Verschollen in den Bergen - Ana Dee - E-Book

Verschollen in den Bergen E-Book

Ana Dee

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Beschreibung

In den Bergen von Oviksfjäll sind in den letzten Jahren sechs Frauen spurlos verschwunden, von denen eine tot aufgefunden wurde. Erik Viklund, der zuständige Kommissar, und Linnea Bergström, die ehrgeizige Journalistin, stellen unabhängig voneinander Nachforschungen an und kommen sich dabei immer wieder in die Quere. Als durch einen Zufallsfund die sterblichen Überreste eines Teenagers auftauchen, der seit über zwanzig Jahren vermisst wird, spitzt sich die Lage zu. Gibt es eine Verbindung zwischen den Fällen und ist die Vergangenheit dieser Frauen der Schlüssel zur Lösung dieses Falles? Nachdem in Linnea Bergströms Hotelzimmer eingebrochen wird und sie sich zunehmend beobachtet fühlt, begreift auch Kommissar Viklund den Ernst der Lage. Was anfangs wie purer Zufall aussieht, scheint System zu haben.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Verschollen in den Bergen

SCHWEDEN-KRIMI

ELIN SVENSSON

ANA DEE

Inhalt

Anmerkung

Protagonisten

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Weitere Bücher der Autorin

Impressum

Anmerkung

Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.

Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.

Protagonisten

Linnea Bergström – Journalistin

Björn Blomqvist – Linneas Lebensgefährte

Bjarne Holm – Journalist

Karin Holm – Frau von Bjarne Holm,

Nils und Signe Holm – leibliche Kinder

Erik Viklund – Kommissar

Greta Nordin – Kommissarin

Sven Bergman – Gerichtsmediziner

Tom Björk – Computerspezialist

Arne Blom – Reiterhofbesitzer

Magnus und Ebba Gustafsson – Touristen

Prolog

Sie hörte das Rasseln des Schlüsselbundes und zog sich in die hinterste Ecke zurück. Bitte, flehte sie, lass den Kelch an mir vorüberziehen!

Doch ihr Flehen blieb ungehört und ein roher Tritt gegen die Tür kündigte ihn an. Zitternd erhob sie sich und legte die Fessel um ihren linken Knöchel. Eineinhalb Meter Radius standen ihr zur Verfügung, nicht mehr und nicht weniger.

Demütig schlug sie die Augen nieder, als er den Raum betrat.

„Zieh dich aus und leg dich hin“, lautete seine unmissverständliche Aufforderung.

„Bitte …“, setzte sie leise zur Gegenwehr an. „Bitte nicht.“

Der kräftige Schlag traf sie unvorbereitet. An ihrer aufgeplatzten Lippe bildete sich ein schmales Rinnsal, während sie nach hinten kippte und mit dem Hinterkopf gegen die Wand prallte. Sie merkte, wie sie allmählich das Bewusstsein verlor, und war dankbar, weil ihr auf diese Weise erspart blieb, ihn in sich zu spüren.

KapitelEins

„Magnus, bitte warte auf mich!“

Ebba war für einen kurzen Moment stehen geblieben und rang nach Luft. Der Aufstieg war kräftezehrend und jetzt rächte sich, dass sie das Training mit ihren Mädels immer wieder aufgeschoben hatte. Aber die Aussicht war phänomenal und entschädigte jede Anstrengung.

„Es ist einfach fantastisch hier“, schwärmte sie.

Magnus lief die wenigen Meter zurück und nahm Ebba in den Arm. „Ich habe dir doch versprochen, dass eine Auszeit genau das Richtige für uns ist. Wir müssen die Vergangenheit hinter uns lassen und nach vorn schauen.“

„Ach Magnus“, seufzte Ebba, „wenn das doch nur so einfach wäre.“

„Gib uns die Zeit, um mit diesem Schicksalsschlag fertigzuwerden.“ Magnus zog Ebba an sich und strich ihr zärtlich durchs Haar, das nur im Einfall des Sonnenlichts rötlich schimmerte. Sie war ein zierliches Persönchen, und dennoch so voller Energie. Magnus hingegen war das genaue Gegenteil – dunkelblond, kräftig gebaut und der Ruhepol in ihrer Beziehung. Eine schwere Zeit lag hinter ihnen und sie sammelten Kraft für einen Neuanfang.

Vor einem halben Jahr hatten sie sich für die Abtreibung entschieden. Ihr lang ersehntes Kind litt unter Spina bifida, einem offenen Rücken. Die Erkrankung war so stark ausgeprägt, dass keine Operation geholfen hätte. Ihr kleiner Sohn wäre unmittelbar nach der Geburt gestorben. Seitdem waren sie durch die Hölle gegangen, bis Magnus vorgeschlagen hatte, eine zweimonatige Auszeit zu nehmen. Er sollte recht behalten. Inzwischen hatten sie sich wieder angenähert und beschlossen, einen weiteren Versuch zu wagen.

„Wir haben genau das Richtige getan und vielleicht werden wir doch noch mit einem Kind belohnt. Aber ich habe mir geschworen, das Schicksal widerstandslos anzunehmen, weil ich sonst daran zerbrechen würde“, antwortete Ebba.

„Solange wir einander haben, können wir die ganze Welt bezwingen.“ Magnus klang zuversichtlich.

„Ich weiß.“ Ebba schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn leidenschaftlich. Es tat so gut, ihm wieder nahe zu sein und die Vergangenheit ruhen zu lassen.

„Dann auf zur letzten Etappe. Wir sollten wieder unten sein, bevor es dunkel wird“, drängte Magnus und lief voraus.

Ebba folgte ihm und stöhnte innerlich über den strapaziösen Aufstieg. Anfangs hatte sie die Stille des Waldes genossen, doch im Laufe der Zeit hatte sich eine gewisse Unruhe eingeschlichen. Sie konnte nicht einmal genau definieren, was es war, nur dieses diffuse Gefühl, immerzu beobachtet zu werden.

Auf einem kleinen Felsvorsprung hatten sie Rast gemacht und die Aussicht über das Tal genossen. Als mehrmals hintereinander trockene Zweige geknackt hatten, war sie erschrocken zusammengefahren und Magnus hatte über ihre Schreckhaftigkeit gescherzt. Sie hätte sich ihm gern anvertraut, wollte sich aber keine Blöße geben. Wahrscheinlich reagierte sie einfach über, wie so oft, in letzter Zeit.

Sie näherten sich dem Bergkamm und der Bewuchs wurde spärlicher. Ebba atmete befreit auf, weil der Rückweg weniger beschwerlich werden würde, und sie mit Magnus bequem Schritt halten konnte. Sie konzentrierte sich wieder auf den steinigen Pfad, der nach oben führte, und schloss zu Magnus auf.

Nur noch wenige Meter trennten sie vom Gipfel und Magnus beschleunigte seine Schritte. Oben angekommen ließ er den Rucksack von seinen Schultern gleiten, breitete die Arme aus und schrie sich die Seele aus dem Leib.

„Wohooooo, das Leben ist schön und ich verspreche dir hier und heute, dass ich dich glücklich machen werde!“

„Hey, du verrückter Kerl, jetzt komm mal langsam wieder runter“, rief sie lachend.

Er legte den Arm um ihre Schultern und machte eine ausholende Geste.

„Sieh dir nur dieses Panorama an, einfach atemberaubend! Ich liebe Stockholm, gar keine Frage, aber das hier ist einfach überwältigend.“

„Ich empfinde genauso“, erwiderte Ebba und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Ob es wohl einen Himmel gibt?, dachte sie mit einem neuerlichen Anflug von tiefer Trauer. Es wäre schön, wenn ihr verstorbener Sohn an diesem Augenblick teilhaben könnte. Sie beneidete Magnus insgeheim darum, wie er voller Optimismus in die Zukunft schaute, denn sie verzweifelte fast an diesem auferlegten Schicksal. Meist verkroch sie sich schwermütig im stillen Kämmerlein und war immer darauf bedacht, ihre Melancholie vor ihm zu verbergen.

Magnus setzte sich auf einen Baumstumpf und packte die Polarbrote aus, die Ebba im Ferienhaus für den Ausflug vorbereitet hatte.

„Ich habe einen Bärenhunger“, sagte er und biss herzhaft hinein.

„Aber wir haben doch erst vor einer Stunde gepicknickt.“

„Ach, was interessiert mich mein Geschwätz von eben“, entgegnete er lachend. Er schraubte die Thermoskanne auf, schenkte den Kaffee ein und reichte Ebba das dampfende Getränk. „Bitte schön.“

Genau in diesem Augenblick sprang sie unvermittelt auf und schlug Magnus versehentlich den Kaffeebecher aus der Hand.

„Das gibt es doch nicht! Dort hinten steht jemand und beobachtet uns ganz ungeniert“, rief sie und deutete mit ausgestrecktem Arm in die Richtung.

„Wo denn?“, fragte Magnus zweifelnd. „Tut mir leid, aber ich kann niemanden entdecken.“

Ebba eilte voraus. „Jetzt komm schon, du musst ihn aufhalten!“, forderte sie ihn auf.

Magnus erhöhte sein Tempo, um die Verfolgung aufzunehmen.

„Du läufst in die falsche Richtung, du musst nach links“, korrigierte sie ihn und nur Sekunden später war er zwischen den Fichten verschwunden.

„Magnus? Wo bist du?“, rief Ebba verhalten. Wie hatte sie nur so dumm sein können, ihn fortzuschicken? Jetzt war sie dem fremden Beobachter schutzlos ausgeliefert.

