Gebrochene Herzen - Sabine Büntig - E-Book

Gebrochene Herzen E-Book

Sabine Büntig

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Beschreibung

Natascha sollte mit ihrem Leben zufrieden zu sein - sie ist jung, hübsch, verheiratet und hat einen tollen Job trotzdem erscheint ihr alles irgendwie durchschnittlich und langweilig. Das ändert sich schlagartig, als sie Mark begegnet und in ihm die große Liebe findet. Es beginnt eine leidenschaftliche Affäre voller Heimlichkeiten und Herausforderungen. Trotzdem sieht sie sich gezwungen, Deutschland alleine zu verlassen, um in Südafrika noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Wird es beiden gelingen, ihre Liebe zu erhalten oder sie als Erinnerung zu akzeptieren? Die Liebesgeschichte, voller Spannung und Leidenschaft, richtet sich an all diejenigen, die sich trotz mancher Rückschläge den Glauben an die große Liebe bewahrt haben.

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Buch

Natascha sollte mit ihrem Leben zufrieden sein – sie ist jung, hübsch, verheiratet und hat einen tollen Job – trotzdem erscheint ihr alles irgendwie langweilig.

Das ändert sich schlagartig, als sie dem erfolgreichen Geschäftsmann und Frauenheld Mark begegnet. Sie verlieben sich ineinander und erleben eine fantastische Zeit, bis ihre leidenschaftliche Beziehung an den Heimlichkeiten und Herausforderungen, denen sie auf Dauer nicht gewachsen sind, zerbricht.

Ohne Abschied verlässt Natascha ihre Heimat und fängt auf der Farm ihrer Großtante in Südafrika noch einmal komplett von vorne an.

Mark gelingt es nicht, Natascha zu vergessen und er begibt sich auf eine Suche nach ihr, die ihn beinahe das Leben kostet.

Wird es für sie, inmitten eines ursprünglichen Landes, das politisch von der Apartheid geprägt ist, eine gemeinsame Zukunft geben? Ist ihre Liebe stark genug, die Jahre der Trennung und die neuen Lebensbedingungen zu verkraften?

Autorin

Sabine Büntig, geb. 1966, lebt mit ihrer Familie in Nordhessen. Sie erfüllt sich mit ihrem Roman einen Jugendtraum. Das Schreiben gehört schon lange zu ihrem Leben, mehr als 1.000 Artikel sind in der Lokalredaktion der regionalen Tageszeitung sowie weiteren Zeitschriften erschienen.

Kontakt: [email protected]

Für meine Mom

All die Dinge, auf die ich in meinem Leben stolz bin, verdanke ich ihrer Liebe und dem grenzenlosen Vertrauen in meine Fähigkeiten.

Danke für jeden einzelnen Tag!

Inhaltsverzeichnis

Anleitung zum Glücklich sein

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Kapitel

Ausblick

Anleitung zum Glücklich sein

Vor langer, langer Zeit, ehe es Menschen gab, so wie wir sie heute kennen, bewohnten die Erde seltsame Wesen, die überhaupt nicht unseren heutigen Vorstellungen von Schönheit und Attraktivität entsprachen. Das spielte jedoch keine Rolle, denn sie glichen einander so sehr, dass ihr Aussehen völlig normal war. Sie lebten in unterschiedlich großen Gruppen zusammen, ganz so wie es ihnen gefiel. Der Sinn ihres Daseins bestand darin, glücklich zu sein und sie arbeiteten, um für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.

Heute ist es oft umgekehrt, viele Menschen leben, um zu arbeiten und merken nicht, wie der wahre Sinn des Lebens dabei immer mehr in den Hintergrund gerät. Das viele Geld, das sie verdienen, wird für Dinge ausgegeben, von denen sie früher überhaupt nicht wussten, dass sie gebraucht wurden.

Das alles war bei den Wesen ganz anders. Das Materielle stand im Hintergrund und bot nur Ersatz für andere, viel wichtigere Dinge, die die Wesen im Überfluss besaßen. Ganz vorne stand die Liebe und zog alles andere, wie Zufriedenheit, Glück oder Freundschaft, automatisch nach sich

Die Wesen wunderten sich nicht darüber, nur selten zu erkranken oder über den Mangel an Kriminalität. Schließlich kannten sie es nicht anders. Aus unserer Sicht scheint diese frühere Welt ein Paradies gewesen zu sein. Wir müssen uns täglich mit Problemen herumschlagen, die damals überhaupt nicht existierten.

Eigentlich hätte es immer so weitergehen können, wenn es nicht ein Wesen gegeben hätte, das anders war als all die anderen. Dieses eine glich den Menschen, wie wir sie heute kennen. Es hatte nicht darunter zu leiden, anders zu sein, denn solche Äußerlichkeiten waren allen anderen vollkommen egal.

Das Wesen sah jedoch nicht nur äußerlich anders aus, es war auch in seinem Inneren anders. Bei seiner Erschaffung war der Natur ein fataler Fehler unterlaufen und es kam halbfertig auf die Welt. Seine andere Hälfte war einfach vergessen worden. Und das Schlimmste daran war, dass ihm die Dinge fehlten, die für die anderen selbstverständlich waren – die Liebe und damit verbundene innere Zufriedenheit, die Fähigkeit zum Glücklich sein, Kameradschaft, Großzügigkeit, Toleranz und vieles mehr.

Das arme Wesen war viel häufiger krank als die anderen und mit sich und seiner Welt unzufrieden. Es wurde freundlich behandelt, aber trotz aller Zuneigung fühlte es sich einsam und verlassen.

Je länger das Wesen darüber nachdachte, warum es anders war, ohne eine Antwort darauf zu finden, umso verdrossener und missgünstiger wurde es. Das öffnete ganz weit die Tür für das BÖSE. Mit seiner Hilfe beschwor das Wesen eine Katastrophe herauf, unter deren Folgen wir immer noch leiden. Gemeinsam sorgten das Böse und das Wesen dafür, dass die Erde zu beben begann. Es fing ganz harmlos an, breitete sich dann aber mit großer Geschwindigkeit immer weiter aus und hatte innerhalb kürzester Zeit die gesamte Erde erfasst. Kein Stein blieb an seinem Platz, kein Fluss in seinem Bett, keine Wurzel in der Erde.

Dies als Erdbeben zu bezeichnen, würde der Katastrophe nicht gerecht werden. Es gibt keine Worte, um die Schrecklichkeit des Ganzen zu beschreiben.

Es dauerte mehrere Tage und als die Erde endlich wieder stillstand, krabbelten die Wesen aus ihren Verstecken und versuchten zu begreifen, was eigentlich passiert war.

Auf den ersten Blick schien alles wie bisher, aber eben leider nur auf den ersten Blick. Als sie die Wahrheit erkannten, brach eine fürchterliche Panik aus, die alles noch viel schlimmer machte, weil das letzte bisschen Ordnung dabei endgültig durcheinandergeriet.

Was war geschehen? Das Unglück hatte alle Wesen auseinandergerissen und sie sahen nun genauso aus, wie das einzelne Wesen oder - um es sich besser vorstellen zu können - genauso wie wir Menschen heute.

War das so schlimm? Sehen wir denn so furchtbar aus? Vielleicht nicht, aber die Teilung nahm den Wesen mit einem Schlag alles Lebenswerte. Sie waren nicht länger in der Lage, zufrieden und glücklich zu sein, nachdem sie die Liebe verloren hatten.

Der ersten Panik folgte eine fieberhafte Suche, die bis zum heutigen Tage anhält. Jeder bemühte sich krampfhaft, seine andere Hälfte zu finden, um wieder den gleichen Zustand wie vor der Katastrophe zu erreichen.

Kaum hatten sich zwei Hälften verbunden, waren sie dem Neid der anderen ausgesetzt. Alle hatten Angst davor, dass ihm ein anderer die eigene Hälfte aus Versehen oder sogar absichtlich wegschnappen könnte.

So wurde das Leben auf der Erde unserem immer ähnlicher. Auch nach vielen tausend Jahren sind die Menschen immer noch ihr ganzes Leben lang auf der Suche nach ihrer anderen Hälfte. Oft meinen sie, diese gefunden zu haben, verbinden sich miteinander und sind zunächst glücklich und erleichtert. Aber meistens merken sie schon nach kurzer Zeit – oder manchmal dauert es auch etwas länger –, dass sie doch nur ungefähr und nicht ganz genau zusammenpassen. Sobald sie das erkennen, werden sie traurig und unzufrieden und trennen sich wieder voneinander.

Dann beginnt die ganze Suche erneut und die Angst davor, dass ein anderer die eigene Hälfte für sich selbst beanspruchen könnte wächst.

