Verschickungskinder - Lena Gilhaus - E-Book

Verschickungskinder E-Book

Lena Gilhaus

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Beschreibung

Über 15 Millionen Mal wurden Kinder in der BRD und der DDR seit 1945 zur Kur geschickt. Für viele von ihnen waren diese Wochen prägend – und doch haben sie kaum darüber geredet. Dieses Buch erzählt die wenig bekannte Geschichte der deutschen Verschickungskinder. Als die Journalistin Lena Gilhaus durch Zufall davon hört, dass ihr Vater als Kind in Kur geschickt wurde, beginnt sie zu recherchieren. Sie veröffentlicht eine erste Recherche über Kinderkuren und löst damit eine Lawine aus: Menschen von überall melden sich und erzählen von eigenen Erfahrungen. Lena Gilhaus folgt den Spuren weiter und stößt auf ein verdrängtes Kapitel der Nachkriegsgeschichte. Millionen Kinder aus der BRD und der DDR verbrachten einen Teil ihrer Kindheit in Heimen, an der Nord- und Ostsee, in den Bergen und auch im Ausland. Sie sollten dort zu Kräften kommen und gesund werden – viele erlebten diese Zeit aber als Grauen. Erst in den 70er- und 80er-Jahren änderten sich die Kurkonzepte langsam. Wo liegen die historischen Wurzeln der Kinderverschickung? Hat der Nationalsozialismus Spuren hinterlassen? Wie waren die Kuren organisiert, wer finanzierte sie – und wer profitierte davon? Wie war der Alltag, was erlebten die Kinder dort – und welche Tiefenwirkungen hatte das für die Gesellschaft der Nachkriegszeit? Spannend, anschaulich und erschütternd: Lena Gilhaus erzählt anhand unveröffentlichter Dokumente und vieler Erlebnisberichte die verdrängte Geschichte der Kinderkuren.

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Seitenzahl: 408

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Lena Gilhaus

Verschickungskinder

Eine verdrängte Geschichte

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Lena Gilhaus

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Vorwort

1. Kinderverschickung

I Wo alles anfing

2. Erholen und Zunehmen

II Zugfahrt nach Sylt

3. »Der Zug der Tränen«

III Ankunft in Wenningstedt

4. Steckrüben in der Bodenvase

IV Auf der Seestraße

5. Liegen, Luft, Marschieren

6. Machtmissbrauch und Laissez-faire

6.1 Tatort Timmendorfer Strand

6.2. Haus Hamburg in Bad Sassendorf:

7. Die Geschichte der Kinderkur

7.1 »Der Arzt als Erzieher des Kindes«

7.2 »Schule für gesunde Lebenshaltung«:

7.3 Fahnenmarsch und Führerkult:

7.4 Der Wiederaufbau:

V Endlich wieder zusammen

8. Rückkehr nach Hause

9. Weniger Hiebe, mehr Liebe

10. Hohe Mauern

VI »Ich bin nicht mehr das kleine Kind«

Dank

Quellenverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Für Theo

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Immer wieder hat mein Vater von einer Kinderkur auf Sylt erzählt. Von sechs Wochen Heimweh, Essen und täglichem Drill. Als kleines Kind klang das für mich furchtbar: so lange weg von den Eltern, das konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen. Genauer nachgefragt habe ich nicht.

2016, ich war inzwischen Journalistin, fielen mir die Geschichten dieser Landverschickung, wie mein Vater es nannte, wieder ein. An Weihnachten wollte ich genauer wissen, was er in der Kinderkur erlebt hat. Ich lauschte seinem Bericht gebannt und erschüttert und fragte mich danach: Was waren das für Kuren, in die in den Jahrzehnten nach 1945 massenweise Kinder verschickt wurden? Ich wollte mehr wissen – und fand: nichts. Bis auf das Buch »Schwarze Häuser« der Berliner Kinderbuchautorin Sabine Ludwig, das auf ihrer eigenen Kurerfahrung auf Borkum beruht, gab es keine Literatur, keine Untersuchung über die Kinderkuren nach dem Zweiten Weltkrieg. Als hätte es sie nie gegeben.

Als ich im Bekanntenkreis von meiner Spurensuche erzählte, meldeten sich immer mehr Menschen mit ganz ähnlichen Geschichten, im Internet stieß ich dann auf Hunderte Berichte ehemaliger Kurkinder über Erholungsheime und Sanatorien von der See bis in die Alpen. Sie erzählten, dass sie dort viele Wochen fern der Heimat verbringen mussten, erinnerten sich an lange Reisen und strenge Tagespläne, einige wenige fanden es dort schön, aber viele erlebten diese Zeit als verstörend.

Was sich bei meinen Recherchen 2017 schon abzeichnete, war, dass die ehemaligen Kurheime, meist abgeriegelte Einrichtungen in wenig besiedelten Gebieten, ein großes Einfallstor für Machtmissbrauch boten. Aber beim Versuch, die Verantwortlichen dafür zu finden, stieß ich auf Mauern des Schweigens. Als ich einen Franziskanerinnen-Orden aus Thuine mit Gewaltvorwürfen ehemaliger Kurkinder in ihren Einrichtungen konfrontierte, bezeichnete die Generaloberin die Erinnerungen der Kurkinder als »Konglomerat von unterschiedlichen Empfindungen, Gefühlen und Beobachtungen«; man tue den Kurheimen insgesamt unrecht. Die beschriebenen Gewalterfahrungen erklärte sie zu typischer Erziehung der 50er- und 60er-Jahre. Dabei hat es die Erholungsheime nicht nur nach dem Krieg gegeben: Bis in die 90er-Jahre fuhren Kinder allein zur Kur.

Bald darauf veröffentlichte ich Reportagen über die Erfahrungen ehemaliger Kurkinder. Meine Beiträge aus dem Jahr 2017, zuerst im Deutschlandfunk[1], dann in der Zeit[2] und im WDR, lösten eine riesige Welle von Reaktionen aus. Da es zu der Zeit die einzige Recherche zu den Kinderkuren war, meldeten sich immer mehr Menschen bei mir und erzählten von ihren Erlebnissen. Vielen schien es ein großes Bedürfnis zu sein, ihre Erinnerungen zu teilen und mehr über die Zeit zu erfahren. Sie suchten Informationen zu den Heimen, andere Kurkinder oder Literatur zum Thema.

Ich beschloss, ein Buch zu schreiben, sprach mit vielen ehemaligen Kurkindern und sammelte Berichte, doch als ich zu den Hintergründen zu recherchieren begann, nach Verantwortlichen suchte und nach den Trägern, die die Reisen organisierten, stieß ich schnell an Grenzen. Die Stiftung Bahn-Sozialwerk, wie das Bundesbahn-Sozialwerk (BSW) heute heißt, das meinen Vater verschickt hat, und auch andere ehemalige Träger und Gemeinden, die ich anfragte, wollten nichts mehr von den Kinderkurheimen wissen, die sie einst betrieben hatten. Bekannt war weder, wer die Kuren organisiert hatte, noch, wer Unterlagen besitzen könnte. Die Recherche steckte fest.

Doch in den Folgejahren meldeten sich immer mehr ehemalige »Verschickungskinder«, wie sie sich heute nennen, öffentlich zu Wort, und Politiker:innen griffen das Thema auf, gaben sich bestürzt über Vorwürfe strenger Zucht in den Kinderkurheimen. Als ich die Thuiner Franziskanerinnen erneut mit den Berichten konfrontierte, räumte der Orden schließlich doch Gewalt in seinen Heimen ein – genauso die Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK), die dies zuerst abgestritten hatte und zu keinem Statement bereit war. Unter dem zunehmenden Druck wurden nach und nach Archive geöffnet. Und hier fanden sich dann doch Unterlagen, deren Existenz vorher abgestritten worden war. Der Weg zu einer tatsächlichen Aufarbeitung wurde nicht länger versperrt.

Ich bin in den vergangenen Jahren erneut auf Spurensuche gegangen, um Licht in ein verdrängtes Kapitel unserer Alltagsgeschichte zu bringen. Ich habe Aktenberge studiert, jahrhundertealte Erziehungsratgeber und Fachzeitschriften gelesen und mit zahlreichen Verschickungskindern, Verantwortlichen und Expert:innen gesprochen.

Anhand unveröffentlichter Dokumente und vieler Erlebnisberichte erzählt dieses Buch die verdrängte Geschichte der Kinderkuren. Davon, was Kinder in den Kurheimen erlebt haben. Von den Zugreisen in die entlegenen Orte an der See, in den Bergen oder auch mitten in Nordrhein-Westfalen. Vom Personal, das sie begleitet hat, von der Ankunft am Kurort und den »Tanten«, die sie empfingen. Von Mast-, Luft- und Liegekuren, von Toilettenverbot und Strafen, von langen Märschen am Strand und Briefzensur, von nüchternen Verwaltern und einfühlsamen Praktikantinnen und von grenzenlosem Heimweh. Das Buch untersucht Ausmaß, Organisation und Finanzierung der Kinderkuren und es erzählt von Machtmissbrauch und brutaler Gewalt, von Todesfällen und ihrer Vertuschung. Hinter all diesen Geschichten stehen keine Einzelfälle, sondern ein System – Konzepte und Strukturen, die tief in unserer Gesellschaft verwurzelt sind.

