Verrisse - Thomas Leibnitz - E-Book

Verrisse E-Book

Thomas Leibnitz

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Beschreibung

Große Komponisten im Zentrum der Kritik. Ein amüsanter Rückblick! "Bruckner componirt wie ein Betrunkener": Zu diesem Schluss kommt 1886 ein Musikkritiker nach der Wiener Erstaufführung von Anton Bruckners Siebenter Sinfonie. Stimmen wie diese sind heute nicht mehr zu hören, wenn in den Konzert- und Opernhäusern der Welt die großen Werke des klassischen Repertoires aufgeführt werden – bewundert, verehrt, jeglicher Diskussion enthoben. Respektlose, auch amüsante Zugänge öffnen sich jedoch beim Blick in die Archive: Thomas Leibnitz zeigt, wie scharf die zeitgenössische Kritik mit Werken von Komponisten umging, die heute zu den unbestrittenen Größen der klassischen Musik zählen – Ludwig van Beethoven, Richard Wagner, Giuseppe Verdi, Anton Bruckner, Johannes Brahms, Richard Strauss, Gustav Mahler, Arnold Schönberg.

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Thomas Leibnitz

Verrisse

Respektloses zu großer Musik von Beethoven bis Schönberg

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.com

© 2022 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: BoutiqueBrital.com

Grafische Gestaltung/Satz: Lanz, Wien

Lektorat: Marie-Therese Pitner

ISBN ePub:

978 3 7017 4688 0

ISBN Printausgabe:

978 3 7017 3565 5

Inhalt

Vorwort

Einleitung oder

Von Konzertritualen, Genieverehrung und Versuchen, Großes neu zu verstehen

»Er hat die Musik krank gemacht«

Richard Wagner

»Seine Opern sind aber wahrhaft scheußlich«

Giuseppe Verdi

»Denn er ist von Hause aus eigentlich arm an Erfindung«

Johannes Brahms

»Bruckner componirt wie ein Betrunkener«

Anton Bruckner

»Metamorphose des Aparten ins Plumpe«

Richard Strauss

»Ihm mangelt aber die innere, wahre schöpferische Kraft«

Gustav Mahler

»Abschreckend, geschmacklos und entsetzlich«

Ludwig van Beethoven

»Die neueste Sammlung von Kakophonien Schönbergs«

Arnold Schönberg

Ein Panoptikum der Fehlurteile?

Vorwort

Um historische Verrisse geht es in diesem Buch, um Negativurteile über Opern, Sinfonien, Konzerte und andere Musikwerke des klassischen Repertoires, die bei ihrem ersten Erscheinen die Gemüter entzweiten, für Kontroversen sorgten, auf den Widerstand so manchen Kritikers stießen. Es geht nicht – dies sei zur Vermeidung von Missverständnissen gleich eingangs gesagt – um das aktuelle Musikleben, um Verrisse innerhalb der Interpretationskultur der Gegenwart. Auch diese sind interessant, ganz ohne Zweifel; aber sie bewegen sich auf einer anderen Ebene als das Pro und Kontra zu den Werken, die das Grundgerüst unseres heutigen Opern- und Konzertbetriebs bilden.

Dies ist kein musikwissenschaftliches Buch. Sofern es mir als Autor erlaubt ist, meine bevorzugte Leserschaft zu benennen, so wäre ich glücklich, sie im gegenwärtigen Publikum des Opern- und Konzertlebens zu finden. Damit will ich meine musikwissenschaftliche Kollegenschaft keineswegs »ausladen«, im Gegenteil; nur soll ausdrücklich festgestellt sein, dass ich mich in diesem Buch nicht unserer hoch entwickelten, dem allgemeinen Verständnis aber wenig entgegenkommenden Fachsprache bedienen werde, dass durchaus subjektive Haltungen einfließen, dass ich mir hier eine Plauderei, dort eine kleine Betrachtung erlauben werde – alles Dinge, die in Fachkreisen als »ungeschützte« Äußerungen verpönt sind. Falsch im Sinne von faktenwidrig darf dennoch nichts sein, und auch die Belegung von Zitaten mit Quellennachweisen ist mir ein Anliegen. Nicht zuletzt aus dem Grund, dass interessierte LeserInnen die Gelegenheit erhalten, in der entsprechenden Quelle nachzuschlagen und noch mehr zu finden, als ich hier mitzuteilen vermochte. Denn selbstverständlich kann das Vorgelegte nur ein kleiner Teil dessen sein, was präsentiert werden könnte.

Über Begrenzungen ist noch mehr zu sagen. Zwar wurden die acht Komponisten, um die es hier geht, mit Bedacht ausgewählt – Richard Wagner, Giuseppe Verdi, Johannes Brahms, Anton Bruckner, Richard Strauss, Gustav Mahler, Ludwig van Beethoven, Arnold Schönberg. Sie bilden Paare, sowohl im Bewusstsein der Mitwelt als auch der Nachwelt – wohl mit Ausnahme des zuletzt vorgestellten »Paares« Beethoven–Schönberg –, bei denen nicht die Mitwelt, sondern eher die Musikgeschichtsschreibung für die Paarbildung verantwortlich ist, indem sie beide Komponisten als »Jahrhundertkomponisten« mit besonderer Ausstrahlung auf ihre Nachwelt einstuft. Mit Recht könnte man den einen oder anderen weiteren Komponisten – Komponistinnen konnten es aus historischen Gründen nicht zu vergleichbarer Prominenz bringen – in diese Reihe hineinreklamieren; aber es liegt im Wesen einer Auswahl, dass sie in jeder Variante unvollständig bleibt.

Es geht um Komponisten, die europaweit und weltweit das Repertoire beherrschen, und in den Opernhäusern Deutschlands, Japans und Australiens wird man ebenso den Werken Verdis und Wagners begegnen wie in den Konzerthäusern der USA, Englands oder Italiens den Sinfonien Beethovens oder Brahms’. Im vorliegenden Buch wird allerdings – zumindest vorrangig – zu erfahren sein, wie unsere Komponisten in der Stadt aufgenommen wurden, die sich selbst gern – ob nun zu Recht oder Unrecht – den Ehrentitel der »Welthauptstadt der Musik« zulegt, in Wien. Selbst bei diesem etwas entlegenen Thema ist die Materialfülle gewaltig, und das grundsätzlich lobenswerte Postulat der »Vollständigkeit« hätte in unserem Fall jeden Versuch im Keim erstickt, der Leserschaft ein Buch zu übergeben, das handlich und überschaubar ist und nicht bereits durch seinen Umfang eher abschreckt als zum Lesen einlädt.

