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Phileas Fogg und seine Frau Aouda befinden sich gemeinsam mit ihrem Diener Passepartout auf dem Weg nach New York. Fogg ist noch immer auf der Suche nach seinem Bruder. Gibt es ihn wirklich, und falls ja, ist er noch am Leben? Fogg und seine Gefährten nehmen die Spur im Büro des verstorbenen Detektivs Jack Rains auf, in dem sie sofort eine Überraschung erleben. Fogg muss erkennen, dass jemand hinter ihm her ist. Jemand, der verhindern möchte, dass er mehr über das Geheimnis seines Bruders erfährt, das offenbar eng verknüpft ist mit dem Verschwinden zahlreicher Personen. Phileas Fogg lernt die geheimnisvolle Rose Mullingham kennen, die offenbar sehr viel mehr über diese Dinge weiß, als sie zugibt. Eines Tages jedoch ist sie spurlos verschwunden. Fogg und seine Freunde müssen alles daran setzen, die Frau wiederzufinden. Der Weg dorthin ist überaus gefährlich und gespickt mit tödlichen Überraschungen.
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Seitenzahl: 150
Veröffentlichungsjahr: 2024
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In dieser Reihe bisher erschienen:
4901 Die schwarze Perle des Verderbens
4902 Verschollen unter dem Meer
4903 Die vergessene Kolonie
4904 Die Söhne des Abgrunds
4905 Weiße Hölle – schwarzes Gold
4906 Gefahr für Eden 2
JULES VERNE – DIE NEUEN ABENTEUER DES PHILEAS FOGG
BUCH ZWEI
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
© 2024 Blitz Verlag & martim eBooks
Ein Unternehmen der SilberScore Beteiligungs GmbH
Mühlsteig 10 • A-6633 Biberwier
Redaktion: Danny Winter
Titelbild & Logogestaltung: Mark Freier
Alle Rechte vorbehalten
eBook Satz: Gero Reimer
www.BLITZ-Verlag.de
ISBN 978-3-689-84097-6
1002 vom 27.07.2024
New York.
Der Hafen empfing sie mit viel Lärm und Getöse. Auf den Piers herrschte ein heilloses Durcheinander von Arbeitern und Reisenden, von denen einige ihre Regenschirme aufgespannt hatten.
Die Isla Jane, ein prächtiger Schoner, der Phileas Fogg, seine Frau Aouda und ihren gemeinsamen Freund und Diener Passepartout an der Ostküste Südamerikas an Bord genommen hatte, war dabei, anzulegen.
An Bord rannten die Matrosen wie aufgeregte Ameisen hin und her und machten sich bereit, die Leinen auszuwerfen, die um die gewaltigen hölzernen Poller am Hafen gelegt werden sollten.
Phileas Fogg war an die Reling getreten und beobachtete die Männer am Pier dabei, wie sie die schweren Tampen auffingen und sie geschickt befestigten.
Fogg hatte seinen Mantelkragen hochgeschlagen, um sich vor dem Regen zu schützen. In wenigen Minuten würden sie alle endlich wieder festen Boden unter den Füßen spüren, nachdem sie nicht nur die raue Schiffspassage, sondern zuvor auch den abenteuerlichen Flug der Ikarus überstanden hatten.
Die Ikarus war ein prächtiges Luftschiff gewesen, in Paris erbaut und von zwei amerikanischen Millionären finanziert. Es hatte seinen Jungfernflug von der französischen Hauptstadt aus angetreten, mit dem Ziel New York. Das Luftschiff sollte sein Ziel nie erreichen, da es bereits während der ersten Fahrt zu allerhand unvorhergesehenen Turbulenzen und haarsträubenden Situationen gekommen war.
Letztlich waren sie an einem südamerikanischen Berghang gestrandet, hoffnungslos eingekeilt, in mehreren hundert Metern Höhe.
Die meisten hatten das Unglück wie durch ein Wunder und durch die tatkräftige Hilfe zweier Männer überlebt. Der eine von ihnen war Phileas Fogg gewesen. Der andere …
Eine sanfte Hand legte sich Fogg von hinten auf die Schulter. Aouda war bei ihm. Sofort entspannte sich der einsame Mann an der Reling ein wenig. Er ergriff die Hand seiner Frau und lächelte ihr zu.