Ich erzählte meinem Vater von den Recherchen, von meinen Funden und meinen Fragen. Und spürte, dass ich damit an lang verdrängten Erfahrungen rührte. Auch er begann, sich mit dem Thema Kinderkur auseinanderzusetzen, und beschloss, noch einmal zum Ort seiner Verschickung zu fahren. Zusammen mit mir, um gemeinsam nach Antworten zu suchen.

Und so ist dieses Buch die Geschichte einer doppelten Reise: einer Fahrt nach Sylt mit meinem Vater, der seine Erinnerungen überprüfen will. Und einer Suche nach den Spuren, die die Kinderkuren in Deutschland hinterlassen haben.

Anmerkung

Für dieses Buch habe ich viele Verschickungskinder zu Hause besucht oder mit ihnen telefoniert und Interviews geführt und aufgezeichnet. Manche Zeitzeug:innen haben ihre Berichte auch selbst aufschreiben wollen und mir geschickt, wiederum andere Erfahrungsberichte stammen aus öffentlich zugänglichen Online-Foren, in denen ehemalige Kurkinder seit Jahren ihre Erfahrungen teilen. In diesem Buch nenne ich alle Protagonist:innen der Einfachheit halber beim Vornamen, wer nicht mit seinem echten Namen erscheinen wollte, ist mit * gekennzeichnet.

Inhaltsverzeichnis

1.Kinderverschickung

Eine Einführung

»Heute reißt der Strom der Kinderentsendungen nach den Heimen und Heilanstalten nicht ab«, schreibt Die Welt am 18. Oktober 1949, fünf Monate nach der Gründung der BRD. Bis 1950 sollen bundesweit 350.000 Kinder verschickt werden.[3] Dieser Strom wird in den kommenden Jahren immer stärker. Die 50er- und 60er-Jahre sind die Hochphase der Kinderkur. In den 50ern werden in der BRD jährlich zwischen einer halben Million[4] und 650.000[5] Mädchen und Jungen in Sonderzügen zur Kur verschickt. Hinzu kommen noch Kinder, die in regulären Zügen oder Bussen reisen.[6] Mit rund 12 bis 13 Millionen Verschickungen ist nur die Zahl der Kuren bis in die 90er-Jahre anhand der Kindersonderzugfahrten und Bettenkapazitäten der Heime annähernd schätzbar; die Zahl der Kurkinder lässt sich daran nicht ablesen, weil einige mehrmals verschickt werden.

In der sehr viel kleineren DDR mit einer Bevölkerung von unter 20 Millionen schickt die Sozialversicherung immerhin 2,6 Millionen Mal Kinder in Heilkuren oder zur Prophylaxe. 70.000 bis über 100.000 Kinderkurdurchläufe soll es im Jahresdurchschnitt gegeben haben – um die 60.000 noch in den 80er-Jahren.[7] Bezogen auf den Bevölkerungsanteil kommen in DDR und BRD über die Jahre etwa gleich viele Kinder zur Kur. Auch in Österreich und der Schweiz liegen damals Kinderkurheime, an der Adria oder auf Zypern, die deutsche Kinder aufnehmen.[8] Bis in die 90er-Jahre finden innerhalb der BRD, der DDR und im Ausland schätzungsweise über 15 Millionen Kinderkuren statt.[9]

Das Kurprogramm ist in beiden deutschen Ländern ähnlich. Es wird unterschieden, ob es um reine Erholung geht, von schlechter Luft, Alltagsstress oder falscher Ernährung, oder um das Ausheilen von Krankheiten.

Mit Erholungskuren ist in BRD und DDR eine meist sechswöchige Heimunterbringung gemeint, mit dem Zweck der Prävention. Die Kinder sollen aufgepäppelt werden und zunehmen, sie bekommen viel zu essen und verbringen Zeit an der frischen Luft. Wenn die Ärzt:innen Kinder als krank oder geschädigt einstufen, wie es damals heißt, kommen sie zur Kur in ein Genesungsheim[10], in eine Kinderheilanstalt, -stätte, -klinik oder in ein Kindersanatorium. Die Heilkuren dauern bis zu drei Monate und sollen relativ unspezifische Krankheitsbilder heilen: wie Asthma, Bronchitis, Neurodermitis, Schiefwuchs, Ernährungsschäden, Entwicklungsstörungen oder Infektanfälligkeit.[11] Zielgruppe sind überwiegend sechs- bis 14-jährige Großstadtkinder. Aber auch weitaus jüngere und ältere Jugendliche.[12] Hautkrankheiten oder Atemwegsinfekte gehören zu den häufigsten Indikationen, andere sind Bettnässen, Appetitlosigkeit, Haltungsschäden oder Stützgewebeschwächen.[13] Eindeutige Kriterien zur Unterscheidung von kranken oder nur erholungsbedürftigen Kindern gibt es jedoch nicht.

Der Erfolg beider Kurarten wird nur an zwei Kriterien gemessen: der Gewichtszunahme und dem Längenwachstum der Kinder vor und nach der Maßnahme, kurioserweise auch bei den medizinisch indizierten Kuren. Teilweise geben Ärzte als Kurerfolg auch eine Zunahme der »Atmungsbreite« – heute »Atembreite« – aus [14], wobei der Brustumfang beim Einatmen gemessen wurde.

Eine Gesamtzahl der Einrichtungen ist für die lange Zeitspanne des Kinderkursystems, das sich immer wieder wandelte, nicht zu ermitteln. Für das Jahr 1964 sind rund 1.143 Kinderheilstätten in Deutschland, Österreich und der Schweiz verzeichnet[15] – einzelne Schätzungen lassen höhere Zahlen vermuten, zwischen 600 und 1.000 Kinderkurheime lagen demnach allein in Baden-Württemberg.[16] In der DDR soll es in den 50er-Jahren zwischen 144 und 552 Kurheime gegeben haben.[17]

Die Durchführung der Kuren obliegt in der BRD den Ländern. Die Kindererholungsheime unterstehen den Landesjugendämtern und den Kreisjugendämtern[18] in enger Kooperation mit den kommunalen Gesundheits- und Jugendämtern. Für die Heilstätten hingegen gilt das Krankenhausgesetz.[19]

Kinderärzt:innen wählen in BRD und DDR die Kurkandidat:innen aus. Häufig wird bei der Schuleingangsuntersuchung die »Erholungs-« oder »Heilkurbedürftigkeit« eines Kindes festgestellt. Manchmal ermitteln auch Fürsorgerinnen den Kurbedarf. Fürsorgeerziehung ist die veraltete Bezeichnung für die staatliche Kinder- und Jugendhilfe. Im Auftrag der Jugendämter führen die Fürsorgerinnen Kinder staatlicher Zwangserziehung zu, wenn Eltern nach Ansicht der Behörden dazu nicht in der Lage sind. Sie veranlassen sowohl dauerhafte Fremdunterbringung von Kindern in Heimen im Rahmen von Sorgerechtsentziehungen als auch temporäre Unterbringung in Kinderkurheimen. Die Fürsorgerinnen besuchen Familien zu Hause, ermitteln gesundheitliche oder erzieherische Bedarfe und verweisen Eltern an Gesundheitsämter und Ärzt:innen weiter, die Kinderkuren verschreiben.[20] Auch Lehrer:innen, Erzieher:innen oder Geistliche empfehlen und vermitteln Kinderkuren.