Die Enttäuschungen lassen die Menschen resignieren und ihre Suche eines Tages ganz aufgeben. Um nicht allein zu sein, bleiben manche trotzdem verbunden, obwohl es nicht richtig passt. Sie versuchen mit allen Mitteln glücklich zu sein und flüchten sich in Rauschzustände oder viel Arbeit. Manchmal gelingt es damit für kurze Zeit, einen ähnlichen Zustand wie die Wesen damals zu erlangen - aber eben nur manchmal, für kurze Zeit und auch nur so ähnlich.

Jeder erkennt letztendlich, dass es ohne Liebe keine Vollkommenheit geben kann und die wahre Liebe nur mit der genau passenden anderen Hälfte möglich ist.

Nur ein Märchen? Sicherlich nicht, die Wahrheit lässt sich ganz einfach beweisen:

Man braucht sich nur morgens, bevor man sich anzieht, vor den Spiegel zu stellen. Mitten auf dem Bauch sitzt unser Bauchnabel. Jeder Mensch hat einen, aber es wird nie zwei ganz identische geben. Oder vielleicht doch? Richtig, denn genau das ist die Stelle, mit der die Wesen früher mit ihrer anderen Hälfte verbunden waren, es gibt immer zwei identische.

Bitte gebt die Suche niemals auf, selbst wenn ihr meint, erfolglos zu sein. Denn manchmal – zugegeben ganz, ganz selten – passiert es tatsächlich, dass sich zwei passende Hälften finden. Vielleicht sind sie dann so verdutzt, dass sie es zuerst gar nicht glauben können. Und darüber hinaus sind manchmal auch noch große Hürden zu überwinden, bis sich die beiden Hälften letztendlich vereinen.

Aber gelingt es, haben beide die einzigartige Möglichkeit, wieder so in Liebe, Glück und Zufriedenheit zu leben wie die Wesen früher – und das ist wirklich jede Mühe wert.

1. Die leise Musik aus dem Radio verscheuchte den letzten Rest Schlaf, der Natascha unter der kuscheligen Decke festhielt und dazu verführen wollte, sich genüsslich umzudrehen und einfach weiterzuschlafen.

Ein Blick auf den Wecker erübrigte sich, sie wusste auch so, dass es kurz vor sechs und damit Zeit zum Aufstehen war. Mit einem bedauernden Blick auf ihren leise schnarchenden Ehemann strich sie ihm eine Strähne der dunkelblonden Haare aus dem Gesicht und zog seine Decke über die Schulter.

Christoph sah nicht schlecht aus, mit seiner kräftigen Statur war er optisch jedoch eher ein Mann auf den zweiten Blick. Wie viel wertvoller als jedes Aussehen ihn seine inneren Werte machten, hatte Natascha längst erkannt. Christoph hörte lieber zu als selber zu reden und überlegte zunächst, bevor er seine Meinung äußerte.

Darin unterschied er sich sehr deutlich von ihr selbst, wie sie im nächsten Moment wieder einmal unter Beweis stellte. Obwohl sie ganz genau wusste, was sie damit hervorrief, stupste sie ihn vorsichtig an: „Christoph, du musst aufwachen … Denkst du bitte heute unbedingt daran, Getränke zu holen? Es ist überhaupt nichts mehr da und …“ Weiter kam sie nicht.

„Oh Mann, ich glaub es einfach nicht.“ Die nächsten Worte wurden von der Decke, die sich Christoph genervt über den Kopf zog, erstickt, und das war auch sicherlich besser so. Von seiner ausgeglichenen Art, die einen optimalen Gegenpol zu Nataschas lebhaftem, rastlosem Wesen schuf, war um diese Uhrzeit noch nichts zu erkennen.

Natascha seufzte und zuckte die Schultern, während sie sich fragte, ob sie wohl jemals akzeptieren würde, dass der Start in den Tag nur dann ohne Konflikte zu bewältigen war, wenn sie sich dabei aus dem Weg gingen und Gespräche auf den Nachmittag verschoben. Um diese frühe Uhrzeit empfand Christoph alles, was für Natascha nette Plauderei war, als körperlichen Schmerz und so geduldig er auch ansonsten war, konnte er ihr nervtötendes Gelaber am frühen Morgen nicht ertragen.

Bevor sie im Bad verschwand, setzte Natascha in der Küche die Kaffeemaschine in Gang. Ihr prüfender Blick fiel auf den bewölkten Himmel und sie stellte missmutig fest, wie sehr das Wetter in Würzburg ihrem Leben glich: Geht so – wirklich nicht besonders toll, wenn auch nicht katastrophal. Bewölkt, aber ohne Extrema wie Tornados oder Hurrikans und somit zwar kein Grund, um sich zu beschweren aber bei Weitem auch nicht gut genug, um sich darüber zu freuen.

Vielleicht fühlte sie sich deshalb dieser Stadt so verbunden, überlegte sie ungewohnt tiefsinnig, während sie versuchte, sich bei der Anzahl der Kaffeelöffel nicht zu verzählen. Hier war sie vor fünfundzwanzig Jahren zur Welt gekommen und aufgewachsen und weder ihr Studium noch ihr Berufsstart führten sie über die Stadtgrenze hinaus. Hier war ihr Zuhause und die Menschen ebenso vertraut wie die Stadt selbst.

Als sie ihrem Nachbarn Herrn Berger, der mit seinem Rollator am Haus vorbei schlurfte, freundlich zuwinkte, fiel ihr auf, dass sie seine Frau schon seit längerer Zeit nicht mehr gesehen hatte. Ich muss mich unbedingt erkundigen, wie es ihr geht, schoss es ihr durch den Kopf. Vor allem, nachdem ihre Eltern vor ein paar Jahren völlig überraschend bei einem Autounfall gestorben waren, lernte sie die Vertrautheit der Menschen in ihrer Umgebung schätzen.

Die größte Hilfe war ihr allerdings Christoph, der wie ein Fels in der Brandung an ihrer Seite stand und ihren Schmerz auffing. Ein schwerer Job, den er nicht einmal mit jemandem teilen konnte. Außer ihrer Großmutter, die im hundert Kilometer entfernten Bamberg lebte, hatte Natascha keine weiteren Verwandten.

Inzwischen war sie mit Duschen fertig und als sie das Handtuch über den Ständer legte, fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild. Stirnrunzelnd musterte sie ihren Körper von Kopf bis Fuß. Nicht nur ihr Leben, alles an ihr war absolut durchschnittlich - nicht katastrophal aber auch nichts Besonderes, stellte sie frustriert fest. Sie erinnerte sich wehmütig an einen Satz, den ihr Vater immer wieder gepredigt hatte: Kind, du bist etwas ganz Besonderes, mach etwas daraus.

Er schenkte ihr zumindest mit der Namenswahl bereits etwas Außergewöhnliches. Ihre

Schulkameradinnen hießen Monika, Sabine, Petra oder Martina und jeden dieser Namen trug mehr als ein Mädchen. Wieder einmal dankte sie ihren Eltern dafür, ihr nicht ein Leben als Heidi oder Erika beschert zu haben – man musste schließlich auch für die kleinen Dinge dankbar sein.

Jeder unbeteiligte Beobachter hätte ihr gerade jetzt, bei einem Blick in ihre einzigartigen Augen, sehr energisch darin widersprochen, durchschnittlich zu sein. Viel mehr Ausdrucksvermögen war kaum vorstellbar. Bei guter Laune strahlten sie wie üppige, im Wind wogende Felder in einem satten Braun-Grün und wärmten diejenigen, auf die ihr Blick fiel. Momentan nahmen sie allerdings das Stahlgrau eines eisigen Bergsees an und spiegelten ihre Gefühle deutlicher wider, als Worte es jemals vermocht hätten. Noch ein weiterer Punkt auf der Liste ihrer Unzulänglichkeiten, würde sie diesen Hinweis abtun, denn so sehr sie sich auch bemühte, wollte es ihr nie gelingen, ihre Gefühle und Gedanken hinter einer ausdruckslosen Fassade zu verbergen.

Genervt streckte Natascha ihrem Spiegelbild die Zunge raus und musste im nächsten Moment über ihr kindisches Verhalten lachen. Wie so oft siegte ihre gute Laune, für sie war das Glas grundsätzlich halb voll und nicht halb leer und damit rettete sie sich immer wieder, wenn trübe Gedanken die Oberhand zu gewinnen drohten. Nur manchmal und in letzter Zeit immer häufiger, vor allem, wenn sie abends im Bett lag und nicht einschlafen konnte, wuchs in ihr das Gefühl, etwas Entscheidendes verpasst zu haben. Sie gäbe alles darum, endlich herauszufinden, worum es sich dabei handeln könnte …

Während sie ihren Kaffee trank und dabei ein Schälchen mit Obst leerte, blätterte sie die Zeitung durch und überflog die Stellenangebote. Sehnsüchtig fiel ihr Blick dabei auf das Nutellaglas, das im Regal vor ihr stand. Sie war gerade mal wieder absolut in der Stimmung für Schokolade aber das verkniff sie sich lieber. An ihrer jetzigen Figur hatte sie lange und hart gearbeitet, das durfte sie nicht leichtfertig aufs Spiel setzen – so schwer es ihr auch fiel. Enttäuscht klappte sie die Zeitung zu, ohne etwas Passendes gefunden zu haben.