Kann man ein solches Buch »lesen«, oder muss man doch eher ein Zitatenkompendium erwarten? Nun, es war mein ehrliches Bemühen, ein »lesbares« Buch hervorzubringen, einen Kontext herzustellen, Geschichten zu erzählen, die Zitate aufeinander zu beziehen, die Persönlichkeiten sowohl der Komponisten als auch der Kritiker erlebbar zu machen. Ich sprach vom Zielpublikum, das ich im Auge habe und dem ich Lesevergnügen bereiten will – Leserinnen und Leser, die mit einem Gutteil des »klassischen« Standardrepertoires vertraut sind, die mit den Komponisten dieses Buches eigenes musikalisches Erleben verbinden. Vermutlich sind sie zugleich die Hörerinnen und Hörer, die im Einleitungsteil dieses Buches eine wichtige, wenn auch streckenweise von mir etwas unfreundlich gezeichnete Rolle spielen, die zum Ritualcharakter unseres Opern- und Konzertbetriebs beitragen, die sich den Hauptwerken des klassischen Repertoires verehrungsvoll und mit dem Gefühl prinzipiellen Ungenügens nähern, demütig davon überzeugt, die Schuld bei etwaigen Verständnisschwierigkeiten ausschließlich bei sich selbst suchen zu müssen. Solche Leserinnen und Leser werden mir, dessen bin ich mir sicher, die kleine Publikumsbeschimpfung zu Beginn gern verzeihen, die Appetit machen soll auf einen Parcours durch respektlose, kritische, ablehnende, auch hämische Stellungnahmen zu Hauptwerken unseres klassischen Repertoires, geäußert zu einer Zeit, als diese noch nicht den gesicherten Status von Hauptwerken hatten, sondern sich ihren Platz im Gegenspiel der Meinungen erst erobern mussten.

Welchen Sinn hat es, Schimpfereien solcher Art aus der historischen Mottenkiste hervorzuholen, diese Zeugnisse des Unverständnisses und der Voreingenommenheit? Das wird im Laufe des Buches (hoffentlich) klar werden, und die Antwort bezieht sich auf unterschiedliche Aspekte. Um aber bereits hier eine einfache, wenn auch nicht eben »wissenschaftliche« Antwort zu geben: Sie nehmen Berührungsängste, sie lassen die Entstehungszeit der Werke lebendig werden und sie sind – zumindest in vielen Fällen – durchaus amüsant.

Ebenso dem amüsanten Aspekt gelten die Illustrationen des Bandes, zeitgenössische Karikaturen der besprochenen Komponisten. Oft nehmen sie physiognomische Eigenheiten der Dargestellten aufs Korn, und in vielen Fällen lässt die Körperhaltung erkennen, mit welchem Typus wir es zu tun haben – ob nun Wagner hoch aufgerichtet seinem Widersacher Hanslick begegnet, Bruckner sich in Bücklingen ergeht oder Mahlers nervöse Beweglichkeit im Bild greifbar wird. Nicht selten transportiert jedoch auch die zeitgenössische Zeichnung Elemente des musikalisch Charakteristischen und Umstrittenen, wenn etwa Verdi mit dem Leierkasten auftritt oder Mahler sein ungewöhnliches Instrumentarium vorführt.

Gern sage ich an dieser Stelle Dank – den vielen Kolleginnen und Kollegen, die mir Anregungen und Hinweise gaben, dem Residenz Verlag, der die Buchidee mit Offenheit und Interesse aufnahm, Frau Marie-Therese Pitner, die den Druck mit viel Umsicht betreute, besonders aber meiner Frau Martina, der ersten Leserin des Textes, die mich zu diesem Projekt von Anfang an ermutigte.

Einleitung oder

Von Konzertritualen, Genieverehrung und Versuchen, Großes neu zu verstehen

Ein Konzert wie viele andere. Es beginnt mit dem Einzug der Musiker, begleitet von freundlichem Applaus. Dann wird es still – man wartet auf den Dirigenten. Halten ihn unaufschiebbare Geschäfte davon ab, das Podium zu betreten? Endlich erscheint er, umgeben vom Nimbus der wichtigsten Person des Abends, empfangen mit deutlich stärkerem Applaus. Alle kennen das Ritual, alle machen mit. Nun hebt die Musik an, man lauscht ihr still und hingegeben, von ein paar Störenfrieden abgesehen, die das Tuscheln nicht lassen können und sich strenge Blicke einhandeln. Aber nicht genug des Rituals: Sobald der erste Satz des Violinkonzerts beendet ist, wird nicht applaudiert, obwohl die Solistin eine hinreißende, den Beifall fast erzwingende Kadenz hingelegt hat. Warum die Zurückhaltung? Weil zwischen den Sätzen eines mehrsätzigen Werks nun einmal nicht geklatscht wird, so will es der Kodex. Und die paar Banausen, die davon nicht wissen oder zum ersten Mal im Konzert sitzen, werden bereits bei den ersten Ansätzen einer unstatthaften Beifallskundgebung mit hörbarem Zischen in die Schranken gewiesen.

Am Ende freilich gibt es langen und heftigen Applaus, und diese Lebhaftigkeit, inklusive einiger stimmstarker Bravo-Rufe, steht in merkwürdigem Gegensatz zu der fast starren Ruhe, mit der das Publikum ein langes und schwieriges Werk angehört hat. Endlich kann man aufstehen und sich bewegen, endlich die Körperlichkeit zu ihrem Recht kommen lassen.

Einiges ist starr an diesem gesamten Betrieb, der viele Selbstverständlichkeiten kennt, viele eingefahrene Verhaltensweisen und so manches Tabu. Denn als eine der genannten Selbstverständlichkeiten wird allgemein akzeptiert, dass hier fast ausschließlich Musik vergangener Zeiten zu hören ist, wobei das 19. und das frühe 20. Jahrhundert die Statistik dominieren. Ebenso entspricht es offensichtlich dem allgemeinen Konsens, dass die abschließende Meinungsäußerung des Publikums ausschließlich in Beifall zu bestehen hat, ein öffentliches Ventil für das Urteil »Das hat uns nicht gefallen« scheint nicht zu existieren. Ja doch, man weiß von so manchem Ereignis in der Vergangenheit: Da gab es 1913 in Wien das »Skandalkonzert« mit Werken von Alban Berg und anderen Modernen der Zeit, das abgebrochen werden musste, weil das Publikum gegen diese Klänge revoltierte, weil Tumult und Geschrei ausbrach und die Sache in Tätlichkeiten ausartete. Ähnliches vernahm man von der Uraufführung des »Sacre du printemps«, ebenfalls 1913. Aber das war eben das Publikum von damals. Heute ist das Publikum reif, verständig, tolerant und aufgeschlossen, und man blickt mit indigniertem Kopfschütteln auf die Radaubrüder von ehedem zurück.

Ist es wirklich so reif und aufgeschlossen, das Publikum unserer Tage, oder steckt hinter der noblen Zurückhaltung und Zustimmungsbereitschaft ein gewisses Maß an Selbstentmündigung? Wir sprachen von der Beobachtung, dass heute außer dem Beifall im Grunde keine andere Form der Meinungsbekundung »erlaubt« scheint (etwas anders verhält es sich in der Oper, wo andere Gesetze herrschen, wo sich das Missfallen jedoch so gut wie ausschließlich auf Inszenierungen und Sänger bezieht). In der Sphäre des gediegenen Konzertlebens lohnt es sich freilich, auf die Sprache des Beifalls zu hören, und da lässt sich dann doch der »tosende«, der »stürmische« Applaus unterscheiden vom »freundlichen«, und dies geht hin bis zum »höflichen« Kurzapplaus, der meist den – ohnehin seltenen – Uraufführungswerken zuteil wird und die Intendanten darin bestärkt, auf diesem Sektor nicht mehr zu tun als das Minimum, das sie ihrer (öffentlich stets bekundeten) Aufgeschlossenheit dem Neuen gegenüber schulden.

