Verschlungene Wege - Sabine Büntig - E-Book

Verschlungene Wege E-Book

Sabine Büntig

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Beschreibung

Nach ihrem Schulabschluss stehen Patricia und Daniel vor der Frage, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Johanna, Marks Tochter aus erster Ehe, hat in Südafrika ein neues Zuhause gefunden und stellt sich mutig den Herausforderungen, die AIDS in dieses Land gebracht hat. Natascha macht eine schreckliche Entdeckung, aber wo ist Mark, als sie ihn am dringendsten braucht? Er blüht auf in seiner Tätigkeit als Reitlehrer, aber ist der Reiz groß genug, alte Gewohnheiten über seine Liebe zu Natascha zu stellen? Die Lage spitzt sich so dramatisch zu, dass jede Unterstützung benötigt wird, um sein Leben zu retten. Das ebenso wunderschöne wie ursprüngliche Südafrika stellt Natascha und Mark immer wieder vor neue Herausforderungen, die es zu meistern gilt.

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Buch

Mittlerweile sind Patricia und Daniel mit der Schule fertig und stehen vor der Frage, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Johanna, Marks Tochter aus erster Ehe, hat in Südafrika ein neues Zuhause gefunden und stellt sich mutig den Herausforderungen, die AIDS in dieses Land gebracht hat.

Natascha macht eine schreckliche Entdeckung, aber als sie Mark am dringendsten braucht, steht er nicht zur Verfügung. Ist der Reiz seiner Reitschülerinnen größer als die Liebe zu Natascha? Er gerät erneut in Lebensgefahr und ohne Unterstützung kann es Natascha nicht gelingen, ihn zu retten.

Das raue Südafrika bildet die Kulisse für atemberaubende Spannung.

Autorin

Sabine Büntig, geb. 1966, lebt mit ihrer Familie in Nordhessen. Sie erfüllt sich mit ihrem Roman einen Jugendtraum. Das Schreiben gehört schon lange zu ihrem Leben, mehr als 1.000 Artikel sind in der Lokalredaktion der regionalen Tageszeitung sowie weiteren Zeitschriften erschienen.

Kontakt: [email protected]

Für meine Mädels

Wenn ich Verständnis, Trost oder Hilfe brauche, seid ihr an meiner Seite.

Dann gelingen mir Dinge, die ich alleine nie geschafft hätte.

Gut, dass es euch gibt!

Und es lohnt sich doch

Tief im Meer, so weit vom Land und der Wasseroberfläche entfernt, dass niemals ein Mensch jemals dort hinkommen wird, lag ein ganz besonderes Reich. Hier lebten die Seekätzchen und im Laufe vieler Jahre war es ihnen gelungen, ihre Welt zu etwas Einzigartigem zu machen. Alles um sie herum schimmerte und funkelte in den unzähligen Farben des Regenbogens – den sie selbst nie gesehen hatten - und jede Wellenbewegung sorgte unermüdlich für eine ständige Veränderung der Farben.

Ihr fragt euch sicherlich, wie dort überhaupt etwas wachsen kann, denn schließlich war es so weit unten doch stockdunkel. Überprüfen lässt es sich nicht. Es bleibt also nichts anderes übrig, als es entweder zu glauben – oder eben auch nicht.

So abgeschieden die Seekätzchen auch lebten, manchmal drang dennoch etwas aus ihrem Leben bis zu uns hinauf und dies hier ist eine solche Geschichte:

Die wahrlich possierlichen Geschöpfe umgaben sich gerne mit Schönem und die Möglichkeit dazu bot ihnen die Existenz ganz spezieller Muscheln. Auf den ersten Blick schienen sie zunächst nichts Besonderes zu sein, aber wenn sie sich nach monatelangem Reifen endlich öffneten, offenbarten sie wunderschöne Perlen. Diese ließen sich zu all den Dingen verarbeiten, die sich die Seekätzchen wünschten. So entstand nach und nach ihre fantastische, funkelnde und strahlende Welt.

Die Seekätzchen sammelten die geschlossenen Muscheln und nahmen sie mit in ihre Nester. Dort wurden sie gehegt und gepflegt und reiften ohne jede Störung.

Perlen entstanden aus kleinen Sandkörnchen, die in die Muschel gelangt waren. Die Muschel wehrte sich gegen den Eindringling, indem sie ihn mit einer Substanz umhüllte, aus der sich letztendlich die Perle bildete.

Es passierte allerdings immer mal wieder, dass eine Muschel nicht komplett geschlossen war. Das fiel erst auf, wenn man nach ihrem Öffnen feststellte, dass die Muschel keine funkelnde Perle, sondern nur einen grauen, unscheinbaren Klumpen enthielt.

Die Seekätzchen gingen nach dieser Entdeckung dazu über, jede Muschel sofort zu überprüfen und sortierten alle, die nicht ganz geschlossen waren, von vornherein aus - ohne Interesse daran, was aus ihnen so ungeschützt und ohne jede Zuwendung wurde.

Nun gab es aber auch unter den Seekätzchen einige wenige, die anders dachten und diese Muscheln nicht einfach sich selbst überlassen wollten. Sie sammelten die Muscheln in einer Grotte, um dort regelmäßig nach ihnen zu sehen.

Mit der Zeit wurde die Funkelwelt der Seekätzchen immer größer und schöner, doch schrumpfte die Anzahl an Muscheln mit Funkelperlen. Enthielten zunächst noch neun von zehn Muscheln Perlen, verhielt es sich später eher umgekehrt. Außerdem verloren die verbliebenen Perlen an Stabilität, sodass alles daraus Gebaute bald wieder zerbrach. Niemand konnte sich das erklären und die Angst, ihre Heimat zu verlieren, wuchs unter den Seekätzchen.

In gleichem Maße, wie die Perlenmuscheln abnahmen, wuchs die Anzahl der mit grauen Brocken gefüllten Muscheln. Die Grotte füllte sich immer mehr, bis es kaum noch möglich war, sie zu durchqueren.

Eines Tages spielten zwei kleine Seekätzchen dort Verstecken, während ihre Mütter nach den Muscheln sahen. Dabei verirrten die Kleinen sich und gerieten immer tiefer in die Grotte. Voller Angst riefen sie nach ihren Müttern und klammerten sich weinend aneinander. Die anderen Seekätzchen begannen nach ihnen zu suchen und erkämpften sich mühsam einen Weg bis in die hintersten Ecken der Grotte, wo sie die kleinen Ausreißer fanden.

Erst als sie die Kleinen wohlbehalten in den Armen hielten, bemerkten sie das Wunder, das völlig unbemerkt um sie herum geschehen war. Inmitten der unzähligen Felsbrocken waren neue Muscheln gewachsen – mehr und größere, als an jedem anderen Ort. Ohne jede Fürsorge hatten sich viele inzwischen geöffnet und überall lagen funkelnde, strahlende Perlen zwischen den Steinbrocken. Die Kätzchen sammelten, so viele sie tragen konnten, und brachten sie zu den anderen Seekätzchen. Schnell erkannten diese deren hervorragende Qualität. Die Perlen waren nicht nur unzerstörbar, sondern stabilisierten zusätzlich die minderwertigen Perlen, mit denen sie in Berührung kamen.

Die Seekätzchen waren überglücklich und begannen über die Bedeutung dieses Wunders nachzudenken.

Sie begriffen, wie kostbar die unansehnlichen Steinbrocken tatsächlich waren. Nur in Kombination mit ihnen waren die Perlen in der Lage, heranzureifen. Die Seekätzchen schämten sich, so sehr auf Äußerlichkeiten geachtet zu haben und bauten eine Aufzuchtstation. Alle Muscheln wurden von nun an gleichwertig behandelt und ganz egal, ob ihr Inhalt eine Perle oder ein Steinbrocken war – jede Muschel bekam einen Platz.

Was können wir daraus lernen? Ganz sicher zunächst einmal, dass der äußere Schein oft trügt, aber darüber hinaus noch viel mehr: Alles hat seinen Wert und eine wichtige Bedeutung – mit welchem Recht maßen wir uns an, das große Ganze wirklich zu durchschauen?

Es steht uns nicht zu, vorschnell zu urteilen und erst recht nicht, etwas auszusortieren, nur weil wir nicht in der Lage sind, seinen wahren Nutzen zu erkennen.

Respekt und Wertschätzung dürfen nicht von dem eigenen Gewinn daraus abhängen. Gerade die Schwachen und auf den ersten Blick Unscheinbaren bedürfen unserer besonderen Zuwendung und erst am Ende des Tages wird man erkennen, dass es sich immer lohnt. Diese Geschichte ist Wort für Wort wahr – bis auf die Teile, die rundherum erfunden sind.