Sie schnappte sich ihre Tasche und als sich ihre Finger um den Autoschlüssel legten, waren die trüben Gedanken schlagartig vergessen. Nun begann am Steuer ihres geliebten feuerroten Mini Cooper S der schönste Teil des Tages. Das siebzig PS Auto war ihr einziger Luxus, ansonsten floss das meiste Geld direkt in das Häuschen, das Christoph und sie vor ein paar Jahren gleich nach ihrer Hochzeit gekauft hatten.

Ein letzter Blick auf die Uhr bestätigte, dass es noch früh genug war, um zügig voran zu kommen. Der Berufsverkehr setzte erst in einer guten halben Stunde ein und bis dahin wollte sie ihr Ziel längst erreicht haben. Nach den ersten Kilometern nahm sie seufzend den Fuß vom Gaspedal. In letzter Zeit häuften sich die Strafzettel und wenn sie weiterhin so fleißig Punkte in Flensburg sammelte, bestand die Gefahr, dass sie demnächst für ein paar Wochen zu Fuß gehen musste.

Zwanzig Minuten später lenkte sie ihren Wagen auf den Firmenparkplatz und betrat das moderne Gebäude, in dem die Spielzeugfirma Mareno Büroräume, Lager und Produktion vereinte. Hier entstand alles, was Kinderaugen zum Strahlen brachte, von Kuscheltieren über Gesellschaftsspiele bis hin zu allen erdenklichen Fahrzeugen, die es den Kleinen erlaubten, schneller unterwegs zu sein, als ihre kurzen Beinchen es ihnen ermöglichten.

Wenn sich Natascha die Werbung für das Lieferprogramm ansah, ärgerte sie sich immer wieder über die Klischees, die damit bedient wurden. Für die Mädchen gab es Kinderküchen und Babypuppen, die Jungen wurden mit Ritterburgen und Autorennbahnen glücklich gemacht. Leider gaben ihr die kontinuierlich steigenden Umsätze keinen Ansatzpunkt, daran etwas zu ändern und sie nahm sich nur immer wieder vor, ihre eigenen Kinder geschlechtsneutral aufzuziehen.

Direkt nach ihrem Studium ergatterte sie hier einen der wenigen Jobs im Marketing, obwohl – oder vielleicht gerade, weil – sie eine Frau war. Natascha hatte sich schon oft gefragt, ob sich das jemals ändern würde. Bisher ging sie jedoch davon aus, dass Frauen in interessanten Führungspositionen für immer und ewig eine Ausnahme blieben und sofern es nach ihrem Chef ginge, bedeutete alles andere ohnehin eine undenkbare Katastrophe.

Sie erinnerte sich noch lebhaft an ihren ersten Arbeitstag, als ihr Vorgesetzter Peter Schneider - kerzengerade aufgerichtet, als hätte er einen Stock verschluckt - auf sie zu gekommen war. Kombiniert mit seiner spindeldürren Gestalt erinnerte er sie spontan an einen giftigen Zwerg. Bei einer Körpergröße von gerade mal einem Meter fünfundfünfzig hatte er wohl das Gefühl, keinen Zentimeter davon verschenken zu dürfen. Sehr viel größer war sie selbst auch nicht aber damit endeten ihre Gemeinsamkeiten.

Er begrüßte sie damals mit hoher, nörgeliger Stimme, an die sie sich bis heute nicht gewöhnt hatte: „Frau Stein, Sie haben sich also für den Plan B entschieden. Ich finde ja, dass der geeignete Platz für eine Frau zu Hause ist, Küche und Kinderzimmer sind das natürliche Umfeld, in dem sie ihre Fähigkeiten entfalten kann. Das hier ist etwas ganz anderes, das wahre Leben lässt selbst viele Männer an ihre Grenzen stoßen.“ Während er sprach, war er immer näher an Natascha herangerückt und blies ihr beim Sprechen seinen ekelhaften Mundgeruch ins Gesicht. Nicht nur deshalb wünschte sie ihm von ganzem Herzen mindestens zwanzig Zentimeter Körpergröße mehr, vielleicht müsste er dann auch nicht mehr ganz so widerlich auftreten.

Inzwischen hatte sie ihren Schreibtisch erreicht und blätterte die Post durch. Frustriert schob sie eine Ausarbeitung, die ihr Chef gestern wohl noch korrigiert hatte, in ihrem Poststapel ganz nach unten. Die Blätter waren so sehr mit roten Anmerkungen gespickt, dass sie überhaupt keine Lust hatte, sich damit erneut zu beschäftigen. Die winzig kleinen, kaum lesbaren Buchstaben wirkten wie Fliegendreck und mehr bedeuteten sie in ihren Augen auch nicht. Natascha wusste, dass es sich um reine Haarspaltereien handelte. Selbst in hundert Jahren würde sie nicht der Lage sein, seinen Ansprüchen zu genügen.

Sie brauchte gar nicht erst nachzusehen, ob er bereits am Schreibtisch saß – seine Pünktlichkeit war ebenso vorhersehbar wie sein sonstiges Benehmen. Trotzdem wartete sie noch ein paar Minuten, bis sie sich auf den Weg in sein Büro machte. Leicht fiel es Natascha nicht, ihn anzusprechen aber sie hatte sich geschworen, noch einen letzten Anlauf zu wagen, bevor sie sich endgültig von ihrer Idee verabschieden würde. Als er ihr mit einem genervten Stirnrunzeln wortlos zunickte, bereute sie ihre Entscheidung allerdings bereits wieder.

„Was ist denn schon wieder?“, seine unwillige Stimme verbarg in keinster Weise, wie lästig ihm ihr Erscheinen war. Niemand mochte ihn, aber niemand sonst war ihm so schutzlos ausgeliefert wie Natascha. Frei von jeder nennenswerten Begabung kroch er im Laufe vieler Jahre langsam auf einer breiten Schleimspur nach oben, indem ihn nachfolgende jüngere Kollegen auf der Hierarchieleiter immer weiter hochschoben. Bei seinem mickrigen Aussehen waren ihm verständlicherweise attraktive Menschen nicht nur suspekt, sondern generell zuwider. Während er seine zehn Jahre jüngere Mitarbeiterin musterte, schüttelte er den Kopf. Mochte sie sich auch für noch so hübsch und clever halten, ihr Mann hätte längst dafür sorgen müssen, dass sie zu Hause blieb und Kinder in die Welt setzte.

Der Blick allein genügte Natascha, um ihr die Luft zum Atmen zu nehmen. Er lag wie eine Schlinge um ihren Hals, die sich immer fester zuzog. So musste sich eine Pflanze fühlen, die ohne Wasser mehr und mehr verdorrte und langsam einging, machte sie sich bewusst, während sie schluckte und dabei versuchte, die richtigen Worte zu finden. Ein allerletzter Versuch, schwor sie sich und setzte zum Sprechen an: „Ich habe Ihnen doch von meiner Idee erzählt? Bestimmt gibt es einen Markt für Plüschtiere mit Abspielgeräten und wir könnten problemlos …“

Immerhin zwei Sätze schaffte sie, bevor er sie rüde unterbrach. „Ja, ja schon gut und Sie wissen auch, was ich davon halte. Was wollen Sie denn jetzt noch?“

„Ich wollte Sie bitten, dass ich es dem Kreativteam vorstellen darf“, platzte Natascha heraus, während sie sich bemühte, nicht allzu zaghaft zu klingen. Klugerweise hielt sie den Blick gesenkt und vermittelte damit eine vermeintliche Unterwürfigkeit, die ihrem Chef sehr gefiel. Dies war ihre letzte Chance, um den Sack voller kreativer Ideen, den sie seit Wochen mit sich herumschleppte, endlich auszuleeren.

Schneider ließ sich verdutzt auf seinen Stuhl sinken und starrte Natascha, die etwas verloren vor seinem Schreibtisch stehengeblieben war, an. Während er sich zurücklehnte, überlegte er fieberhaft, wie er sie schnellstens wieder loswerden konnte. Er wollte gerade ansetzen, um ihren Vorschlag abzulehnen, als ihm ein Gedanke kam. Ein gehässiges Grinsen überzog sein Gesicht, während er sich ausmalte, wie sehr sie sich bei dem Kreativteam – das letztendlich die Entscheidungen für oder gegen eine Vermarktung traf - blamieren würde. Er hielt es für vollkommen ausgeschlossen, dass diese arroganten Profis Interesse an ihren kindischen Ansätzen haben könnten. Schließlich war er selbst bereits mehrfach dort abgeblitzt und der Leiter des Teams würde Nataschas Vorschlag ganz sicher gnadenlos in der Luft zerreißen.