Was das Publikum in diese Konzerte zieht und zum Kauf der Abonnements animiert, ist neben dem gesellschaftlichen Flair der Wunsch nach Begegnung mit »großer Musik«. Diese Größe gehört zu den unhinterfragten Selbstverständlichkeiten, von denen schon die Rede war. Denn wer, um Gottes willen, würde zu bestreiten wagen, dass zu diesen Großen Bach gehört, weiters Haydn, Mozart, Beethoven und zahlreiche weitere, die hier nicht namentlich aufgezählt werden müssen. Ihr Werk ist durch das »Sieb der Geschichte« gegangen, es hat sich als dauerhaft erwiesen (um nicht das Wort »unsterblich« zu verwenden), und es steht vor uns als eine Kulturleistung, an der man teilhaben will und der man gerecht werden will. Dieses Gerecht-Werden impliziert einige geistige Mühe, und tatsächlich kann immer wieder beobachtet werden, wie sich Hörer in den Erläuterungstext im Programmheft vertiefen, der sich zum Ziel setzt, ihnen die komplexe Struktur des Gehörten näherzubringen. Ob es dann wirklich gelingt, die »Reprise« von der »Durchführung« zu unterscheiden und das »Heldische« der Tonart Es-Dur zu erspüren (und nicht eher an den schulischen Musikunterricht und den »Quintenzirkel« erinnert zu werden, dessen vertrackte Geheimnisse man schon damals nicht durchschaute), das sei dahingestellt.

An dieser Stelle ist nun aber doch ein relativierender Einschub fällig, im Sinne einer Feststellung »in Klammer«. Es mag der Eindruck entstanden sein, hier werde ein nicht rundum einnehmendes Bild des aktuellen Konzertpublikums gezeichnet: traditionsfixiert, dem Ritual ergeben, ohne eigene Urteilsfähigkeit. Dies mag zwar alles in unterschiedlichem Grad zutreffen, doch verblasst es neben einer überaus bedeutenden, grundlegenden Tatsache: Das Faktum, dass dieses Publikum existiert, dass es die Konzertsäle und Opernhäuser füllt, ermöglicht es, dass die großen Werke der »klassischen« Musik, kostbarstes Erbe der Vergangenheit, lebendig gehalten und präsent gemacht werden! Jeder Besucher, jede Besucherin von Konzert- und Opernaufführungen könnte ja auch zu Hause beim Fernsehen, in einer Freundesrunde, vor dem Laptop oder wo auch immer sitzen. Stattdessen unterzieht man sich dem Anspruch, einer Musik, die merkbar mehr sein will als Klangtapete und Unterhaltungsware, schweigend zu lauschen und damit eine Tradition der Rezeption von Kunst aufrechtzuerhalten, die markant aus den Mechanismen der Spaßgesellschaft mit ihrer permanenten Forderung nach dem »feel good« herausfällt. Alles, was hier gesagt wird, auch kritisch gesagt wird, ruht daher auf großer Dankbarkeit für die Existenz dieses Publikums.

Damit schließen wir die Klammer und kehren zurück zu der Frage nach »großer Musik«, die zwar schlicht zu den Gegebenheiten unseres Kulturlebens zu gehören scheint, sich aber dennoch dem Anspruch auf Begründung stellen muss. Oder müsste. Wer hat bestimmt, dass Mozart ein großer Komponist ist, Leopold Koželuch hingegen nicht (obwohl auch er durchaus hübsche Musik schrieb)? Die Musiker? Die Kritiker? Das Publikum? Die Mit- oder die Nachwelt? Die Antwort ist, zugegeben, etwas trivial: alle miteinander, allerdings in einem sehr komplexen Zusammenspiel. Immer wieder läuft es auf eine Koinzidenz von »Volkes Stimme« und »Expertenurteil« hinaus, wobei die beiden Komponenten oft von sehr unterschiedlicher Dimension sind, aber eine von beiden nie ganz fehlen darf. Um Beispiele aus dem 20. Jahrhundert zu bemühen: Die Komponisten der »Silbernen Operette« (Franz Lehár, Leo Fall, Emmerich Kálmán) schafften es trotz enormer Publikumserfolge nicht in die »erste Liga« (und Richard Strauss hätte eine Platzierung neben Lehár entrüstet abgelehnt), während die sehr hermetische und wenig publikumsträchtige Musik des Anton Webern ihm trotz des konzertierten Beistands der »Fachwelt« eine Prominenz bescherte, die eine gewisse Blässe nie verlor.

Wie auch immer »Größe« zustande kommt oder definiert wird: Das Publikum anerkennt sie und sammelt sich Abend für Abend, um den Werken der »Großen« zu lauschen und ihnen seine Verehrung zu bezeugen. Wir vergaßen übrigens, neben der Tatsache, dass außer dem Beifall keine andere Form von Meinungsäußerung erlaubt scheint, ein weiteres verwandtes Faktum zu erwähnen, nämlich die Beobachtung, dass in der veröffentlichten Kritik – so überhaupt eine erscheint und ihr mehr als ein Minimalraum auf der Zeitungsseite zugestanden wird – zwar dieses und jenes über die Interpretation zu lesen ist, nichts jedoch über die aufgeführten Werke selbst, sofern sie dem »historischen Repertoire« zugehören. Offensichtlich ist da nichts zu sagen: »Mozart«, »Beethoven« oder »Bach« gehören dem Raum des Geheiligten an, stehen außerhalb der Geschichte, rangieren abseits kleinlichen Gezänks über Wert und Unwert. Wie wir ihnen zu begegnen haben, das vermitteln uns die zahlreichen Gipsbüsten, die in den prunkvollen Konzert- und Opernhäusern an ehrenvollen Orten platziert sind: verehrungsvoll, dankbar, um Verständnis bemüht. Es ist, als ob Beethoven & Co mahnend ihre Finger erhöben und uns zuriefen: Bemüht euch um uns, strengt euch an, gebt euch nicht mit trivialem und oberflächlichem Genuss zufrieden! Das Meisterwerk ist eine Herausforderung, eine Aufgabe, der du dich zu stellen hast. Und wenn du, wie unser Sitznachbar im Konzert, ein wenig im Einführungstext geschmökert hast und dich den Zumutungen namens »Exposition«, »Durchführung«, »Reprise«, »Tonartencharakteristik« usw. nicht gewachsen fühlst, worauf du diese Texte wegschiebst wie ein nachlässiger Schüler die Mathematikaufgabe, dann weißt du doch immerhin um dein Defizit Bescheid und zollst den Großen Respekt, ohne in das geheimnisvolle Innere ihres Werkkosmos eingedrungen zu sein!