Auch der Bund ist involviert. Er stellt in der BRD finanzielle Mittel für Kinderkuren bereit. Aus dem Bundeshaushalt werden Arbeitshilfen für die Förderung der Kinder- und Jugenderholungspflege finanziert: für Bauvorhaben und die pädagogische Arbeit, die Schulung und Beschäftigung der Mitarbeitenden. Der Bund sponsert auch Fahrten mit der Bundesbahn oder subventioniert Ernährungslehrgänge für die Angestellten der Kurheime. [21]

Bis in die 80er-Jahre sind die Kindererholungskuren Satzungsleistungen, somit kann jede Krankenkasse für sich entscheiden, ob sie die Kinderkuren ganz oder teilweise finanziert.[22] Heilkuren in Spezialeinrichtungen sind auch noch Ende der 80er-Jahre Pflichtleistungen, die jede Krankenkasse zu erbringen hat.[23] Auch Wohlfahrtsverbände[24] oder die Rentenversicherungen tragen Kosten und erhalten zum Ausgleich Steuergelder.[25] Wenn Eltern den Eigenanteil nicht bezahlen können, übernehmen Sozial-, Gesundheits- und Jugendämter die Rechnung.[26]

Bei den Landesjugendämtern gibt es Kinderfahrtmeldestellen. Sie verhandeln Preise mit der ehemaligen Deutschen Bundesbahn, planen Sonderzüge, verhandeln kostengünstige Tarife und vereinbaren einheitliche Beförderungsregelungen für die Kinder und ihre Begleiter:innen.[27] Die extra eingesetzten Sonderzüge sammeln die Kinder an Sammelpunkten ein und lassen sie in verschiedenen Kurorten in einer Region wieder raus. Die Entsendestellen, häufig in kommunaler Trägerschaft oder der Freien Wohlfahrtspflege, Krankenkassen und Werksfürsorge der Privatwirtschaft zugehörig[28], führen die Reisen mit den Kindergruppen durch. In der Regel Frauen, häufig Fürsorgerinnen aus den kommunalen Jugendämtern oder Freiwillige, betreuen während der Reisen häufig zehn Kinder gleichzeitig.[29]

In der BRD veröffentlichen die Landesjugendbehörden jedes Jahr Kurpläne und sichern die Belegung der Heime mit Kindern aus ihrer Region. Gleichzeitig haben sie ab Inkrafttreten des Jugendwohlfahrtsgesetzes von 1962 die Aufsicht über die Anstalten und müssen das »leibliche, geistige und seelische Wohl der Minderjährigen« gewährleisten.[30] Es gibt auch Kinderkuranstalten, die von der Heimaufsicht befreit sind und als Privatkliniken gelten.[31] Die Heime sind überwiegend in Trägerschaft von Privatpersonen, katholischen oder evangelischen Wohlfahrtseinrichtungen, der Inneren Mission, wie früher die Diakonie genannt wurde, Freier Träger, Arbeiterwohlfahrt, Städten, Landkreisen, Werksfürsorge oder des Deutschen Roten Kreuzes.[32] Zusammengefasst: Träger des gesamten politischen und weltanschaulichen Spektrums machen bei den Kinderverschickungen mit.

In der DDR ist die Kinderverschickung zentraler organisiert, die Ministerien für Volksbildung und für das Gesundheitswesen bestimmen stärker mit. Sie geben den Landesbehörden Weisungen und nehmen direkten Einfluss auf die Heimerziehung.[33] Anfang der 50er-Jahre werden die Heime noch von der Inneren Mission, Kommunen, Kreisen, der Volkssolidarität und Privatpersonen getragen. Ab Mitte der 50er-Jahre übernehmen die Sozialversicherungen oder die volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betriebe und das Ministerium für Gesundheitswesen fast alle Kinderkurheime.[34] Für die Durchführung sind die Sozialversicherungsanstalten der Länder zuständig.[35] Das Ministerium für Volksbildung ist weiterhin verantwortlich für die Auswahl, Ausbildung und Weiterbildung und Bezahlung der Erzieher:innen und die Kontrolle der pädagogischen Arbeit.[36]

Die Veranstalter in BRD und DDR versprechen den Eltern damals, dass die Kinder gestärkt von der Kur zurückkehren werden – und fünf bis zwanzig Pfund schwerer.[37] Dass die Erholungsreisen viele Kinder stattdessen schwer belasten, darüber hat mein Vater 2017 als einer der Ersten öffentlich gesprochen.

Inhaltsverzeichnis

IWo alles anfing

Treffen in Dortmund Hauptbahnhof

Münster-Süd, ein Morgen im Oktober 2022, es ist noch dunkel: Mein Vater, Matthias Vollmer, den alle Matthes nennen, sitzt neben mir im Auto. Wir fahren auf den Autobahnzubringer Richtung Innenstadt. Er verstaut eins der Salamibrötchen, die ich gerade beim Bäcker gekauft habe, und lässt noch mal den gestrigen Abend mit seiner Fußballtruppe in der Turnhalle Revue passieren. Beim Bier hätten alle wissen wollen, worum es bei unserer Reise geht. Mit den Freunden Fußball spielen, das ist seit vierzig Jahren ein fester Termin. Egal was ist, er muss sonntags spätestens um 17.30 Uhr in der Halle sein. Inzwischen sind viele seiner Mannschaftskollegen über 60, so wie mein Vater, manche haben sie schon zusammen beerdigt. Das Motto jedes Spielabends: Wenn das Licht ausgeht, gehen wir nach Hause: Die Hallenlampen haben Bewegungsmelder. Schon komisch, dass ich gestern Abend zum ersten Mal zugeschaut habe. Einer seiner Weggefährten hat mir zum Abschied die Hand auf die Schulter gelegt und gescherzt, »Das Kurheim hat deinem Vater nicht geschadet!«. Mein Vater würde das vielleicht anders sehen.

Wir kommen im blassen Morgenlicht am Dortmunder Hauptbahnhof an und warten vor dem Nordeingang auf Barbara, meine Tante, die jüngere Schwester meines Vaters. Der Wind bläst ihm die weißen Haare in den Nacken, er hält den Koffer fest und blickt auf die Rolltreppe, als Barbaras weißer Lockenkopf auftaucht. Sie trägt einen grünen Mantel, mein Vater eine knallrote Steppjacke. Mit den weißen Haaren, der bunten Kleidung und den großen, dünnen Brillengestellen sehen sich die beiden Geschwister so ähnlich wie nie zuvor.

Als sie bei uns ist, stellt sie den Rollkoffer ab und umarmt erst ihren Bruder, dann mich. Wir trinken noch einen Kaffee im Bahnhofscafé und gehen dann hoch auf den Bahnsteig, um in der Morgensonne auf den ICE nach Hamburg zu warten. »Cool, dass wir beide das machen, Babse«, sagt mein Vater und klatscht mit ihr ab. Babse, so wie sie von klein auf in der Familie heißt, nimmt ihren Bruder in den Arm und muss weinen.

Hier, am Dortmunder Hauptbahnhof, begann vor fast sechzig Jahren ihre Kinderkurreise nach Sylt und heute kehren sie das erste Mal gemeinsam zurück. An einen Ort, der sie bis heute nicht loslässt.

Im Frühjahr 1967 sind die beiden vor der Abreise fröhlich und aufgeregt. Wochenlang hat ihre Mutter die Initialen in jedes Kleidungsstück gestickt und mein Großvater ihnen immer wieder von dem Meerwasserwellenbad auf Sylt vorgeschwärmt. Es war der Kinderarzt, der zu einer Kinderkur auf Sylt geraten hat, damit die Kinder zunähmen und sich bei Spiel, Spaß und gutem Essen an der Nordsee vom verrußten Ruhrpott erholen könnten – vom Kohlestaub der Zeche Germania, der die Wäsche auf den langen Leinen im Garten regelmäßig schwarz färbte.

Das Bundesbahn-Sozialwerk (BSW) organisiert die Verschickung der beiden Geschwister, eine Einrichtung, der die Eisenbahnerfamilie vertraut. Denn das BSW verbinden die beiden Geschwister mit ihrem Jahreshighlight: dem Weihnachtskino, in dem der Nikolaus den Eisenbahnerkindern einen Film zeigt und Süßigkeiten bringt. Mein Großvater war selbst 1938 über das Sozialwerk auf Norderney zur Kur. Kurz vor seinem Tod vor ein paar Jahren hat er mir davon erzählt.

»Ich konnte mich nicht beklagen, wir sollten schwimmen lernen, sind gewandert und haben genug zu essen bekommen. Und ich hatte das Vergnügen, in ein Flugzeug steigen zu dürfen – in einen Doppeldecker, weil eine der Erzieherinnen den Piloten kannte.«

Barbara ist sich heute nicht sicher, ob die Kur nur zum Erholen gedacht war. Sie vermutet, dass ihre Reise auch Vater und Mutter entlasten sollte. Meine Großmutter war oft krank, musste mehrfach operiert werden. »Sie lag häufig weinend auf der Couch, bedürftig nach Zuwendung«, sagt Barbara und gibt dieser Krankheit einen Namen: »Depression«. Und mein Großvater, das ist kein Geheimnis in unserer Familie, war viele Jahre Alkoholiker und wurde erst trocken und dann tatsächlich bis zu seinem Tod, als die Kinder erwachsen waren. Als ihre beiden ältesten Kinder zur Kur sollten, durchlebten die Eltern gerade eine ziemliche Krise.