Nervös nagte sie an ihrer Unterlippe und hielt nach Magnus Ausschau. Sie vernahm das knirschende Geräusch von Schritten, konnte aber niemanden ausmachen. Augenblicklich wünschte sie sich in ihr frisch renoviertes Häuschen nach Stockholm zurück, das euphorische Glücksgefühl von eben war verflogen. Mehrmals schaute sie auf die Uhr und die Minuten zogen sich quälend in die Länge.

Als endlich der dunkelblonde Schopf von Magnus zwischen den Bäumen auftauchte, eilte sie ihm entgegen und schlang die Arme um seinen Hals.

„Ich bin so froh, dass du wieder da bist“, sagte sie erleichtert.

„Was ist nur los mit dir in letzter Zeit?“, fragte er verwundert. „Du bist ja völlig aufgelöst.“

„Ich weiß auch nicht, wie ich es beschreiben soll. Aber ich spüre, dass wir heimlich beobachtet werden.“

„Ebba, der Wald ist voller Leben, vielleicht hast du nur den Schatten eines Elches gesehen.“

„So weit oben in den Bergen?“

„Dann war es eben ein anderes Tier“, wiegelte Magnus ab.

„Bitte, lass uns morgen nach Stockholm zurückfahren, ich habe ehrlich gesagt, kein gutes Gefühl.“

„Muss das wirklich sein?“ Er wirkte enttäuscht. „Wir haben doch noch zwei Urlaubswochen vor uns.“

„Irgendetwas hat sich verändert, und schon beim bloßen Gedanken daran bekomme ich eine Gänsehaut.“

„Ich finde, dass du überreagierst. Wir können doch nicht aufgrund eines undefinierbaren Gefühls sämtliche Pläne über den Haufen werfen. Morgen ist Mittsommer, lass uns doch noch das Fest feiern und dann verhandeln wir neu. Einverstanden?“

„Einverstanden“, willigte sie widerstrebend ein.

„Noch einen Kaffee?“

„Nein danke.“ Ebba schüttelte den Kopf.

Wortlos verstaute Magnus die restlichen Brote und die Thermoskanne im Rucksack. Dann reichte er ihr seine Hand.

„Damit du mir nicht verloren gehst“, erklärte er mit einem Augenzwinkern.

Ebba war ihm unendlich dankbar. Hand in Hand traten sie den Rückweg an und die Blicke, die sie im Rücken zu spüren glaubte, machten ihr nicht mehr so viel aus.

Nachdem Ebba und Magnus mit den anderen Gästen das Lied Der kleinen Frösche gesungen und dazu getanzt hatten, ließen sie sich auf dem Rasen nieder. Die Stimmung im Feriendorf war aufgekratzt und ein fröhliches Lachen hallte zu ihnen herüber. Ebba betrachtete das bunte Treiben und warf immer wieder einen verstohlenen Blick zur Midsommarstång, dem Fruchtbarkeitssymbol. Vielleicht würde sie schon im nächsten Jahr wieder guter Hoffnung sein.

Nachdem das traditionelle Feuer angezündet worden war, reihten sich Magnus und Ebba in die Schlange der Wartenden ein. Am Buffet füllten sie ihre Teller und setzten sich etwas abseits.

„Ebba, ich bin so froh, dass wir noch geblieben sind. Zum ersten Mal nach all der Zeit kann ich das pulsierende Leben wieder genießen.“

Seine Augen glänzten im flackernden Schein des Feuers und Ebba erinnerte sich an den Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten. Sie liebte Magnus noch immer und wusste, dass mit ihm an ihrer Seite alles gut werden würde.

„Reichst du mir deinen Teller? Ich bringe nur rasch das Geschirr weg und bin gleich wieder zurück.“

Er winkte ihr noch einmal zu, bevor er in der Menge verschwand. Das Feuer hatte inzwischen an Kraft verloren und die zarten Flämmchen umzüngelten das restliche Holz. Der kühle Abendwind wehte den süßen Duft einer in voller Blüte stehenden Wiese herüber. Ebba schloss die Augen und lauschte der Musik und dem fröhlichen Lachen der Gäste. Am liebsten hätte sie diesen unbeschwerten Moment eingefangen und für die Ewigkeit konserviert.

Irgendwann riskierte sie einen Blick auf die Uhr. Magnus war noch immer nicht zurück und sie machte sich allmählich Sorgen. Sie stand auf, klopfte die Grashalme von der Hose und schob sich durch die Menschenmenge, um nach ihm zu suchen. Weil sie ihn nirgends entdecken konnte, lief sie in Richtung See. Dort angekommen, hörte sie ein leises Wispern und drehte sich um.

„Ebba, Liebling, ich möchte dir etwas zeigen.“

„Magnus, bist du das?“ Im abendlichen Dämmerlicht konnte sie nur eine verschwommene Silhouette erkennen.

„Jetzt komm schon,“, drängte die Stimme flüsternd.

„Magnus, was sollen diese Spielchen?“, rief sie verärgert.

„Wir müssen still sein. Und jetzt beeil dich, bevor es vorbei ist.“

Zögerlich folgte sie der Stimme, die so gar nicht zu Magnus passen wollte. Nur wenige Sekunden später fiel ihr der Irrtum auf. Dieser Fremde war nicht Magnus und wer wusste schon, was er im Schilde führte. Ebba machte auf dem Absatz kehrt und stahl sich in die entgegengesetzte Richtung davon. Ein Schauer jagte über ihren Rücken, wenn sie nur daran dachte, wie vertraulich der Fremde mit ihr umgegangen war. Seine Stimme hatte etwas Schmeichelndes an sich, sonst wäre sie ihm nie gefolgt.

Kaum war sie außer Sichtweite, lief sie zum Fest zurück und Magnus direkt in die Arme.

„Ebba, wo hast du gesteckt?“, fragte er vorwurfsvoll.

„Als du nicht zurückgekommen bist, habe ich mich auf die Suche nach dir gemacht.“

„Entschuldige, es war nicht meine Absicht, dich warten zu lassen. Ich habe mit unseren Nachbarn gesprochen, die im Ferienhaus gegenüber wohnen, und dabei völlig die Zeit vergessen.“ Magnus taxierte sie mit ernstem Blick. „Was ist los? Du bist ja völlig außer Atem.“

„Ich bin hinunter zum See gelaufen, weil du nicht zurückgekommen bist. Dort hat mich ein Fremder vertraulich beim Vornamen genannt. Anfangs habe ich ihn sogar mit dir verwechselt, aber kurz darauf den Fehler bemerkt. Es war irgendwie seltsam und beängstigend zugleich.“

„Vielleicht hat er dich ja ebenfalls für eine andere Person gehalten?“

„Das ist eher unwahrscheinlich, schließlich kannte er meinen Namen“, widersprach sie.

„Jetzt mal ehrlich, wie viele Frauen mit dem Vornamen Ebba werden bei diesem Fest wohl anwesend sein? Es ist ein sehr geläufiger Name.“

„Nein, diesmal lasse ich mich nicht von dir besänftigen. Du verschwendest keinen einzigen Gedanken daran, was hätte passieren können, wenn ich diesem Mann gefolgt wäre.“

„Ebba, was ist nur los mit dir? Es waren sechs erholsame Wochen, in denen wir die Vergangenheit hinter uns lassen konnten. Schon seit Tagen habe ich das Gefühl, dass du völlig überzogen reagierst.“

„Du willst mich nicht verstehen, oder?“

Sie ballte die Hände zornig zu Fäusten und konnte nicht nachvollziehen, warum Magnus ihr derart in den Rücken fiel. Wortlos drehte sie sich um und ließ ihn einfach stehen. Bis zum Ferienhaus war es nicht sehr weit und da sie den Schlüssel immer bei sich trug, schlenderte sie gemächlich zurück. Einige Gäste saßen auf den hell erleuchteten Terrassen und feierten mit ihren Familien, was Ebba ein Gefühl von Geborgenheit vermittelte. Hier konnte ihr nichts passieren. Dennoch atmete sie erleichtert auf, als sie die Tür von innen absperrte. Dann musste Magnus eben klopfen, wenn er hereinwollte.

Sie schaltete das Licht ein und ging zum Schrank, um den Koffer zu packen. Irgendetwas ging hier vor sich, und das war mit Sicherheit nichts Gutes. Wenn Magnus nicht in ihre Rückreisepläne einwilligte, dann würde sie eben allein fahren. Auch in Stockholm konnte sie die Füße hochlegen und sich von den Strapazen der vielen Wanderungen erholen.

Schwungvoll riss sie die Schranktüren auf und erstarrte in ihren Bewegungen. Jemand Fremdes musste die Kleidungsstücke angefasst haben und sie ließ sich von dem ordentlichen Arrangement nicht täuschen. Sie wusste ganz genau, dass sie das hellblaue Shirt ganz oben auf den Stapel gelegt hatte.

Beunruhigt kontrollierte sie auch die Sachen von Magnus, die unberührt im Schrank lagen. War es der Fremde gewesen, der sich Zutritt verschafft hatte, um in ihrer Wäsche zu wühlen? Ebba unterdrückte einen wütenden Schrei und versuchte, ruhig zu bleiben. Ihr Entschluss stand fest, sie würde morgen abreisen.

Sie setzte sich in den Sessel, der am Fenster stand und wartete auf Magnus. Ihr Blick wanderte immer wieder zur Uhr. Warum kam Magnus nicht zurück? Sie dachte kurz darüber nach, ihn zu suchen, verwarf den Gedanken aber wieder. Stattdessen zog sie hastig die Vorhänge zu und nahm wieder im Sessel Platz. Sie hatte die Uhr fest im Blick und zählte die Minuten. Als die Klinke heruntergedrückt wurde, zuckte sie ängstlich zusammen.

