatte und in den späteren Lebensjahren eigentlich kaum mehr orientierte, kontrollierte Momente erlebte. Aber hatte man nicht auch bewusst über Ludwig Gerüchte gestreut, die mit fortschreitender Zeit immer wilderer und absurderer Natur wurden? Was, wenn Otto gar nicht so krank war, wie immer behauptet wurde? Sollte er mit Ludwig darüber sprechen? Vermutlich würde das seinen Vater nur unnötig aufregen. Müde rieb Lennart sich das Gesicht. Er musste unbedingt die noch erhaltenen Seiten des Tagebuchs lesen. Aber wer sollte dieses brisante Dokument für ihn lesbar machen? Keinesfalls durfte irgendjemand außer ihm davon erfahren. Wer weiß, was noch zu Tage treten würde ... Er brauchte dringend Hilfe. Eves Hilfe. Aber wie sollte er das anstellen? Mit Sicherheit würde sie keinen Anruf von ihm annehmen. Und so sehr ihn auch der weitere Text interessierte, war es das wert? Eve würde mit Sicherheit wieder auf ihn einwirken, sich aus dieser Ehe zu befreien, doch das war nun wirklich nicht länger möglich. Die Einladungen zur großen kirchlichen Feier waren bereits zugestellt und der gesamte Adel hatte sein Erscheinen zugesagt. Lennart seufzte tief. Entweder, er vergaß, was er zuvor gelesen hatte, oder er musste seinen Vater um Hilfe bitten. Ludwig war der Einzige, der Eve erreichen konnte. Wie er von Lucy, Eves Freundin, erfahren hatte, wusste auch niemand von der Timer-Force, wo Eve sich aufhielt. Für seinen Geschmack war Lucy zwar ein wenig zu forsch, aber ihm gegenüber nie so voreingenommen oder gar ablehnend gewesen wie ihr Bruder. Im Gegenteil, manchmal hatte er den Eindruck, sie wolle ihn mit Eve verkuppeln. Seine Familie würde wütend sein, wenn er schon wieder eine Reise in die Schweiz ankündigte. Aber da er im Gegensatz zu seinem Vater kein Timer war, blieb ihm nichts anderes übrig. Natürlich würde er seinen Aufenthalt so kurz wie möglich halten, trotzdem graute ihm vor einem Aufeinandertreffen mit Lukas Pelz. Obwohl es zwischen ihm und Eve zu keiner romantischen Beziehung kam, schien er sich für ihren Beschützer zu halten. Lennart hatte von Anfang an den Eindruck, dass Lukas in ihm einen unwillkommenen Konkurrenten sah. Als sich herausstellte, dass Lennart der Sohn König Ludwigs war, hatte das die Situation weiter zugespitzt. Wieder seufzte er. Vor dem nächsten Monat würde er es nicht schaffen, erneut in die Schweiz zu reisen. So kurz vor den Feierlichkeiten mussten er und Posie unzählige Termine wahrnehmen und der Januar war komplett ausgebucht. Am Telefon wollte er Ludwig nicht mit diesem hochsensiblen Thema konfrontieren. Verflixt, sein ganzes Leben war aus den Fugen geraten. Es war vorher schon nicht einfach gewesen, aber seit er Eve kennengelernt hatte, lebte er auf der Überholspur. Alles, woran er geglaubt hatte, war durcheinandergewürfelt und in seltsamster Konstellation wieder zusammengesetzt worden. Er fühlte sich unendlich einsam und unverstanden. So sehr er Eve auch für ihre Geradlinigkeit bewunderte, aber ihr fehlte jedes Verständnis für das Leben in seiner Welt. Richtig oder falsch, dazwischen schien es für sie nichts zu geben. Lennart fühlte eine tiefe Traurigkeit in sich aufsteigen und schluckte hart. Er musste sich zusammenreißen. Unwirsch rieb er sich über die Augen und fast hätte ihn der Schlag getroffen, als er Ludwig vor sich erblickte.
»Himmelherrgott, Vater! Du hast mich fast zu Tode erschreckt!«
Ludwig lupfte indigniert eine Augenbraue. »Das ist kein Grund, die Stimme zu erheben, Lennart. Ich hatte das Gefühl, du brauchst mich, da wollte ich kurz nach dir sehen. Ich kann auch wieder ...«
»Nein, bloß nicht«, unterbrach Lennart ihn. »Ich brauche dich wirklich. Genau genommen brauche ich Eve und da du der Einzige bist, der Kontakt zu ihr aufnehmen kann ...«
Hoffnungsvoll sah er zu Ludwig auf, der ablehnend das Gesicht verzog. »Ich denke, sie präferiert es, vorläufig nicht von dir zu hören. Das kann ich ihr auch nicht verübeln. Du warst wirklich übermäßig echauffiert.«
Lennart nickte reumütig. »Da hast du leider nicht ganz Unrecht. Trotzdem – es ist etwas geschehen und sie ist die einzige Person, die ich um Hilfe bitten kann.«
Neugierig musterte der König seinen Sohn.