Zweifellos gehört es zum kollektiven Charakter des Konzertpublikums, von der eigenen Kritikfähigkeit gering zu denken. Die Menge dessen, was man zumal in der »klassischen Musik« alles wissen könnte und sollte, bevor man sich zu einem fundierten kritischen Urteil fähig fühlen kann, ist eindrucksvoll: Bekanntlich existieren ganze Bibliotheken zu dieser Thematik, und wer Komponistenbiografien und musikhistorische Abhandlungen studiert hat, auf den warten immer auch noch Formen- und Harmonielehre, musikästhetische und -soziologische Analysen und vieles mehr. So nimmt es nicht wunder, im Gespräch mit Musikliebhabern immer wieder den kleinen Satz zu hören: »Von Musik verstehe ich nichts.« Man beachte: »Von Musik« – nicht etwa schlicht »die Musik«. Als ob das Bescheidwissen über Geschichtliches, Biografisches, Musiktheoretisches das Verstehen erst ermögliche, als ob es beim Verstehen nicht in erster Linie um das unmittelbare, persönliche Angesprochensein ginge.

Erlauben wir uns ein kleines Gedankenexperiment. Es sei uns gestattet, uns in die Rolle eines barocken Potentaten zu versetzen, eines jener absoluten Herrscher, die wussten, dass ihnen jedermann zu Diensten und zu Willen sein müsse, und dass am Hof bei Entscheidungen aller Art nur eine Richtschnur existierte: Gefällt es dem Regenten, ist es ihm recht? Nach dieser Richtschnur wird ringsum dekretiert: in der Gartengestaltung, in der fürstlichen Küche, in der Architektur und – natürlich – in der Musik. Der Herrscher sitzt lässig auf seinem prunkvollen Sofa, vor ihm hat der Hofkomponist mitsamt seiner Kapelle Stellung bezogen und schickt sich unter tiefen Bücklingen an, Proben seines Könnens zu geben. Was der Regent ihm zuruft, das mögen wir uns etwa so vorstellen: »Nun, Komponist, lass hören! Zeig, was du kannst! Biete mir Interessantes, unterhalte mich, erfreue mich, fessle mich! Alles ist dir erlaubt, nur eines nicht: mich zu langweilen. Ich höre mir deine Proben an, und dann entscheide ich, ob dein Bemühen erfolgreich war.«

Ob unser braver Hofkomponist die Zufriedenheit des Herrschers erlangen konnte, wissen wir nicht, und es muss uns hier auch nicht interessieren. Entscheidend für unser Thema ist die Attitüde, mit welcher der Herrscher an die Frage von Gefallen und Verstehen herangeht: Nicht er wird sich auf die Musik zubewegen, sondern die Musik hat sich um ihn zu bemühen. Aus dem Begriffsarsenal der Finanzverwaltung entlehnen wir ein Begriffspaar, das wenig musikaffin anmutet und dennoch hier brauchbar ist: Bringschuld und Holschuld. Für unseren Barockherrscher ist klar, dass seitens der Musik (und auch des Komponisten) eine Bringschuld besteht: Man hat ihn zu überzeugen, zu erfreuen und zu unterhalten, dann wird er den Daumen nach oben richten.

Und was halten wir davon, wir, die wir in musikalischen Dingen zutiefst im Geiste der Holschuld aufgewachsen sind? Wir, die wir in der Begegnung mit dem Werk der »Großen« nur allzu geneigt sind, die Schuld für Verständnisdefizite, für das »Nicht-Gefallen«, ausschließlich bei uns selbst zu suchen? Sozialisiert im Geiste der Holschuld, suchen wir bescheiden das Ungenügen bei uns, wenn wir etwas nicht »verstanden« haben, wenn wir uns – gestehen wir es uns überhaupt ein? – gelangweilt haben, wenn Musik, die wir als groß zu akzeptieren haben und auch akzeptieren, eindruckslos an uns vorübergezogen ist. Wir sind in diesem Punkt Endergebnisse eines »Megatrends«, einer Entwicklung, die vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart reicht und in der sukzessive und allmählich eine »Umkehrung der Beweislast« stattfindet: Nicht mehr der Komponist muss beweisen, dass er mit seinem Werk den Hörer zu fesseln und zu unterhalten vermag, sondern der Hörer hat sich des gebotenen Werks als würdig zu erweisen, er hat danach zu streben, dem Werk »gewachsen« zu sein.

Das ist in der Tat ein recht gravierender Wechsel der Perspektive. Und ein Blick in das 19. Jahrhundert zeigt, dass da einiges im Umbruch ist, dass wir beide Haltungen vorfinden. Das Publikum dieses Zeitraums kann sich noch durchaus in der Tradition unseres selbstbewussten Barockherrschers bewegen. So macht der gefeierte Geiger Louis Spohr zu Anfang des 19. Jahrhunderts an den Höfen von Braunschweig und Stuttgart die Erfahrung, dass es für die dem Hofstaat angehörigen Besucher eine Selbstverständlichkeit ist, während des Konzerts Karten zu spielen und Erfrischungen zu genießen. Wenn die gebotene Musik fesselnd und attraktiv ist, kann man ja kurz die Karten weglegen und hinhören. Spohr stellt in Stuttgart die Bedingung, dass während seiner Programmpunkte im Hofkonzert das Kartenspiel unterbleiben solle, was zwar als Anmaßung empfunden, aber schließlich gewährt wird. Vom elementaren Recht, an einem Werk keinen Gefallen zu finden und es durchfallen zu lassen, macht das Publikum des 19. Jahrhunderts immer wieder Gebrauch. 1877 erlebt Anton Bruckner mit der Uraufführung seiner Dritten Sinfonie in Wien ein Fiasko: Das Publikum verlässt während der Aufführung in Scharen den Saal. Aber bezeichnend im Vorgriff auf zukünftige Entwicklungen der Kommentar des Bruckner-Schülers Josef Schalk über seinen gedemütigten Lehrer: »Ihm, dem bescheidenen Manne, konnte ja nicht der Gedanke kommen, dass hier eigentlich das Publikum durchgefallen war.«1 Wahrhaftig eine zukunftsträchtige Bemerkung. Da ist er nun, der entscheidende Gedanke: Das Publikum ist dem genialen Werk nicht gewachsen, das Publikum fällt durch.