„Ebba, warum hast du abgeschlossen?“

Magnus, endlich! Mit einem Satz war sie an der Tür und ließ ihn herein.

„Jemand ist im Haus gewesen und hat sich an meinen Sachen zu schaffen gemacht“, sagte sie aufgeregt.

„Das gibt es doch nicht!“ Magnus öffnete die Schranktüren und musterte fragend die einzelnen Fächer. „Hast du das Durcheinander wieder beseitigt?“

„Nein, auf den ersten Blick ist alles unverändert, aber ich habe es sofort an meinem blauen Shirt bemerkt.“

Resigniert sank er auf das Bett und sah Ebba zweifelnd an. „Nur wegen eines einzelnen Shirts bist du so durcheinander?“

„Jemand ist unerlaubt in das Ferienhaus eingedrungen und das beunruhigt mich zutiefst. Du kennst mich doch, bei meinen persönlichen Sachen bin ich sehr eigen“, beharrte sie.

„Denk bitte noch einmal genau darüber nach. Könnte es nicht sein, dass du das Shirt am Morgen nur falsch einsortiert hast?“

„Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass du meine Sorgen herunterspielst? Habe ich mich je hysterisch benommen?“

„Ebba, Liebes, bitte beruhige dich. Bei unserer Wanderung in den Bergen, da war keine Menschenseele zu sehen und wer hätte dir am See auflauern sollen?“

„Es gibt genügend Leute “, sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, „die nicht ganz richtig im Kopf sind.

Magnus atmete geräuschvoll aus. „Müssen wir ausgerechnet jetzt darüber streiten? Es war so ein schönes Fest.“

„Bitte …“ Sie machte einen Schritt auf ihn zu. „Bitte lass uns morgen nach Stockholm zurückfahren.“

„Ich bin nur deshalb so lange fortgeblieben, weil uns die Nachbarn von gegenüber zu einem Ausflug eingeladen haben.“

„Und wo ist das Problem?“

Magnus ließ sich auf das Bett sinken und schwieg.

„Hast du etwa ohne mein Einverständnis zugesagt?“ Ebba setzte sich neben ihn. „Und was machen wir nun?“

„Wir sollten einen Kompromiss aushandeln“, schlug er vor. „Ich bin viel zu aufgekratzt, um schlafen zu können, und werde dir beim Kofferpacken helfen. Dafür wirst du mich morgen zu unserem letzten Ausflug begleiten.“

Ebba legte die Hände in den Schoß und dachte einen Moment lang über sein Angebot nach. Es war Magnus gegenüber nicht fair, so überstürzt abreisen zu wollen. Außerdem wären sie zu viert unterwegs und was sollte schon passieren? Zwei Nächte waren wirklich nicht die Welt und übermorgen würden sie in Richtung Heimat aufbrechen.

„Also gut, einverstanden“, willigte sie widerstrebend ein.

„Danke, ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.“ Magnus strahlte und begann, seine Kleidung ordentlich gefaltet in den Koffer zu legen.

Der neue Tag startete mit einem regenverhangenen Himmel. Ebba stand mit einer Tasse Tee am Fenster und ärgerte sich über Magnus, der trotz des schlechten Wetters den gemeinsamen Ausflug nicht abgesagt hatte. Genau in diesem Augenblick hätten sie schon auf dem Rückweg nach Stockholm sein können. Sie löste sich mit einem schwermütigen Seufzen von diesem tristen Ausblick und stellte die leere Tasse in das schmale Spülbecken.

„Ich habe eben die Wetter-App gecheckt, die Regenfront soll im Laufe des Vormittags weiterziehen und strahlendem Sonnenschein das Feld überlassen.“

Ebba konnte seinen Enthusiasmus nicht teilen. Widerwillig zog sie sich die Trekkingschuhe und die Regenjacke über.

„Ich bin startklar.“

„Fantastisch.“ Magnus legte seinen Arm um ihre Taille und zog sie an sich. „Es wird ein toller Tag, du wirst schon sehen.“

Gunnar und Kaja, das junge Pärchen von gegenüber, erwartete sie bereits.

„Hopp, hopp, steigt schnell in den Wagen, wir haben eine lange Strecke vor uns“, drängte Gunnar.

Magnus und Ebba verstauten die Rucksäcke im Kofferraum und nahmen auf der Rückbank Platz. Nach einer einstündigen Fahrt bog Gunnar auf einen kleinen Parkplatz ab. Die Stimmung war aufgekratzt, als sie durch den Wald am Fuße des Berges wanderten. Nur Ebba hatte nicht viel zu sagen und folgte ihnen still. Je höher sie stiegen, desto dichter wurden die Nebelfelder, die sogar den Gipfel des Berges verhüllten. Immerhin ließ der Regen allmählich nach.

„Ebba, jetzt zieh doch nicht so ein Gesicht, du verdirbst mir noch den Tag“, raunte Magnus ihr zu.

„Tut mir leid, aber meine Stimmung scheint wohl wetterabhängig zu sein“, entgegnete sie mit einem spöttischen Unterton.

„Du hast ja recht. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, noch heute abzureisen.“ Er wischte sich mit einem Taschentuch die Regentropfen aus dem Gesicht. „Aber ich wollte Gunnar und Kaja nicht enttäuschen.“

„Mir wäre es andersherum lieber gewesen“, antwortete sie knapp.

Magnus griff nach ihrer Hand. „Du kannst manchmal ganz schön biestig sein.“

Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Nur so gelangt man zum Ziel.“

„Auch wieder wahr.“

„Da vorn ist eine kleine Hütte, wo wir eine Pause machen können.“ Kaja deutete in die Richtung.

„Meine Gebete wurden erhört“, scherzte Gunnar. „Für einen starken Kaffee würde ich Berge versetzen.“

Die vier erhöhten das Tempo und bewältigten die Strecke innerhalb kürzester Zeit. Kraftvoll stieß der bärtige Gunnar die Tür auf und muffiger Geruch schlug ihnen entgegen.

„Nicht gerade das Hilton, aber für eine halbe Stunde sollte es reichen“, brummte er.

Sie hängten die regennassen Jacken über die Stuhllehnen und Kaja deckte mit dem Campinggeschirr aus ihrem Rucksack den Tisch. Während sie gemeinsam den Proviant verspeisten, stieg auch Ebbas Laune. Gunnar, ein rothaariger Hüne, trug seine zierliche Kaja auf Händen und betete sie förmlich an. Sein Verhalten erinnerte Ebba an die ersten Monate mit Magnus und sie fühlte sich in diese Zeit zurückversetzt. Bei ihnen war es ähnlich romantisch zugegangen.

Gunnar riss unaufhörlich Witze, die die anderen mit lautem Lachen quittierten, und auch Ebba ließ sich von der Heiterkeit anstecken. Wäre da nicht dieses beunruhigende Gefühl im Hintergrund gewesen, hätte sie die Rückreise wahrscheinlich verschoben.

Kaja reinigte mit einem Tuch notdürftig das Geschirr und verstaute es wieder in ihrem Rucksack.

„Also ich bin bereit, um den Gipfel zu stürmen“, rief Gunnar fröhlich und strebte mit forschen Schritten voraus.

Magnus sollte recht behalten, das Wetter besserte sich. Die Sonne, die ihre hellen Strahlen durch das dichte Blätterdach der Baumwipfel schickte, löste die dichten Nebelschwaden auf. Der Wald wirkte verwunschen und es roch nach feuchter Erde, Holz und Kiefernnadeln. Der Boden war mit Moos bedeckt, das sich wie ein weicher Teppich unter ihren Füßen ausbreitete, und das Licht der Sonne, das in sanften Strahlen durch das dichte Blätterdach drang, tauchte die Umgebung in ein goldenes Schimmern.

Ebba lächelte, als sie ihre Hand kurz über die raue Rinde eines Baumstammes gleiten ließ. Es war, als könne sie die Geschichten des Waldes spüren – Geschichten von vergangenen Stürmen, von heißen Sommern und stillen Winternächten. Die Natur schien ihre Gedanken zu beruhigen, und mit jedem Schritt konnte Ebba die Sorgen ein Stück weit hinter sich lassen.

Nach zwei weiteren kräftezehrenden Stunden war der Gipfel direkt vor ihnen und spornte sie zu neuen Höchstleistungen an.

„Wer als Letzter oben ist, muss einen ausgeben“, lachte Gunnar und beschleunigte seine Schritte.

„Mir doch egal“, keuchte Kaja und ließ sich zurückfallen. „Wir haben sowieso ein gemeinsames Konto.“

„Tja, dann sollten wir dafür Sorge tragen, dass wir noch vor Magnus und Ebba das Ziel erreichen.“ Gunnar zwinkerte ihnen zu.

„Los Ebba, das können wir nicht auf uns sitzen lassen“, rief Magnus, reichte ihr seine Hand und zog sie mit sich.

Ebba spürte die sanfte Verbindung zu Magnus, die Art von Nähe, die ohne Worte auskam.

Es wurde ein Kopf-an-Kopf-Rennen, das letzten Endes doch zugunsten von Gunnar und Kaja entschieden wurde.

„Schade, dass der Nebel die Sicht auf das Tal einschränkt“, sagte Magnus enttäuscht.

„Es war trotzdem ein toller Ausflug, zumal du am Abend die Runde übernehmen musst.“ Gunnars Augen blitzten triumphierend.

„Ich verziehe mich mal kurz in die Büsche, wenn ihr versteht, was ich meine. Der Kaffee ist schuld.“ Ebba streifte den Rucksack von den Schultern und stellte ihn neben einem Baumstumpf ab.