Gönnerhaft lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. „Nun gut, wenn Sie sich unbedingt an höchster Stelle damit blamieren möchten – meinen Segen haben Sie“, antwortete er. „Aber beschweren Sie sich nicht hinterher, wenn es nicht geklappt hat. Sie werden sich beim Chef des Teams sicherlich eine gepfefferte Absage einholen.“ Bei seinen Worten fühlte er sich so großmütig, dass ihm vor Rührung die Tränen in die Augen schossen.

2. Natascha erinnerte sich später nicht mehr daran, wie sie wieder an ihren Schreibtisch gekommen war, sie konnte die Zusage einfach nicht fassen. Mit in die Hände gestütztem Kopf überlegte sie, wie sie nun am besten weitermachen sollte. Das Naheliegendste wäre natürlich, direkt zum Hörer zu greifen aber dazu fehlte ihr momentan noch der nötige Mut.

Sie hatte Mark Göbel, den Chef des Kreativteams, bisher nur einmal persönlich getroffen und bis auf einen kurzen Handschlag nichts weiter mit ihm gewechselt. Das lag Jahre zurück und sie ging davon aus, dass er sich mit Sicherheit nicht mehr daran erinnern würde.

Am späten Nachmittag schob sie den Anruf immer noch vor sich her. Vielleicht sollte sie ihrem Chef einfach sagen, dass das Team an ihrem Vorschlag nicht interessiert war, überlegte sie stirnrunzelnd. Das würde ihr zumindest eine erneute Demütigung ersparen.

Kopfschüttelnd verbot sie sich jeden weiteren Gedanken in dieser Richtung. Nein, dann hätte Schneider nur wieder gewonnen und sie noch ein bisschen kleiner gemacht. Natascha holte tief Luft und griff energisch zum Telefon, die Kurzwahlnummer wusste sie längst auswendig.

Sie erreichte Mark ausnahmsweise tatsächlich an seinem Schreibtisch, an dem er leise vor sich hin murrend versuchte, den verworrenen Bericht eines Mitarbeiters zu verstehen. Statt hinter dem Schreibtisch zu sitzen war er am liebsten unterwegs, er hasste Büroarbeit und diese Abneigung wurde nur noch von ausufernden Sitzungen mit Mitarbeitern anderer Abteilungen übertroffen. Die gab es in seinen Augen viel zu häufig und immer wieder wurden ihm dabei neue Ideen vorgestellt, von denen ihm keine einzige die Zeit Wert war, auch nur darüber nachzudenken.

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lockerte die Krawatte. Von jeher war er gezwungen gewesen, täglich seinen Bart zu rasieren und oft genügte das nicht, wenn er auch am Abend noch halbwegs gepflegt erscheinen wollte. Inzwischen half sein Drei-Tage-Bart, den Aufwand möglichst gering zu halten, den Kragen seiner Hemden tat er allerdings weniger gut. Nach dem zweiten Klingeln beugte er sich nach vorn und griff zum Hörer. Er meldete sich mit tiefer, wohlklingender Stimme und Natascha sah ihren Gesprächspartner augenblicklich vor sich - groß, dunkler Typ, gute Figur, ausgesprochen attraktiv ... Die Vorstellung, dass er seinem Ruf als Casanova und Weiberheld absolut gerecht wurde, fiel ihr nicht schwer.

Als Mark ihren Namen hörte, runzelte er die Stirn und überlegte. Erstaunlicherweise erinnerte er sich sehr wohl noch an das lange zurückliegende Treffen, bei dem er sich genervt auf seinem Stuhl herumgelümmelt und das Ende der Sitzung herbeigesehnt hatte. Er war mit Peter Schneider zur Schule gegangen und wusste bereits im Vorfeld, was ihn erwartete. Die endlos ausschweifenden Reden langweilten ihn dann auch so sehr, dass er das Gähnen kaum unterdrücken konnte und beim fluchtartigen Verlassen des Raumes hatte er Schneiders Urteil über sich noch deutlich hören können. Schwierig, arrogant und unfähig zur Teamarbeit waren noch die nettesten Formulierungen gewesen.

Schemenhaft erschien vor ihm das Bild einer jungen Frau, deren Hand er zur Begrüßung gedrückt hatte. Während der Besprechung wippte sie nervös auf der Stuhlkante und versuchte, ihren lebhaften Gesichtsausdruck zu verbergen und dabei ihr Redeverbot einzuhalten. Nur zu deutlich sah er ihr an, was sie von allen anderen hielt. Ihre Augen blitzten, während sich die Sommersprossen auf der Nase bei dem erfolglosen Versuch kräuselten, ihre Belustigung über sein ständiges Gähnen zu verbergen.

Das Lächeln war seiner Stimme deutlich anzuhören. „Sie arbeiten für meinen geschätzten Kollegen Schneider, richtig?“ sprach er in den Hörer, während er sich wieder zurücklehnte. „Wie haben Sie das eigentlich die ganze Zeit ausgehalten, ohne bleibenden Schaden zu nehmen? Ich konnte den Kerl als Kind schon keine fünf Minuten ertragen und habe immer versucht, ihm auf den Kopf zu spucken.“

Natascha schluckte und überlegte fieberhaft, wie sie auf diese Vorlage reagieren sollte. Solchen Mut hätte sie auch gerne besessen, schließlich musste er doch davon ausgehen, dass sie es gleich brühwarm weitererzählen würde. Allerdings wäre ihm das wahrscheinlich vollkommen egal, stellte sie neidvoll fest.

Bevor sie antworten konnte, fuhr er fort: „Sind Sie noch dran? Habe ich jetzt etwa Ihre Loyalität verletzt? Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, sind Sie doch ein recht cleveres Mädchen. Oder liege ich falsch, hat er Sie etwa schon kleingekriegt?“

Natascha lachte, das Gespräch begann ihr allmählich Spaß zu machen. Sie wechselte den Hörer in die andere Hand und wischte ihre vor Aufregung feuchte Handfläche energisch an ihrer Jeans ab. „Danke für die Blumen. Wir haben uns doch nur einmal kurz gesehen – vor Jahren. Da haben Sie sich gleich ein Bild von mir gemacht, an das Sie sich immer noch erinnern?“

Wenn die wüsste, schoss es Mark durch den Kopf. Blond, jung, nicht hässlich, im Großen und Ganzen okay, vielleicht etwas zu hausbacken, lautete sein damaliges schnelles Urteil. Neben der Bewertung ihrer Äußerlichkeiten empfand er vor allem tiefstes Mitgefühl dafür, dass sie bei Schneider untergekommen war.

Während er selbst sich im Abendstudium zum Ingenieur weiterqualifizierte, blieb sein ehemaliger Schulkamerad auf dem einmal erlangten Niveau stehen. Seine Untergebenen suchten entweder rechtzeitig das Weite oder büßten irgendwann auch das letzte bisschen Selbstbewusstsein ein. Als Frau hatte Natascha es sicherlich besonders schwer und die Schikanen, denen sie ausgesetzt sein musste, sah Mark lebhaft vor sich.

Er grinste und freute sich darüber, dass sie sein Gesicht nicht sah. Bei ihm hätte sie es wesentlich leichter gehabt, er bevorzugte Frauen in jeglicher Hinsicht. Im Arbeitsteam ergaben die geschlechtsspezifischen Sichtweisen häufig interessante Impulse, die unter Umständen über Erfolg oder Scheitern entschieden.

Während er durch die große Fensterfront seines Büros zwei attraktiven Außendienstlerinnen zunickte, die ihm auf dem Weg zu einer Besprechung freundlich winkten, gestand er sich ein: Gutes Aussehen war bei all dem eine wichtige Voraussetzung, schließlich wirkte eine hässliche Krähe für alle Beteiligten nur demotivierend.

Mark war sicherlich auch nicht der perfekte Vorgesetzte, allerdings aus völlig anderen Gründen. Er neigte dazu, schnell und in aller Regel ungefragt mit seiner Meinung herauszuplatzen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, welche Wirkung das auf seine Gesprächspartner hatte. Er traf emotionale Entscheidungen und seine Beweggründe blieben allen anderen oft ein Rätsel. Die Mitarbeiter, die er mochte und schätzte, förderte er und belohnte sie mit Eigenverantwortung. Diese Gruppe ging für ihren fairen Chef jederzeit ungefragt durchs Feuer.

Indem er den Bericht eines Kollegen im Papierkorb versenkte, demonstrierte er damit, dass die Angehörigen der anderen Gruppe deutlich in der Überzahl waren. Diese hatten ihn entweder in irgendeiner Weise enttäuscht oder aber er mochte sie ganz einfach nicht. Eine zweite Chance bekam niemand, seine gefasste Meinung wurde nur in Ausnahmefällen geändert.