In anderer Form findet sich der Gedanke allerdings schon wesentlich früher. 1802 schreibt Johann Nikolaus Forkel die erste Bach-Biografie (Jahrzehnte vor der »Wiederentdeckung« der Matthäus-Passion durch Mendelssohn) und platziert am Schluss seiner Schrift einige Stichworte, die für die künftige Verehrungshaltung den »Großen« gegenüber von entscheidender Bedeutung sein werden. Da ist zum einen der Faktor des Nationalen, und mit ihm der Gedanke des nationalen Stolzes, zum anderen folgt aus solch erkannter Größe die Pflicht zu demütigem Bemühen um Erkenntnis. Forkel im Originalwortlaut: »Und dieser Mann – der größte musikalische Dichter und der größte musikalische Declamator, den es je gegeben hat, und den es wahrscheinlich je geben wird – war ein Deutscher. Sey stolz auf ihn, Vaterland, sey auf ihn stolz, aber, sey auch seiner werth!«2

Das Bemühen, des Schaffens der Großen »werth« zu sein, fasst in den Köpfen des Publikums nun allmählich Fuß. Es ist eine Haltung des Aufschauens, und dazu gibt es zunehmend Gelegenheit: Aufgeschaut wird etwa zu den Komponistendenkmälern, die in diesem Jahrhundert anfangen, die Städte zu bevölkern – für Mozart in Salzburg, für Beethoven in Bonn, für Bach in Leipzig. Im inneren Sinne aber schaut man ebenso auf zu den Werken der Großen, die nun in »Gesamtausgaben« erscheinen, meist in großformatigen, ledergebundenen, mit vergoldeten Lettern gezierten Bänden. Ehrfurcht ist hier am Platz, nicht überhebliches, unangemessenes Beharren auf eigenen Wert- und Geschmacksurteilen.

Ehrfurcht – Stichwort für einen Satiriker. Ephraim Kishon, unerschöpflich im Aufspüren kleiner menschlicher Unzulänglichkeiten und Eigenheiten, ist vom Effekt fasziniert, den der Name »Beethoven« auszulösen vermag. Ort der Handlung: der Hof einer Wohnhausanlage. Es ist bereits spät am Abend, die meisten Bewohner wollen schlafen, werden aber durch Musikklänge, die aus der Wohnung des Musikliebhabers Nathaniel Birnbaum strömen, daran gehindert. Manfred Toscanini, der Vorsitzende des Hausverwaltungskomitees, wird aufgefordert, für Ruhe zu sorgen. »Aufhören«, rufen die erbosten Bewohner, »Ruhestörung«, »Katzenmusik« … Da aber tritt Nathaniel Birnbaum auf den Plan, keineswegs mit einer Entschuldigung, sondern mit einer Anklage:

»›Wer ist der Ignorant‹, fragte Dr. Birnbaum mit volltönender Stimme, ›der die Siebente von Beethoven als Katzenmusik bezeichnet?‹ Stille. Tiefe, lautlose Stille. Beethovens Name schwebte zwischen den Häusern einher, drang den Bewohnern in Mark und Bein und wurde wie ein rasch wirkendes Gift von ihrem Nervensystem absorbiert. Manfred Toscanini, das Gesicht zu einer entsetzten Grimasse verzerrt, krümmte sich wie ein Wurm. Ich meinerseits trat einen Schritt vom Fenster zurück, um klarzustellen, dass ich mich mit seinem niveaulosen Verhalten in keiner Weise identifizierte.

Während all dieser Zeit blieb die himmlische Musik diskret hörbar. Dr. Birnbaum verabsäumte es nicht, seinen Sieg bis zur Neige auszukosten:

›Nun? Wo steckt der Analphabet? Für wen ist Beethovens Siebente Katzenmusik? Beethovens Siebente!‹ Verlegenes Räuspern. Beschämtes Husten. Schließlich flüsterte der schurkische Delikatessenhändler mit verstellter Stimme:

›Es war der Vorsitzende des Komitees.‹

›Ich gratuliere!‹ Der Hohn in Dr. Birnbaums Stimme war nur zu berechtigt.

›Ich gratuliere uns allen zu einem solchen Vorsitzenden!‹ Damit drehte er sich um und verschwand gelassenen Schritts in seiner Wohnung. Eine schwer zu beschreibende Welle kultureller Überlegenheit ging von ihm aus.«

Der Effekt von Birnbaums Anklagerede ist beachtlich: Beeindruckt vom Namen Beethoven, lauscht nun die Hausbewohnerschaft hingerissen den Klängen, die sie eben erst noch als Ruhestörung und Katzenmusik empfunden hatte. Zweifler äußern flüsternd ihre Bedenken:

»Nur der Jemenite Salah und sein Weib Etroga störten die weihevolle Stille mit ihrem Getuschel. ›Wer ist das?‹, fragte Etroga. ›Wer ist wer?‹ ›Dieser Herr … wie heißt er nur … Betovi …‹ ›Ich weiß nicht.‹ ›Muss ein wichtiger Mann sein, wenn alle solche Angst vor ihm haben.‹«

Die Schlusspointe enthüllt, was der Leser während der Lektüre bereits ahnen konnte: Auf die Musik selbst kommt es kaum an, entscheidend ist die »Marke« Beethoven.

»Die Musik kam noch einmal auf das Hauptthema zurück. Bläser und Streicher entfalteten sich in einer letzten, vollen Harmonie, ehe die unsterblichen Klänge endgültig verschwebten.

Ein Seufzer namenlosen Entzückens entrang sich den Lippen der Zuhörer. Augenblicke einer nahezu heiligen Stille folgten. Dann meldete sich der Ansager: ›Sie hörten die Suite ›An den Mauern von Naharia‹ von Jochanan Stockler, gespielt von der Kapelle der Freiwilligen Feuerwehr Petach Tikwah. Im zweiten Teil unseres Abendkonzertes bringen wir klassische Musik auf Schallplatten. Als erstes hören Sie Beethovens Siebente Symphonie in A-Dur.‹ Abermals Stille. Unheilschwangere Stille.«3

In einem Punkt freilich dürfte Kishons Story (»Überwältigung in A-Dur«), die in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts entstand, nicht mehr auf dem Stand der Gegenwart sein: Dass in einer Wohnhausanlage unserer Zeit der Name Beethoven eine ähnlich paralysierende Wirkung entfalten könnte, erscheint äußerst unwahrscheinlich. Transformiert auf ein heutiges »Bildungspublikum«, stimmen die Parameter aber noch recht gut.

Geradezu nüchtern freilich nimmt sich die Genieverehrung unserer Tage aus gegen die Idolatrie, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die Federn führt und im Hintergrund noch immer die Regulative des Denkens bestimmt. Um beim Beispiel Beethoven zu bleiben: 1903, knapp nach dem Ende dieses Jahrhunderts und noch ganz von seinem Geist erfüllt, schreibt Romain Rolland einen regelrechten Hymnus auf Beethoven, der – wohl kaum unbewusst – den verehrten Komponisten mit fast sakraler Inbrunst anspricht: »O Beethoven! Andere haben vor mir die Größe deines Künstlertums gepriesen, du aber bist mehr als der erste unter allen Musikern, du bist die Verkörperung des Heldentums in der ganzen modernen Kunst, du bist der größte und beste Freund der Leidenden, der Kämpfenden. Wenn das Elend der ganzen Welt uns überwältigt, dann nahst du dich uns, wie du dich einer trauernden Mutter nahtest, dich wortlos ans Klavier setztest und der Weinenden Trost reichtest in dem Gesang deiner ergebenen Klage. Und wenn uns Ermattung droht im ewigen nutzlosen Kampf gegen die Mittelmäßigkeit der Tugenden und der Laster, bist du der Ozean des Willens, des Glaubens, in den wir untertauchen, der unsere müden Glieder stärkt. Du gibst uns deine Tapferkeit, deinen Glauben daran, dass der Kampf Glück ist, dein Bewusstsein der Gottähnlichkeit.«4

Bei aller Unterschiedlichkeit der literarischen Gattung – was haben Kishons Satire und Rollands Hymnus gemeinsam? Es ist die Überzeugung, dass Beethovens überwältigender Nimbus eine Größe für sich ist, noch vor jeglicher individueller Begegnung und Befassung mit dem Werk.