1994 – 2001

Martha (1917) 1938 ausgew. ꚙ Bob 77

Natascha (1950) seit 1976 Südafrika 44

Daniel, Patricia (11.1977) 12. Klasse 17

Mark (1940) seit 1983 Südafrika 54

Johanna (1967) Ärztin 27

Robert (1972) Johannas Bruder 22

Vincent (1950) ꚙ Sydney (1953) 44/41

Sammy (1978) 12. Klasse 16

Eve (1982) 8. Klasse 12

Anna (1930) Naturheilerin ꚙ Konrad, 64

Kinder: Jacob, Antonia, Maria ꚙ Gabriel, Merle,

Linda (1960) Haushälterin 34

Paul (1948) Arbeiter ꚙ Emma 46/42

Theresa (1975 -†1996) Freundin von Patricia 19

Steven (1979) 15

Jim Jansen(1945) Arzt 49

Marjan van Dijk (1952) Freundin von Jim 42

Nico van Dijk (1974) Freund von Patricia 20

Jeff Goldberg (1948) Polizeichef ꚙ Nancy 46

Kinder: Tom (1972), Peggy (1974)

Nathan Scott (1938) Gynäkologe aus Durban 56

Benjamin Kramer (1963) Anwalt 31

Malcolm Dick führender AIDS-Doktor

Heather Bewohnerin Providence-Home Mutter von Daisy

Beatrice (1976) Daniels Freundin 18

1. Natascha zuckte zusammen, als ihre nackten Beine den glühend heißen Sitz des weißen Plastikstuhls berührten. Belustigt beobachtete Mark ihre vergeblichen Bemühungen, den Saum ihres Kleides zwischen ihre gleichmäßig gebräunte Haut und den Stuhl zu bringen.

„Tja, Schönheit hat eben ihren Preis“, flüsterte er in ihr Ohr und war ausnahmsweise dankbar für seine langen Hosen. Das am Körper klebende pastellgelbe Hemd ignorierte er dabei ebenso wie den feuchten Stoff seiner dunkelblauen Hose, die bei jeder noch so geringen Bewegung unangenehm an der schweißnassen Haut scheuerte. Während sein Blick über zahlreiche Leidensgenossen glitt, lobte er sich im Stillen dafür, nicht jedem Modetrend sofort hinterherzujagen. Er trug ein kurzärmliges Hemd mit dezent gemusterter Krawatte. Nach diesem Zugeständnis hatte er sich gegen ein Sakko entschieden – man sollte es schließlich nicht übertreiben. Viele der männlichen Gäste dachten wohl ebenso, wobei die meisten anstatt klassisch heller Hemden die inzwischen deutlich angesagteren dunkleren gewählt hatten. Ihr Anblick machte deutlich, wie sehr sie unter der Hitze litten. Im sinnlosen Versuch, diese damit erträglicher zu machen, trugen fast alle ihre Buttondown-Hemden am Hals offen. Mark war dennoch davon überzeugt, dass bei den herrschenden Temperaturen der Vorteil einer helleren Farbe den Nachteil einer Krawatte deutlich überstieg.

Nataschas knallrotes Etuikleid war so klassischelegant geschnitten, dass es ihre Figur hervorragend zur Geltung brachte. Trotz der auffälligen Farbe wirkte es dabei in keiner Weise anzüglich. Mark konnte den Blick dennoch kaum abwenden. Er erinnerte sich an den Stoff, den Natascha ihm vor ein paar Wochen gezeigt hatte. Obwohl er es bereits einige Male erlebt hatte, blieb ihm nach wie vor ein Rätsel, wie Maria daraus ein solches Meisterwerk zaubern konnte. Der Reiz lag dabei definitiv in den Dingen, die es verhüllte und Mark stellte befriedigt fest, dass niemand außer ihm dieses Verborgene beurteilen konnte.

Unter dem linken Träger des Kleides lugte ein kleines Stückchen roter Spitze hervor. Mark überlegte, ob seine Frau tatsächlich farblich passende Dessous trug. Aus Spitze? Kannte er die schon? Er erinnerte sich nicht daran - und das wäre ihm im Gedächtnis geblieben, daran bestand nicht der geringste Zweifel.

Er zupfte vorsichtig an der Spitze und fragte leise: „Neu?“ Seine rauchige Stimme zauberte eine Gänsehaut auf Nataschas Haut.

Sie grinste: „Sogar mit passendem Höschen.“

„Können wir gehen, damit ich es mir gleich genauer ansehen kann?“ Er wusste, wie sehr ihr die Frage gefiel, auch wenn beiden klar war, dass sie in dieser Situation völlig unpassend war.

Mit Genugtuung registrierte er das strahlende Lächeln, das über ihr Gesicht zog und ihrem Kosenamen alle Ehre machte. Sunny, so nannte er sie in Momenten wie diesen, wenn sie sich ganz besonders nahe waren. Ihr Lächeln erinnerte ihn an die aufgehende Sonne und hatte vom ersten Tag an den direkten Weg in sein Herz gefunden.

So sehr er ihr Lächeln auch genoss, zeigte es ihm jedoch auf der anderen Seite, dass der Stachel, den ihre erste Ehe hinterlassen hatte, nach wie vor in ihr steckte. Immer, wenn er dachte, die damaligen Demütigungen seien endgültig überwunden, gab es Situationen, die ihm klarmachten, dass die Wunden wohl niemals verheilten.

Natascha hatte ihren ersten Mann Christoph mit Anfang zwanzig kennengelernt und sich sofort in sein zuverlässiges, fürsorgliches Wesen verliebt. Er hatte vom ersten Tag an dafür gesorgt, dass sie nie den Boden unter den Füßen verlor. Christoph war zärtlich und liebevoll, akzeptierte sie so, wie sie war und hatte nie versucht, etwas an ihr zu ändern.

So perfekt es jedoch auf den ersten Blick erschien, hatte doch etwas Entscheidendes in ihrer Beziehung gefehlt. Christoph zeigte keinerlei Interesse an Nataschas Körper - ein Küsschen, kuscheln und in den Arm nehmen – zu mehr war er nicht bereit gewesen.

Nataschas Erfahrungen auf diesem Gebiet waren zu dem Zeitpunkt alles andere als umfangreich oder beeindruckend gewesen. Ein Verzicht auf Sex stellte für sie zunächst kein Problem dar. Erst durch Mark lernte sie ihren Körper kennen und entdeckte die damit verbundenen Freuden.

Eine Erklärung für Christophs Ablehnung hatte sie schmerzvoll bekommen, als sie ihn mit einem anderen Mann im Bett erwischte. All das lag nun fast zwanzig Jahre zurück, aber dennoch geschah es immer mal wieder, dass sie an sich zweifelte und davon überzeugt war, nicht liebens- und begehrenswert zu sein – so sehr Mark ihr auch immer und immer wieder das Gegenteil bewies.

Die Stuhlreihen auf dem grünen Rasen, der nur mit sehr viel Bewässerung diese gleichmäßig satte Farbe bewahren konnte, erstreckten sich in allen Richtungen und während sie die umherirrenden letzten Gäste beobachtete, war Natascha sehr dankbar dafür, schon im Vorfeld ihren Sitzplatz und die richtige Reihe ausfindig gemacht zu haben. Neben ihr waren noch drei freie Plätze für Jim, Marjan und ihre Großtante Martha. Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihr, dass ihnen noch genügend Zeit bis zum Beginn der Veranstaltung blieb.

Sie nickte Johanna zu, die zwischen Mark und Nico saß. Ihre Stieftochter hatte sich in den vergangenen Jahren so gut in Südafrika eingelebt, dass Natascha sich gar nicht vorstellen mochte, sie irgendwann wieder zu verlieren. Längst hatte ihre Haut die gesunde Bräune angenommen, die sie von den Touristen unterschied. Wenige Wochen reichten niemals aus, um so auszusehen, wenngleich es Mark ziemlich schnell gelungen war, diesen Zustand zu erreichen. Sie selbst musste mit ihren hellen Haaren und der empfindlichen Haut nach wie vor vorsichtig sein.

Während sie sich mit einem Programmheft Luft zufächelte, begrüßte sie Vincent und Sydney, die mit Eve an der Hand hinter ihnen Platz genommen hatten. An die Hautfarbe ihrer Freunde würden sie jedoch auch tausend Sonnenbäder nicht heranbringen. Vincent stammte in direkter Linie von den Ureinwohnern ab, seine Hautfarbe konnte man getrost als schwarz bezeichnen und nach einer helleren Stelle musste man an den Hand- oder Fußflächen suchen – aber warum sollte man das tun?