Hierarchien spielten dabei für ihn keine Rolle, erst gestern hatte er einen Hauptabteilungsleiter mit gnadenloser Verachtung abblitzen lassen. Seine messerscharfen Bemerkungen kombinierte er mit einem strengen Blick aus zusammengekniffenen Augen und machte sie so zu Waffen, die dauerhafte Verletzungen hinterließen. Sympathisch machte ihn das alles nicht. Zu seinem Glück verfügte er über eine Fähigkeit, die ihn bislang weitgehend unangreifbar machte. Seine Einschätzungen über Erfolg oder Scheitern bei Produkteinführungen hatten eine so hohe Trefferquote, dass selbst seine Gegner nicht auf sein Urteil verzichten wollten. Dieser Freibrief war ihm allerdings keineswegs bewusst.

Sein skrupelloser Verstand machte ihn zu einer dominanten Persönlichkeit, die die Menschen in seinem Umfeld schnell in ihren Bann zog und entweder begeisterte oder – wesentlich häufiger – einschüchterte.

„Ich wollte Ihnen meine Idee vorstellen. Wir haben doch die Plüschtierkollektion und da habe ich mir gedacht ...“ Nachdem Natascha ihre Nervosität einmal überwunden hatte, sprudelte ihr Vorschlag wie ein Wasserfall aus ihr heraus. Immer wieder unterbrach sie Mark, um weitere Details abzufragen. Natascha sah dabei ihr Produkt ganz genau vor sich und spürte mit jedem Wort, dass auch Mark inzwischen Feuer gefangen hatte. Nie zuvor war eine ihrer Ideen so ernst genommen worden - und schon gar nicht von jemandem, der darüber zu entscheiden hatte.

Zunächst war Mark sehr skeptisch gewesen, er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass aus dieser Abteilung etwas Vernünftiges hervorging. Einzig sein Mitgefühl für Natascha verschaffte ihr die erforderliche Zeit, ihm die Idee vorzustellen.

Bereits nach den ersten Sätzen begann er es zu genießen, ihr einfach nur zuzuhören. Ihre Begeisterung schwappte auf ihn über und zog ihn unweigerlich in ihren Bann. Er fragte sich, wie sie persönlich auf ihr Publikum wirken musste, wenn sie schon am Telefon so überzeugte. Mit für ihn vollkommen ungewohnter Erleichterung stellte er fest, dass ihr Vorschlag durchaus Potential hatte und es sich auf jeden Fall lohnen würde, genauer darüber nachzudenken. Normalerweise war es für ihn gar kein Problem, kurz und – zumindest für ihn selbst – schmerzlos eine Idee abzuschmettern. Zusagen erteilte er ausschließlich im Hinblick auf den zu erwartenden Gewinn und nicht, weil sich irgendjemand persönlich darüber freuen könnte. Jetzt aber sah er Natascha vor sich und erkannte, wie wichtig ihr seine Meinung war.

Viel zu schnell für seinen Geschmack kam sie zum Ende und er überlegte, wie er das Gespräch noch weiter in die Länge ziehen könnte.

„Was meint denn Ihr Chef zu der ganzen Sache? Wundert mich eigentlich, dass er es nicht als seinen eigenen Vorschlag verkaufen will.“

„Ganz sicher nicht!“ Natascha lachte bei der Vorstellung. „Er ist felsenfest davon überzeugt, dass Sie es mir um die Ohren hauen werden. Niemals wäre er selbst solch ein Risiko eingegangen. Ich denke, er hält die ganze Sache für eine gute Gelegenheit, mich endlich mundtot zu machen.“

Mark schüttelte mit dem Kopf, diese Hoffnung würde er ihm ganz sicher nicht erfüllen. „Den Gefallen werde ich ihm nicht tun. Was halten Sie davon, Ihre Idee vor meinem Team zu präsentieren? Das nächste Meeting findet in drei Wochen auf einem Kreuzfahrtschiff statt. Wir sind drei Tage unterwegs, da wäre ausreichend Zeit dafür.“

Nataschas Begeisterung zerplatzte bei seinen Worten wie eine riesige Seifenblase und anstatt einer Antwort bemühte sie sich krampfhaft, den Kloß im Hals runter zu schlucken. Sie wusste, dass sie von ihrem Chef niemals die Erlaubnis bekommen würde. Während ihr die Tränen in die Augen schossen, zwang sie sich, jede Hoffnung darauf sofort zu begraben. Es tat so schon weh genug.

„Danke für Ihr Angebot aber es ist ausgeschlossen, dafür die Erlaubnis zu bekommen.“ Sie betete, dass er nicht hörte, wie sehr ihre Stimme zitterte, während sie sich bemühte, möglichst gleichgültig zu klingen.

Mark hatte es jedoch sehr wohl gehört und auch den Schmerz gespürt, den ihr die Absage bereitete. Ohne ihr weitere Erklärungen zu liefern, stand sein Entschluss fest: Er würde dafür sorgen, dass sie ihre Idee vorstellen durfte. Das war er ihnen beiden schuldig.

3. Als Christoph am Abend zum Joggen aufbrach, nutzte Natascha die Zeit für einen Besuch bei ihrer besten Freundin. Carmen wohnte nur wenige Minuten von ihr entfernt und die Frauen sahen sich mindestens zwei- bis dreimal wöchentlich. Ihre Ehemänner konnten sich beim besten Willen nicht vorstellen, was sich die beiden ständig zu erzählen hatten, aber an Gesprächsstoff mangelte es bisher nie.

Carmen war einige Jahre älter als Natascha, ihre Kinder längst erwachsen. Kennengelernt hatten sie sich bei dem Versuch, eine Theater-Laienspielgruppe zu gründen. Beide standen sich in einem staubigen Gemeindesaal gegenüber und warfen sich immer wieder Blicke zu. Während die anderen Teilnehmer hingebungsvoll an den Lippen des Redners hingen, rollten sie mit den Augen und bemühten sich krampfhaft, ihr Lachen zu unterdrücken.

Im Anschluss waren sie noch etwas trinken gegangen, um ungestört weiter lästern zu können. Über einen kleinen Stehtisch gebeugt schaukelten sie sich gegenseitig immer höher, bis ihnen die Tränen über die Wangen liefen und Natascha Bauchweh vor Lachen bekam. So viel Spaß hatte sie seit ewigen Zeiten nicht mehr gehabt.

Im Laufe der Jahre wuchs ihre Freundschaft immer weiter und längst vertrauten sie sich, ohne zu zögern, die persönlichsten Dinge an. Die Freundin war bis vor ein paar Jahren ausschließlich für ihre Familie dagewesen, ohne ihre eigenen Interessen dabei zu berücksichtigen. Mann und Kinder liebten es, von vorne bis hinten bedient zu werden. Anstatt um Hilfe zu bitten, hetzte Carmen vom Herd zum Bügelbrett und goss mit einer Hand die Blumen, während die andere mit dem Staubtuch über die Schränke wischte. Diese Arbeiten erledigte sie vollkommen unauffällig, ohne damit die restliche Familie beim Nichtstun zu stören.

Trotzdem musste sie schmerzvoll erkennen, dass das keine Garantie für eine glückliche und harmonische Ehe war, von Wertschätzung ganz zu schweigen.

Natascha erlebte hautnah mit, wie sehr Carmen der Betrug ihres Mannes mit einer deutlich jüngeren Frau verletzte. Sie erinnerte sich noch gut an die Zeit, als die Freundin langsam zu begreifen begann, wie sehr sich ihr Leben verändert hatte.

Besonders ein Gespräch hatte einen nachhaltigen Eindruck bei ihr hinterlassen. „Hast du inzwischen die Scheidung eingereicht?“ fragte sie, während ihr Blick vorwurfsvoll durch die Wohnung glitt. „Überall stehen immer noch seine Sachen herum, er wohnt doch nicht etwa noch hier?“

„Es ist nicht so einfach, die Kinder würden am meisten darunter leiden.“ Carmen wischte sich die Tränen ab, die in der Zeit ständig zu laufen schienen.

„Schieb nicht alles auf sie“, widersprach Natascha zähneknirschend. „Liebst du ihn etwa immer noch?“

Eine Antwort war gar nicht nötig gewesen. Carmen erinnerte Natascha an eine Pflanze, die zwar fast vertrocknet war, deren Wurzeln jedoch nach wie vor lebten und geduldig darauf warteten, wieder gedüngt zu werden, um neue Knospen zu treiben.