Inhaltsverzeichnis

2.Erholen und Zunehmen

Das Allheilmittel Kinderkur

»Da wachsen Kinder auf an Fensterstufen, die immer in demselben Schatten sind, und wissen nicht, daß draußen Blumen rufen zu einem Tag voll Weite, Glück und Wind, – und müssen Kind sein und sind traurig Kind.«[38]

Mit diesem Gedicht von Rainer Maria Rilke beginnt der Film »Sonderzug für blasse Kinder«.[39] Vor Backsteinhäusern und Straßenbahnschienen, zwischen Wäscheleinen und dampfenden Schloten, in Hinterhöfen, auf Schotterplätzen und Gärten spielen Kinder in Latzcordhosen und kurzen Kragenkleidern, werfen lachend Kieselsteine oder teilen sich ein Picknick auf der Wiese. Unglücklich seien sie nicht, sagt der Sprecher, aber müde:

»Reine Luft und blauer Himmel fehlen. Nun, anderswo gibt es besseres Klima. (…) Und so schickt man Kinder, denen der Arzt bescheinigt hat, dass ihnen ein vorübergehender Ortswechsel guttäte, für sechs Wochen in die Kinderkurheilfürsorge.«[40]

Wie es den Ruhrgebietskindern damals tatsächlich geht, das ist heute nicht mehr zu ermitteln. Karlheinz ist jedenfalls nicht müde. Er wohnt Anfang der 50er-Jahre mit Großvater, Eltern und Schwester in einer kleinen Wohnung ohne eigenes Zimmer. Die Freiheit auf den Straßen ist sein Ausgleich zum beengten Zuhause. Für ihn ist Dortmund ein Abenteuerspielplatz, dort kontrolliert ihn niemand.

»Wir haben die Zeit damit verbracht, Putz von Steinen zu klopfen, Schrott, Lumpen und Papier zu sammeln und zu Geld zu machen. Zweimal die Woche, wenn Markt war, habe ich auch die Holzkisten, die überbleiben, gesammelt, zerhackt und dann als Brennholz verkauft. So hat man dann Geld für Kino oder Süßigkeiten gehabt.«

Als Einjähriger noch pummelig, isst er nach einer Magen-Darm-Entzündung als Kleinkind nicht mehr richtig. Der Kinderarzt warnt die Eltern: Ohne Kur werde Karlheinz versterben, zu Hause könne er nicht aufgepäppelt werden. In der Kur komme der Junge an die Sonne und erhalte gutes Essen – beides fehle den Ruhrgebietskindern im Allgemeinen.

Hilfe für Flüchtlingskinder

In den unmittelbaren Nachkriegsjahren leiden viele Menschen in Deutschland Hunger. Alte und Kinder verhungern und erfrieren, weil die Landwirtschaft brachliegt, die Lebensmittelindustrie in Trümmern liegt und der Wohnraum zerstört ist.[41] Da auch viele Kinderkurheime im Krieg zerstört, zu Lazaretten und Militärstützpunkten umfunktioniert worden waren und Bahngleise demontiert sind, finden in den Hungerjahren kaum Kinderkuren im Inland statt. Dafür springen die Schweiz und Schweden ein. Gastfamilien nehmen Kinder aus Westdeutschland für dreimonatige Aufenthalte auf, um sie aufzupäppeln.[42]

Die Währungsreform 1948 läutet das Ende des großen Hungers in weiten Bevölkerungsteilen ein. Deutschlands Wirtschaft kommt zunehmend in Schwung. In der BRD dreht sich ab 1949 das Rad der staatlichen Kinderheil- und Erholungsfürsorge wieder. Das Schweizer Rote Kreuz ist 1954 deshalb nicht mehr bereit, über die Hilfsaktion für deutsche FlüchtlingskinderKinder aus Nordrhein-Westfalen aufzunehmen, weil Flüchtlingsfamilien inzwischen sehr wohl Anschluss gefunden hätten und Deutschlands wirtschaftsstärkstes Bundesland mit dem höchsten Lebensstandard »zweifellos selbst in der Lage sei, hilfsbedürftigen Kindern ausreichend zu helfen«[43]. Das nordrhein-westfälische Ministerium für Arbeit, Soziales und Wiederaufbau fordert die Gesundheitsämter auf, Zahlen zu liefern, die dieser Einschätzung widersprechen, aber die Behörden sind dazu nicht in der Lage.[44]

Von den zwölf Millionen Flüchtlingen, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus ehemals deutschen Gebieten in Osteuropa und aus Ostdeutschland nach Westdeutschland kommen,[45] leben anfangs viele in Lagern, dann in provisorischen Unterkünften.[46] In den frühen 50er-Jahren steht die Gruppe der Flüchtlinge ebenso im Fokus der Kinderkurheilfürsorge wie die Geburtenjahrgänge 1944 bis 1948, die unter besonders schwierigen Bedingungen aufwachsen.[47]

Die Fürsorgerinnen

In den Wirren der Nachkriegszeit bemühen sich Behörden nach Kräften, die Kinderkuren bekannt zu machen. Die Initiatoren versenden Prospekte und beauftragen Werbefilme, die die Landesjugendbehörden öffentlich vorführen.[48] Außerdem durchkämmen uniformierte Fürsorgerinnen Wohnungen, Bunker, Flüchtlingsbaracken, einsturzgefährdete Häuser und primitive Hallen, in denen Familien nur durch Decken voneinander getrennt leben. »Wie können Kinder in solcher Umgebung zu gesunden glücklichen Menschen aufwachsen?«,[49] fragen die Dortmunder Gesundheitsbehörden 1953. Ein Werbefilm zeigt in schwarz-weißen Bildern Flüchtlingsbaracken im Ruhrgebiet. In den Gärten wachsen Sonnenblumen, ein Kind spielt Mundharmonika. Wäsche weht, eine Mutter sitzt allein mit vielen Kindern in einem kleinen Zimmer. Andere Kinder streifen in Banden durch die Anlage, fahren Rad, spielen mit Puppen, Teddybären und einer Katze, rennen mit einem Ball durch einen Tunnel. Die Mädchen tragen Schleifen im Haar, die Jungen sind frisch frisiert, halten lachend einen Fisch in die Kamera. Doch der Sprecher warnt: »Hinter ihrem fröhlichen Lachen steht die Not. Die Armut. Das kümmerliche Einerlei ihres Alltags.« In der nächsten Szene werden einige dieser Kinder sechs Wochen zur Erholung nach Frankreich verschickt.[50]

Sehr viele Überweisungen werden bei der Schuleingangsuntersuchung geschrieben, die Ärzt:innen erhalten dafür sogar Provisionen.[51] Bei regelmäßigen Untersuchungen wiegen und vermessen Ärzt:innen die Kinder. Stellen sie Abweichungen von der Norm fest – Untergewicht, Blässe oder ein zu niedriges Wachstum –, ist das schnell eine Kinderkurindikation.

Andere Kinder werden von Fürsorgerinnen in Gesundheitsämter geschickt, dort werden die Mädchen und Jungen abgehört und gewogen. Die Fürsorgerinnen nehmen selbst Abstriche, Ärzt:innen setzen Spritzen. Ein Film der 50er-Jahre zeigt, wie ein Arzt des Gesundheitsamtes den Kindern, die er als erholungsbedürftig einstuft, eine Verschickungskarte um den Hals hängt. Diese Karten enthalten in der Regel den Namen des Kindes und einen Hinweis auf das Erholungsheim, in das es geschickt wird.[52]

Kurchaos in der DDR

Auch in der DDR öffnen immer mehr Kinderkurheime wieder ihre Türen. Aber die Organisation kommt hier eher schleppend in Fahrt, verläuft zuweilen chaotisch. Anfang 1949 streiten sich Jugend- und Gesundheitsämter zunächst darüber, ob die Erholungsheime eine medizinische Zielsetzung haben oder nicht. Das »Gesundheitswesen« in Berlin bittet alle Landesjugendämter zu prüfen, in welche Kategorie die Heime nun fielen. Noch im November 1949 ist man damit beschäftigt.[53]

Nachdem die Behördenzuständigkeiten geklärt waren, herrscht Anfang der 50er-Jahre weiterhin Chaos im Kinderkursystem der DDR. Die Erziehungskräfte, die bereits in den Heimen eingesetzt sind, klagen über verspätete Lohnauszahlungen und -kürzungen. »Die Geduld ist zu Ende«,[54] titelt die Tribüne, das Zentralorgan des Bundesvorstandes des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds in der DDR. Sie kritisiert 1952 das Ministerium für Volksbildung scharf.