„Pass bitte auf, wo du hintrittst. Nicht, dass du noch verloren gehst.“

Magnus war wie immer überbesorgt. Allerdings hatte sie während der letzten Tage diesen Charakterzug an ihm vermisst. Sie nickte ihm kurz zu und verschwand zwischen den niedrig wachsenden Sträuchern. Die Anwesenheit von Gunnar und Kaja vermittelte ihr die nötige Sicherheit, um sich frei und unbeschwert zu bewegen.

Sie folgte dem schmalen Pfad und nachdem sie sich weit genug von den anderen entfernt hatte, hockte sie sich auf den Boden. Gunnars lautes Lachen wehte zu ihr herüber und sie ließ sich Zeit. Anschließend stopfte sie das Shirt wieder in die Hose und zog den Reißverschluss zu. Zeit für den Rückweg. Sie kämpfte sich durch das Dickicht zurück und konnte schon die bunten Outdoorjacken der anderen erkennen.

Der Stoß aus dem Nichts kam völlig überraschend. Ebba versuchte hilflos mit den Armen rudernd die Balance zu halten, aber es war bereits zu spät. Sie kippte vornüber und überschlug sich mehrmals. Eine Kiefer bremste Ebbas Talfahrt aus, nachdem sie schon längst das Bewusstsein verloren hatte.

KapitelZwei

„Linnea Bergström, sofort in mein Büro“, rief Aksel Mattsson und wedelte hektisch mit ein paar Blättern durch die Luft.

Linn schloss für einen kurzen Moment die Augen, bevor sie sich von ihrem Schreibtisch erhob. Zögerlich näherte sie sich seinem Büro und ihr schwante nichts Gutes. Sie konnte das hämische Grinsen ihrer Kollegen im Rücken spüren, die bereits an ihrem Stuhl sägten. Nur Kalli, der in wenigen Wochen in Rente gehen würde, zwinkerte ihr aufmunternd zu.

„Kopf hoch und lass dich nicht unterkriegen“, raunte er ihr zu.

Linns Herz klopfte, als sie die Klinke hinunterdrückte und eintrat.

„Setz dich“, brummte Mattsson und sie befolgte seine Anweisung wie eine brave Erstklässlerin. Ihr Vorgesetzter war klein, rundlich und sein Haupt zierte eine Glatze. Mit seiner leicht cholerischen Art machte er die mangelnde Körpergröße wieder wett und war deshalb bei den Kollegen sehr unbeliebt.

„Folgendes …“ Er wühlte in seinen Unterlagen und zog mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck einen schmalen Hefter hervor. „In der Gegend um Östersund sind innerhalb weniger Jahre sechs Frauen als vermisst gemeldet worden. Erst letzte Woche ist wieder eine Wanderin auf mysteriöse Weise verschwunden.“

„Aha.“ Linn ahnte, was nun folgen würde.

„Wir bewegen uns mit schnellen Schritten auf das Sommerloch zu und die Seiten der Zeitungen müssen mit Reportagen gefüllt werden, da sind wir uns doch einig?“

Er sah sie über den Rand seiner Brille hinweg fragend an und Linn nickte.

„Ich teile die Meinung meiner Assistentin, dass du im wunderschönen Jämtland sehr gut aufgehoben bist. Mach etwas aus der Story, dein Ruf als Fantastin eilt dir ja voraus.“

Linn schluckte. Das war es also, das Ende ihrer Karriere beim Göteborger Dagbladet.

„Ein Einzelzimmer im Hotel Jämteborg ist bereits reserviert und ich erwarte von dir, dass du morgen pünktlich aufbrichst. Für die Recherche stehen dir genau sieben Tage zur Verfügung.“ Mattsson rieb sich zufrieden die Hände. „Also, was ist? Nimmst du den Auftrag an?“

Was blieb ihr anderes übrig? Mattsson wollte sie nach dem Debakel unbedingt aus der Schusslinie haben.

„In Ordnung, ich mache den Job.“

„Na wunderbar.“ Mattsson strahlte übers ganze Gesicht. „Åsa Jacobsson wird dich in dieser Zeit vertreten. Ich hoffe, das ist dir recht?“ Er neigte seinen Kopf und lauerte wie ein gerissener Fuchs auf ihre Antwort.

„Prima, da kann ja nichts mehr schiefgehen“, erwiderte sie lächelnd, obwohl sie Mattsson am liebsten die Zähne gezeigt hätte.

Wütend verließ sie das Büro und schritt hoch erhobenen Hauptes am Schreibtisch ihrer größten Konkurrentin vorbei. Sie ahnte ja seit Längerem, dass Åsa Jacobsson scharf auf ihren Posten war, aber so viel Hinterhältigkeit hätte sie ihr dann doch nicht zugetraut. Dabei war sie ganz nah dran gewesen an der Story, die ihr Leben so nachhaltig verändern sollte.

Ein Informant hatte ihr die brisanten Fotos eines Abgeordneten zugespielt, die ihn mit einer Frau aus dem Rotlichtmilieu zeigten. Die Posen der zwei Turteltäubchen waren eindeutig, jedoch nicht die Herkunft dieser Bilder. Linn dachte, ihr wäre der ganz große Coup gelungen, nachdem die Bilder im Dagbladet abgedruckt wurden.

Welch fataler Trugschluss!

Jemand hatte ihr bewusst gefälschte Bilder untergeschoben und der Skandal war perfekt. Das Dagbladet hatte seitdem mit einer Schadenersatzforderung und der immer geringer werdenden Auflagenstärke zu kämpfen. Kalli sprach ihr stets Mut zu, obwohl Mattsson ihr mehr als einmal nahe gelegt hatte, den Job zu kündigen. Tja, und nun wurde sie wegen einer kruden Story bis ans Ende der Welt geschickt.

Frustriert nahm sie wieder an ihrem Schreibtisch Platz und sortierte die Anzeigen, um sie auf der Seite anzuordnen. Dabei langweilte sie sich fast zu Tode. Vielleicht war die Tour nach Jämtland doch eine willkommene Abwechslung, denn Mattsson würde sie mit Sicherheit in der Anzeigenabteilung verrotten lassen.

Linn machte überpünktlich Feierabend und eilte mit schnellen Schritten zu ihrem Wagen. Ihr alter Volvo war ein gepflegtes Vehikel, um das sie oft beneidet wurde. Sie hatte sich von ihrem ersten Auto nie trennen können und so währte die imaginäre Freundschaft schon über ein Jahrzehnt.

Die Fahrt durch den Berufsverkehr stahl ihr kostbare Zeit, denn sie musste gezwungenermaßen noch einen Abstecher machen, um Lebensmittel einzukaufen. Mit Unbehagen dachte sie daran, wie Björn diese Nachricht wohl auffassen würde. Er vertrat die wenig verständnisvolle Meinung, dass sie mit ihrem Job verheiratet war. Björn wollte in naher Zukunft eine eigene Familie gründen, aber Linn konnte sich mit seinen Plänen nicht anfreunden. Natürlich wünschte auch sie sich Kinder, aber jetzt war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt – und Björn auch nicht der richtige Partner. So viel Ehrlichkeit sollte schon sein.

Vollbepackt erklomm sie die knarzenden Stufen, die zu ihrer Altbauwohnung im vierten Stock führten. Sie teilte sich die zwei winzigen Zimmerchen mit Björn, der sofort nach dem Kennenlernen bei ihr eingezogen war. Für zwei Personen war die Wohnung eigentlich viel zu klein, aber Linn liebte die großzügige Dachterrasse, auf der sie so manchen flammenden Sonnenuntergang mit einem Glas Wein genossen hatte.

„Hallo, da bist du ja endlich!“ Mit einem freudigen Lächeln öffnete Björn die Tür und nahm die Einkäufe entgegen. „Du wirst es nicht glauben, aber Jonas hat uns am Wochenende in sein Ferienhaus eingeladen. Sonne, Wasser, Wald – alles, was das Herz begehrt. Wir können mal wieder so richtig ausspannen und die Seele baumeln lassen.“ Er strahlte übers ganze Gesicht.

Linn atmete tief durch, weil sie wusste, dass es keine leichte Aufgabe war, Björn eine Absage zu erteilen. Es würden wieder endlose Diskussionen folgen, vor denen ihr inzwischen graute. Früher war sie darauf eingegangen und hatte jede Menge Energie damit verschwendet. Aber dieser Zeit war sie längst entwachsen.

Björn war ein liebenswerter Kerl, gar keine Frage. Treu, zuvorkommend, hilfsbereit. Er strebte nach Höherem, auch in beruflichen Dingen. Nur privat lief es nicht so gut. Trotz aller Bemühungen hatte sich ihre Beziehung festgefahren. Egal wie sehr sie sich auch anstrengten, den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen, sie scheiterten kläglich.

„Linn, du sagst ja gar nichts?“ Fragend musterte er sie.

„Ach Björn.“ Sie setzte sich auf den Küchenstuhl, der vor dem Fenster stand.

„Sag jetzt bloß nicht, dass du keine Lust hast.“

„Ach, wenn es nur das wäre“, seufzte sie. „Mattsson hat mich dazu verdonnert, nach Östersund zu fahren.“

„Und? Wo ist das Problem?“

„Ich muss schon morgen los.“

„Linn, verdammt!“ Björn schob verärgert die Hände in die Hosentaschen und ballte sie dort zu Fäusten. „Ich hatte mich wirklich auf dieses gemeinsame Wochenende gefreut. Aber egal was ich vorschlage, alles ist zum Scheitern verurteilt. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass dir das sehr gelegen kommt.“

„Björn, du weißt doch genau, wie Mattsson tickt“, brauste sie auf.

„Es liegt nicht an Mattsson“, entgegnete er kühl.