Sydneys Haut war zwar deutlich heller als die ihres Mannes, sie war jedoch unverkennbar keine Nord- oder Mitteleuropäerin. Vom ersten Tag an hatte Natascha die Freundin um ihre ebenmäßig samtige Haut beneidet und nur darin Trost gefunden, dass diese sich im Gegenzug ihre blonden Locken wünschte.

„Darf ich mal“, unterbrach Mark ihre Gedanken, indem er ihr das Heftchen aus der Hand nahm und darin zu blättern begann. „Puh, ganz schön straffes Programm. Wie lange soll das denn alles dauern?“ Er schob sich die Sonnenbrille aus dem Gesicht und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

Keine Wolke am azurblauen Himmel dämpfte den gnadenlosen Sonnenschein, kein Windhauch war zu spüren und da die Veranstalter davon ausgingen, dass ihre Gäste diese Temperaturen gewohnt waren, hatten sie bedauerlicherweise auf Sonnensegel verzichtet.

So dankbar Mark auch einen Moment zuvor für seine langen Hosen gewesen war, beneidete er inzwischen Natascha und alle anderen Frauen um ihre luftigen Kleider. Und keine Socken, dachte er zähneknirschend, während sein Blick auf die dunklen Halbschuhe fiel, die er nur in ganz seltenen Fällen trug und die bereits jetzt unangenehm drückten.

„Sei froh, dass du das alles nur einmal durchstehen musst“, antwortete Natascha leise und setzte grinsend hinzu: „Wieder ein Vorteil von Zwillingen.“

Inzwischen waren die meisten Plätze belegt und mit Erleichterung stellte sie fest, dass auch ihre Gruppe komplett war.

Heute war ein großer Tag für die ganze Familie. Nach zwölf Jahren wurden Patricia und Daniel aus der Schule entlassen! Da durfte niemand zu spät kommen, geschweige denn fehlen.

Im Rahmen einer Feierstunde – oder mehrerer Stunden, wie Mark wohl richtig befürchtete – würden die Schüler der Abschlussklasse ihr National Senior Certificate überreicht bekommen, das ihnen den Besuch einer Universität ermöglichte.

„Kommt Beatrice nicht?“, flüsterte ihr Mark ins Ohr und wies auf den freien Stuhl auf Nicos anderer Seite.

Natascha zuckte mit den Achseln. Mit der neuen Freundin ihres Sohnes war sie noch nicht wirklich warm geworden, deshalb war es ihr eigentlich völlig egal, ob sie an der Feier teilnahm oder nicht. Schuldbewusst ermahnte sie sich im Stillen, dass es heute nicht um sie selbst, sondern um ihren Nachwuchs ging und Daniel war es ganz sicher nicht gleichgültig, ob seine aktuelle Flamme anwesend war oder nicht.

Im letzten Moment kämpfte sich das Mädchen durch ihre Reihe und entschuldigte sich pausenlos bei den vielen Menschen, die ihretwegen noch einmal aufstehen mussten.

Mark warf Natascha einen belustigten Blick zu. „Na ja, ihr Outfit rechtfertigt das Zuspätkommen auf keinen Fall, aber zumindest ist ihr Rock nicht so kurz, dass sie sich die Beine verbrennen könnte.“

Natascha hätte wesentlich mehr zu Beatrice Erscheinungsbild und dem sackartigen Kleid in verwaschenen Brauntönen zu sagen gehabt, aber der erste Redner betrat nun die Bühne und unterbrach damit ihre Unterhaltung.

David Hamilton, der Direktor der weiterführenden Schule in Durban, begrüßte die Gäste, bevor er langatmig damit begann, das Erfolgskonzept seiner Institution vorzustellen. Er war nicht viel größer als die meisten seiner Schüler und seine langweilige Kleidung bot keinerlei optische Reize, die von seiner eintönigen Rede ablenkten. Weder seine Stimmlage, noch seine äußere Erscheinung waren in irgendeiner Weise beeindruckend, und Nataschas Gedanken schweiften bei dem langweiligen Singsang seiner Stimme schon nach wenigen Sätzen ab. Unauffällig überzeugte sie sich davon, dass es Mark ähnlich ging. Er hatte sich bequem nach hinten gelehnt, seine Augen waren hinter der dunklen Sonnenbrille verborgen und sie bezweifelte, dass er sie noch geöffnet hielt.

Sie beugte sich ein wenig nach vorne und ließ ihren Blick dabei nach links gleiten. Beatrice wippte auf der Kante ihres Stuhls und schien vor sich hin zu summen. Ihre rötlichen Haare waren so verstrubbelt, als seien sie gerade einem heftigen Windstoß ausgesetzt gewesen und die helle Haut rötete sich bereits, obwohl sie sicherlich nicht vergessen hatte, Sonnenschutz in hohem zweistelligem Lichtschutzfaktor aufzutragen.

Komisch, dass sie immer noch so hellhäutig ist, überlegte Natascha. Sie war schließlich hier aufgewachsen und auch wenn die Empfindlichkeit blieb, sollte sie doch zumindest ein kleines bisschen Farbe bekommen haben. Allerdings musste ihre Haut für eine Bräune auch mit der Sonne in Berührung kommen, setzte sie gedanklich hinzu und wenn dies wallende Gewand Beatrice üblichem Kleidungsstil entsprach, war das wohl eher selten der Fall.

Als hätte Mark ihre Gedanken erraten, wisperte er: „Vielleicht sollte Patricia ihr mal ein bisschen Nachhilfe in Sachen Mode geben, Bedarf sehe ich da durchaus.“ Obwohl er nicht immer mit dem etwas freizügigen Stil seiner Tochter einverstanden war, gefiel deren Kleidung ihm dennoch entschieden besser als Beatrices Wahl.

„Ich auch, aber ich glaube nicht, dass sie daran Interesse hat“, antwortete Natascha ebenso leise und erinnerte sich an die wenigen Unterhaltungen der beiden Mädchen. Patricias Meinung über Beatrice stand längst fest und sie versuchte nach Möglichkeit, ihr aus dem Weg zu gehen.

Mittlerweile war Hamilton zur allgemeinen Erleichterung zum Ende seiner ausschweifenden Rede gekommen und verließ unter spärlichem Applaus das Podium.

Die dem Publikum zugewandten Schülerinnen und Schüler der Abschlussklasse bildeten im hinteren Bereich der Bühne einen großen Halbkreis und Natascha hatte Mühe, ihre Sprösslinge aus der Entfernung zu erkennen. Sie kniff die Augen zusammen und überlegte dabei, ob sie vielleicht doch eine Brille bräuchte. Missmutig schüttelte sie den Kopf. So alt war sie doch wirklich noch nicht. Da sie sich kaum vorstellen konnte, mit einer Brille problemlos klarzukommen, beschloss sie, damit so lange zu warten, bis es gar nicht mehr anders ging.

An ihrer Kleidung konnte sie Patricia und Daniel auf alle Fälle nicht erkennen, wie alle anderen trugen auch sie ihre Schuluniformen.

Die Mädchen hatten bis zum letzten Tag um eine Ausnahme gekämpft. Natascha konnte ihr Anliegen gut verstehen, doch selbst Maria war daran gescheitert, in die vorgeschriebene weiße Bluse und den karierten Rock ein wenig Schick zu bringen. Der Spielraum war einfach zu gering, sogar die Rocklänge wurde exakt vorgeschrieben und gnadenlos kontrolliert. Patricias einziger Trost blieb, dass es den anderen Schülerinnen auch nicht besser ging als ihr selbst.

Die Jungs kämpften mit demselben Problem wie Mark. Ihnen allen waren hellblaue Hemden mit Krawatte und lange Hosen vorgeschrieben. Der heutige Tag bot keinen der heißersehnten Ausnahmefälle, an denen kurze Hosen gestattet waren – wobei dies ohnehin nur die jüngeren Schüler betraf.

Aber ganz egal, wie sehr es die Kinder auch störte, ihr einheitliches Erscheinungsbild war dennoch eine Augenweide.

Familien, die ihre Kinder auf diese Privatschule schickten, verfügten in aller Regel über Geld – ansonsten wären sie nicht in der Lage gewesen, das üppige Schulgeld zu bezahlen. Damit entfiel ein entscheidendes Argument zugunsten einheitlicher Uniformen. In öffentlichen Schulen versuchte man, damit zu vermeiden, einem Kind auf den ersten Blick seine Herkunft anzusehen.