Zur Kehrseite der Verehrungsposition Beethoven gegenüber (er fungiert hier als Stellvertreter für die »Großen« der Musikgeschichte) wird allerdings eine Absolutsetzung der Holschuld-Haltung dem »Titanen« gegenüber: Das Werk ist sakrosankt und über jeden Zweifel erhaben, die Schuld für Verständnisschwierigkeiten muss der Hörer bei sich selbst suchen. Wie wir uns eingangs beim Blick in die Konzertsäle der Gegenwart überzeugen konnten, tut er das auch.

Beethoven mag ein (vielleicht besonders eindrucksvoller) Einzelfall sein, aber die Grundhaltung des vorbehaltlosen Respekts gilt für alle Komponisten (auch Komponistinnen) des »Kanons«, der das Konzert- und Opernrepertoire der Gegenwart bestimmt. Gegenfrage: Ist er nicht etwas Gutes, etwas Erfreuliches, dieser Respekt in einer großteils respektlosen Zeit? Dieser Standpunkt der Verehrung gegenüber Großen im Reich der Kunst (und nicht der politischen Geschichte, wo »Größe« meist auf Hunderttausenden Toten beruht)? Ja, das ist er zweifellos, und es wäre eine Verkennung der Intention dieses Buches, würde es als Aufruf verstanden werden, die Achtung vor kulturellen Großleistungen zu mindern oder gar zu verlieren. Es geht um etwas anderes. Mit kritischem Blick ist nicht die Achtung als solche zu sehen, sondern eine Haltung der vorbehaltlosen Übernahme des gesellschaftlich Vermittelten, mit der den achtenswerten Werken der Vergangenheit nichts Gutes getan wird, denn sie laufen Gefahr, in ihrer abgehobenen Denkmalstellung ihr Leben zu verlieren, im Sarkophag ihrer Unsterblichkeit zu versteinern. Verehrung, die sich mit persönlicher Wertung und Aneignung verbindet, die die Holschuld des Bemühens, der Offenheit und der Konzentration einbringt und dennoch selbstbewusst auf der »Bringschuld« des Gebotenen besteht – das wäre ein Weg zu Meisterwerken der Vergangenheit, den zu beschreiten sich lohnt.

All dies ist allerdings leichter gesagt als getan. Unsere Fantasie versagt vor der Vorstellung, wir könnten Beethovens Neunter, Schuberts Unvollendeter, Wagners »Meistersingern« oder Verdis »Aida« – um ein paar der »Unbestrittenen« zu nennen – unmittelbar-naiv wie unbekannten Novitäten gegenübertreten, die sich anschicken, uns voraussetzungsfrei zu überzeugen. Aufgewachsen im kulturellen Kontext des Geschichtlichen, sozialisiert in der Welt der »Kanons« (seien sie kunstgeschichtlicher, literarischer oder musikalischer Art), ist uns die Unschuld des Voraussetzungsfreien genommen. Was wir kennenlernen, wird uns im Kontext von überlieferten Wertgebäuden vermittelt, ob uns das recht ist oder nicht.

Verabschieden wir uns daher von der Illusion, wir könnten aus dem Kontext der Überlieferung aus freiem Entschluss heraustreten, um Großes der Vergangenheit »ganz neu und unmittelbar« kennenzulernen. Unsere Fantasie muss andere Wege gehen. Etwa den Weg, innerhalb des historischen Kontexts zu bleiben und nach den Reaktionen zu fragen, die große Werke der Vergangenheit in ihrer Entstehungszeit hervorriefen, in einer Zeit, als sie noch nicht »groß« (weil noch nicht kanonisiert) waren und auf jene unbekümmerten Hörer stießen, die wir als Nachgeborene nicht mehr sein können. Dass uns dabei die »bösen«, die ablehnenden und kritischen Stimmen mehr interessieren als die zustimmenden, liegt an unserer spezifischen Fragestellung.

Um zeitgenössische Kritik an Musik also geht es, somit auch um die Kritiker und die »Verrisse«, mit denen sie manches Meisterwerk bedachten. Die manchmal latente, oft aber durchaus offene Respektlosigkeit, die bei diesem Tun zutage trat und tritt, zeigt, dass sie im Holschuld-Bringschuld-Verhältnis den Werken gegenüber eindeutig Position beziehen: Sie lassen es sich nicht nehmen, auf der Bringschuld der Komponisten zu bestehen. Erinnern wir uns des selbstbewussten Barockpotentaten (»Nun, Komponist, lass hören […] ich gebe dir die Chance, mich zu überzeugen«): Dies ist auch der Zugang des Kritikers, und er darf und soll es sein.

Kritik zu üben, wird allgemein – besonders, was die Betroffenen angeht – als eine mitunter notwendige, aber wenig sympathische Tätigkeit angesehen. Darin unterscheidet sich Musikkritik kaum von der Literaturkritik, und der bereits verstorbene, aber immer noch weithin bekannte Doyen der deutschen Kritikerszene, Marcel Reich-Ranicki, weiß in unzähligen Beispielen zu berichten, in wie hohem Maß die Kritisierten – darunter sehr prominente Autoren – das Urteil über ein Werk mit ihrer Person verknüpfen und in emotionale Spannung zum Kritiker geraten. Dies war, wenig überraschend, auch in früheren Epochen nicht anders, und als Beispiel für das Image der Kritiker im 19. Jahrhundert möge das ironische Gedicht »Abschied« Eduard Mörikes herhalten, das den unvermuteten Besuch eines Rezensenten beim Autor zum Inhalt hat: »Unangeklopft ein Herr tritt abends bei mir ein: ›Ich habe die Ehr, Ihr Rezensent zu sein.‹« Der unangemeldete und offensichtlich auch unliebsame Besucher beginnt, sich mit der Person des Autors zu befassen und nimmt insbesondere Anstoß an dessen Nase: »›Nun, lieber junger Mann, sehn Sie doch gefälligst mal Ihre Nas so von der Seite an! Sie geben zu, dass das ein Auswuchs ist.‹« In diesem Ton geht es weiter, bis dem Kritisierten die Sache zu bunt wird; er begleitet, scheinbar höflich, den Rezensenten bis zur Treppe, wo er seinen Revanchebedürfnissen freien Lauf lässt: »Wie wir nun an der Treppe sind, da geb ich ihm, ganz froh gesinnt, einen kleinen Tritt, nur so von hinten aufs Gesäße mit – Alle Hagel! Ward das ein Gerumpel, ein Gepurzel, ein Gehumpel!«