»Was ist denn geschehen? Hat es mit, mit deiner ... dieser Person zu tun?«
Kurz huschte ein Ausdruck der Verärgerung über Lennarts Gesicht.
»Nein, aber wie gesagt, darüber kann ich nur mit Eve sprechen.«
Beleidigt winkte der König ab.
»Wie du meinst. Allerdings möchte ich ihr noch ein wenig Zeit geben, sich von deiner Eskapade zu erholen. So lange wirst du warten müssen.«
»Na schön«, seufzte Lennart. »Warte aber bitte nicht zu lange, es ist wirklich wichtig. Sie muss dringend herkommen.«
Ludwigs Augen glitten über das müde, angestrengte Gesicht seines Sohnes und was er darin sah, stimmte ihn versöhnlich.
»Ich werde sehen, was ich für dich tun kann.«
Grübelnd betrachtete Marcel das Foto, das man ihm zusammen mit einer extrem dicken Akte und der Aufforderung, sich damit vertraut zu machen, übergeben hatte. Die ihn verschmitzt anschauenden Augen ergänzten harmonisch das angedeutete Lächeln. Gott sei Dank hatte sie da noch nicht geahnt, welch grausames und abscheuliches Schicksal ihr bevorstand. Außer Schussverletzungen wurden etliche Bajonettstiche und stumpfe Traumata festgestellt. In dieser Tragik erinnerte sie ihn sehr an Jeannie und auch doch wieder nicht, denn Jeanne d’Arc hatte gekämpft. Immer. Für ihren Glauben, um ihr Land und schlussendlich – um ihr Leben. Ach Jeannie ...
Mühsam zwang er seine fliegenden Gedanken zurück zu dem Foto. Sie war zwar nicht die hübscheste der Schwestern, aber sie hatte ein sehr anziehendes, geheimnisvolles Lächeln. Vor zwei Jahren hatte er im Louvre das Bild der Mona Lisa bewundert und genau daran erinnerte ihn dieses Lächeln. Ich weiß etwas, das ihr nicht wisst, schien es auszudrücken. Zunächst hatte er unwillig darauf reagiert, als man sie ihm zur neuen Zielperson bestimmte. Aber je länger er sich mit ihr befasste, desto verlockender erschien es ihm, sie zu retten. Und wenn diese Sprünge dazu beitragen würden, endlich eine Möglichkeit zu finden, Jeanne wiederzusehen, dann war es das wert.
Ein energisches Klopfen unterbrach seine Gedanken, als Pierre Creuse, ohne seine Aufforderung abzuwarten, das Zimmer betrat.
»Und? Hast du dich vorbereitet? Sie wollen in zwei Stunden anfangen. Bist du so weit?«, verlangte er ungeduldig eine Antwort.
»Ja, schon. Obwohl mir wegen der Strommanschetten ein wenig mulmig zu Mute ist. Ist das wirklich ungefährlich?« Besorgt sah Marcel den nach dem Gerangel mit Walther Uhrich vom CERN geflüchteten Creuse an.
»Du bist doch kein Weichei, oder? So ein wenig Kribbeln wirst du schon ertragen. Und vergiss nicht, nach der Bernsteinstatue Ausschau zu halten!«, erwiderte der ungehalten.
»Hauptsache, es geht endlich mal mit meinem eigenen Projekt weiter! Wann kann ich endlich zu Jeanne?« Das war und blieb für Marcel die wichtigste Frage.