Während Natascha ihren Blick über die Familien der Absolventinnen und Absolventen schweifen ließ, erkannte sie, dass der finanzielle Status jedoch sehr wohl auch hier eine Bedeutung hatte. Wohlstand war längst nicht bei jedem gleichermaßen ausgeprägt. Sie selbst lagen deutlich im untersten Bereich, denn Im Gegensatz zu ihrer Familie umgab viele Anwesende eine Aura von Reichtum. Das hatte sich bereits auf dem Parkplatz gezeigt, als Mark ihren zumindest picobello sauberen Pick-Up zwischen Lamborghinis und MercedesLimousinen geparkt hatte.

Geld zu besitzen schien vielen nicht auszureichen, es musste auch sehr deutlich zur Schau gestellt werden. Dies geschah in Form von hochpreisiger Kleidung, Designer-Handtaschen, Marken-Armbanduhren und auffälligen Schmuckstücken.

Während in öffentlichen Schulen durch die Uniformen vermieden werden sollte, niedrigeres Einkommen zu erkennen, galt hier wohl eher das Gegenteil.

Trotz einheitlicher Schulkleidung fiel es Sydney und Vincent nicht schwer, ihren Sohn zu erkennen, denn Sammy war einer der wenigen farbigen Schüler.

Natascha erinnerte sich noch gut an Patricias und Daniels Einschulung vor zwölf Jahren, als es Nichtweißen strikt verboten war, diese Schulen zu besuchen. In den für sie vorgesehenen Schulen wurden sie über viele Jahrzehnte ausschließlich in praktischen Dingen unterrichtet, um sie auf ihren späteren Dienst bei den Weißen vorzubereiten. Eine solide akademische Bildung mit Lesen, Schreiben und Rechnen gehörte nicht dazu.

Sammy hatte das große Glück gehabt, auf ihrer Farm aufzuwachsen. Dort waren von jeher keinerlei Unterschiede gemacht worden. Nur deshalb konnte ihn Sydney dort gemeinsam mit den anderen Kindern nach ihren Maßstäben unterrichten. Mit dem Ende der Apartheid, als alle Schulen Kindern unabhängig von ihrer Hautfarbe offenstanden, verfügte er über die nötigen Voraussetzungen, um auf die weiterführende Schule zu wechseln, die auch Daniel und Patricia besuchten.

Damit bildete er allerdings nach wie vor eine Ausnahme. Leicht war es für Sammy nicht gewesen, da in vielen Köpfen die Apartheid trotz ihres offiziellen Endes nach wie vor existierte. Das würde sich wohl auch so bald nicht ändern.

Daniel hatte seinen Eltern nur sehr selten von den Schikanen erzählt, denen beide Jungs durch ihre Freundschaft ausgesetzt waren, aber Natascha und Mark wussten auch das Nichtgesagte richtig zu deuten. Manch blauer Fleck, manche Schürfwunde waren sicherlich nicht das Ergebnis eines ungeschickten Sturzes gewesen, wie die beiden ihren Eltern immer wieder weiszumachen versucht hatten.

2. Die Bühne füllte inzwischen der Schulchor und Natascha freute sich zu sehen, dass die jüngeren Kinder eine kunterbunte Mischung verschiedenster Hautfarben boten. Auch Eve hatte sich inzwischen nach vorn durchgekämpft und alle warteten gespannt auf den nächsten Programmpunkt. Nataschas und Sydneys Bemühungen, etwas dazu herauszufinden waren dummerweise gescheitert, so raffiniert sie auch versucht hatten, ihrem Nachwuchs etwas zu entlocken.

Nun trat eine Lehrerin ans Rednerpult, die Natascha und Mark von zahlreichen Sprechtagen und vor allem aus der Zeit nach Daniels Unfalls kannten. Sie hatte maßgeblich dazu beigetragen, dass ihr Sohn trotz seines monatelangen Fehlens nicht den Anschluss verlor und ihm dadurch die Abschlussprüfungen zeitgleich mit denen seines Jahrgangs ermöglicht.

Mark drückte Nataschas Hand und warf ihr ein Lächeln zu. Wieder einmal spürte sie ihre tiefe Verbundenheit, auch ohne Worte gingen ihrer beider Gedanken in die gleiche Richtung.

Nach Daniels schwerem Reitunfall war seine vollständige Genesung lange Zeit fraglich gewesen. Ein monatelanger Aufenthalt in Deutschland, mit zahlreichen komplizierten Operationen und anschließender Reha, hatte zu aller Erleichterung letztendlich dazu geführt, dass keinerlei Folgeschäden zurückblieben. Zunächst waren seine Eltern davon ausgegangen, dass er ein Schuljahr wiederholen würde, aber Patricia und Sammy hatten Daniel dabei unterstützt, das Versäumte nachzuholen und ihn immer wieder zum Durchhalten motiviert.

Patricia zählte mit ihrem Notenspiegel zu den besten Schülerinnen. Die Noten ihres Bruders waren eher durchschnittlich, aber da er ohnehin kein Studium mit Numerus Clausus anstrebte – es war nicht einmal sicher, ob er überhaupt studieren würde – spielte das letztendlich keine Rolle. Vor dem Unfall war Mark fest davon ausgegangen, dass Daniel eines Tages die Farm weiterführen würde. Inzwischen war er sich seiner Sache nicht mehr so sicher. Woran der Junge überhaupt irgendein größeres Interesse hatte, blieb momentan noch sein Geheimnis.

Um sich Gehör zu verschaffen, klopfte die Lehrerin Nadine Dagger vorsichtig ans Mikrofon. Ihr Kleid stand in deutlichem Kontrast zu den konservativen Uniformen ihrer Schülerinnen und Schüler. In mehreren Volants fiel der strahlend blaue Rock locker bis fast auf den Boden und kaschierte ihre etwas ausladenden Hüften sehr gekonnt. Das hellere Oberteil war so geschnitten, dass es schick und trotzdem bequem wirkte. In einem Laden hatte sie sicherlich nicht eingekauft, dazu waren die Wege zu weit und die Auswahl zu gering. Scheinbar hat sie genauso eine talentierte Schneiderin wie ich selbst, dachte Natascha, während sie sich zwang, aufmerksam zuzuhören.

„Auch ich möchte Sie sehr herzlich begrüßen. Gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern haben wir uns für den heutigen Tag etwas ganz Besonderes ausgedacht.“ Sie lächelte in die Runde, während sie ihr langes rotbraunes Haar aus dem Gesicht strich. „Es ist Ihnen sicherlich allen bekannt, dass wir eine internationale Schule sind und was das im Einzelnen bedeutet, möchten wir Ihnen nun zeigen.“

Von der Seite näherten sich zwei jüngere Mädchen, die stolz um die Wette strahlten, während sie die italienische Flagge schwangen. Die Lehrerin ging ans Klavier und begann zu spielen. Als der Chor die italienische Nationalhymne anstimmte, traten drei Kinder nach vorne und verbeugten sich.

Als nächstes wurde God save the Queen gesungen und auch im Zuschauerbereich erhoben sich einige Angehörige, deren Nationalität anhand ihrer überaus korrekten Garderobe auch ohne ihr Aufstehen unschwer erkennbar war.

Zu den Klängen der deutschen Hymne hielt es Natascha und Mark nicht mehr auf ihren Plätzen. Als sie Daniel und Patricia auf der Bühne nach vorne treten sahen, musste auch Mark mit den Tränen kämpfen. Er reichte seiner ältesten Tochter Johanna, die neben ihm stand, die Hand und versuchte, ihr damit zu zeigen, wie froh er über ihre Anwesenheit war. Johannas Schulentlassung hatte er ebenso verpasst wie viele andere wichtige Stationen ihres Lebens. Die dunkle Sonnenbrille verbarg seine Rührung und Natascha ging davon aus, dass niemand außer ihr bemerkte, wie lange es dauerte, bis er sich wieder gefangen hatte.

Die Jugendlichen repräsentierten erstaunlich viele unterschiedliche Nationalitäten und Natascha war dankbar dafür, dass die kleinen Flaggen Hinweise zum jeweiligen Land gaben. Die richtige Zuordnung allein anhand der Hymnen wäre ihr niemals gelungen.

Nachdem fast alle bereits ihr Zeugnis in der Hand hielten, erklang die südafrikanische Nationalhymne und Sammy trat mit zwei Mädchen nach vorne. Natascha und Mark wechselten einen kurzen Blick und erhoben sich gleichzeitig. Auch dies war ihre Hymne, hier hatten sie eine neue Heimat, die sie liebten und für die sie ohne Wenn und Aber eintreten würden, gefunden. Und ganz egal, an welcher Stelle sich die Gäste bereits angesprochen gefühlt hatten, nun standen alle erneut auf und unterstützten vielstimmig den Chor. Natascha war sicherlich nicht die Einzige, die eine Gänsehaut überlief.