„Du denkst noch immer an ihn?“, fragte sie leise. Ihr Blick drückte so viel Anteilnahme und Verständnis aus.
„Ja“, sagte Phileas Fogg nach einer ganzen Weile, in der sie beide auf das Meer der Passanten am Pier blickten.
Jack Rains.
Er war ein Mann dieser Stadt gewesen, ein Privatdetektiv. Er hatte im Dienste der Quimby-Brüder gestanden, die den Bau der Ikarus finanziert hatten. Doch das war es nicht, das Fogg selbst jetzt noch nachhing.
Kurz bevor die Gondel der Ikarus gerissen und mit dem Mann in die Tiefe gestürzt war, hatte er Fogg noch ein Geheimnis anvertraut. Rains war es gewesen, der Fogg die halbe Münze zugesandt hatte, die er jetzt noch immer bei sich trug. Sie zeigte die Hälfte eines Falken und wurde ihm von seinen Eltern geschenkt, als er noch ein Junge gewesen war.
Wo eine Hälfte ist, existiert immer auch noch eine andere.
Mit dem Erhalt der Münze waren Foggs Erinnerungen an eine Zeit zurückgekehrt, von der er glaubte, sie vollkommen vergessen zu haben. Seine Kindheit.
Es hatte da noch einen anderen Jungen gegeben. Sein Name war Aaron und er war Phileas Foggs Bruder.
„Glaubst du, dass Rains gewusst hat, was mit ihm geschehen ist?“, fragte Aouda, die sich in Foggs Arm schmiegte, währen die Isla Jane am Pier anlegte und nach und nach immer mehr Passagiere mit ihrem Reisegepäck an Deck strömten.
„Ich bin mir sicher, dass er Informationen über Aaron hatte“, antwortete Fogg. „Er sagte mir, ich solle in meine Kindheit zurückkehren.“ Er drehte sich zu Aouda um. „Aber wie kann ich das?“
„Du bist ein Mann mit viel Fantasie, Phileas“, antwortete Aouda. „Benutze sie, und du wirst einen Weg finden. Die Erinnerungen sterben nie.“
Fogg wollte etwas erwidern, als er von hinten einen leichten Stoß in den Rücken erhielt.
„Oh Pardon“, stieß Passepartout aus und setzte ein entschuldigendes Lächeln auf. „Aber dieser ramponierte Koffer, den man uns für unsere wenigen Habseligkeiten gegeben hat, ist einfach ungemein unhandlich.“
„Wir werden uns in New York neu einkleiden. Und ich werde meine Bank anweisen, uns Geld zukommen zu lassen“, gab Fogg zuversichtlich zurück.
„Verzeihen Sie, wenn ich mich einmische“, war mit einem Mal eine Stimme hinter ihnen zu hören.
Die drei Abenteurer drehten sich um und erkannten eine große, stämmig wirkende Dame, die ein helles Kleid mit Rüschen trug. Ihr Kopf wurde beinahe vollkommen von einem breiten Hut verdeckt. Nur an der Seite lugte der Ansatz von dunklem Haar hervor.
„Mein Name ist Rose Mullingham, und ich hörte vom Kapitän des Schiffes, welches Schicksal Ihnen widerfahren ist.“ Sie lächelte die drei Menschen vor ihnen mitfühlend an. „Darf ich fragen, ob Sie in New York bereits eine Unterkunft haben?“
Fogg registrierte am Rande, dass in diesem Augenblick die Gangway an das Schiff gelegt wurde. An Deck entstand ein wüstes Gedränge, und sie hatten Mühe, in diesem Meer aus Bewegungen zu bestehen. Dennoch brachte Fogg das Kunststück fertig, den Gruß der Frau zu erwidern.