»Kindergärtnerinnen haben eine Engelsgeduld, wie sollten sie sonst mit den kleinen und großen Sorgen der ihnen anvertrauten Kleinen fertig werden. Jetzt aber ist die Höchstgrenze der Geduld gegenüber den Behörden erreicht. Seit dem 15. Dezember 1951 leisten die Erziehungskräfte im Kreis Usedom ehrenamtliche Arbeit. Ja, seit dieser Zeit bekommen sie einfach kein Gehalt mehr. Jetzt endlich aber soll ihnen ›Vorschüsse‹ auf ihr schon längst fälliges, ihen (sic!) gesetzlich zustehendes Gehalt geben. Fürwahr eine edle Handlung. (…) Damit auch gleich die richtige Atmosphäre des Vertrauens und der Zusammenarbeit geschaffen wird, hat das Ministerium für Volksbildung die Gehälter gleich um 40,– bis 97,– DM monatlich gekürzt. Eine Stellungnahme des Ministeriums ist hierzu unumgänglich.«[55]

Wegen des akuten Mangels an pädagogischen Kräften spitzt sich die Lage in DDR-Erholungsheimen immer mehr zu. Im Februar 1952 sind die beiden Heime Neptun und Hubertus im Ostseebad Sellin noch immer ohne Erzieher:innen – obwohl die Heime schon seit 14 Tagen mit Kindern belegt sind. Im Deutschen Haus hilft eine Erzieherin aus dem Kreiskinderheim Lanken-Granitz aus, weil dort 29 Mädchen nur vom Heimbesitzer – einem 60-jährigen Mann – betreut werden.[56] Auch das Kindererholungsheim Wiek auf Rügen, wo sich eintausend Kinder in einer sechswöchigen Kur erholen sollen, kann statt 104 benötigter nur zehn ausgebildete und vierzig unausgebildete Kräfte aus dem Bezirk stellen. In Mecklenburg werden 1952 noch knapp 500 Erziehungskräfte für Erholungsheime benötigt. Die meisten der bereits eingesetzten Kräfte haben keine Ausbildung.[57] Die Behörden kritisieren, dass die Sozialversicherungen (SVL) »am laufenden Band« Erholungsheime eröffnen sollen, aber weder Erzieher:innen noch Planstellen »für diese Feuerwehraktionen« vorhanden seien. Sie fordern: »Also, Ministerium für Volksbildung, nun sieh du mal zu, wie du deine Erzieher bekommst und besoldest.«[58] Die Zentralorgane in Berlin rekrutieren daraufhin aus allen Landesteilen Erzieher:innen in die unterbesetzten Heime.[59]

Zunehm- und Luftkuren

In den 50er- und 60er-Jahren, in der Zeit von Schwarzwälder Kirschtorte, Sonntagsbraten und Wirtschaftswunder, werden in der BRD Hunderttausende Kinder verschickt, auch solche, die zu Hause gar keinen Hunger kennen. »Teller leer essen!« ist in vielen Familien die Parole. »Wenn man nicht aussah wie Rotbäckchen – Kugelrund war sehr Gesund! – wurde man zur Kur geschickt«, schreibt ein Zeitzeuge.[60]

Kurz vor der Einschulung kommen deshalb besonders viele Kinder in Kur. So wie Michael. Er schreibt über seine Kurüberweisung ins Kinderkurheim St. Johann in Niendorf an der Ostsee 1968:

»Angefangen hat das Drama damit, dass die Kinderärztin der Ansicht war, dass es unumgänglich sei, mich zu einer Kinderkur zu schicken, damit ich etwas an Gewicht zunehme und die Einschulungsvoraussetzungen von 20 Kilo Startgewicht erreiche und auch den Schulranzen tragen kann. Ich war halt immer ziemlich schmächtig.«[61]

Seine Mutter ist bei der Post angestellt. Auf ärztliches Anraten organisiert die Postgewerkschaft seine Kinderkur. Entsendestellen, Ärzt:innen und Behörden arbeiten Hand in Hand. Die achtjährige Gabi wird Mitte der 70er-Jahre über das Jugendamt ebenfalls nach Niendorf verschickt, zusammen mit ihren Geschwistern, die vier und sechs Jahre alt sind.

»Wir Geschwister waren damals sehr dünn, (…) weil einfach viele in unserer Familie in jungen Jahren unglaublich dünn waren und dies auch heute noch sind. Mein Sohn wiegt mit 20 Jahren nur knapp 60 Kilo. Er ist kerngesund! Wir hatten daheim immer ausreichend leckeres Essen, einfache Dinge, Gemüse vom eigenen Anbau, Milch, Käse, Fleisch vom kleinen Landwirtschaftsbetrieb der Großeltern.«[62]

Die Zunehmkuren existieren bis in die 1980er hinein, auch in der DDR. Nicole* wächst in Königs Wusterhausen bei Berlin auf. Im Kindergarten firmiert sie Anfang der 80er-Jahre unter der Bezeichnung »schlechte Esserin«. Sie muss häufig lange vor ihrem Teller sitzen, bis sie aufgegessen hat.

Ihre Eltern machen sich Sorgen wegen des Untergewichts. Obwohl ihr Trennungen schwerfallen, sie nie bei anderen Kindern oder den Großeltern übernachten will, stimmen ihre Eltern der Empfehlung der Kinderärztin zu, die Fünfjährige vier Wochen lang in Kinderkur zu verschicken, damit sie lernt, besser zu essen.

Die Heilkuren

Anders als Erholungskuren sollen Heilkuren der Genesung dienen. Mit Solebädern, Inhalationen, Heilgymnastik und Gradierluft wirbt die Kinderheilanstalt Bad Sassendorf. Mit einem »Schonklima« das Kleinkinderkurheim »Helenenberg« in Witten im Ruhrgebiet, das auf die Behandlung von Stützgewebeschwächen spezialisiert ist. Auch warme oder kalte Seebäder nennen die Kurheimbetreiber:innen »Heilfaktoren«.[63]

Selbst Kinder, die auf dem Land bei guter Luft aufwachsen, werden zur Luftkur geschickt. Häufig mit der Begründung: Klimawechsel. Er soll wirken gegen Tuberkulose, Skrofulose, Asthma und Bronchitis, auch gegen Schiefwuchs, Rückgratverkrümmung oder Fehlernährung. Ein Auszug aus einer Broschüre der DAK aus dem Jahr 1959: »Nur das Zusammenwirken von Klima- und Milieuwechsel mit ausreichender Kurdauer verspricht bei Kindern einen Erfolg.«[64]

Birgit wächst in den 60er-Jahren in der Nähe von Korbach in Hessen auf. Auf einem großen Bauernhof, einem Rittergut, mit zwei jüngeren Geschwistern ist sie täglich an der frischen Luft. Aber das dünne Mädchen isst nicht gut und Asthmaanfälle plagen sie. »Ich hatte starke Luftnot, sodass der Arzt kommen musste und ich Medikamente bekam. Zum Beispiel Atosil.« Atosil ist kein Asthmamedikament, sondern ein Mittel zur Behandlung von Unruhezuständen bei psychiatrischen Erkrankungen. Die Arznei hilft tatsächlich gegen die Anfälle. »Woher die kamen? Keine Ahnung. Das kann ich nicht mehr nachvollziehen«, sagt Birgit. Auch Asthma bronchiale gilt seit 1951 als Krankheit, die durch emotionalen Stress ausgelöst werden kann.[65] Bei der Hälfte der Kinder heilt das Asthma im Jugendalter von selbst aus.[66] Birgits Kinderarzt ist der Meinung, dass sechs Wochen Luftveränderung gegen das Asthma helfen könnten – obwohl mehrere Urlaube an der Nordsee mit den Eltern nichts gebracht hatten. Nun soll sie in die Berge in die Villa Phönix in Bad Reichenhall. Birgit will das auf keinen Fall, sie möchte nicht von ihren Eltern getrennt werden: Aber der Wille der Ärzt:innen zählt mehr. Ihre Eltern sind sehr autoritätsgläubig und Birgit wird zur Kur geschickt. »Ich habe meinen Eltern in meiner kindlichen Wut gesagt: ›Ich will nichts von euch hören und ihr braucht mir auch gar nicht schreiben!‹«

Helmut soll 1960 als Elfjähriger wegen einer Erkältung zur Heilkur. Er wächst mit seinen Eltern und beiden jüngeren Geschwistern in einer kleinen Wohnung in Münster auf, dreieinhalb Zimmer für acht Menschen. Als Kleinkind ist er kränklich, länger im Krankenhaus. Als er aufs Gymnasium wechselt, bekommt er eine Grippe. Bei der Untersuchung fragt die Ärztin die Mutter, ob ihr Sohn früher an Asthmaanfällen gelitten habe. Sie könne schnell eine Kur beantragen, sagt sie, schaden würde das nie. Helmut wird umgehend vom Unterricht befreit, bleibt die nächsten beiden Wochen zu Hause, bis die Kur beginnt. »Dass ich auch sehr viel Unterricht versäumte, spielte offensichtlich keine Rolle.« Die Kinderkuren finden überwiegend außerhalb der Schulferien statt, die Kinder verpassen dadurch häufig sechs bis zwölf Wochen Unterricht.