Daniel und Patricia hatten mit ihrer Geburt in Südafrika ihre Staatsbürgerschaft automatisch erhalten. Natascha hatte zunächst für sich selbst keinen Nutzen darin gesehen, aber als Martha ihr die Farm überschreiben wollte, erfuhr sie, dass dies nur an südafrikanische Staatsbürger möglich war. Bürokratische Schlupflöcher und ihre Verwandtschaft mit Martha sorgten letztendlich für die doppelte Staatsangehörigkeit.

Mark war der jüngste Südafrikaner in ihrer Familie. Nach ihrer Hochzeit in Deutschland vor zwei Jahren stellten sie beim Aktualisieren der Dokumente fest, dass er als Ehemann einer Südafrikanerin automatisch den Anspruch auf diese Staatsbürgerschaft hatte.

Ihre erste offizielle Amtshandlung hatte erst kürzlich stattgefunden und erfüllte Natascha und Mark nach wie vor mit Stolz. Sie hatten sich in die kilometerlangen Schlangen eingereiht, um an den ersten freien demokratischen Wahlen nach fast einhundertfünfzig Jahren Apartheid teilzunehmen. Daniel und Patricia waren zu ihrem großen Bedauern zu diesem Zeitpunkt noch minderjährig und damit nicht wahlberechtigt gewesen sie durften aber davon ausgehen, noch viele Gelegenheiten zu bekommen, um an der Bildung ihrer Regierung mitzuwirken.

Obwohl die Apartheid offiziell beendet war, gehörten die darauffolgenden Jahre zu den gewalttätigsten, die Südafrika je erlebt hatte.

Der nach siebenundzwanzigjähriger Haft wieder freie Nelson Mandela erreichte mit seiner Partei ANC die überwältigende Mehrheit von dreiundsechzig Prozent und wurde damit der erste schwarze Präsident dieses Landes. Nicht nur Natascha und Mark, sondern auch mehr als zwanzig Millionen Schwarze – oder anders ausgedrückt, neunzig Prozent aller Wahlberechtigten wählten zum ersten Mal in Südafrika. Das allgemeine Wahlrecht bedeutete einen wichtigen Schritt zur Überwindung der Rassentrennung, aber der vor ihnen liegende Weg würde noch lang und steinig sein.

Auf der anderen Seite wäre eine Veranstaltung wie die heutige während der Apartheid undenkbar gewesen, also zwangen sich Natascha und Mark das Positive zu sehen, ohne damit zu hadern, dass noch nicht alles perfekt war.

Nach dieser ergreifenden Darbietung wurde erst einmal eine Pause eingelegt. Die Mädchen und Jungen verteilten kühle Getränke, die alle erfreut entgegennahmen.

Als sich die Abschlussfeier ihrem Ende zu neigte, erkundigte sich Johanna, wer diese feudale Veranstaltung eigentlich bezahlen würde. Etwas Vergleichbares kannte sie aus Deutschland nicht, obwohl dort viel mehr Geld zur Verfügung stand.

„Letztendlich wir alle“, antwortete Natascha und erklärte ihr in groben Zügen das südafrikanische Schulsystem und die Bedeutung der Privatschulen, für die sie Jahr für Jahr tief in die Tasche gegriffen hatten.

„Man kann es so oder so sehen, aber ich denke, die Investition hat sich gelohnt“, bemerkte Mark mit einem anerkennenden Blick auf seine Zwillinge, denen der Stolz über die bestandenen Prüfungen deutlich anzusehen war.

„Tja, wer es sich leisten kann, hat leicht reden“, murmelte Beatrice und rümpfte die Nase, als ihr ein Glas Sekt angeboten wurde. „Nein danke, ich trinke keinen Alkohol.“

Bevor Natascha zu einer Entgegnung ansetzen konnte, bremste sie Marks Hand auf ihrer Schulter.

„Heute nicht, lass nicht zu, dass sie uns diesen Tag kaputtmacht.“ Mit einem Kuss besänftigte er sie wirksamer, als es jedes weitere Wort vermocht hätte und zustimmend schmiegte sie sich an ihn.

„Ich liebe dich, weißt du eigentlich wie sehr?“, flüsterte sie in sein Ohr.

„Nicht genau, könntest du es mir vielleicht gleich hier und jetzt demonstrieren?“, frotzelte Mark, während seine Hand über ihren Rücken glitt.

„Sag Feigling und ich lege sofort los“, konterte Natascha und zog ihre Unterlippe zwischen die Zähne. Ihr verschmitztes Grinsen warnte Mark davor, sie weiter zu provozieren und schnell ruderte er zurück.

„Das würde ich nie wagen. Lass es uns auf später verschieben, wenn wir alleine sind.“ Sein Bedauern über den Aufschub war nicht zu übersehen.

„Wir haben einen Tisch bei Giovanni reserviert, ihr kommt doch noch mit?“, fragte Mark kurze Zeit später, als er gemeinsam mit Vincent zum Parkplatz schlenderte.

„Na klar! Ich bin froh, dass wir so weit gekommen sind! Das müssen wir feiern. Ohne euch hätte Sammy das nie geschafft“, klopfte er Mark dankbar auf die Schulter.

Natascha hatte die letzten Worte aufgeschnappt und antwortete schnell: „Quatsch, was er erreicht hat, ist euch ebenso zuzuschreiben. Jeder von uns hat seinen Teil dazu beigetragen.“ Mit einem kleinen Stolpern ergriff sie Marks Hand. „Kannst du bitte etwas langsamer laufen? Diese Schuhe bringen mich um!“

Lächelnd reichte er ihr seinen Arm und entgegnete mit einem Blick auf ihre hohen Absätze: „Schönheit hat nun mal seinen Preis, aber wenn ich sehe, wie viele Kerle bei deinem Anblick angefangen haben zu sabbern, muss ich zugeben, dass es sich gelohnt hat. Ich kümmere mich nachher um deine armen Füße – wenn sie irgendwann an der Reihe sind.“

Natascha schob seine Hand, die inzwischen auf ihrem Po gelandet war, zur Seite. „Das könnte dir so passen, die Reihenfolge lege ich fest.“ Mit einem Blick auf Beatrice setzte sie leise hinzu: „Bequemlichkeit hat auch ihre Vorzüge.“

Um nicht gehört zu werden, beugte sich Mark zu seiner Frau und zischte: „Wage bloß nicht, dir an ihr ein Beispiel zu nehmen. Ihre Schuhe sind so hässlich, dass dir deine Füße allein deshalb weh tun würden, weil ihr Anblick so grausam ist.“

Lachend betraten sie das Restaurant und wurden auf die Terrasse zu einem großen, festlich gedeckten Tisch geführt. Als alle saßen, erhob sich Mark. „So, jetzt kommt meine dreistündige Rede, ich habe mir ein Beispiel an eurem Direktor genommen und möchte etwas ausführlicher auf alles eingehen ...“

Natascha fühlte sich in ihre allererste Zeit zurückversetzt, nachdem sie sich gerade erst kennengelernt hatten. Damals war Mark ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen, der nichts mehr genoss, als vor großem Publikum zu sprechen. All das hatte er von einem Tag auf den anderen aufgegeben, um nach ihr zu suchen. Er hatte sein Leben ohne zu zögern gegen eine völlig ungewisse Zukunft eingetauscht, angetrieben nur von seiner Sehnsucht nach ihr und der vagen Hoffnung sie zu finden. Ob er es jemals bereut hatte?

Lachend erhob sich Daniel und unterbrach seinen Vater. „Lass mal Dad, die Rede halte heute ich – und sie wird nicht so lange dauern! Patricia und ich danken euch allen, dass ihr uns bis hierher begleitet habt und heute mit uns feiert. Mom, Dad, euch danken wir außerdem für diese Einladung und für alle anderen gilt: Lasst es euch schmecken und nehmt keine Rücksicht auf die Preise, Dad zahlt gerne.“

Als er sich unter dem Gelächter und dem Applaus der anderen wieder gesetzt hatte, beugte er sich zu seinem Vater und erkundigte sich vorsichtig, ob dieser sich nun übergangen fühlte und lieber selbst die Rede gehalten hätte.

Mark schüttelte den Kopf und entgegnete: „Ich habe einmal den Fehler gemacht, dir etwas nicht zuzutrauen. Das passiert mir nicht wieder!“

Er erinnerte sich noch sehr gut an seine unsensible Abfuhr nach Daniels Bitte, eines der Pferde zureiten zu dürfen. Gekränkt hatte der Junge es daraufhin dennoch versucht - und fast mit seinem Leben dafür bezahlt. Mark gab sich bis heute die Hauptschuld an Daniels Kurzschlussreaktion – sein eigenes überhebliches Auftreten hatte den Jungen dazu getrieben, sich über alle Verbote hinwegzusetzen.