„Sondern?“

„Wärst du nicht so berechenbar und so verbissen gewesen, wäre dir dieser Fehler gar nicht erst unterlaufen.“

„So denkst du also über mich?“ Linn war fassungslos. Dennoch musste sie ihm recht geben, wenn auch zähneknirschend. „Ich werde jetzt meine Sachen packen, und damit ist diese Diskussion für mich beendet.“

„Gut, wie du willst.“ Björn wandte sich schulterzuckend ab.

Linn rauschte an ihm vorbei ins Schlafzimmer, zerrte den Koffer unter dem Bett hervor und warf achtlos die Kleidungsstücke hinein. Sie war wütend auf sich selbst und wütend auf Björn. Sie hätte es nie für möglich gehalten, dass er sie durchschaut hatte.

Er liebte sein kleinkariertes Leben und wagte nur selten einen Blick über den Tellerrand hinaus. Als Angestellter der Zentralbank war er in Göteborg für die Kreditverteilung zuständig und wann immer es ihm möglich war, nahm er an Fortbildungen teil. Er jonglierte gern mit Zahlen, genau das war sein Metier.

Linn hingegen hasste die Mathematik schon seit ihrer Schulzeit. Sie fühlte sich oft als Rebellin, während Björn sie meist wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Vielleicht waren es genau diese Gegensätze gewesen, die sie anfangs zusammengeführt hatten. Doch die Leidenschaft der ersten Jahre hatte sich aus ihrem Leben geschlichen und es gab nur noch wenige Gemeinsamkeiten, die sie miteinander teilten. Wenn sie so weitermachten, steuerten sie geradewegs auf eine Trennung zu.

Verbissen kniete sie sich auf den Koffer, um den Reißverschluss festzuzurren. Geschafft. Sie kehrte wieder in die Küche zurück, denn ihr eigentlicher Plan war gewesen, gemeinsam mit Björn das Abendessen zuzubereiten. Doch er hatte sich auf die Dachterrasse zurückgezogen, um seine vermeintlichen Wunden zu lecken. Die Realität hatte ihr wie üblich einen Strich durch die Rechnung gemacht. Linn kapitulierte vor den Problemen ihrer Beziehung und bereitete sich einen Salat zu, den sie einsam vor dem Fernseher zu sich nahm.

Nachdem Linn auf dem winzigen Flughafen in Östersund gelandet war, stieg sie in den Mietwagen und fuhr zu ihrer Unterkunft. Sie checkte im Hotel Jämteborg ein, einem zweistöckigen Gebäude mit heller Fassade, und bezog ein kleines, sehr sauberes Zimmerchen, das mit preiswerten Kiefernmöbeln eingerichtet war.

Sie öffnete das Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Es würde eine einsame Woche werden, hier in Östersund, und sie fühlte sich tatsächlich wie am Ende der Welt. Erst am Morgen, kurz vor der Abreise, hatte Björn seine Sprache wiedergefunden und sich von ihr verabschiedet. Es war eine zusätzliche seelische Belastung, wenn er sich nach jedem Streit zurückzog und sie mit Schweigen strafte.

Nach einer mehr oder weniger schlaflosen Nacht hatte sie beschlossen, endgültig einen Schlussstrich zu ziehen. In Östersund würde sie genügend Zeit zum Nachdenken haben, wie sie Björn die Trennung schonend beibringen könnte.

Gelangweilt packte sie ihren Koffer aus und nahm anschließend ein kleines Menü im hoteleigenen Restaurant zu sich. Bis zum Interview mit dem zuständigen Kommissar hatte sie noch etwas Zeit und ging noch einmal gewissenhaft die Fragen durch. Erik Viklund hatte am Telefon alles andere als begeistert geklungen und sie immer wieder an die Pressestelle verwiesen. Aber sie war hartnäckig geblieben und hoffte, ihm auf diese Weise wichtige Informationen zu diesem Fall entlocken zu können. Mit etwas Glück könnte sie die Story innerhalb von drei Tagen ad acta legen.

Nachdem Erik Viklund sie eine halbe Stunde hatte warten lassen, betrat er den Raum. Er war hoch gewachsen und mit seinen markanten Gesichtszügen das ganze Gegenteil von Björn. Linn schaute rasch zur Seite, damit der junge Kommissar ihren Blick nicht bemerkte. Viklund war erst vor Kurzem befördert worden und noch ein wenig unsicher in seiner Art.

„Ich habe Sie doch klar und deutlich an die Pressestelle verwiesen“, sagte er leicht gereizt.

„Das habe ich durchaus zur Kenntnis genommen …“

„Und warum sind Sie dann hier?“, unterbrach er sie und setzte sich.

Linn musterte ihn verärgert. „Innerhalb von fünf Jahren sind sechs Frauen verschwunden und ich möchte über deren Schicksal exklusiv berichten.“

„Wie ich sehe, sind Sie bereits bestens informiert. Mehr gibt es über diesen Fall auch nicht zu berichten.“ Erik Viklund erhob sich und reichte ihr zum Abschied die Hand. „Es freut mich, dass ich Ihnen weiterhelfen konnte.“ Seine Lippen umspielte ein spöttisches Lächeln, als er den Raum verließ.

„Die kommt garantiert nicht wieder“, hörte sie ihn sagen, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Was denken sich diese Journalisten eigentlich? Dass wir ihnen alle Details auf dem Silbertablett servieren? Verdammt noch einmal, ich habe Besseres zu tun, nämlich meinen Job.“

Mit hochrotem Kopf packte Linn ihren Notizblock und das Aufnahmegerät in die Tasche. Dieser Viklund hatte sie eiskalt abblitzen lassen. Es war wohl doch kein so guter Gedanke gewesen, ihn dermaßen unter Beschuss zu setzen.

Die Beamten tauschten wissend ihre Blicke, als Linn den langen Flur entlang in Richtung Ausgang schritt. Sie straffte ihre Schultern und ließ sich nichts anmerken, obwohl es tief in ihr brodelte. Viklunds Verhalten würde ein Nachspiel haben, das schwor sie sich. Diesem arroganten Schnösel würde sie es heimzahlen, man begegnete sich immer zweimal im Leben.

Ihre verletzte Seele verlangte nach Streicheleinheiten und sie setzte sich auf die Terrasse eines Eiscafés. Sie pfiff auf die überflüssigen Kalorien und bestellte sich einen Kaffee und ein riesiges Stück Erdbeerkuchen. Der Fauxpas beim Göteborger Dagbladet hatte seine Spuren hinterlassen, sie war noch schmaler geworden in letzter Zeit.

Während sie den Kuchen genüsslich verspeiste, musterte sie die unmittelbare Umgebung. Obwohl ihr Start in Östersund alles andere als reibungslos verlaufen war, gefiel ihr das Städtchen. Sobald sie diesen vermaledeiten Bericht abgeliefert hatte, würde die irgendwann hierher zurückkehren, um Urlaub zu machen.

Linn zahlte und machte sich auf den Weg in die Stadtbibliothek, um weitere Nachforschungen anzustellen. Vielleicht konnte sie aus den verschiedenen Zeitungsartikeln eine Reportage zusammenstellen, die Mattsson zufriedenstellen würde.

KapitelDrei

Ebba schlug leise stöhnend die Augen auf. Die Schmerzen im linken Arm waren höllisch. Sie lag auf einer alten Pritsche und ihr Arm war notdürftig verbunden worden. Orientierungslos schaute sie sich um und konnte absolut nicht nachvollziehen, wie sie hierhergekommen war. Verschwommene Erinnerungsfetzen tauchten auf und sie fragte sich, wo Magnus, Kaja und Gunnar geblieben waren.

„Hallo?“ Ihre Stimme klang ungewöhnlich schrill. Sie lauschte und vernahm scharrende Schritte, aber eine Antwort erhielt sie nicht.

„Hallo, ist jemand hier?“

Ihre Zunge klebte am Gaumen und sie leckte sich über die spröden Lippen. Was war das nur für ein grauenvoller Ort? Erschöpft schloss sie die Augen und versuchte sich zu erinnern. Ein derber Stoß, der Sturz und …

Aber da war nichts, nur gähnende Leere. Mit ihrer unverletzten Hand tastete sie ihren Körper ab und entdeckte eine Platzwunde an der Stirn, aus der noch immer Blut sickerte.

„Magnus, bitte hilf mir“, stöhnte sie.

Ihre Worte klangen wie ein leises Wimmern, sie fühlte sich einfach zu schwach, um laut zu rufen. Warum kam denn niemand, um ihr zu helfen? Den Schmerzen nach zu urteilen, war ihr Arm gebrochen, sie musste dringend ins nächste Krankenhaus, um sich medizinisch versorgen zu lassen.

Sie spürte die ersten Tränen aufsteigen und ein gequältes Schluchzen verließ ihre ausgedörrte Kehle. Wären sie doch nur nach Stockholm zurückgefahren!

„Magnus …“, rief sie abermals.

Die Schritte wurden wieder lauter. Ebba drehte den Kopf in die Richtung, aus der sie kamen. Eine dünne Holzwand trennte sie vom Nebenzimmer. Wer verbarg sich dahinter?

„Bitte, ich brauche dringend Hilfe!“ Es konnte doch nicht sein, dass man sie in diesem völlig verschmutzten Verschlag liegenließ, wo sich jederzeit die Wunden infizieren konnten.