„Nein, bedaure, aber wir haben noch kein Hotel kontaktieren können.“
Miss Mullingham nickte. „Das dachte ich mir. Würden Sie mir erlauben, Ihnen die Droschke zum Haven-Hotel zu bezahlen? Es liegt ein paar Straßen entfernt von hier. Der Betreiber ist ein alter Bekannter von mir. Sein Name ist Selwyn Arbogast.“
„Sehr freundlich von Ihnen“, antwortete Fogg, während er die Frau genauer musterte. „Was verschafft uns die Ehre?“
Rose Mullingham gab ein glucksendes Lachen von sich, wurde aber gleich darauf wieder ernst. „Nun, ich hörte, dass Sie auf Ihrer Reise alles verloren haben, was Sie bei sich trugen. Ich möchte Ihnen einfach ein wenig unter die Arme greifen, um Ihnen in dieser wundervollen Stadt einen guten Start zu ermöglichen. Wissen Sie, die Welt kann bisweilen grausam sein. Wir wollen sie nicht schlechter dadurch machen, dass wir unsere Augen vor der Not anderer verschließen.“
„Sie sind sehr großzügig“, wagte sich Aouda vor und reichte Rose Mullingham ihre Hand, die vollkommen in der Rechten der Dame verschwand.
„Ach was“, wehrte ihre neue Bekanntschaft ab und sah sich zugleich suchend um. „Haku? Haku, wo steckst du?“
Sie drehte sich wieder zu Fogg und seinen Begleitern um. „Haku ist mein japanischer Diener, müssen Sie wissen. Er hat die etwas lästige Eigenschaft, sich überall herumzutreiben, nur nie dort, wo man ihn braucht. Haku?“
Nur wenig später erkannten die Reisenden, wie sich ein großer brauner Schrankkoffer anscheinend von selbst langsam über das Deck auf sie zu bewegte. Er erzeugte ein scharrendes Geräusch, als er über die Planken des Oberdecks schrappte.
„Ach, dieser Mensch“, rief Rose Mullingham ärgerlich aus. „Er wird das gute Stück noch vollkommen ruinieren. Und dabei ist es doch ein Andenken an meinen Mann Lawrence.“
„Gestatten Sie, Madame?“, stieß Passepartout aus und rannte, ohne eine Antwort abzuwarten, auf den schwankenden Koffer zu.
Dahinter war im nächsten Augenblick ein erschrockener Laut zu hören, gefolgt von einem schrillen Aufschrei. Der Koffer geriet noch mehr ins Wanken und drohte für einen bangen Moment sogar zu kippen. Dann stand er still, und für die Dauer weniger Sekunden war Passepartouts beruhigende Stimme zu hören. Kurz darauf setzte sich das Ungetüm von Koffer wieder in Bewegung, bis es an der Seite von Rose Mullingham zum Stillstand kam.
Ein schmächtiger schwarzhaariger Mann kam dahinter zum Vorschein. Auf seinem Kopf trug er eine braune Kappe mit breitem Schirm. Darunter waren seine wachsamen, haselnussbraunen Augen zu erkennen, die ein wenig scheu, beinahe ängstlich, in die Welt blickten.
„Da bist du ja endlich, Haku“, ließ Rose Mullingham vernehmen und schüttelte ungeduldig den Kopf. „Sieh nur, wir sind vermutlich die letzten, die von Bord gehen. Es grenzt an ein Wunder, wenn wir jetzt noch eine Droschke bekommen.“
Der kleine Japaner trat verlegen von einem Bein auf das andere.
Wie sich allerdings zeigte, hatten die Droschkenkutscher bereits sorgsam und geschäftstüchtig geplant.
Kaum hatte die Reisegruppe den Pier betreten, als bereits zwei Kutschengespanne vorfuhren. Das schwere Gepäck der Rose Mullingham und die kleine ramponierte Tasche ihres Dieners waren schnell verladen.
Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten. Das Haven-Hotel lag ganz in der Nähe des Hudson-Rivers und entpuppte sich als ein solides, mehrstöckiges Gebäude, dessen Eingangsportal von zwei Marmorsäuen gestützte wurde.
Bereits an der Rezeption erlebten Phileas Fogg und seine Begleiter eine Überraschung.