Liebevoll legte sie den Arm um die Freundin und bekannte: „Deine Liebe ist etwas ganz Besonderes, worum ich dich fast beneide. Ich glaube nicht, dass ich so einen Verrat verzeihen könnte. Aber der Glaube daran, dass Liebe sogar so etwas übersteht, ist irgendwie beruhigend.“

Nach dem Tod ihrer Eltern vor einigen Jahren war Carmen neben Christoph der einzige Mensch gewesen, den Natascha in ihrer Nähe ertrug. Die Freundinnen brauchten inzwischen kaum noch Worte, um sich miteinander zu verständigen.

Als Carmen Natascha an diesem Abend lächelnd die Tür öffnete, glitt deren Blick anerkennend über die modische Kleidung und den strubbeligen Kurzhaarschnitt ihrer Freundin.

„Wenn ich in deinem Alter auch noch so aussehe, habe ich alles richtig gemacht“, lautete ihre Begrüßung.

Carmen brauchte nicht lange, um Natascha zu durchschauen, als diese ohne Punkt und Komma von ihrem Gespräch mit Mark Göbel und der vor ihr liegenden großen Chance schwärmte. Nachdem sie zunächst schweigend zugehört hatte, unterbrach Carmen sie: „Er gefällt dir, habe ich recht? Hast du nicht gesagt, er hätte den Ruf eines Weiberhelden? Vielleicht hofft er ja auf eine günstige Gelegenheit, um deine Dankbarkeit auszunutzen“, sie machte eine nachdenkliche Pause. Beinahe beiläufig fügte sie noch hinzu: „Sei lieber vorsichtig. Die ganze Sache klingt irgendwie ein bisschen zu toll, findest du nicht auch?“

Natascha runzelte verunsichert die Stirn und suchte Carmens Blick. Nach einer kurzen Pause überlegte sie laut: „So weit habe ich überhaupt nicht gedacht. Ich bin viel zu überrascht über die tollen Möglichkeiten, die sich mit einem Mal bieten. Nur ..., wenn du mich so fragst, ich habe ihn zwar erst einmal vor ein paar Jahren gesehen - aber er hat schon einen gewissen Eindruck bei mir hinterlassen. Er ist der Inbegriff von männlich. Allerdings wird er wohl auch seinem Ruf gerecht.“

„Obwohl niemand ein Recht dazu hätte, dir einen Vorwurf zu machen, wenn du auf einen tollen Mann abfährst“, setzte Carmen in weiterhin beiläufigem Ton hinzu. „Du musst eben nur aufpassen, dass du dir mit der ganzen Sache nicht schadest.“

Allmählich begann Natascha sich zu ärgern, Carmen interpretierte für ihren Geschmack ein bisschen viel in die ganze Angelegenheit hinein. „Mit welcher Sache denn bitte schön? Meinst du vielleicht, ich sehe das alles als einfaches Mittel, endlich ein Bumsverhältnis anzufangen? Darf ich dich daran erinnern, dass ich verheiratet bin und Christoph liebe!“

Carmen war solche Ausbrüche längst gewohnt und dachte gar nicht daran, den Mund zu halten. „Ich erinnere mich vor allem daran, wie traurig du von Anfang an darüber warst, dass er deinen Körper so vollkommen ablehnt. Weißt du noch, wie es dir nach eurem ersten Urlaub ging?“

Die Woche an der Ostsee hatte sich Natascha damals zum Ziel gemacht, ihre Beziehung endlich über ein paar Küsschen hinaus zu erweitern. Stattdessen drehte ihr Christoph im Bett den Rücken zu und erklärte, mehr Zeit zu brauchen. Während er friedlich schlief, lieferten sich bei Natascha die widerstreitenden Gefühle einen erbitterten Kampf.

Das Engelchen in ihr erklärte, dass er eben besonders rücksichtsvoll wäre und es natürlich am Willen und nicht am Können läge. Ansonsten müsse er schließlich viel depressiver und nicht so selbstverständlich ehrlich sein. Außerdem wollte sie doch um ihrer selbst willen geliebt werden und nicht nur wegen ihres Körpers.

Das Teufelchen hingegen tobte: Egal, ob er nicht will oder kann (wahrscheinlich sogar beides) - lass die Finger von ihm. Keine Liebe ohne Leidenschaft, glaub nur ja nicht, das könnte sich noch ändern.

Es änderte sich tatsächlich nichts, aber Christoph verstand es hervorragend, seine Defizite durch andere Dinge auszugleichen und auch wenn er Sex weiterhin konsequent ablehnte, behandelte er sie zärtlich und liebevoll. Natascha fühlte sich mit ihm wohl, auch für den Preis, dafür auf Sex zu verzichten. Christoph akzeptierte sie mit all ihren Ecken und Kanten, niemals versuchte er, an ihr herum zu erziehen oder sie zu ändern.

Er war pflegeleicht, ohne dabei langweilig zu sein, ließ sich gerne lenken und ärgerte sich nicht darüber, wenn ihm Entscheidungen abgenommen wurden.

Carmen erklärte energisch: „Auf Dauer kann eine Ehe ohne Sex nicht laufen. Du bist viel zu jung, um generell darauf zu verzichten. Niemand, der deine persönlichen Umstände kennt, kann dir auch nur den geringsten Vorwurf daraus machen.“

Natascha sprang auf und lief nervös auf der Terrasse auf und ab. „Super Idee. Wenn es dann rauskommt, werde ich meine Lebensgeschichte in der Firmenzeitung lesen. Du spinnst ganz schön, da sieht man mal wieder, wie wenig Ahnung du vom Berufsleben hast. Er kann sich damit vielleicht noch profilieren, aber mein Ruf wäre im Eimer.“

Sie setzte sich und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Die nächsten Worte kamen so leise, dass Carmen sie kaum verstehen konnte. „Außerdem bin ich mir auch gar nicht so sicher, ob er wirklich was von mir will. So wie der aussieht und bei seiner Position kann er so ziemlich jede haben, warum sollte er sich auch nur im Geringsten für mich interessieren?“

Kopfschüttelnd musterte Carmen ihre Freundin, bevor sie aufstand und vor ihr in die Hocke ging. Nataschas schlanke Figur und das lockige blonde Haar, das in sanften Wellen über ihren Rücken fielen, passten überhaupt nicht zu dem hässlichen Entlein, für das sie sich hielt. Carmen streichelte über die Beine der Freundin und ergriff deren Hände.

„Ich denke, deine Minderwertigkeitskomplexe liegen vor allem daran, dass Christoph dich links liegen lässt“, erklärte Carmen sanft. „Stell dich doch mal vor den Spiegel, dann weißt du, warum der Göbel ganz bestimmt was von dir will. Du bist jung, siehst gut aus, hast eine klasse Figur, intelligent bist du auch noch … Über kurz oder lang wirst du Christoph betrügen, das kann gar nicht anders sein. Aber betrügen ist das falsche Wort dafür, du nimmst ihm ja gar nichts weg. Du holst dir nur, was dir zusteht - wenn nicht von ihm, dann eben von einem anderen. Von wem auch immer, obwohl ... so begeistert, wie du klingst, räum ich Mark Göbel gute Chancen ein“, schloss sie mit einem leichten Schmunzeln.

Mit zögernder Stimme berichtete Natascha Carmen nun erst, dass Mark verheiratet und Vater zweier kleiner Kinder war. Während sie sprach, konnte sie deutlich mit ansehen, wie sich das Gesicht der Freundin verschloss. Zu sehr erinnerte das alles an den Ehebruch ihres eigenen Mannes.

„Puh, ich dachte, wenn er zehn Jahre älter ist als du, hätte er die kleinen Kinder längst hinter sich gelassen“, sagte sie um einen lässigen Ton bemüht. „Eigentlich müsste ich dir jetzt sagen, dass du die Finger von ihm lassen solltest. Ich weiß, wie erbärmlich man sich als betrogene Ehefrau fühlt. Aber vielleicht ist er zumindest clever genug, sich dabei nicht erwischen zu lassen. Sei dir aber auch sicher, dass er seine Familie nicht verlassen wird. Für unverbindlichen Spaß scheint er tatsächlich der ideale Kandidat zu sein und mehr willst du doch auch nicht, oder?“

Carmen war es gelungen, bei Natascha ein Feuerchen anzustecken, inzwischen brannte es lichterloh und ließ sich längst nicht mehr löschen.

Mark möglicherweise nicht mehr attraktiv zu finden, zog Natascha erst gar nicht in Erwägung. Als sie im Bett lag und wieder einmal nicht schlafen konnte, malte sie sich in schillernden Farben Geschichten voller Erotik, Sinnlichkeit und gegenseitiger leidenschaftlicher Hingabe aus.

4. Natascha nutzte jede freie Minute, um an ihrem Konzept zu arbeiten und nach zwei Wochen blickte sie zufrieden auf den vor ihr liegenden Stapel Papier. Sie hatte versucht, alle Aspekte zu berücksichtigen und hoffte, zumindest dafür Anerkennung zu finden. Während sie die Mappe in einen Umschlag steckte, überlegte sie, ob es tatsächlich richtig gewesen war, gar nicht erst einen Reiseantrag zu stellen. Energisch klebte sie den Umschlag zu und schrieb Marks Namen groß und deutlich darauf. Es war richtig gewesen, bestätigte sie sich, denn nur so bewahrte sie sich ein letztes bisschen Stolz – so weh es auch tat, über die verpasste Chance auch nur nachzudenken.