Erneut wanderte ihr Blick durch den Raum. Es musste sich um ein sehr altes Haus handeln, das wahrscheinlich um die Jahrhundertwende erbaut worden war. Im Laufe der Jahre hatten sich die krummen Deckenbalken dunkel verfärbt und auch der altertümliche Waschtisch wirkte wie aus einer anderen Zeit. Der Verschlag, der in gewisser Weise einer Gefängniszelle ähnelte, war sehr schmal, circa zwei Schritte zur Seite und fünf Schritte bis zur Tür. Die gewöhnungsbedürftige Pritsche stammte aus uraltem Militärbestand und war fest in der Steinwand verankert.

Irgendwo über ihr wurde eine Tür zugeschlagen, es mussten also mehrere Personen anwesend sein. Ebba hätte sich gern noch einmal bemerkbar gemacht, aber die Schmerzen waren unerträglich. Für ein Glas Wasser und Schmerztabletten hätte sie alles gegeben. Als die Situation für sie unerträglich wurde, sank sie zurück in eine erlösende Bewusstlosigkeit.

Das erneute Erwachen war nicht weniger qualvoll und sie rang keuchend nach Luft. Ihr Körper bestand zu neunundneunzig Prozent aus Schmerz, der sie in einen Zustand entsetzlicher Verzweiflung katapultierte.

„Magnus?“

Das war alles, was sie über ihre Lippen brachte. Warum hatte er ihr nicht geholfen und sie unversorgt zurückgelassen? Die Gedanken kreisten unaufhörlich hinter ihrer Stirn und verursachten das reinste Gefühlschaos.

Jetzt waren die Schritte direkt vor ihrer Tür und sie hob behutsam den Kopf, um sich zu orientieren. Die Pritsche stand vor einer unverputzten Steinwand, die auch die Stirnseite einnahm. Der Rest des Raumes wurde von zwei schlichten Wänden aus unbehandeltem Holz abgeteilt. Durch ein vergittertes Fenster am Kopfende der Pritsche drang etwas Tageslicht herein. Neben der altertümlichen Kommode mit einem integrierten Waschbecken standen ein Eimer mit Wasser und eine Campingtoilette. Wiederholt stellte sie sich die Frage, warum sie ausgerechnet hier gelandet war. Sie musste in ein Krankenhaus, und zwar sofort. Nicht auszudenken, wenn der Arm tatsächlich gebrochen war.

Die Schritte entfernten sich wieder, dann wurde es still. Zu still.

„Magnus, bist du hier?“

Es half nichts, sie musste aufstehen und jemanden suchen, der sie fortbrachte. Sie unterdrückte einen Schmerzenslaut und taumelte zur Tür. Ihre Hand lag auf der Klinke und es kostete sie einige Anstrengungen, diese herunterzudrücken. Aber die Tür bewegte sich keinen Millimeter.

Ebba beugte sich leicht nach vorn und schaute durch das altmodische Schlüsselloch. Sie konnte es kaum glauben, aber der Schlüssel steckte von außen im Schloss. Wer hatte es gewagt, sie einzuschließen? Sie bebte vor Zorn und stemmte die Schulter gegen die Tür. Eine fatale Entscheidung.

Die Erschütterung kam einer Schmerzexplosion gleich und Ebba sank stöhnend zu Boden. Nur Sekunden später schwappte eine gewaltige Welle der Erinnerung über sie hinweg – dieses unheilvolle Gefühl, heimlich beobachtet zu werden, die durchwühlten Sachen und die honigsüße schmeichelnde Stimme am See. Jemand musste sie gekidnappt haben, anders war dieses schreckliche Szenario nicht zu erklären.

„Wer bist du?“

Die Stimme, die von nebenan zu kommen schien, entlockte ihr einen überraschten Laut.

„Ich … ich bin Ebba.“

„Ja dann, willkommen Ebba.“

„Wo bin ich?“

„Ich habe nicht die geringste Ahnung.“

„Du weißt nicht, wo wir hier sind?“, rief Ebba irritiert. „Könntest du trotzdem die Tür öffnen? Der Schlüssel steckt von außen.“

Ein leises Lachen ertönte. „Deinen Humor möchte ich haben.“

„Ich finde das überhaupt nicht witzig. Mein Arm ist wahrscheinlich gebrochen und ich muss dringend in ein Krankenhaus.“

„Ich stimme dir zu, dass das alles andere als lustig ist. Aber das Krankenhaus wird warten müssen, fürchte ich.“

„Was soll das?“ Ebba spürte Wut in sich aufsteigen. „Bitte rede endlich Klartext mit mir! Hast du Magnus gesehen?“

„Ich kenne keinen Magnus.“

„Verdammt, wie bin ich hierhergekommen?“

„So wie die anderen auch.“ Die Stimme hatte einen sanften Ton angenommen. „Er wird dich bewusstlos geschlagen und an diesen Ort verschleppt haben.“

„Wer ist er? Soweit ich mich erinnern kann, bin ich einen Abhang hinuntergestürzt und habe kurz darauf das Bewusstsein verloren.“

„Das macht im Prinzip keinen Unterschied. Jetzt bist du bei uns und teilst unser Schicksal.“

„Aber warum?“, rief Ebba bestürzt. „Was für ein Monster hat mich hier eingesperrt?“

„Diese Wortwahl wird ihm ganz und gar nicht gefallen, obwohl ich ganz deiner Meinung bin.“

Ebba spürte erneut, wie ihre Kräfte schwanden und die Schmerzen überhandnahmen. Sie wankte zum Eimer und schöpfte mit der unversehrten Hand das klare Wasser, um es zu trinken. Es kam einer Wohltat gleich. Dann kroch sie zur Pritsche zurück und legte sich wieder hin.

„Alles in Ordnung?“

„Mit wem spreche ich eigentlich?“, fragte Ebba.

„Ich bin Sofia. Sofia Kanje.“

„Und ich bin Ebba Gustafsson. Woher kommst du?“

„Ich bin in Malmö geboren und aufgewachsen. Später habe ich studiert, bis mich dieser Scheißkerl in meinem ersten Urlaub entführt hat. Mein Freund und ich, wir hatten uns gerade verlobt.“

„Aber warum werden wir hier festgehalten?“

„Weil er seinen Spaß mit uns haben will“, antwortete Sofia nüchtern.

„Ich kann das kaum glauben.“

„Das musst du auch nicht. Aber vielleicht solltest du einen Blick auf die in der Wand eingelassene Kette werfen. Sobald er den Raum betritt, wirst du diese um deinen Knöchel legen müssen.“

„Das ist abartig.“

„Ich habe nie das Gegenteil behauptet“, sagte Sofia.

Obwohl Ebba wegen der Schmerzen lieber reglos liegengeblieben wäre, drehte sie sich vorsichtig auf die Seite, um nach der Kette zu tasten. Tatsächlich, Sofia hatte nicht gelogen.

„Und? Hast du sie entdeckt?“

„Ja.“ Ebba atmete geräuschvoll aus und wagte kaum, die nächste Frage zu stellen. „Was wird mich erwarten?“

„Es hat keinen Sinn, dir etwas vorzumachen, früher oder später wirst du sowieso damit konfrontiert werden.“ Einen Moment lang war es still. „Immer, wenn ihm danach ist, nimmt er sich eine von uns, und solltest du dich weigern, wird er Gewalt anwenden. Er hat mich anfangs grün und blau geschlagen und ich habe sogar einen Eckzahn eingebüßt. Die Schmerzen und die Demütigungen rauben dir den Verstand.“

Ebba war fassungslos über das, was Sofia ihr da gerade erzählte. Sie hoffte immer noch, dass es sich um ein Missverständnis handelte, das sich gleich aufklären würde. „Wenn das wirklich stimmen sollte, wie hältst du das alles nur aus?“

„Ich weiß es nicht.“ Sofia senkte ihre Stimme. „Inzwischen frage ich mich nur noch, ob ich jemals wieder das Gras unter meinen nackten Fußsohlen spüren werde.“

„Wie lange hält er dich schon in diesem Kellerloch gefangen?“

„Seit knapp einem Jahr, aber es kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor.“

Ebba rollte sich von der Pritsche und wankte zur Tür, wo sie mit ihrer gesunden Hand gegen das Holz trommelte. „Ich will sofort hier raus!“, schrie sie gegen die Panikattacke an, die sich ihren Weg an die Oberfläche bahnte.

„Ebba, beruhige dich! Du musst jetzt stark sein, genau wie wir, denn er wird dich für diesen Lärm hart bestrafen.“

Ebba fiel aus allen Wolken. „Wir sind nicht allein?“

„Er hat noch zwei weitere Frauen hier unten eingesperrt, Anna Lundahl und Saga Johansson. Anna muss sich besonders schonen, sie erwartet in Kürze ein Kind.“

„Er hat eine Schwangere gekidnappt?“, rief Ebba entsetzt.

„Nein, das Kind ist von ihm.“

Jetzt hatte es ihr die Sprache verschlagen. Sie war dermaßen schockiert, dass sie für dieses Grauen keine Worte mehr fand.

„Ebba?“

„Ja?“, hauchte sie.

„Du musst stark bleiben, hörst du?“

„Keine Ahnung, wie ich das schaffen soll. Ich habe meinen Mann angefleht, nach Stockholm zurückzufahren, aber er hat meine Ängste als belanglos abgetan. Ich kann nur hoffen, dass er nach mir suchen wird.“

„Das haben wir anfangs auch geglaubt. Aber niemand ist gekommen, um uns von diesem qualvollen Schicksal zu erlösen.“

„Magnus wird vernünftig an die Sache herangehen und die Polizei verständigen. Die haben schließlich Mittel und Wege, um uns zu finden.“

„Glaubst du wirklich allen Ernstes, dass unsere Familienangehörigen zu dumm waren, um nach uns zu suchen?“

„Ich weiß inzwischen nicht mehr, was ich denken oder glauben soll“, antwortete Ebba leise. „Die Schmerzen treiben mich an den Rand des Wahnsinns und ich habe nur einen Wunsch – endlich aus diesem Albtraum zu erwachen.“

„Mit jedem neuen Tag trage ich die Hoffnung in meinem Herzen, dass wir endlich befreit werden. Doch immer, wenn die Sonne wieder am Horizont versinkt, wird mir bewusst, dass dieses Warten vergebens war.“

„Wir müssen einen Weg nach draußen finden, egal wie“, beharrte Ebba.