Pierre Creuse strich sich unwirsch das sorgfältig gegelte Haar zurück. »Erst müssen wir mal abliefern, bevor wir Forderungen stellen können. Auch in Russland gibt es nichts ohne Gegenleistung, also streng dich an. Je eher sie haben, was sie wollen, umso eher bekommen wir, was wir wollen!«
Eine Stunde später saß Marcel verkrampft auf dem dick gepolsterten Sessel und war an unzählige Elektroden angeschlossen. Darja, die junge Assistentin des Technikers, war gerade dabei, die feuchten Manschetten an seinen Hand- und Fußgelenken zu befestigen. Er schätzte sie auf Mitte zwanzig und sie war durchaus attraktiv. Das dunkle Haar zu einem Zopf geflochten, die klaren grauen Augen immer freundlich zwinkernd, war sie die sympathischste Person in diesem Team. Darja war die Einzige hier im Springer-Start, die nicht kühl und professionell, sondern menschlich und freundlich wirkte. Wie anders war das doch bei der Timer-Force gewesen. Alle waren kameradschaftlich nett und immer zu Späßen aufgelegt. Man erwartete keine Leistung, sondern freute sich, wenn alles gut ablief. Das schlechte Gewissen grummelte tief in seinen Eingeweiden. Natürlich war er immer noch enttäuscht, aber je mehr Zeit verstrich und je tiefer sein Einblick ins ITEP wurde, desto mehr vermisste er die Crew der Timer-Force. Nicht, dass man unfreundlich war – im Gegenteil. Tira und er wurden stets mit höflicher Wertschätzung behandelt. Distanziert und professionell. Im CERN hatte er sich wie in einer Familie gefühlt. Zwar mit allen nervigen Nachteilen, aber eben auch behütet und als ein Teil der Gemeinschaft. Hier ging es eher zu wie in einem gewinnorientierten Unternehmen. Über Persönliches wurde nicht gesprochen. Wenn er nicht so dringend zurück zu Jeanne wollte, hätte er sich nie für diesen Weg entschieden. Auch Pierre Creuse wurde ihm zunehmend unsympathisch. Langsam wuchs in Marcel die Erkenntnis, dass Pierre nicht wirklich an seinen Problemen interessiert war, sondern ihn nur benutzte. Vielleicht hatte Tira von Anfang an recht gehabt mit ihrer Abneigung. Er seufzte tief.
Darja sah ihm besorgt in die Augen und strich ihm leicht über die Hand, ehe sie dem leitenden Techniker das Zeichen zur Startbereitschaft gab. Marcel schloss die Augen und dachte an Jeanne, für die er all das auf sich nahm. Kurz darauf fühlte er ein unangenehmes Kribbeln am ganzen Körper. Er durfte nicht länger an Jeanne denken, sondern musste sich jetzt auf seine neue Zielperson konzentrieren. Das arme Mädchen und ihr ungerechtes Schicksal berührten ihn ebenfalls zutiefst. Vielleicht ergab sich ja eine Gelegenheit, wenigstens ihr zu helfen. Für Jeanne ...
Er atmete tief ein und ließ los.
»Shivzik? Shivzik!«, schallte es ungeduldig durch die Gänge des Katharinenpalastes. »Wo treibt sich dieser kleine Imp nur wieder herum?«, seufzte Alexandra Fjodorowna und strich sich das Kleid glatt. »Marija, sei so gut und geh deine Schwester suchen, wir wollen gleich Tee trinken.«
Gehorsam unterbrach Marija ihre angefangene Zeichnung. Sie legte den Pinsel auf das Tischchen und säuberte sich die Hände an dem bereitliegenden Tuch, um sich auf die Suche nach Anastasia zu machen. Das war in den verzweigten Gängen des Palastes keine einfache Aufgabe. Sicher wollte Ana ihnen wieder einen ihrer gefürchteten Streiche spielen.
»Du darfst ruhig näherkommen«, sagte sie mit ihrer freundlichen hellen Stimme.
Sprach sie mit der Katze? Da sie mit dem Rücken zu ihm auf dem Boden saß, konnte sie ihn unmöglich gesehen haben. Die kleine weiße Katze stellte die Nackenhaare auf und richtete ihre grünen Augen vorwurfsvoll auf ihn. Dann fauchte sie leise.
»Ist schon gut, Ahmar. Du musst dich nicht fürchten. Er ist ein Freund. Jedenfalls glaubt er das.«
Langsam drehte sie sich zu Marcel um und sah ihn mit ihren großen kornblumenblauen Augen an.
»Wie konntest du wissen, dass ich hinter dir stehe? Hast du ein Geräusch gehört? Und warum fürchtest du dich nicht?«, wollte Marcel verwirrt wissen.
Sie musterte ihn ohne sichtliche Aufregung.
»Der Starez hat es mir gesagt. Bald würde mich jemand aus einer fernen Welt besuchen, der großen Kummer in sich trägt. Der Starez hat immer recht. Warum bist du traurig?« Neugierig sah sie ihn an.
Marcel schüttelt ungläubig den Kopf.
»Wer ist der Starez?«
Sie seufzte ungeduldig. »Na, Grigori. Grigori Jefimowitsch Rasputin. Er kommt immer wegen Alexej, aber wir sollen nicht darüber reden. Mutter mag ihn sehr gern. Ich bin Ana. Eigentlich Anastasia Nikolajewna Romanowa. Also sag: Warum bist du traurig?«
Sie sprach mit ihm, als wäre es das Normalste der Welt, dass plötzlich jemand aus dem Nichts auftauchte und sich mit ihr unterhielt.