Zum Glück verdrängte die gemütliche Atmosphäre schnell alle trüben Gedanken. Das Essen zog sich über mehrere Stunden hin und als Natascha das Gefühl hatte, nach dem nächsten Bissen zu platzen, bat Mark endlich um die Rechnung.

Als sie ihr Zuhause erreichten, wurde Natascha wieder einmal bewusst, wie sehr sich alles seit ihrer Ankunft verändert hatte. Vor zwanzig Jahren hatte die Farm ihrer Großtante lediglich ein Lattenzaun mit einem einfachen Gatter umgeben. Ein großes Holztor verschloss die Einfahrt erst, nachdem sie ihrem Heim den Namen Sunny-Farm gegeben hatte.

Inzwischen war beides längst ersetzt worden und ein stabiler Zaun mit Elektrodraht verhinderte wirkungsvoll jedes unbefugte Betreten. Als Mark den Code eingegeben hatte, öffneten sich die beiden Flügel des großen Tors nach innen, um sich sofort nach Durchfahrt der Wagen wieder hinter ihnen zu schließen.

Diese Sicherheitsvorkehrungen hatte es früher nur in den größeren Städten gegeben, wo Weiße zwar wesentlich luxuriöser, jedoch dennoch ebenso eingesperrt wie Schwarze gelebt hatten.

Mittlerweile war es auf dem Land ebenso unverzichtbar, sich gegen Eindringlinge zu schützen. Das Ende der Rassentrennung hatte nicht wie erhofft zu einer ausgleichenden Gerechtigkeit geführt. Immer noch lebte der Großteil der Bevölkerung am Existenzminimum und es war ihnen kaum zu verdenken, dass viele den wohlhabenden Weißen ihren Besitz neideten.

Die Farm bewahrte sich trotz aller Probleme immer noch ihren Sonderstatus. Hier lebten von jeher Menschen aller Religionen und Hautfarben völlig gleichberechtigt miteinander. Bisher waren sie vor Übergriffen verschont geblieben, aber niemand konnte garantieren, dass das auf Dauer so bleiben würde.

Nachdem sie sich von ihren Freunden verabschiedet hatten, gähnte Mark ausgiebig und erklärte seiner Frau, dass es definitiv Schlafenszeit wäre.

Fertig mit Duschen fiel Nataschas Blick auf die roten Dessous, die auf dem Hocker im Bad vor ihr lagen. Mit einem Lächeln schlüpfte sie erneut hinein und versteckte ihren Körper unter dem großen Badetuch.

Bei ihrem Eintreten blickte Mark sie hoffnungsvoll an: „Könntest du vielleicht …?“

Natascha grinste und ließ das Handtuch fallen: „Schon geschehen.“ Das Spitzenoutfit würde sicherlich nie zu ihrer Lieblingsgarderobe gehören, aber Marks Reaktion darauf war definitiv alle Unbequemlichkeiten wert.

Kaum hatte sie sich auf der Matratze ausgestreckt, rutschte Mark ans Fußende. Ohne weitere Erklärungen griff er nach ihrem Fuß und begann ihn zu massieren.

Natascha schloss die Augen und seufzte zufrieden. „Hör bitte nie wieder damit auf, das ist sooo gut.“

„Wenn ich gewusst hätte, wie schnell du zufrieden zu stellen bist, hätte ich mir die jahrelange Schufterei ersparen können“, bemerkte Mark, während er sich dem anderen Fuß zuwandte.

Mit einem Blick auf seinen selbstzufriedenen Gesichtsausdruck entschied Natascha spontan, ihm diese Frechheit nicht ungestraft durchgehen zu lassen. „Ach Schatz, ich nehme doch nur Rücksicht auf dein Alter – ich möchte dich auf keinen Fall überfordern“, säuselte sie.

Im nächsten Moment war ihr Fuß vergessen und Mark lag mit seinem vollen Gewicht auf ihr. „Ich verspreche dir, dass ich erst aufhöre, wenn du um Gnade winselst, ich werde dir schon zeigen, wer hier wen überfordert.“

Auch nach all den Jahren verstrichen selten mehr als zwei, drei Nächte, in denen sie sich nicht liebten. Aber längst verbrachten sie nicht mehr die ganze Nacht damit – so wie ganz am Anfang, als jede gemeinsame Minute viel zu kostbar war, um an Schlaf auch nur zu denken.

Der Wunsch vieler Männer nach zügellosem, niemals endendem Sex scheiterte in aller Regel sehr schnell an ihren begrenzten Fähigkeiten. Nicht so bei Mark, er war dazu in der Lage, diesen Traum jederzeit Wirklichkeit werden zu lassen – ohne Wenn und Aber. Zunächst davon irritiert, erkannte Natascha sehr schnell, welches Geschenk er ihr damit bereitete. Mark hatte bereits in ihrer ersten Nacht unmissverständlich klargestellt, dass sein wichtigster Job darin bestand, seine Partnerin restlos zufrieden zu stellen und daran hielt er sich bis heute konsequent.

Was in dieser Nacht dazu führte, die alten Gewohnheiten wieder aufzunehmen, hätte keiner von ihnen in Worte fassen können. Vielleicht war der Schulabschluss der Kinder ein Hinweis darauf gewesen, wie schnell die Zeit verrann und erst als bereits das erste Tageslicht durchs Fenster schien, kapitulierte Natascha erschöpft. „Okay, du hast gewonnen, ich widerrufe alles und behaupte das Gegenteil!“

Mark grinste. „Na ein Glück, das wurde aber auch Zeit. Viel länger hätte ich wirklich nicht mehr durchgehalten. Können wir jetzt vielleicht endlich schlafen?“

„Gleich, ich würde nur noch gerne klären, ob ich dich in Zukunft Mein Hengst nennen darf?“ Natascha kuschelte sich an ihren Mann und schloss zufrieden die Augen.

„Wenn wir alleine sind jederzeit gerne, ansonsten bevorzuge ich Mein Herr und Gebieter oder Großer Meister“, murmelte Mark, bevor auch ihm die Augen zufielen.

3. Am nächsten Abend schlenderten Natascha und Mark Hand in Hand übers Gelände. Sie waren auf dem Weg zur Sunny-Bar, die die Jugendlichen vor ein paar Jahren eröffnet hatten.

Mittlerweile erinnerte nicht mehr viel an diese Anfänge. Die zunächst bunt zusammengewürfelten Möbel ersetzte inzwischen eine einheitliche Einrichtung und die rustikale Theke erstreckte sich über eine neu angelegte Terrasse in einen weiteren Anbau hinein. Dort bot eine Bühne Nachwuchskünstlern die Möglichkeit, ihre mehr oder weniger großen Talente vor Publikum zu beweisen. Zunächst hatte kaum jemand gewagt, dieses Angebot wahrzunehmen, mittlerweile gab es einen über Wochen ausgebuchten Kalender.

Es wechselten sich unterschiedlich begabte Musiker, Comedy-Künstler oder Liedermacher ab und begeisterten ein immer größer werdendes Publikum – naja, vielleicht waren nicht immer alle begeistert, aber ein hoher Unterhaltungswert war auf jeden Fall garantiert und führte dazu, dass die Zuschauerreihen nie leer blieben. Sogar ein Zauberer hatte schon ein Gastspiel gegeben und Natascha rätselte noch immer, wie ihm seine Kunststücke geglückt waren.

Die Idee zur Sunny-Bar stammte von Patricia. Sie hatte damit versucht, die traurige Zeit nach dem Unfall ihres Bruders ohne ihn und ihre Eltern zu überstehen und ein wenig Licht in ihre dunklen Gedanken zu bringen. Nach ihrer Rückkehr hatten Mark und Natascha staunend zur Kenntnis genommen, wie erwachsen ihre Tochter mittlerweile geworden war. Gemeinsam mit Nico hatte sie ihr Leben weitestgehend selbstständig gestaltet. Bisher war das Mädchen nicht in alte Gewohnheiten zurückgefallen und ihre Eltern hofften, dass die Zeiten, in denen sie sich vor jeder Arbeit und Verantwortung gedrückt hatte, tatsächlich hinter ihr lagen.

„Ich weiß nicht, ob ich es gut oder schlecht finde, wie sehr sich alles verändert hat“, seufzte Natascha, während ihr Blick auf das blinkende Logo der Bar fiel. Ein kunterbunter Vogel Strauß hielt ein Glas Bier in der Hand und schien den Gästen damit ständig zuzuprosten.