Wir dürfen annehmen, dass Mörike – als durchaus feinsinniger, verinnerlichter Poet bekannt – in dieser imaginierten, nicht sehr subtilen Racheaktion unzähligen Autoren und Komponisten aus der Seele gesprochen hat, wenn diese es auch tunlichst unterließen, solche Gefühle zu verbalisieren. Hugo Wolf, im »Nebenberuf« selbst gallig-zynischer Kritiker im Wiener Salonblatt, macht Mörikes Gedicht zum Lied, und mit Hingabe vertont er die Schlussverse als frisch-fröhlichen Gassenhauer: »Dergleichen hab ich nie gesehn, all mein Lebtage nicht gesehn einen Menschen so rasch die Trepp hinabgehn!« Wie nahe mag dies an der Gefühlslage sein, in der Anton Bruckner von »Hanslick et Consorten« schreibt, die seine Sinfonien »ruiniert« hätten, in der Richard Wagner Hanslick in den »Meistersingern« als Beckmesser karikiert, in der Richard Strauss von der »Schmierantenpresse« spricht. Selten besteht ein Liebesverhältnis zwischen Autoren und ihren Kritikern.

Musikkritik ist freilich kein fester und unwandelbarer Begriff; sie macht im Laufe der Geschichte einige Wandlungen durch, und dies hat mit grundsätzlichen Anschauungen zum Wesen von Musik zu tun. Vor der Erörterung dieser Frage sei aber – im Sinne eines kleinen Exkurses – die abstrakt scheinende, doch alle Musikschriftstellerei und somit auch das Rezensieren betreffende und ins sehr Konkrete führende Problematik angeschnitten, wie denn überhaupt über Musik geschrieben werden könne.

Dies mag die Leserinnen und Leser, die mir bis hierher gefolgt sind, doch einigermaßen verwundern. Warum, so wird man mir entgegenhalten, sollte ein Problem darin liegen, über Musik zu schreiben – es existieren doch bekanntlich ganze Bibliotheken zum Themenkreis der Musik im weiteren Sinne, und auch der Buchmarkt hat zum Stichwort Musik stets eine Fülle von Neuerscheinungen anzubieten. Ja, zweifellos: Im »weiteren Sinne« kann sehr viel über Musik mitgeteilt werden, über die Lebensläufe von Sängern und Dirigenten, über die Geschichte von Festspielen, über die Entwicklung von Instrumenten, über musiksoziologische Fragen und noch manches mehr. Aber uns geht es hier um die Frage, wie über die »Musik selbst« geschrieben werden kann, über das, was zwischen den Anfangstönen und den Schlussakkorden einer Sinfonie erklingt. Auch damit haben Musikfreunde Erfahrungen, denn jeder hat sich schon redlich bemüht, einer »Konzerteinführung« im Programmheft Erhellendes über die präsentierten Werke zu entnehmen – und oftmals festgestellt, dass man es dabei mit einer eher schwierigen, zwiespältigen Gattung von Schrifttum zu tun hat. Formtechnische Begriffe (wie »Exposition« oder »Reprise«) sind vermengt mit emotionalen: Hier spendet ein Seitenthema »Trost«, dort führt eine Stretta zum »jubelnden Abschluss«. Vermutungen, all dies hätte mit dem sprachlichen Unvermögen der jeweiligen Autoren zu tun, sind, wie hier vorausgeschickt sei, etwas ungerecht; das Problem liegt in der Sache selbst, in der Eigenheit von Musik, sich sprachlichem Zugriff weitgehend zu entziehen.

Wer dies bezweifelt, möge den Versuch machen, einem Gesprächspartner prominente Kunstwerke aus verschiedenen Gattungen durch Beschreibung näherzubringen, etwa Goethes »Faust«, Rembrandts »Nachtwache« und Mozarts »Kleine Nachtmusik«. Während es – vorausgesetzt, man kennt die genannten Werke einigermaßen – keine Schwierigkeit bereitet, den Handlungsinhalt des »Faust«, den Bildinhalt der »Nachtwache« mit dem Arsenal der »gehobenen Alltagssprache« zu vermitteln, wird dies Unterfangen im Falle Mozarts durchaus zum Problem. Es lockt die Versuchung, dem Gegenüber die Themen einfach durch Summen oder Pfeifen »begreiflich« zu machen – aber wir hatten ja das ehrgeizige Ziel, mit den Mitteln der Sprache auszukommen. Unversehens stoßen wir auf eine Erkenntnis, die wir uns bisher noch wenig klargemacht hatten: Musik ist eine ziemlich »weltferne« Kunst, sie bildet die uns umgebende Erfahrungswelt nicht (oder nur wenig) ab. Nur für die Erfahrungswelt aber besitzen wir ein sprachliches Instrumentarium, mit dem wir uns unserer Mitwelt unmittelbar verständlich machen können.

Seien wir nun milder gegenüber den Autoren gestimmt, die sich dem vertrackten Problem unterziehen, »allgemein verständlich« über erklingende Musik zu schreiben. Ja, ein gewisses Begriffsarsenal existiert natürlich – es wurde von Musikern für Musiker entwickelt, die sich über musikinterne Sachverhalte austauschen wollen. Denn »Form« ist nun einmal in der Musik (als einer zeitlich strukturierten Kunstgattung) ziemlich wichtig, und da kommen die bereits erwähnten Elemente wie »Exposition«, »Durchführung« etc. ins Spiel. Kein Zweifel, dass neben der Form und der Melodik auch die Harmonik eine bedeutsame Rolle spielt, und hier bezeichnen die Begriffe der »Tonika«, der »Dominante«, der »Diatonik«, der »Chromatik«, vielleicht auch des »Quartsextakkords« usw. entscheidende Sachverhalte – nur gehören sie nun einmal dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht an. Dumme Sache für den Autor »verständlicher« Texte über Musik: Etwas überspitzt gesagt, hat er nur die Wahl, unpräzise oder unverständlich zu sein.