»Ich heiße Marcel. Marcel Ricken. Ich komme aus ... aus Deutschland. Und traurig bin ich, weil meine Freundin ... Weil wir zurzeit getrennt sind und ich sie nicht treffen kann.«
Anastasia nickte verständnisvoll und strich ihr langes blondes Haar zurück. »Wie meine Mutter. Sie kommt auch aus Deutschland. Es muss sehr schön dort sein. Und nicht so kalt wie hier. Wie heißt deine Freundin und warum seid ihr getrennt?«
Marcel musste grinsen. »Du bist aber ganz schön neugierig. Meine Freundin heißt Jeanne und sie ... sie kann halt gerade nicht bei mir sein. Aber bald sehe ich sie wieder. Ich will es nämlich unbedingt.«
»Hm«, grunzte Ana. »Wenn du davon so überzeugt bist, warum fühlst du dich dann traurig?« Abwesend streichelte ihre kleine Hand über den feinen weißen Pelz der Katze. »Das ist übrigens Ahmar. Sein Name bedeutet unsterblich. Wir dachten nämlich, alle Kätzchen des Wurfs seien tot, aber als Oleg sie hinausbringen wollte, hat er gesehen, dass Ahmar sich noch bewegt. Hast du auch eine Katze?«
»Meine Güte, stellst du immer so viele Fragen? Wie wäre es, wenn du mich ein wenig herumführst? So ganz heimlich, dass niemand uns sieht? Wie eine Art Versteckspiel.« Hoffnungsvoll sah Marcel sie an.
»Och, hier gibt es nicht viel zu sehen. Drüben, im Alexanderpalast, ist es schöner. Da habe ich auch meine Sachen. Ich habe ein ganz tolles Ei. Es ist zwar nicht so groß wie das meiner Mutter, aber trotzdem schön. Willst du es mal sehen?«
»Eigentlich würde ich lieber erst den Raum mit dem vielen Bernstein sehen. Zeigst du ihn mir?«
Einen Moment lang musterte Ana ihn schweigend, dann nickte sie. »Na schön, Mutter sagt immer, man soll höflich sein zu seinen Gästen und ihren Wünschen nachkommen. Wir gehen durch den geheimen Gang, da sieht uns keiner. Aber später zeige ich dir dann mein Ei, ja?«
Vertrauensvoll streckte sie Marcel ihre schmale Hand entgegen und zog ihn in Richtung einer Tür, die mit Tapete bedeckt war und dadurch kaum auffiel. Zögernd folgte Marcel Ana durch den schmalen Gang und fuhr erschrocken zusammen, als sich die Tür hinter ihm schloss. Es roch etwas muffig und feine Staubpartikel kitzelte ihn in der Nase.
»Hast du Angst im Dunkeln?«, wollte Anastasia wissen. Allerdings, ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie sogleich fort. »Ich nicht. Ich fürchte mich nie. Olga und Tatjana haben vor allem Angst, dabei sind sie älter. Manchmal sind sie ein wenig langweilig. Und mit Alexej dürfen wir nicht so richtig spielen, weil er sich so schnell verletzt. Aber das darfst du niemandem verraten. Er ist oft so traurig, dann spiele ich Theater, damit er wieder lacht. So, hier ist es.« Erneut öffnete sie ein kaum erkennbares Rechteck, das Marcel nicht einmal bemerkt hatte. Die Geheimtür lag etwas niedrig, weshalb er den Kopf einziehen musste. »Dunnerlittchen«, entfuhr es ihm. Mit großen Augen sah er sich um. Das war wirklich und wahrhaftig das legendäre Bernsteinzimmer. So eindrucksvoll hatte er sich das nicht vorgestellt. Sorgfältig musterte er die wertvollen Gegenstände, als er die gesuchte Statue entdeckte. Sie hielt eine Kugel in der einen und eine Art Stab in der anderen Hand. Plötzlich durchzuckte ihn ein stechender Schmerz. Seine Hand fuhr an die Stirn und erschrocken stieß er einen kleinen Schrei aus. »Aua!« Ein weiterer und diesmal noch heftigerer Schmerz schoss durch seinen Kopf. Schlagartig wurde ihm übel.
»Marcel? Was hast du denn? Bist du krank?« Erschrocken sah Ana ihren neuen Freund an. Doch der schien plötzlich wie von einem Nebel umhüllt und so sehr sie auch blinzelte, das Bild wurde nicht klarer.