„Naja, über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Den Kids scheint es zu gefallen - und ich merke an solchen Dingen, dass ich langsam alt werde.“ Mark schloss die Augen, das Blinken in Verbindung mit der lauten Musik bereitete ihm allmählich Kopfschmerzen.

„Gut, dass wir uns nicht verändert haben - oder doch?“, fragte Natascha zögernd.

„Natürlich haben wir uns verändert, aber gemeinsam und glücklicherweise in die gleiche Richtung.“ Auch Mark stockte einen Moment, bevor er fortfuhr: „Und dann ist das okay, denke ich.“ Zur Bestätigung legte er den Arm um Natascha und gab ihr einen liebevollen Kuss. „Zeit nach Hause zu gehen oder möchtest du hier noch was trinken?“, fragte Mark, während er vielsagend auf die Bar zeigte. Es war so voll, dass die Jugendlichen dicht an dicht standen und wie ein überlaufendes Getränk in einem zu kleinen Glas aus der Tür und auf die Terrasse schwappten.

Grinsend schüttelte Natascha den Kopf, aber kaum hatten sie sich ein paar Meter von der Bar entfernt, blieb Mark alarmiert stehen und hob lauschend den Kopf. „Moment mal, hast du das auch gerade gehört?“ Er wandte sich zur Seite und wies auf einen schmalen Weg seitlich der Bar, an dessen Ende ein Vorratsschuppen stand. Von dort hallten aufgebrachte Stimmen zu ihnen herüber, allerdings war der Wortlaut nicht zu verstehen. „Bleib hier, ich sehe mal nach, was da los ist. Es klingt nach Ärger.“ Mark löste sich von Natascha, ohne eine Antwort abzuwarten.

Er wusste genau, dass er sich darauf verlassen konnte, dass sie ihm weder widersprechen noch folgen würde. Obwohl ihre Entführung und Gefangennahme bereits einige Zeit zurücklag, hatte Natascha ihre Angst nie wieder vollkommen verloren. Freiwillig würde sie sich keiner Situation aussetzen, die sie nicht einschätzen konnte. Während sie Mark hinterherblickte, wählte sie Vincents Handynummer und seufzte erleichtert, als er sich beim ersten Klingeln meldete. Er versprach, in wenigen Minuten bei ihnen zu sein, um ihrem Mann zur Seite zu stehen.

Mark näherte sich vorsichtig der offenstehenden Tür und bückte sich, um einen starken, am Wegrand liegenden Ast aufzuheben. Vielleicht hatten sich ein paar Gäste unerlaubten Zutritt verschafft, um kostenlos an Getränke zu kommen? Dann musste er zunächst jedoch klären, mit wie vielen er es zu tun hatte. Er war vielleicht mutiger als Natascha – aber lebensmüde war auch er nicht.

Südafrika war und blieb ein wildes Land. Ohne Waffen waren die meisten Ganoven selten unterwegs und zeigten keine Skrupel, diese zu benutzen. Die Hemmschwelle lag sehr niedrig und Mark ging Risiken so weit wie möglich aus dem Weg. Hier galt es jedoch, sein Zuhause zu verteidigen und damit blieb ihm keine andere Wahl, als sich der möglichen Gefahr zu stellen. Als er einen der Sprecher erkannte, ließ er den Ast erleichtert sinken – es handelte sich um Nico, der inzwischen so aufgebracht schrie, dass sich seine Stimme überschlug.

„Hör mal, ich sage es dir jetzt zum allerletzten Mal. Entweder machst du deinen Job vernünftig oder du brauchst in Zukunft gar nicht mehr zu kommen!“

„Und warum ist mein Job immer nur, hier sauber zu machen und aufzuräumen, während du die Gäste bedienst und kassierst? Wer teilt das eigentlich so ungerecht ein?“ Die Stimme gehörte zu Steven, dem fünfzehnjährigen Sohn von Paul und Emma, der nicht weniger zornig klang.

„Das kann ich dir sagen, ich mache die Einteilung und zwar deshalb, weil einer von uns der Chef ist und der andere eben nicht.“ Bei Nicos eiskalter Stimme konnte Mark sich lebhaft vorstellen, wie sehr sie den Jüngeren einschüchtern musste.

Dennoch schien Steven nicht bereit zu sein zurückzustecken und wehrte sich tapfer. „Toll, wer sagt denn, dass du der Chef bist? Soll ich vielleicht Patricia mal fragen, was sie dazu zu sagen hat?“

Nico lachte hart auf: „Wage es und du wirst dich wundern, wie schnell ihr euch ein neues Zuhause suchen könnt. Überlege dir gut, was du tust.“

Jedes Wort war so messerscharf, dass Mark ein Schauer über den Rücken lief. Er hatte genug gehört und nachdem er sich ein paar Schritte entfernt hatte, beeilte er sich, unbemerkt zu Natascha und Vincent zu gelangen, die ihn bereits mit besorgten Mienen erwarteten.

Bevor sie fragen konnten, beschwichtigte er sie schnell. „Keine Sorge, es waren Nico und Steven, sie haben wohl eine Auseinandersetzung. Ich habe mich nicht gleich eingemischt – ansonsten hätte ich sicherlich nicht ruhig bleiben können - ich werde morgen mal mit Nico ein ernstes Wörtchen sprechen müssen.“

Er berichtete mit zusammengebissenen Zähnen, was er gehört hatte und wechselte einen besorgten Blick mit Vincent. „Sollten wir tatsächlich von dieser Seite Stress wegen unterschiedlicher Hautfarben bekommen?“

Der Freund spürte, wie aufgebracht Mark war und versuchte ihn zu besänftigen. „Nico hat sehr schnell eine Menge Verantwortung übernehmen müssen, als ihr weggewesen seid. Vielleicht ist ihm das zu Kopf gestiegen. Trotzdem ist er ein guter Junge – sprich in Ruhe mit ihm und mach ihm begreiflich, dass es so nicht geht. Das sollte ausreichen, um ihn wieder auf die richtige Spur zu bringen.“

Als Natascha und Mark kurze Zeit später bei einem Glas Wein auf der Veranda saßen und die friedliche Stille ihres Heims genossen, kam Mark erneut darauf zu sprechen. „Ich hatte mir im Stillen schon ausgemalt, wie Patricia und Nico vielleicht irgendwann die Farm gemeinsam fortführen“, sagte er nachdenklich. „Daniel scheint seit seinem Unfall gar kein Interesse mehr daran zu haben. Aber das eben Gehörte rückt alles in ein ganz anderes Licht. Ich dachte, Rassismus würde hier auf der Farm auf keinen Fall ein Problem darstellen.“ Er schüttelte frustriert den Kopf. „Und jetzt passiert es hier vollkommen unerwartet, direkt vor unseren Augen - von einem Menschen, den wir zu kennen glaubten.“

Natascha nickte zustimmend. „Ich bin im Moment genauso schockiert wie du, aber Vincent hat recht, du musst erst mal mit Nico sprechen und ihm eine Chance geben, sein Verhalten zu erklären. Vielleicht hat sein Auftreten gar nichts mit Stevens Hautfarbe zu tun und es steckt etwas ganz anderes dahinter. Ein bisschen erinnert mich sein Benehmen an Patricias unrühmliches erstes Rendezvous. Da hat Nico sich ihr gegenüber auch ziemlich mies verhalten und es nachher bitter bereut. Wahrscheinlich verträgt er weniger Alkohol, als er annimmt.“

„Das ist vielleicht eine Erklärung, mit Sicherheit aber keine Entschuldigung!“, knurrte Mark, der weit davon entfernt war, dem Jungen zu verzeihen. „Was bildet er sich eigentlich ein, Steven damit zu drohen, seine ganze Familie vor die Tür zu setzen! Der Einzige, der gerade einen Rauswurf riskiert, ist er selbst.“ Er versuchte vergeblich, seinen Zorn unter Kontrolle zu bekommen. Es war nur gut für den Jungen, dass er ihn nicht direkt zur Rede gestellt hatte.

„Ich kann versuchen, mit Patricia darüber zu sprechen. Aber falls es tatsächlich seine wahre Einstellung gegenüber Farbigen sein sollte, weiß sie mit Sicherheit nicht darüber Bescheid. Auch wenn sie Nico noch so gerne hat, wirft sie deshalb nicht ihre Prinzipien über den Haufen.“ Natascha verbot sich jeden weiteren Gedanken daran, dass Patricia Nico in seinen Ansichten bestärken könnte. Vielleicht hatte er ja nur in einer Stresssituation überreagiert. Sie hoffte es von ganzem Herzen - um ihrer aller Willen.