Am nächsten Tag klingelte das Telefon und Mark bedankte sich für ihre Ausarbeitung. „Ich hatte noch keine Zeit, es zu lesen aber vor allem habe ich mich gewundert, warum Sie es mir überhaupt geschickt haben. Soll ich mich nicht erst bei Ihrer Präsentation davon überraschen lassen?“ fragte er irritiert.

„Sorry, ich dachte, es wäre klar, dass ich nicht selbst teilnehmen werde.“ Natascha stockte und überlegte, ob er doch etwas anderes von ihr erwartet hatte.

„Dachten Sie wirklich, ich lasse das zu?“ Mit einem zufriedenen Grinsen lehnte sich Mark in seinem Stuhl zurück. „Natürlich werden Sie präsentieren, Ihr Reiseantrag liegt hier unterschrieben vor mir. Gut, dass wir noch mal darüber gesprochen haben, sonst hätte ich mich vielleicht ganz umsonst darauf gefreut.“

Natascha schwankte zwischen abgrundtiefer Wut auf ihren Chef, der ihr kein Wort darüber gesagt hatte und himmelhochjauchzender Freude über die bevorstehende Reise. Es dauerte einen Moment, bis sie sich so weit im Griff hatte, zu antworten.

„Puh, das kommt jetzt wirklich überraschend“, gab sie zu, „ich bin noch ganz überwältigt. Können wir es vielleicht trotzdem vorher noch mal durchsprechen? Wäre mir lieber ...“

Mark schmunzelte, als ihre Gefühle ungefiltert direkt durchs Telefon zu ihm hinüber schossen. „Klar, immer gerne. Mal sehen, ob wir einen Termin finden, ich bin eigentlich ständig unterwegs“, fügte er bedauernd hinzu, während er in seinem Terminkalender blätterte. Aber sosehr er sich auch bemühte, gelang es ihm nicht, die Zeit für ein persönliches Treffen zu finden. Stattdessen versprach er, die Unterlagen sorgfältig zu lesen und ihr seine Anmerkungen rechtzeitig zu schicken.

Als er sich am nächsten Tag während einer Zugfahrt in die Mappe vertiefte, faszinierte ihn bereits nach wenigen Absätzen, wie viel Natascha aus der zunächst recht einfachen Idee gemacht hatte. Im Großen und Ganzen war er mit ihren Vorschlägen einverstanden und wartete nun gespannt auf ihre Präsentation. Nicht jedem lag es, vor anderen Menschen zu sprechen. Er selbst blühte inmitten einer Zuhörerschar auf, aber die wenigsten teilten diese Begeisterung.

Begeisterung hin oder her wäre Natascha zu dem Zeitpunkt froh und glücklich gewesen, wenn alles bereits hinter ihr gelegen hätte. Stattdessen stand sie eine Woche später am Hamburger Hafen und blickte sehnsüchtig dem Taxi nach.

Es war heiß für Mitte September, obwohl der Himmel nach nahezu zwei Wochen ununterbrochenen Sonnenscheins an diesem Tag zum ersten Mal ein wenig Bewölkung zeigte. Der Wind, der im Hafen ziemlich heftig wehte, zerzauste Nataschas lange lockige Mähne, die sie mal wieder vergessen hatte, in einem Pferdeschwanz zu bändigen.

Es herrschte reger Betrieb. Gerade tuckerte ein kleiner Fischkutter lautstark an seinen Anlegeplatz. Der penetrante Dieselgestank passte genauso gut zu der Atmosphäre wie das Gekreische der Möwen, die die einlaufenden Schiffe auf der Suche nach Futter umschwärmten. Das Wasser im Hafenbecken überzog eine regenbogenfarbene Ölschicht, die nur die Wellenbewegungen der Schiffe unterbrach.

Gleich neben den kleinen Kuttern befanden sich die Anleger der größeren Schiffe. Natascha kannte zwar die Nummer des Platzes, hatte das Schiff aber noch nicht gefunden. Beim Laufen und Suchen lobte sie sich im Stillen dafür, dabeizuhaben. nur ein einziges Gepäckstück

Endlich war sie erfolgreich und konnte eine Stunde später ihre gemütliche, zweckmäßig eingerichtete Kajüte beziehen. Das Bullauge ließ sich zwar erwartungsgemäß nicht öffnen, bot Natascha jedoch einen Ausblick auf den Hafen.

Sobald sie die wenigen Sachen ausgepackt und ordentlich im Schrank verstaut hatte, ging sie neugierig auf Erkundungstour. Noch nie hatte sie solch ein Schiff von innen gesehen. Zunächst fuhr sie etliche Male mit dem gläsernen Fahrstuhl, der einen faszinierenden, ständig wechselnden Blick auf die vielen Etagen des Schiffes bot. Unzählige Läden, Boutiquen und Kneipen luden zum Bummeln und Verweilen ein.

Natascha wusste nicht recht, wie sie die Stunden bis zum gemeinsamen Abendessen verbringen sollte und machte sich erst einmal auf die Suche nach dem für den kommenden Tag gemieteten Konferenzraum. Dort waren zwei Mitarbeiter des Kreativteams bereits damit beschäftigt, alles für die morgige Tagung vorzubereiten. Einen langen Tisch bedeckten unzählige Unterlagen, gleich daneben türmten sich die verschiedenen Neuheiten. Beide Männer hatten die Ärmel ihrer Hemden hochgekrempelt und liefen mit vollen Händen hin und her.

Spontan entschied sie, dass es wohl nichts schaden konnte, wenn sie wenigstens den einen oder anderen schon vorher kennenlernte und bot ihre Hilfe an. Sie war noch nicht zum Abendessen umgezogen und trug einen türkisfarbenen Overall sowie bequeme Ballerinas. Erst später würde sie sich einen Zopf flechten und in schicke Klamotten schlüpfen. Sehr schnell war das Eis gebrochen und Natascha fühlte sich richtig wohl. Carsten und Richard waren Junior-Member in ihrem Alter, für organisatorische Dinge verantwortlich und noch relativ neu im Team.

Die gesamte Organisation war so kompliziert, dass Natascha noch keinen richtigen Durchblick hatte. Mark Göbel war zwar der Chef, gehörte jedoch einem Board von sechs Mitarbeitern an, die relativ gleichberechtigt die Leitung in den Händen hielten. Entscheidungen wurden letztendlich in diesem Gremium gefällt. Nur diese Gruppe arbeitete in Vollzeit im Kreativteam.

Der Kreis wurde um derzeit zwölf Seniors und acht Juniors erweitert. Sie gehörten entweder verschiedenen Innendienstabteilungen oder dem Außendienst an und wurden für die Teilnahme am Kreativteam von ihren eigentlichen Aufgaben freigestellt. Alle waren Profis auf ihrem Gebiet, flexibel, kreativ und besaßen eine schnelle Auffassungsgabe. Mitglied im Kreativteam zu sein, bedeutete zwar wesentlich mehr Arbeit, trotzdem wäre niemand auf die Idee gekommen, ein solches Privileg abzulehnen. Die Juniors waren bei den meisten Sitzungen dabei, ohne bereits volles Stimmrecht zu haben. Darüber hinaus erweiterte sich der Kreis variabel. Manchmal nahmen weitere Firmenmitarbeiter aus anderen Abteilungen – wie in diesem Fall Natascha – oder auch Angehörige fremder Firmen teil, oftmals wurden externe Vorschläge oder Angebote vorgestellt oder aus Kundensicht referiert.

Alles in allem versammelten sich bei den großen Sitzungen fünfunddreißig bis vierzig Teilnehmer. Da Natascha nun auch noch das Quartalsmeeting erwischt hatte, waren tatsächlich achtunddreißig vorgesehen. Erstaunlicherweise fand sich weder bei den Board-Members noch bei den anderen eine Frau. Auch im Innendienst war Natascha als Nicht-Sekretärin noch eine Ausnahme, aber zumindest nicht die Einzige.

Als Mark kurz darauf zu ihnen stieß, hielt er zunächst in der Tür inne und beobachtete die drei jungen Leute unbemerkt, bevor er sich Natascha näherte. Zuerst erkannte er sie überhaupt nicht wieder, schließlich waren vor Jahren die Haare viel kürzer, der Hintern viel dicker und die ganze Erscheinung ziemlich hausbacken gewesen.