„Das haben wir doch schon versucht, er hat alles doppelt und dreifach gesichert“, erwiderte Sofia.

„Wer ist eigentlich Er?“

„Er nennt sich Niklas, aber seinen richtigen Namen kennen wir nicht. Er ist schätzungsweise Ende vierzig, Anfang fünfzig, sehr hager und dennoch stark wie ein Bär.“

„Diese Bilder in meinem Kopf, sie sind einfach ekelerregend“, sagte Ebba und drehte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die andere Seite. „Kann ich diesen Niklas um ein Mittel bitten, das die Schmerzen erträglicher macht?“

„Ach Ebba, wir stehen das hier schon so lange durch und erhalten von ihm nur das Nötigste. Wir müssen Secondhand-Kleidung tragen, und glaube mir, besonders bei der Unterwäsche dreht sich mir der Magen um. Das Wasser im Eimer dient dir zum Waschen und gleichzeitig auch zum Trinken. Mahlzeiten bekommen wir nur einmal am Tag, meist ein Fertiggericht aus der Mikrowelle und einige Scheiben Brot mit Belag.“

„Das lasse ich nicht mit mir machen, nicht jetzt und zu keinem anderen Zeitpunkt.“

„Könnt ihr euch nicht leiser unterhalten?“, mischte sich eine dritte Stimme in das Gespräch.

„Anna, wir haben eine Neue hier, sie heißt Ebba.“

„Ich bin ja nicht taub“, antwortete Anna mit gedämpfter Stimme.

„Anna ist seine Lieblingsfrau“, wisperte Sofia. „Manchmal tut sie mir leid, weil sie so oft ran muss, wenn du verstehst, was ich meine. Aber insgeheim bin ich froh, wenn er mich verschont.“

„Das glaube ich dir.“

„Hallo Ebba“, ertönte eine verschlafene Stimme. „Ich bin Saga, die dritte im Bunde und seit zwei Jahren hier.“

„Hallo, Saga.“ Ebba war fassungslos, aber sie musste einen klaren Kopf behalten. Soweit das bei den starken Schmerzen eben möglich war. „Wir sind zu viert, sehe ich das richtig?“, fragte sie.

„Na, sieh einer an, sie kann zählen“, sagte Anna.

„Bis fünf schaffe ich es geradeso“, antwortete Ebba und ließ sich nicht von Annas Art beirren. „Es muss doch irgendwie möglich sein, diesem Mann das Handwerk zu legen. Ich lasse mich nicht von ihm anfassen, das kommt überhaupt nicht infrage.“

„Wer will es ihr sagen?“, fragte Saga in die Runde.

„Zwei haben es nicht geschafft“, sagte Sofia.

„Er hat sie umgebracht?“, rief Ebba und spürte Übelkeit aufsteigen.

„Wie man es nimmt. Befolge einfach seine Anweisungen, dann wird es weniger schmerzhaft für dich“, erklärte Anna nüchtern.

Ebba brach erneut in Tränen aus, die Welt hatte sich gegen sie verschworen.

„Beruhige dich, Ebba. Es nützt dir nichts, wenn du dich verausgabst“, sagte Sofia tröstend.

„Tut mir leid, aber die Emotionen wollen raus. Ich kann einfach nicht begreifen, warum das ausgerechnet mir passiert.“ Ebba holte tief Luft, um sich zu beruhigen.

„Das haben wir uns auch gefragt, warum es ausgerechnet uns getroffen hat. Auf eine Antwort warten wir heute noch“, sagte Sofia. „Das Wichtigste ist dein Überlebenswille, nur der zählt. Jetzt, wo wir wieder zu viert sind, wird er mit den Rationen knausern.“

„Warum macht er das?“, fragte Ebba. „Uns noch mehr zu quälen?“

„Er ist ein alleinstehender Mann und es würde sicher auffallen, wenn er plötzlich für eine Großfamilie einkauft“, sagte Sofia.

„Wohnt er in diesem Haus?“

„Nein, er taucht meist im Laufe des Vormittags wieder auf“, antwortete Sofia.

Ebba starrte an die Decke und wusste nicht, wie sie diese grauenvollen Eindrücke verarbeiten sollte. Wie konnte ein einzelner Mann vier Frauen festhalten? Sicher, sie hatte von solchen Fällen in den Medien gehört, sich aber nie vorstellen können, dass so etwas auch in Schweden möglich war. Warum hatte sie Magnus gegenüber nicht darauf bestanden, sofort nach Stockholm zurückzufahren?

KapitelVier

Erik trank wie jeden Morgen seine zwei Tassen Kaffee und Thor, der alte einäugige Kater, sprang demonstrativ auf den Küchentisch.

„Junge, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du hier oben nichts verloren hast.“

Erik setzte Thor zurück auf den Boden, was ihn nicht davon abhielt, erneut auf den Tisch zu springen.

„Einverstanden, du hast gewonnen.“ Erik gab sich geschlagen. „Ich habe momentan ziemlich viel Stress, also mach es mir nicht noch schwerer, als es schon ist.“

Thor spielte mit seinen Ohren, die von den zahlreichen Revierkämpfen ordentlich zerfleddert waren, und neigte leicht seinen Kopf. Mit seinem verbliebenen smaragdgrünen Auge musterte er Erik durchdringend.

„Sorry, alter Junge, wenn dein Futter nicht immer pünktlich serviert wird. Aber du bist ohne meine Einwilligung eingezogen und hast mich vor vollendete Tatsachen gestellt.“ Er kraulte den Kater am Kinn, der daraufhin genüsslich zu schnurren begann. „Und jetzt troll dich, du alter Brummbär.“

Erik schnappte sich den Autoschlüssel, der zu einem anthrazitfarbenen Volvo passte, und zog die Haustür hinter sich zu. Er hatte gleich einen Termin mit Magnus Gustafsson, um ihn nochmals zu befragen. Vielleicht ergaben sich daraus neue Informationen, die ihnen weiterhelfen würden. Es ärgerte ihn, dass sie auf der Stelle traten, denn er wollte seinen ersten richtigen Fall so schnell wie möglich aufklären. Sein Vorgänger hatte die Serie der vermissten Frauen als Unfälle abgetan, aber Erik spürte, dass hier System dahintersteckte. Bisher wurde nur eine einzige Vermisste tot aufgefunden und er fragte sich, ob die anderen Frauen vielleicht verschleppt worden waren. Er setzte all seine Hoffnungen in das neuerliche Gespräch mit Gustafsson.

„Guten Morgen, Chef“, begrüßte ihn seine Kollegin. „Schlecht geschlafen?“

„Sieht man mir das so deutlich an?“

„Würde ich sonst fragen?“, erwiderte Greta Nordin keck.

Greta war einige Jahre älter als er, aber sie machte mit ihrem Aussehen den Schwedinnen alle Ehre. Und wäre sie nicht glücklich verheiratet und Mutter dreier Kinder, wer weiß …

„Gustafsson wartet schon in deinem Büro auf dich.“ Sie deutete zur Tür.

„Er ist aber überpünktlich.“

„Ich kann es dem Mann nicht verdenken. Er macht sich schwere Vorwürfe, weil er nicht auf die Wünsche seiner Frau eingegangen ist.“

„Gut, dass du mich vorwarnst. Ich werde ihn mit Glacéhandschuhen anfassen.“

Er nickte Greta zu und verschwand im Büro. Seine Kollegin hatte nicht übertrieben, Gustafsson sah mitleiderregend aus – unrasiert, dunkle Augenringe und eine blasse Gesichtsfarbe.

„Tut mir leid, dass wir Sie noch einmal befragen müssen, aber die Zeit rennt uns davon.“

„Gibt es Neuigkeiten?“ In der Stimme von Magnus schwang Hoffnung mit.

„Wir haben den Bereich, in dem Ihre Frau verschwunden ist, mit Hunden abgesucht und einige besonders auffällige Schleifspuren gefunden. Der oder die Täter müssen Ebba abwechselnd getragen oder hinter sich hergezogen haben.“

„Wenn sich Ebba nicht gewehrt hat, war sie dann zu diesem Zeitpunkt schon …“ Magnus ließ die Worte unausgesprochen und seine Unterlippe zitterte leicht.

„Darüber können wir nur spekulieren. Die Spuren enden abrupt an einem befahrbaren Waldweg, was dafür spricht, dass sie wahrscheinlich mit einem Fahrzeug weggebracht wurde.“

Magnus strich sich müde über die Augen. „Also besteht noch Hoffnung?“

Erik hatte Mitleid mit Gustafsson, wollte aber nichts versprechen. „Wir arbeiten mit Hochdruck an diesem Fall und sind noch dabei, die Ermittlungsergebnisse auszuwerten. Momentan können wir nur Mutmaßungen anstellen, und das wäre eher kontraproduktiv.“ So kann man auch um den heißen Brei herumreden, dachte Erik frustriert. „Können Sie sich vielleicht noch an irgendein Detail erinnern, das Ihre Frau beiläufig erwähnt hat? Wie sah der Mann aus, vom dem sie sich verfolgt fühlte? Groß, klein, dick oder dünn?“ Er sah Magnus prüfend an und dieser erwiderte gequält seinen Blick.