Wer nun meint, man lasse am besten die Musiker selbst über Musik reden, denn diese seien doch in der Sache am kompetentesten, kann sich täuschen. Ein durchaus wortmächtiger Komponist wie Alban Berg – er weiß in einer Polemik gegen seinen Zeitgenossen Hans Pfitzner eloquent und rhetorisch elegant zu argumentieren – versteigt sich zu sprachlichen Ungetümen, wenn es gilt, musikalische Sachverhalte der »Gurre-Lieder« seines verehrten Lehrers Schönberg zu »verdeutlichen«. Ein Beispiel aus Bergs Analyse des »Liedes Waldemars« (mit Bezügen auf eine Motivtabelle):

»Man beachte, wie aus dem kleinen Motiv g durch Variation h wird, aus diesem wieder durch Vergrößerung der letzten zwei Takte von h wieder k, wie dieses Motiv in einer Imitation der Mittelstimme (Bratschen, Celli und Hörner) bei L und deren Ausläufern (Tromp.) m und n eine neue Gestalt erhält; wie schließlich der von der so entwickelten Melodie getragene Satz (A und B des Beispiels 13) mit dem ihm folgenden, eigentlich fremden Thema (C) periodenbildend, für die Gestaltung dieses C’s ausschlaggebend wird und dieser oft wiederholte Sechstakter (Beispiel 10) unter dem Einfluss der vorhergehenden melodischen Ereignisse und der harmonischen Verzögerung im sechsten Takt zu einem Achttakter (C) wird.«5 Und so weiter. Wer nun behauptet, diese Beschreibung hätte in ihm tatsächlich einen Musikabschnitt zu imaginärem tönenden Leben erweckt, darf sich entweder außerordentliche analytische Kompetenz zuschreiben – oder ein gespaltenes Verhältnis zur Wahrhaftigkeit. Gewiss, Berg bezieht sich auf Notenbeispiele. Doch diese lesen zu können, ist auch nur einem kleinen Teil des Publikums vorbehalten.

Dass man sich mit dem fachspezifischen, trocken und technisch anmutenden Vokabular, das für die Beschreibung musikalischer Sachverhalte zur Verfügung steht, kaum in die Herzen des Publikums schreiben kann, ist Musikschriftstellern seit langer Zeit bekannt. Was ist die Alternative? Nun, da bleibt nur die »emotionale Variante«: Der Autor teilt mit, was er beim Hören bestimmter Musik empfindet, und lädt sein Publikum ein, mit ihm zu empfinden. Um beim Beispiel der »Gurre-Lieder« zu bleiben, sei aus der Einführung Richard Spechts zitiert, die in der Tat in ihrem Bilderreichtum und ihrem emotionalen Duktus »Lesevergnügen« bietet: »[…] dieses Glitzern und Schweben, diese duftvoll zarte Dämmerstimmung in Tönen, in denen müde Meereswellen träumend an das von letzter Sonne beschienene Ufer zu schlagen scheinen, in denen die ruhevoll atmende Erde ihr Abendlied singt und deren leise rauschende, matt aufblitzende Einförmigkeit gleich einem köstlichen Naturlaut wirkt […] schon dieser Beginn schlägt alle in den Bann einer Selbstvergessenheit, die immer befreiender und immer beglückender alles Schwere und alles Unreine fortschwemmt.«6 Freilich: Über Motive, ihre Abspaltungen und Kombinationen, erfahren wir hier nichts.

Was hat all dies mit unserem Thema, der Musikkritik, zu tun? Auch Musikkritik sieht sich mit dem beschriebenen Dilemma konfrontiert: Soll technisch-fachspezifisch geschrieben werden, oder serviert der Kritiker dem Publikum seine Emotionen (»Das hat dieses Werk in mir ausgelöst, so habe ich es empfunden«)? Beides wurde praktiziert, oft auch kombiniert. Als eine der berühmtesten Besprechungen der Musikgeschichte gilt die Rezension, die E. T. A. Hoffmann 1810 in der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung über Beethovens Fünfte Sinfonie schreibt. Es handelt sich keineswegs um einen Verriss, sondern um eine von höchstem künstlerischen Einverständnis zeugende Werkbesprechung, in der gleichwohl die beiden erwähnten Sprachebenen geradezu unvermittelt nebeneinander stehen. Hoffmann, zunächst ganz mitempfindender Dichter, gibt eingangs einen metaphernreichen Überblick zur zeitgenössischen Sinfonik, als deren Gipfelpunkt er Beethoven sieht (Anmerkung: Die beliebte, oft zum Klischee erstarrte Behauptung, große Kunst sei zu ihrer Entstehungszeit stets verkannt worden, lässt sich mit unzähligen Beispielen widerlegen): »So öffnet uns auch Beethovens Instrumental-Musik das Reich des Ungeheueren und Unermesslichen. Glühende Strahlen schießen durch dieses Reiches tiefe Nacht, und wir werden Riesenschatten gewahr, die auf- und abwogen, enger und enger uns einschließen, und alles in uns vernichten, nur nicht den Schmerz der unendlichen Sehnsucht, in welcher jede Lust, die, schnell in jauchzenden Tönen emporgestiegen, hinsinkt und untergeht, und nur in diesem Schmerz, der Liebe, Hoffnung, Freude in sich verzehrend, aber nicht zerstörend, unsre Brust mit einem vollstimmigen Zusammenklange aller Leidenschaften zersprengen will, leben wir fort und sind entzückte Geisterseher.« Kurz darauf aber geht es konkret um den musikalischen Sachverhalt: »Das erste Allegro, 2/4 Takt C Moll, fängt mit dem aus zwey Takten bestehenden Hauptgedanken, der in der Folge, mannigfach gestaltet, immer wieder durchblickt, an. Im zweyten Takt eine Fermate; dann eine Wiederholung jenes Gedankens einen Ton tiefer, und wieder eine Fermate; beyde Male nur Saiteninstrumente und Klarinette.« Ja, wir nehmen es mit Erstaunen zur Kenntnis: Auch E. T. A. Hoffmann, der Dichter des »Kater Murr« und des »Fräuleins von Scuderi«, der beredte und wortgewaltige Schilderer abseitiger Seelenzustände, verfügt bei der Beschreibung musikalischer Sachverhalte nur über die trockene, technische Sprache der Musikanalytik, die hier (in einer ausgewiesenen Musikzeitschrift) wohl am Platz ist, an der Fassungskraft des »Normalpublikums« mit einiger Sicherheit aber vorbeigeht.

Den zwei Sprachebenen entspricht die Spannweite der publizistischen Befassung mit Musik, die nach Anfängen im 18. Jahrhundert im darauffolgenden Jahrhundert immer mehr zu einem eigenen literarischen Genre wird. Eher »technisch« sind die frühen Musikrezensionen angelegt, und dies hat mit den Qualitätskriterien der Zeit zu tun; die Frage nach der künstlerischen Qualität ist gleichbedeutend mit der nach der satztechnischen Stimmigkeit. Als Kritiker betätigen sich Fachleute des musikalischen Satzes, ein Johann Mattheson, ein Friedrich Wilhelm Marpurg, ein Johann Adolf Scheibe. Ganz ohne Polemik geht es freilich bereits in der Frühzeit nicht ab. Scheibe liefert ein Beispiel, wenn er an Johann Sebastian Bach (der später, im 19. Jahrhundert, bereits als ein unantastbarer Säulenheiliger gelten wird) einiges auszusetzen hat: »Dieser große Mann würde die Bewunderung ganzer Nationen seyn, wenn er mehr Annehmlichkeit hätte, und wenn er nicht seinen Stücken durch ein schwülstiges und verworrenes Wesen das Natürliche entzöge, und ihre Schönheit durch allzugroße Kunst verdunkelte.«7