4. Die nächsten Tage verstrichen, ohne Mark die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Nico zu bieten.

Schon vor Daniels Unfall hatte ihre Pferdezucht dafür gesorgt, dass Mark die meisten Tage gemeinsam mit Paul in den Ställen verbrachte. Während er für mehrere Monate ausfiel, wurde die Zucht ein bisschen zurückgenommen, aber inzwischen lief es besser denn je. Zu Marks Leidwesen war er selbst inzwischen größtenteils mit organisatorischen und kaufmännischen Dingen beschäftigt. Diese Arbeit hatte solche Ausmaße angenommen, dass sie längst nicht mehr nebenbei zu erledigen war und einiges davon war seiner Meinung nach zu anspruchsvoll, um es anderen zu überlassen. Es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis sich jemand Vollzeit mit dem Schriftkram beschäftigen musste – und das würde garantiert nicht er selbst sein, nahm sich Mark wieder einmal fest vor.

Im Stall sah es nicht viel besser aus, auch hier fehlten Leute. Gerade jetzt waren sie alle nahezu rund um die Uhr damit beschäftigt, die Vierjährigen für den Verkauf vorzubereiten. Es war ihre Haupteinnahmequelle, der Erlös würde den Fortbestand der Farm für Monate absichern, die Gewinne aller anderen Bereiche lagen deutlich niedriger.

Die zu erwartenden Preise für die Pferde waren ähnlich stabil, wie die im Farmbetrieb anfallenden Kosten. Egal, wie sparsam sie auch zu wirtschaften versuchten, die Rechnungen mussten pünktlich bezahlt werden.

Dankbar ließ Mark seinen Blick schweifen und nickte den zahlreichen Jungen und Mädchen zu, die ihnen bei ihrer Arbeit zur Hand gingen. Alle hatten hier auf der Farm ihr Zuhause und Mark kannte die meisten seit ihrer Geburt.

Es war deutlich erkennbar, dass Wochenende war, denn sonst wären viel weniger Helfer vor Ort gewesen. Die Kleineren wurden zwar nach wie vor in der Farmschule von Sydney unterrichtet, doch die meisten der älteren Kinder besuchten inzwischen Schulen außerhalb und kehrten nur am Wochenende oder in den Ferien auf die Farm zurück. Hoffentlich würde der eine oder andere von ihnen nach dem Schulabschluss hier eine dauerhafte Aufgabe suchen, ging ihm durch den Kopf, als er dabei zusah, wie ein Cousin von Sammy einem Pferd professionell die Hufe auskratzte.

„Er macht das richtig gut, findest du nicht?“ Paul war unbemerkt neben ihn getreten und streckte stöhnend seinen schmerzenden Rücken. „Ich hätte nichts dagegen, wenn ich das Zureiten demnächst abgeben könnte.“

Mark nickte zustimmend. Er selbst hatte seit Daniels Unfall seine alte Leidenschaft dafür nie wiedererlangt und hielt sich vor allem bei den lebhaften Hengsten bewusst zurück. Es wurde wirklich langsam Zeit, die Verantwortung dafür in jüngere Hände zu legen.

Nachdenklich musterte Mark seinen Freund, der ihm vom ersten Tag an zur Seite gestanden hatte. Ohne ihn und Vincent wäre es ihm nie gelungen, sich in einer für ihn völlig fremden Kultur zurechtzufinden. Ruhig und unaufdringlich hatten sie Mark angeleitet und vorausschauend vor manchem Fehler bewahrt.

Aber obwohl Paul noch nie ein Freund vieler Worte gewesen war, fiel Mark in letzter Zeit seine wachsende Schweigsamkeit auf. Und auch das gutmütige Lächeln, bei dem sein Gesicht in tausend Lachfältchen zerknitterte, zeigte sich immer seltener.

„Ist alles okay, geht es der Familie gut?“, bemühte sich Mark, unbesorgt zu klingen. „Du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst, wenn irgendetwas ist?“

Paul seufzte, sein schmerzvoller Blick bei der Erwähnung der Familie bewies, dass Mark mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte.

Zögernd stieß er hervor: „Ich werde Opa.“

„Okay, …“, Mark zog verwundert die Augenbraue hoch. „Aber ist das ein Grund, so besorgt zu sein? Ich gehe doch davon aus, dass es nicht Steven betrifft?“

Paul lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht, aber das macht es nicht viel besser. Theresa hat es uns vor ein paar Tagen gesagt. Einen Vater scheint es nicht zu geben, wobei ich vermute, dass eher das Gegenteil der Fall ist.“ Nach einer Pause fuhr er fort: „Sie scheint es für eine gute Methode zu halten, ihre Beliebtheit bei den Weißen zu steigern – und jetzt ist der Schuss gehörig nach hinten losgegangen.“

„Mit anderen Worten wisst ihr nicht, wer der Vater ist? Meinst du, Theresa selbst weiß es? Hast du einen Verdacht?“ Mark erinnerte sich noch sehr gut an Patricias ungewollte Schwangerschaft und ihre Weigerung, den Eltern von Nico zu erzählen. Als Natascha und er sich bereits mit dem Gedanken angefreundet hatten, das Kind zunächst selbst großzuziehen, damit ihre Tochter die Schule beenden konnte, hatte Patricia das Baby verloren.

Paul zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, ich weiß nicht mal, ob der Junge ein Weißer oder Schwarzer ist. Aber das ist auch nicht das größte Problem ...“

Geduldig wartete Mark, bis Paul die richtigen Worte fand, um fortzufahren.

„Theresa geht es nicht gut. Sie fängt sich jeden Infekt ein, den jemand in ihrer Umgebung hat. Jeden Schnupfen, jede Magen-Darm-Verstimmung. Als Kind war sie nie krank und inzwischen haut sie alles sofort um. Ich weiß nicht, wie sie auch noch eine Schwangerschaft verkraften soll.“

„Wobei das ja zunächst mal keine Krankheit ist – aber ich verstehe was du meinst. Ist sie schon bei Jim oder Johanna gewesen?“ Mark hoffte, dass Theresa sich zumindest auf diesem Weg Unterstützung gesucht hatte.

„Sie war vor ein paar Tagen bei Johanna.“ Paul fragte hoffnungsvoll: „Glaubst du, deine Tochter würde …?“

Mark schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, das kannst du vergessen. Weder sie noch Jim würden auch nur ein Wort über ihre Patienten ausplaudern. Daran ist Natascha oft genug gescheitert und sie weiß, wie man Geheimnisse aus einem Menschen herausbekommt, das habe ich selbst oft genug am eigenen Leib erfahren. Aber Theresa ist bei Johanna in guten Händen und wenn wir etwas tun können, werden wir es auf irgendeine Art erfahren. Vertrau ihr, sie ist eine gute Ärztin und ein guter Mensch.“

Ihr Gespräch wurde von Nico unterbrochen, der vor dem Stall vom Pferd sprang und die Zügel schwungvoll einem der Jungen zuwarf. „Mach ihn schön sauber und füttere ihn auch gleich“, gab er mit lauter Stimme seine Anweisung, bevor er sich grinsend den Männern näherte.

Mark wechselte einen Blick mit Paul und sagte leise: „Lass mich bitte alleine mit ihm sprechen – ich kläre das.“

Als Paul sich entfernt hatte, wandte Mark sich an Nico: „Na, wir haben uns ja länger nicht gesehen. Hast du Zeit für eine kleine Pause?“

Nico nickte zustimmend. „Na klar, gehen wir was trinken?“

Mark wartete, bis sie auf der Veranda saßen und ihren ersten Durst gestillt hatten, bevor er zu sprechen begann. „Wenn ich sehe, wie gut hier alles klappt, bin ich euch immer wieder dankbar dafür, dass ihr all das in unserer Abwesenheit am Laufen gehalten habt. Von einem Tag zum anderen seid ihr ins kalte Wasser geworfen worden und musstet sofort losschwimmen.“

Nico nickte geschmeichelt. „Naja, es war manchmal ganz schön viel Arbeit, aber es hat auch Spaß gemacht. Man musste eben immer aufpassen, dass niemand aus der Reihe tanzt.“

Mark warf ihm einen fragenden Blick zu. „Wie meinst du das?“ Sollte er mit seiner Befürchtung doch recht gehabt haben? Dann konnte sich der Junge auf einiges gefasst machen, überlegte er, während er bereits begann, sich eine passende Antwort zurechtzulegen.

Ohne die drohende Gefahr zu erkennen, grinste Nico großspurig und lehnte sich in seinem Sessel zurück. „So ist das eben, wenn man Chef ist, man muss seine Augen überall haben und alles beaufsichtigen – das brauche ich dir doch nicht zu erklären, oder?“