„Ich habe Ebbas Behauptungen für reine Hirngespinste gehalten“, gestand er beschämt. „Mit Sicherheit ist ihr etwas an diesem Mann aufgefallen, vielleicht ein Bart oder so. Nur habe ich in meinem grenzenlosen Desinteresse nie nachgefragt.“ Er krümmte sich wie unter Schmerzen. „Er soll dunkel gekleidet gewesen sein und seine Stimme war meiner sehr ähnlich. Das ist alles, was ich weiß.“

„Schade. Ich hatte gehofft, dass Ihre Angaben vielleicht für ein Phantombild ausreichen, aber daraus wird wohl nichts.“ Erik hasste es, wenn er ausgebremst wurde. Er wollte beweisen, dass er genau der richtige Mann für diesen Job war.

„Dürfte ich wohl ein Glas Wasser haben“, bat Magnus und wischte sich mit seinem Handrücken den Schweiß von der Stirn. „Ich fühle mich ein wenig unwohl.“

„Kein Problem.“ Erik stand auf und bat im Flur einen Kollegen darum, ihm ein Glas Wasser zu bringen.

„Alles klar, Chef, kommt sofort.“ Lasse verschwand umgehend in der kleinen Küche und kehrte nach nur wenigen Augenblicken zurück, um das Glas auf Eriks Schreibtisch abzustellen.

Magnus trank mit gierigen Zügen und stellte das leere Glas wieder ab. „Vielen Dank.“

„Wie verhält es sich mit dem Einbruch in das Ferienhaus? Können Sie das Ganze noch einmal schildern?“

„Dabei ist es lediglich um ein Shirt gegangen, das plötzlich an einer anderen Stelle gelegen haben soll. Ebbas Aussage war so vage, dass ich nicht näher darauf eingegangen bin. Wir haben eine wirklich schwere Zeit hinter uns und ich dachte, das wäre der Grund für ihr seltsames Verhalten. Im Nachhinein ist es unverzeihlich, sie nicht ernst genommen zu haben.“ Betroffen senkte Magnus seinen Blick.

„Sie müssen sich für nichts entschuldigen. Wir sollten an dieser Stelle einen Break machen, gönnen Sie sich irgendwo einen Kaffee und schlafen Sie sich einmal richtig aus.“

Erik klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und schob ihn zur Tür. Der Mann war durch seine Schuldgefühle blockiert und es machte keinen Sinn, ihn weiter zu befragen.

„Darf ich dich kurz stören?“ Greta stand abwartend in der Tür.

„Aber sicher. Wo drückt der Schuh?“

Sie zog den Stuhl zu sich heran, um sich an Eriks Schreibtisch zu setzen. „Ich bin nach wie vor der festen Überzeugung, dass wir es mit einem Einzeltäter zu tun haben.“

„Sehe ich genauso“, stimmte Erik ihr zu.

„Er scheint seine potenziellen Opfer gezielt auszuwählen und überlässt nichts dem Zufall.“

„Das macht es ja für uns so schwierig, weil wir nicht nachvollziehen können, nach welchen Kriterien er sie aussucht.“

„Ich habe da so eine Idee.“ Greta beugte sich nach vorn. „Ebba und Magnus haben auf tragische Weise ihr Kind verloren. Vielleicht stört er sich daran und sortiert diese Frauen bewusst aus.“

„Das ist ziemlich weit hergeholt, findest du nicht?“ Erik schüttelte kaum merklich seinen Kopf. „Soweit ich weiß, ist eine der vermissten Frauen Mutter von vier gesunden Kindern.“

„Da magst du recht haben, aber ich will jedem noch so abwegigen Gedanken Raum geben. Die verschwundenen Frauen könnten unterschiedlicher nicht sein, Aussehen und Bildungsstand driften weit auseinander. Trotzdem wird es Gemeinsamkeiten geben, die wir herausfiltern müssen.“

„Und wenn wir uns da verrennen …“, merkte er zweifelnd an.

Greta sprang energisch auf und ihre Augen funkelten angriffslustig. „Aber irgendwo müssen wir schließlich anfangen. Ich werde mir jetzt Sofia Kanje und Anna Lundahl vorknöpfen und du übernimmst den Rest.“

„Darf ich dich vorsichtig darauf hinweisen, dass ich dein Vorgesetzter bin und die Aufgaben delegiere?“

„Ach was. Wären mir meine drei Kinder nicht dazwischengekommen, hätte ich das Kommando schon längst übernommen. Noch Fragen?“

Greta nickte ihm selbstgefällig zu und lief zur Tür. Wo sie recht hatte, hatte sie recht. Punkt.

Lächelnd griff Erik zum Telefon, um sich noch einmal genauer mit der Vergangenheit von Saga Johansson, Alva Sandberg und Freja Wallin zu befassen.

KapitelFünf

Magnus war wie jeden Morgen in Richtung Berge aufgebrochen und stellte seinen Wagen auf dem kleinen Parkplatz ab. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke zu und schulterte seinen Rucksack. Kaja und Gunnar waren längst abgereist, und so machte er sich allein auf den Weg, um nach Ebba zu suchen. Er musste irgendetwas tun, denn dieses sinnlose Warten brachte ihn noch um den Verstand.

Der Schotter knirschte leise unter seinen Sohlen und ihm wurde schwer ums Herz. Warum hatte er Ebbas Sorgen ignoriert? Sie war keines dieser hysterischen Weibchen, die schon beim Anblick einer winzigen Spinne kreischend das Weite suchten. Nein, seine Frau war eine toughe Kämpferin und ungewöhnlich stark, sie gab sich erst zufrieden, wenn sie ihr Ziel erreicht hatte.

Er schob die trübsinnigen Gedanken beiseite, denn er brauchte alle Sinne, um sich auf die Spurensuche zu konzentrieren. Diesmal hatte er die Strecke gewählt, die am Fuße des Berges entlangführte. Die vielen Kilometer, die er seit ihrem Verschwinden zurückgelegt hatte, konnte er schon nicht mehr zählen. Aber Ebba war es wert, jeden einzelnen verdammten Meter, auch wenn er sich seine Füße inzwischen wund gelaufen hatte.

Nach einer Stunde ging die Ebene in eine hügelige Landschaft über, wo sich schroffe Geröllfelder und bunt blühende Wiesen abwechselten. Aber Magnus hatte keinen Blick für dieses paradiesisch anmutende Fleckchen Erde. Alles in ihm verzehrte sich nach Ebba und die tiefe Schuld, die auf ihm lastete, wurde von Stunde zu Stunde unerträglicher.

Er spürte den feuchtwarmen Druck an seiner linken Ferse und entschied, einen kurzen Zwischenstopp einzulegen, um den Verband zu erneuern. Er setzte sich auf einen Baumstumpf und löste mit schmerzverzerrtem Gesicht die blutdurchtränkte Mullbinde. Das sah gar nicht gut aus. Wahrscheinlich würde er einen Arzt aufsuchen und für mehrere Tage pausieren müssen.

Behutsam umwickelte er seinen Fuß mit einem frischen Verband und streifte sich leise stöhnend den Trekkingschuh wieder über. Bevor er seine Suche fortsetzte, gönnte er sich noch einen Kaffee und zwei Powerriegel.

Die Strecke um den Berg herum schien kein Ende zu nehmen. Hinter jedem Hügel tauchte ein weiterer auf und Magnus fluchte leise. Es würde ihn nicht wundern, wenn über seinem Kopf bald hungrige Rabenvögel kreisten. Fast den gesamten Vormittag hatte er sich durch das Tal gequält und der bloße Gedanke an den Rückweg ließ ihn erschaudern. Auch der Blick zum Himmel verhieß nichts Gutes. Der Wind hatte aufgefrischt und trieb dunkle Wolken vor sich her. In der Ferne grollte der erste Donner.

Warum ausgerechnet jetzt?, dachte Magnus frustriert. Es schien, als hätte sich die ganze Welt gegen ihn verschworen. Aber was beschwerte er sich eigentlich? Wenn er auf Ebba gehört hätte, würde er mit ihr in Stockholm auf der Terrasse sitzen und entspannt Zeitung lesen. Aber diese Option hatte er sich ja gründlich vermasselt.

Ein heftiges Gewitter braute sich über seinem Kopf zusammen und da sein Mobiltelefon in der Wildnis keinen Empfang hatte, musste er der Wanderkarte vertrauen. Er zog sie aus der Seitentasche des Rucksacks und studierte die Gegend. Es gab keine Möglichkeit, sich unterzustellen, er war der Witterung schutzlos ausgeliefert. Deshalb beschloss er, der geplanten Tagesroute noch eine Weile zu folgen, um nach einem Unterschlupf oder einem Felsvorsprung Ausschau zu halten. Er steckte die Karte zurück in die Seitentasche und schritt zügig voran.

Der Wind zerrte an seiner dünnen Jacke und die ersten schweren Tropfen trafen sein Gesicht. In Kürze würde es ziemlich ungemütlich werden und es erschien ihm zu absurd, sich flach auf den Boden zu legen und zu warten, bis das Unwetter vorübergezogen wäre. Dem Wetterdienst zu vertrauen, war ein großer Fehler gewesen. Dieser hatte die schweren Gewitter erst für den morgigen Tag angekündigt.

Mit gesenktem Kopf hastete er weiter und verfluchte den einsetzenden Regen, der immer stärker wurde. Als ein Blitz in der Nähe einschlug und der Donner grollend von den Berghängen widerhallte, zuckte er unwillkürlich zusammen. Er stoppte seine Schritte, nestelte das Fernglas aus der Hülle und scannte aufmerksam die Gegend – mit Erfolg.