Richtig hübsch ist sie geworden, schoss ihm durch den Kopf. Vor allem gefiel ihm, dass sie sich bereits mit seinen Juniors angefreundet hatte und ihnen bei den Vorbereitungen half. Als unbeteiligter Beobachter erkannte er schnell, dass sie die Jungs mit ihrem charmanten Lachen längst um den Finger gewickelt hatte. Wie zwei Hähne balzten beide um ihre Gunst, heftig darum bemüht, ihre Aufmerksamkeit zu erregen und ihr zu gefallen.

Er schluckte, sein Mund fühlte sich mit einem Mal trocken an. Er erinnerte sich nicht daran, wann er zum letzten Mal so stark auf eine Frau reagiert hatte und obwohl es niemand bemerkte, war es ihm höchst peinlich. Sein Körper signalisierte sehr deutlich, was zu tun wäre, wenn er ihr näher sein könnte. Ihre sinnliche Ausstrahlung zog ihn unwiderstehlich an.

Dabei waren Kolleginnen eigentlich für ihn tabu, ein solches Verhältnis barg zu viel möglichen Stress, den es unbedingt zu vermeiden galt. Bei Nataschas Anblick schwanden allerdings all seine guten Vorsätze. Sie flogen einfach davon. Mark hatte absolut nicht vor, das Feld kampflos zu räumen. Okay, vielleicht wenn sein Eindruck nicht ganz so positiv gewesen wäre, aber nach dem, was er bisher von ihr gesehen und gehört hatte, schien sie ihm für alle anderen viel zu schade zu sein. Außerdem fühlte er sich für sie verantwortlich und da er seine Jungs nur zu gut kannte, beschloss er, ein wachsames Auge auf Natascha zu haben.

Normalerweise wurde in diesem Männerhaufen nicht lange gefackelt und dabei machte auch er keine Ausnahme. Frauen wurden allgemein geschätzt und es gab einzelne, auf deren Meinung man Wert legte. Eigentlich bestand ihre Hauptaufgabe aber darin, für Spaß und Unterhaltung zu sorgen.

Da das Kreativteam immer wieder an anderen Orten zusammenkam, fiel es im Allgemeinen niemandem schwer, Begleitung für die Nacht zu finden. Überall wurden abends in Restaurants oder Bars Kontakte geknüpft, die nicht selten das Rahmenprogramm bereicherten. Mark ging dabei mit bestem Beispiel voran, wobei er immer auf Diskretion achtete. Außerdem verlangte er von sich selbst und allen anderen eine strikte Trennung von Job und Vergnügen. Egal, wie lange nachts die Puppen tanzten, entschuldigt wurde niemand am nächsten Morgen.

Damit hatte Mark selbst die geringsten Probleme. Er verstand es, sich auf die Frauen einzustellen und ihnen wundervolle Nächte zu bescheren. Für ihn nicht nachzuvollziehen war allerdings deren Wunsch nach mehr. Hier stießen sie auf erbitterten Widerstand. Bislang hatte es keine Frau geschafft, ihn länger an sich zu binden. Keine Verpflichtungen und kein Beziehungsstress waren sein erklärtes Motto. Mark bedauerte nur, dass bei den Frauen anscheinend immer Gefühle dazugehörten.

Natascha war inzwischen so beschäftigt, dass sie Mark zunächst überhaupt nicht bemerkte. Als er plötzlich direkt vor ihr stand, zuckte sie erschrocken zusammen. Schnell musterte sie ihn von Kopf bis Fuß.

Er sah unverschämt gut aus, hatte allerdings kein liebes Jungengesicht, sondern wirkte eher hart und kantig. Sein männlicher Körper, die muskulösen Arme und seine breiten Schultern strahlten eine erotische Männlichkeit aus. Das am Hals aufgeknöpfte kurzärmlige Hemd zog ihren Blick auf seine gebräunte Brust.

Vor Schreck vergaß sie zu atmen und als sie nun tief Luft holte, stellte sie fest, wie gut er roch – und das hatte nichts mit seinem Rasierwasser zu tun. Sein eigener Geruch wirkte so angenehm und anziehend auf sie. Der Drei-Tage-Bart zauberte dunkle Schatten in sein Gesicht, die sich ständig zu bewegen schienen, je nachdem, wie das Licht darauf fiel. Als sich ihre Blicke begegneten, schaute sie in unwiderstehlich faszinierende mokkabraune Augen, die sie aufmerksam musterten. Und selbst wenn sie gewollt hätte, wäre es ihr nicht gelungen, sein Lächeln unerwidert zu lassen.

„Hallo Frau Stein, schön, Sie endlich persönlich zu treffen“, Mark reichte ihr die Hand und versuchte vergeblich, die Wirkung ihres Lächelns auf sich abzumildern. Es durchdrang sein Schutzschild und tausend Schmetterlinge tanzten in seinem Bauch. Verärgert stellte er fest, dass er sich wie ein verliebter Teenager fühlte.

„Freut mich auch“, beeilte sich Natascha zu antworten. „Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich mich hier ein bisschen nützlich mache?“ Sie zwang sich, den Blick abzuwenden und musterte stattdessen die Blätter, die sie in der Hand hielt. „Ich bin ehrlich gesagt ziemlich nervös wegen morgen und versuche mich abzulenken ...“

Mark konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was sie nervös machen könnte. Vielleicht eine ablehnende Reaktion der Zuhörer? Er zog die Augenbrauen zusammen, runzelte die Stirn und sein grimmiges Gesicht zeigte deutlich, dass er jeden Angriff gegen sie im Keim ersticken würde. Normalerweise genügte dieser strafende Blick, um alle zum Schweigen zu bringen.

5. Zu Hause trat Mark im Allgemeinen weniger fürsorglich auf. Er war seit mehr als zehn Jahren mit Bettina verheiratet und gedachte daran auch nichts zu ändern. Inzwischen hatten sie zwei Kinder, Johanna besuchte die erste Klasse, Robert ging in den Kindergarten.

Mark liebte seine Familie und fühlte sich für sie verantwortlich. Da er selten zu Hause war, hatte er allerdings keine Chance, aktiv am Familienalltag teilzunehmen und so lebten er und Bettina sich im Laufe der Jahre immer weiter auseinander. Seine Frau teilte seine - zugegebenermaßen sehr intensiv ausgeprägten - sexuellen Bedürfnisse schon lange nicht mehr und da Mark immer häufiger den Eindruck gewann, ihr damit lästig zu sein, reduzierte sich ihr Sex mehr und mehr.

Sie sprachen nicht über seine Arbeit und Bettinas Alltagsprobleme waren ihm egal. Die seltenen Zeiten zu Hause vergammelte er auf der Couch und wartete auf die Sportschau. Er zeigte keinerlei Interesse daran, ob Johanna wieder einen Milchzahn verloren hatte oder der Schornsteinfeger schon wieder nicht, wie vereinbart, gekommen war.

Unglücklich machte Mark sein Leben nicht, schließlich gab ihm seine Arbeit die Bestätigung, die er brauchte. Nur sehr selten war er ehrlich genug, sich einzugestehen, dass wahres Glück anders aussah.

Seine körperliche Befriedigung fand er in wechselnden Affären und er genoss es, eine Frau schnell und kompromisslos von seinen Qualitäten zu überzeugen. Das funktionierte allerdings zunehmend schlechter und noch während er den fremden Körper im Arm hielt, kam auch schon der bittere Nachgeschmack.

Mit diesen Frauen über sich oder seine Gefühle zu sprechen, kam überhaupt nicht infrage. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass ihm große Offenheit nur schadete und aus seinen Fehlern gelernt. Viel zu oft waren seine vorschnellen Äußerungen gegen ihn verwendet worden. Er spielte lieber den unnahbaren Cowboy, der wortkarg auftauchte und bald darauf auch wieder verschwand. Inzwischen vertraute er nur noch sehr wenigen Menschen.

Natascha fühlte er sich bereits während der ersten Telefongespräche ungewohnt verbunden. Sie nun persönlich zu treffen, verstärkte diesen ersten Eindruck. Es zog ihn zu ihr hin und er hätte sich am liebsten augenblicklich mit ihr an einem stillen Plätzchen verkrochen, um sie besser kennenzulernen.

Abends fand in einem separaten Raum, abgeschirmt von den Touristen, das Dinner statt. Während der Meetings wurde an nichts gespart. Natürlich arbeiteten alle stundenlang sehr hart und konstruktiv, aber rundherum ließ man es sich entsprechend gut gehen.

Nataschas pastellgelbes schickes Kostüm und die hochhackigen Pumps brachten ihre schlanke Figur perfekt zur Geltung. Eine dunkelbraune Bluse mit passendem Einstecktuch und Pumps in der gleichen Farbe schufen den passenden Kontrast zu ihrer hellen Haut und den blonden Haaren, die zu einem aufwendigen Knoten gebunden waren. Die ganze Erscheinung war ausgesprochen ladylike und darüber hinaus ein bisschen sexy.