Die Heilanstalten in der Bundesrepublik und die Genesungsheime der DDR liegen häufig am Meer, an der Nord- oder Ostsee, oder im Gebirge, teilweise sogar im Ausland. In der DDR haben Auslandsverschickungen eine größere Dimension und längere Tradition als in der BRD. Bis zur Wiedervereinigung geht es für Zehntausende Kinder der ehemaligen DDR nach Zypern oder ins damalige Jugoslawien. So wie für Dirk aus Hartmannsdorf, der 1980 als kleiner Junge wegen Asthma nach Veli Lošinj an die Adria verschickt wird. »Das Paradies der DDR-Kurkinder«[67], wie es die Presse noch 2011 nennt. Zwischen 1968 und 1990 nimmt Jugoslawien mehr als 30.000 junge Patient:innen zur Erholung auf. Die DDR besetzt die Einrichtung vor Ort mit Ärzt:innen, Physiotherapeut:innen, Erzieher:innen und Lehrer:innen.[68]

Mit den Auslandverschickungen verfolgt die DDR nach dem Ende des verheerenden Zweiten Weltkriegs das Ziel der Völkerverständigung und medizinischer Zusammenarbeit. Die DDR nimmt auch ihrerseits ausländische Kinder auf – zum Beispiel aus Zypern und Syrien. »Internationaler Kuraustausch« wird das genannt.[69] Welche Bedeutung die politische Führung dem beimisst, wird dadurch deutlich, dass Erich Honecker 1982 auf einem Staatsbesuch in Zypern ein solches Kinderkurheim persönlich besichtigt. Zeichnungen der Kinder zeigen einen Fahnenaufmarsch von Arbeitern, jubelnde Menschen in den Fenstern und Baufahrzeugen, »Es lebe die Republik« steht darüber. Weitere Bilder zeigen dunkelhaarige und blonde Kinder, die sich unter den Worten »Freundschaft« und »Frieden« an den Händen halten, und eine Landschaft voller Olivenbäume, durch die Kinder im Sonnenschein ziehen. Neben einer Weltkugel steht »Atom No!«, »Krieg Nein!«, »Solidarität«, »Frieden ja!« und »Völkerfreundschaft«.[70]

Hinter den Auslandskuren steht auch die höchste Staub- und Schwefelbelastung der Luft in Europa. Besonders belastet ist der Süden der DDR, wo die Industrie angesiedelt ist, etwa in Leipzig, Halle, Bitterfeld, Erfurt und Cottbus. Viele der industriellen Abgasfilter sind verschlissen. Wegen der hohen Emissionswerte verschlechtert sich die Gesundheit der Kinder enorm. Chronische Bronchitis nimmt zwischen 1974 bis 1989 um 172 Prozent zu.[71]

Die DDR besitze keine Luftkurorte, heißt es in der Presse.[72] Doch auch innerhalb des Landes werden Kinder zur Luftkur geschickt, meist an die See: Mit 1.000 Betten ist das Kindergenesungsheim Wiek auf Rügen das größte Kinderkurheim der DDR. 1949 besitzt auch Sachsen 49 Kinderheime und Kindererholungsheime »mit ärztlicher Zielsetzung«.[73]

Nicole*, als Kindergartenkind wegen Untergewicht verschickt, wird in der Grundschule als Genesungskurkind klassifiziert, als sie an Neurodermitis erkrankt. »Ich war ständig blutig gekratzt«, erzählt sie. Neurodermitis zählt, wie Asthma, zu den Psychosomatosen, den Krankheiten, bei denen auch psychische Faktoren eine Rolle spielen.[74] An der Ostsee, so wird den Eltern vermittelt, könne Nicole durch die Meeresluft und spezielle Anwendungen von ihrem Leiden erlöst werden. Ihre Tochter an die See zu begleiten, ist den Eltern nicht möglich. Urlaub ist nur in den betriebseigenen Erholungsheimen ihrer Arbeitgeber:innen vorgesehen, aber keins davon liegt am Meer.

Kinderkur als Elternentlastung

Klaus wird 1958 im Alter von vier Jahren aus seiner Kleinfamilie »gerissen«, so nennt er es. Da seiner Mutter eine Operation bevorsteht, organisiert ein evangelischer Pastor für ihn und seinen sechsjährigen Bruder einen Kurplatz in Peterzell im Schwarzwald. Sein großer Bruder bleibt mit dem Vater zu Hause. Freunde, Verwandte oder Nachbarschaft können ihnen zu der Zeit nicht helfen. Dass sie überhaupt einen Platz in Peterzell bekommen, ist eine Besonderheit. Eigentlich dürfen hierhin nur Kinder zur Kur, deren Familien Fluchthintergrund oder soziale Probleme haben.

Erholen, zunehmen oder gesunden, das ist die eine Seite. Oft dienen die Kinderkuren schlichtweg als Kinderbetreuungsangebot in Belastungssituationen oder auch einfach für ungestörte Urlaube ohne Kinder. Meist in den Sommermonaten. Dieses Angebot nutzen häufig wohlhabende Eltern. Ursula, die im Sommer 1959 im Privatkinderheim Fredeborg auf Sylt ein Schülerpraktikum macht, schreibt in ihrem Bericht, dass fast alle Eltern die Ferien ohne Kinder verbringen wollten und sie deshalb in ein Kinderheim verschickt hätten.[75] Auch laut Gabriele, die 1968 im Kinderheim »Seepferdchen« am Timmendorfer Strand als Pratikantin arbeitet, sind alle Kurkinder dort ausnahmslos gesund, darunter auch solche aus reichem Hause, deren Eltern verreist waren.[76] Mütter und Väter können ihre Kinder zu der Zeit recht einfach selbst zur Kur anmelden, die Einrichtungen freuen sich über zahlende Kundschaft. Und viele Ärzte sind schnell bereit, Kindern eine Überweisung auszustellen. Sie werden sogar extra dazu angehalten, bei familiären Belastungen nicht zu kleinlich mit den Überweisungen zu verfahren.[77]

In den 50er- und 60er-Jahren verändert sich die Lage vieler Frauen in der BRD: Vorehelicher Sex, in den Nachkriegsjahren noch von einer Mehrheit gebilligt, wird jetzt abgelehnt. Ein uneheliches Kind oder ein Leben als Alleinstehende sind ein Stigma.[78] Viele Frauen führen ein Leben, das vor allem der Bequemlichkeit der Männer dient. Die liebende, pflegende, heilende Hüterin des Hauses ist das Ideal. Sie soll den Haushalt führen, Kinder gebären und erziehen und den Mann entlasten.

»Das Bohnern und Scheuern, das Wäschewringen, das Schleppen der nassen Kleidung zum Aufhängen, das Präparieren des Bügeleisens, das sparsame Haushalten mit Einkochen für den Winter, der Einkauf zu Fuß oder mit dem Fahrrad – die ganze Armseligkeit der Lebensführung machte vor allem den Frauen zu schaffen.«[79]

Der Mann hat dem Ideal nach nur eine Aufgabe: im Erwerbsleben für die notwendigen Ressourcen zu sorgen. »Den Ehefrauen wurde eingeschärft, die abends vom Berufsleben heimkehrenden Männer zu schonen und zu pflegen.«[80]

»Mit Frauengold wirst Du wieder glücklich«, so bewirbt das Karlsruher Unternehmen Homoia ab 1953 eine Mixtur aus Goldkraut, Baldrian und dem Hauptwirkstoff Alkohol. »Bist Du etwa nicht mehr so hübsch wie damals?«, fragt eine Hausfrau im Werbespot ihr Spiegelbild. »Du solltest einmal etwa für Dich tun. Du bist nicht mehr Du selbst«, antwortet es. »Ja, woher kommt’s denn, wer soll denn die ganze Arbeit machen? Ist doch kein Wunder, daß es mir oft zu viel wird.« Der dicke Ehemann mit Halbglatze und Brille kommt von der Arbeit heim, schmeißt tollpatschig das Geschirr runter. Die hübsche Frau in Kittelschürze rastet aus. Das Spiegelbild mahnt. »Früher hast Du Dich in solchen Fällen anders verhalten!«

Rückblick. Zehn Jahre zuvor: Die Frau winkt lachend ab, als das Geschirr zu Bruch geht, und lässt sich vom ungeschickten und korpulenten Ehegatten aufs Bett tragen. »Das ist Frauengold« heißt es jetzt. Ein Schnaps wird eingeschenkt. Die Ehefrau und Mutter tollt mit Kindern und Mann auf einer Blumenwiese.

»So wirkt Frauengold, sichert Dir Jugendfrische und Vitalität und schafft Dir neuen Lebensmut. Durch eine Kur mit Frauengold wirst Du glücklich gemacht und wirst glücklich machen. Frauengold schafft Wohlbehagen, wohlgemerkt an allen Tagen.«[81]

Dazu tragen 16,5 Volumenprozent Alkohol nicht unerheblich bei. 30 Jahre später wird Frauengold wegen eines mutmaßlich krebserregenden Inhaltsstoffes verboten.[82]

Die Enge zu Hause ist für viele Frauen bedrängend.[83] Unter Druck stehen aber auch die, die arbeiten gehen müssen. Drei von sieben Millionen Müttern stehen in den 50er-Jahren in der BRD zwischen Beruf und Familie, viele sind ungelernte Arbeiterinnen und Verkäuferinnen.[84]

Die Geschäftsführerin des Deutschen Muttergenesungswerkes  Antonie Nopitsch mahnt Anfang der 1950er, dass viele Mütter hungerten, weil sie sich um ihrer Familie und Kinder willen nicht satt äßen und häufig erschreckend untergewichtig seien. Die Zahl der Selbstmordversuche von Müttern steigt, Fälle chronischer Magen-, Gallen- und Herzleiden als Folge seelischer und körperlicher Überlastung nehmen zu. Kinder arbeitender Mütter werden abwertend »Schlüsselkinder« oder »Kühlschrankwaisen« genannt. Berufstätig zu sein gilt anders als in der DDR, wo Frauen alles unter einen Hut bringen sollen und Kinder in Krippen und Kitas betreut werden, in der BRD als ein Ding der Unmöglichkeit. Männliche Ärzte verurteilen berufstätige Mütter als Störung der »natürlichen Ordnung«, die Mütter dieser Zeit nennt Kinderkur-Verwaltungsbeamter Adolf Wolters »abgehärmt und vergrämt«.[85] Als Entlastung verschickt das Müttergenesungswerk erschöpfte Mütter in Erholungsheime[86] – oder ihre Kinder. Kindergärten sind in der BRD noch nicht flächendeckend vorhanden. Und so bietet die Versendung des Kindes zur »Kur« über sechs Wochen auch den Familien Raum zur Regeneration. Auf die Idee, dass dann die Männer die Aufsicht über die Kinder daheim übernehmen, kommt die Gesellschaft in Ost und West nicht.

In der DDR sind Frauen Männern gesetzlich gleichgestellt – praktisch bedeutet das Arbeitszwang und eine noch höhere Rollenerwartung als in der BRD. Sie sollen sich neben der Arbeit ständig weiterbilden und in gesellschaftlichen Organisationen engagieren, den Haushalt meistern[87], gute Mütter und fürsorgliche Ehefrauen sein.[88] So sind die Frauen der DDR ähnlich überfordert wie in der BRD.

Den familiären Alltag in der DDR prägt häufig Zeitnot, weil beide Elternteile berufstätig sind. Viele Paare heiraten schon Anfang 20, jede dritte Ehe scheitert. In den ersten Ehejahren, wenn meist das erste Kind zur Welt kommt, setzt der anderthalbjährige Pflichtdienst der Väter in der Nationalen Volksarmee ein. Den Lebensanfang des Kindes erleben viele Väter nur am Wochenende mit. Um die Arbeitskraft der Mutter zu nutzen, schafft der Staat Betreuungseinrichtungen für Kinder bereits ab dem Säuglingsalter. In den sogenannten DDR-Wochenkrippen bleiben Säuglinge und Kleinkinder sogar über Nacht – von Montag bis Freitag, manche sogar bis zum Samstag. Es war eine »der wirkmächtigsten Maßnahmen der Sozialpolitik der DDR«.[89]

»In einer ›einheitlichen, geschlossenen Erzieherfront‹ sollten die gesellschaftlichen Erziehungsinstitutionen und die ›sozialistische Familie‹ (…) gleichsinnig den gesellschaftlichen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes ›potenzieren‹.«[90]

Nicoles*Eltern, die mit ihren drei Kindern in Königs Wusterhausen leben, sind beide berufstätig, der Vater ist oft auf Montage, die Mutter häufig allein mit Kindern. 1977, mit sechs Monaten, kommt Nicole in die Krippe. Erinnerungen hat sie daran natürlich nicht mehr, sie weiß aber von ihrer Mutter, dass sie mit etwa sieben Monaten trocken ist. Die Kinder wurden dafür immer wieder in einer Reihe auf Töpfe gesetzt. »Topfen« oder »Töpfen« nannte man das damals in DDR und BRD. Ihre ältere Schwester gibt die Mutter, die bei ihrer Geburt noch in der Ausbildung ist, mit einem halben Jahr für einige Monate in eine Wochenkrippe. Jeden Montag weint die Mutter, wenn sie ihr Baby abgibt, zählt die Tage, bis sie ihr Kind am Freitag endlich abholen darf.

Auch für ältere Kinder bieten zahlreiche Institutionen Betreuungsmöglichkeiten, sodass kein Kind ohne Aufsicht bleiben muss.[91] Dazu zählt auch die Pionierarbeit an den Nachmittagen in hierarchisch strukturierten Gruppen, an denen fast jedes DDR-Kind teilnimmt, und gemeinsame Ferienlager in Pionierrepubliken.[92] Der Alltag von Kindern aus der DDR verläuft bis ins Erwachsenenalter überwiegend in Einrichtungen.

Kinderkur als Erziehungsmaßnahme

Die Kuren sind auch ein Mittel, um die Kinder auf die institutionelle Betreuung vorzubereiten. Die Vorstellung ist, dass der radikale Bruch mit der Heimat die Kinder auf die Fremdbetreuung vorbereitet und psychosomatische Ausweichreaktionen abmildert: zur Vorbereitung auf die Grundschule, zur Kräftigung der zukünftigen Arbeiter:innen und der Einordnung ins »Kollektiv«.[93] Vorbereitung auf Kollektiv und Klassenkampf ist übrigens auch Ziel der Kinderladenbewegung der 68er-Bewegung in der BRD.[94] Die Weiterbildung der Heimerzieher:innen erfolgt in der DDR nach Anweisung des Ministeriums für Volksbildung. Das pädagogische Personal in den Kindererholungsheimen hat

»die grosse und verantwortungsvolle Aufgabe (…) die Jugend zu gebildeten, körperlich gesunden (…) fortschrittlichen demokratischen Menschen zu erziehen, die fähig und bereit sind, sich in das Leben der Gemeinschaft einzuordnen«.[95]

Zur Festigung der »Nationalen Front« sieht das Ministerium für die Erziehungsarbeit in den Erholungsheimen Konzepte des sowjetischen Pädagogen Anton Semjonowitsch Makarenko vor.[96] Dazu zählen eine strenge Anleitung durch einen sogenannten Pionierleiter, Traditionen wie Fahnenappelle, Partisanenlager und allgemein eine Erziehung zur bewussten Disziplin und zum demokratischen Patriotismus, »um aus der alten Praxis der Erholungsheime, nämlich der Kinderbetreuung, herauszukommen«.[97] Ziel der Regierung ist es, »den Kindern das Erlebnis des kollektiven Lebens zu vermitteln und ihre Gesundheit zu festigen«.[98]Allzu streng dürfen die Kinder aber auch nicht diszipliniert werden, denn sie seien schließlich zur Erholung in den Heimen. Dennoch schreibt die Prenzlauer Abteilung Volksbildung Neubrandenburg 1953 zu den Erziehungsmethoden im Kindergenesungsheim Birkenhain: »›Partisanenlager‹, ›Junge Bogenschützen‹ und ›Luftgewehrschiessen‹ finden (…) unsere Zustimmung.«[99]

Den Auftrag, Kinder darauf vorzubereiten, ihre eigenen Bedürfnisse einer Gruppe, einem »Kollektiv«, unterzuordnen, nicht zu stören und der Schulpflicht nachzukommen, haben auch die Kinderkurheime in der BRD. Wolfgang aus Münster, 1959 14 Jahre alt, zeigt laut einer Bezirksfürsorgerin in der Schule schlechtes Verhalten, seitdem er in einem Internat untergebracht wurde. Das Internat sei dafür nicht der Grund.

»Wolfgang wurde von der Mutter maßlos verwöhnt und verhätschelt und machte in der letzten Zeit erheblich viel Erziehungsschwierigkeiten, die daraus resultieren. Er zeigte sich vorlaut und angeberisch. Die Heimunterbringung des Jugendlichen war dringend erforderlich, da seiner (sic!) straffen Erziehung unter männlicher Leitung in Gesellschaft Gleichaltriger bedarf. Wolfgangs Schwierigkeiten beruhen nur auf einer falschen Erziehung durch die labile Mutter.«[100]

Mit Heimunterbringung ist ein »Erholungsaufenthalt« im Jugendkurheim »Schau ins Land« im Harz gemeint.[101]

An den Kindergarten hat Nicole*, der Trennungen von den Eltern als Kind nicht leichtfallen, gemischte Gefühle: Immer dann, wenn ihre Lieblingsbetreuerin, Frau Scholz, nicht da ist, bekommt sie Bauchschmerzen. Die Mutter geht dann jedes Mal mit ihr zu einer Kinderärztin, die bei Nicole keine Krankheit feststellen kann, sie aber krankschreibt, damit die Mutter von der Arbeit freigestellt wird. »Die wusste bestimmt, dass die Beschwerden psychosomatisch waren«, glaubt Nicole heute. Ähnliches erlebt Sylvia aus dem Vogtland in Sachsen. Sie wächst in den ersten Lebensjahren behütet auf. Ab dem zweiten Lebensjahr und der Betreuung in der Kinderkrippe leidet sie immer wieder an Atemwegsinfekten, einer Kehlkopf-, sogar einer Lungenentzündung. Sie muss mit zwei Jahren ins Krankenhaus. Den Kindergarten besucht sie danach unregelmäßig.

Kinderkuren sollen Kinder, die wegen psychosomatischer Ausweichreaktionen wie Asthma oder Infekten häufig nicht zur Schule oder in den Kindergarten gehen, trainieren, sich anzupassen. Ein ehemaliger Kinderkurheimbesitzer aus Sankt Peter-Ording berichtet:

»Viele dieser Störungen, die die Kinder hatten, waren psychosomatische Störungen. Unser Arzt sagte: ›Wenn ein Kind vor einer Mathematikarbeit krank wird, weil es sich erkältet hat, dann ist das Zufall. Wenn es beim nächsten Mal vor der Mathearbeit krank wird, ist das kein Zufall mehr.‹ Wenn Kinder plötzlich Bauchweh haben, weil sie nicht mehr zur Schule wollen oder weil sie mit der sozialen Situation der Schule nicht zurechtkommen – das ist nämlich bei ganz vielen der Fall gewesen –, dann entwickeln sie unterschiedlich schwierige Krankheitsbilder. Der eine reagiert, dass er dauernd erkältet ist und dann sagt der Arzt: ›Der muss an die Nordsee.‹ Das andere Kind reagiert damit, dass es anfängt zu futtern. Und dann heißt es: ›Der muss mal zu einer Adipositas-Kur.‹ Darin waren wir also echt gut. Ich sagte manchmal zu meinen Mitarbeitern. Wir sind praktisch ein Trainingscamp, um Kinder dafür fit zu machen, dass sie in einer größeren Menge von anderen Kindern zurechtkommen.«

Kuren für »Neurotiker«

Ab den 70er-Jahren fokussieren sich immer mehr Einrichtungen auf psychosomatische Krankheiten, damals sogenannte »geistige Neurosen«. Diese Verschiebung beginnt schon Anfang der 60er-Jahre. »Skrofulose und Mangelkrankheiten gehören – gottlob – weitgehend der Vergangenheit an, Kinderseuchen haben dank neuzeitlicher Therapie viel von ihren Schrecken verloren«, schreibt 1961 der Soester Stadt-Anzeiger.[102] Stattdessen heiße »die Geißel unserer Zeit« jetzt »Neurose«. In der Kinderheilanstalt Bad Sassendorf, die eine Spezialabteilung für neurotische und milieugeschädigte Kinder besitzt, findet unter Leitung der Inneren Mission und dem Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland im Januar 1961 eine Tagung mit dem Titel Der neurotische Mensch in der Erholungs- und Kurfürsorge statt. Die Kinderheilanstalt schreibt sich auf die Fahnen, »Fluchtschädigung« und »Milieubedrängung« behandeln zu können, die sich in seelischen Auffälligkeiten niederschlügen.[103]

Johannes ist angeblich so ein neurotisches Kind. Da er als Grundschulkind inkontinent ist, rät seine Lehrerin den Eltern zu einem Kinderkuraufenthalt. Dort werde man Johannes das Einnässen abgewöhnen. Mit acht Jahren wird er 1972 neun Wochen nach Bad Sassendorf verschickt. In die Kinderheilanstalt. Das hält die Familie für ein großes Glück, denn viele Kinderkurheime nehmen keine inkontinenten Patient:innen auf oder verlangen einen Aufschlag. Diese Einrichtung hat jedoch eine Spezialabteilung für Bettnässer eingerichtet.[104]

Als Neurotiker gelten in den 60er-Jahren auch »Nägelkauer«, »Kontaktgehemmte« und Kinder mit Schlafstörungen. Kinder, deren Diagnosen »Schwachsinn«, »organische Hirnschäden«, »Verwahrlosungen«, »Erziehungsschwierigkeiten« und »Sprachstörungen« lauten, will die Kinderheilanstalt Bad Sassendort hingegen nicht aufnehmen.[105] Da die Nachfrage nach Kinderkuren für »Neurotiker« in den 1960ern das Platzangebot übersteigt, weisen die Behörden die Kurheime an, weitere solcher Abteilungen zu eröffnen.[106]

Manchmal beschließen Jugendbehörden, ein Kind in ein Erholungsheim zu schicken, um es eine Zeit lang aus einer Familie zu nehmen. Vielen Eltern ist das nicht klar. Was genau der Grund für die Verschickung gewesen sein soll, darüber rätseln einige Verschickungskinder bis heute. So wie Bernd, der in den 70er-Jahren ein kräftiger Junge ist. »Da stand so ein Weltbild dahinter, dass Kinder nicht zu dick und nicht zu dünn sein dürfen«, sagt er heute. Die Schule bewirbt Bernds Kinderkur vor den Eltern anders.

»Die Schule hat sich bei meinen Eltern gemeldet, ob ich und auch andere Kinder von der Grundschule nicht Interesse an einer Kur oder Erholung hätten, damit wir in der Schule noch besser werden könnten. Aber warum ich das sein sollte, weiß ich nicht, denn schlecht war ich nicht. Es sind fadenscheinige Gründe gewesen.«

Seine Eltern werden belogen, glaubt Bernd heute. Wegen des hohen Ansehens von Ärzt:innen und Lehrer:innen vertraut man darauf, dass es schon das Beste für das Kind sein wird. Bernd kommt 1979, wie Johannes sieben Jahre zuvor, in die Kinderheilanstalt Bad Sassendorf, die auch auf neurotische Kinder spezialisiert ist. Ob auch Bernd vor der Verschickung als neurotisch eingestuft wird oder ob er abnehmen soll – in den 1970ern werden viele Abnehmkuren in Adipositaskuren umgewandelt –, ist ihm bis heute schleierhaft.

Auch Andrea weiß heute nicht mehr, warum sie zur Kur sollte:

»Ich bekam im Alter von sechs Jahren im Kindergarten vor der ganzen Gruppe gesagt, dass ich zur Kur fahren ›darf‹. Ich war immer ein sehr braves Kind und hätte nie gewagt, etwas dagegen zu sagen. Wie ohnmächtig habe ich die Zeit bis zur Kur und die gesamte Dauer ausgehalten. Das ist meine dunkle Erinnerung in meiner sonst wunderschönen Kindheit. Ich weiß bis heute nicht, warum ich dahin musste. Ich war kerngesund und ganz normal entwickelt für mein Alter.«[107]

Die soziale Indikation

Hinter solchen Kuren ohne medizinische Indikation, ohne erkennbares Untergewicht oder Schwäche, steht häufig die sogenannte soziale Indikation.

»Die Einweisungsdiagnose ›aus sozialen Gründen‹ ist in Kinderkrankenkassenhäusern denkbar unbeliebt, im Verschickungswesen ist sie aber unentbehrlich«,[108] schreibt der Arzt Kurt Nitsch 1964. Er fordert von den Versicherungsträgern eine Anerkennung der Diagnose der »sozialen Indikation«. Sie dürfe nicht aus dem Wunsch der Eltern heraus konstruiert werden, die nur ungestört Urlaub machen wollten. Relevant aber seien folgende Punkte:

»Gesundheitsschädlicher Einfluß der Großstadt durch dauernde Reizüberflutung, Kinder aus Flüchtlingsfamilien für die Übergangszeit; Erkrankung, Operationen oder Entbindung der Mutter, wenn eine ordnungsgemäße Pflege des Kindes in der Familie nicht möglich ist; während der Zeit, in der die Eltern in Scheidung leben; Kinder mit ausgesprochenem Wohnungs- und Milieuschaden (auch in psychischer Hinsicht); Kinder von berufstätigen Müttern, die den Lebensunterhalt bestreiten müssen; Kinder aus kinderreichen, wirtschaftlich schwachen Familien; Kinder aus geschädigten und gestörten Familien.«[109]

»Was für eine menschenverachtende Beschreibung!«, empört sich Gabi darüber, die erst im Nachhinein versteht, warum sie und ihre Geschwister nach der Scheidung der Eltern zur Kur mussten.[110] Das Kinderkurheim Antoniushaus an der Ostsee, in dem die Geschwister viele Wochen verbracht haben, führt Erholungsmaßnahmen sowohl für unterernährte, körperlich geschwächte Kinder als auch für sogenannte seelisch- und milieugeschädigte Kinder durch. Sie ärgert sich darüber. »Wir waren auch Scheidungskinder, aber nicht deshalb dünn. (…) Scheidungskinder waren damals wohl auch Millieuopfer, brauchten wohl eine Spezialbehandlung.«[111]