Ein untersetzt wirkender Mann mit Halbglatze und im eleganten Anzug flitzte buchstäblich um den auf Hochglanz polierten Holztresen herum und kam auf Rose Mullingham zu gerannt. „Oh! Oh, was sehe ich denn da? Wenn das nicht unsere gute, liebe Freundin aus Massachusetts ist. Meine liebe Misses Mulligan, Sie ahnen ja gar nicht, wie groß meine Freude ist. Noch dazu, wo sie doch so überraschender Natur ist, da Sie sich nicht angekündigt haben, wenn ich nicht irre.“
Rose Mullingham reichte dem kleinen Mann ihre große Hand und lächelte säuerlich mild. „Mein lieber Selwyn, Sie irren. Ich habe Ihnen bereits vor zwei Wochen ein Telegramm gesandt, in dem ich Sie um die Reservierung zweier Zimmer bat.“
„Gleich zwei Zimmer?“
Rose Mullingham deutete auf den großen Schrankkoffer, hinter dem in diesem Augenblick der zierliche Japaner zum Vorschein kam.
„Für mich und meinen Diener Haku.“
Selwyn Arbogast, der niemand Geringeres als der Direktor des Haven war, legte die Stirn in Falten, als sein Blick auf das monströse Gepäckstück fiel.
„Sie beabsichtigen, länger zu bleiben? Oh je, oh je. Oh je, was mache ich da nur?“
Rose Mullingham hob ihr Kinn energisch an und schürzte abschätzend ihre Lippen. „Wollen Sie damit etwa zum Ausdruck bringen, dass Sie kein Zimmer für uns parat haben, mein lieber Selwyn?“
Arbogast, der sich mit Haku auf Augenhöhe befand, fuhr sich in einer hastigen Bewegung über den Kopf. „Ich fürchte, so ist die Lage, meine Teure. Ich bin untröstlich, aber wir sind so gut wie ausgebucht.“
„So gut wie?“, hakte Rose nach. „Was soll das heißen? Es gibt also noch Hoffnung?“
Arbogast legte seine Hand an die rechte Wange und kaute dabei nachdenklich am Nagel seines kleinen Fingers. „Möglich, dass ich da noch etwas für Sie habe, aber das … nein, das ist ganz und gar unmöglich, das kann ich einer so lieben, treuen Freundin nicht antun. Ich kann ihr nicht die beiden Zimmer im unfertigen Anbau geben.“
„Mister Arbogast“, antwortete Rose Mullingham in verschärftem Tonfall, „wie Sie wissen, haben mein verstorbener Mann Herman und ich zahlreiche Winkel dieser Erde bereits, in denen wir mitunter gezwungen waren, in den unmöglichsten Schlafstätten zu nächtigen. Ich frage mich also, wie ungastlich ihr Anbau wohl sein kann.“
Der Hoteldirektor lächelte entschuldigend und schickte eine Anzahl kriecherisch wirkender Verbeugungen hinterher.
Der Anbau stellte sich als eine Erweiterung des Hotels an dessen Westflügel heraus. Ein Gebäude, das nur drei Stockwerke maß und daher deutlich niedriger als der Haupttrakt war. Er zeichnete sich dadurch aus, dass nur die oberste Etage bereits über verputzte und teilweise sogar tapezierte Wände verfügte. Bis auf diese unwesentlichen Kleinigkeiten waren die Räume komplett leer. Überall in diesem Teil des Hotels hörte man Hammerschläge und das Rufen von Bauarbeitern, die ihrer Tätigkeit nachgingen.
Selwyn Arbogast stand im Durchgang zu einem Zimmer, das noch keine Tür besaß und wand sich in unangenehm angerührten Bewegungen.
„In zwei bis drei Monaten wird dies der wohnlichste und eleganteste Teil des Haven sein. Das neue Herzstück, mit unverbaubarem Ausblick auf den guten alten Hudson.“
Die Reisenden tauschten Blicke untereinander aus.
„Und wie sieht es in den anderen Hotels in der Gegend aus?“, fragte Aouda in diesem Augenblick.
Arbogasts Lächeln gefror ihm in den Mundwinkeln. „Sie können es selbstverständlich gerne probieren. Aber aufgrund des morgen beginnenden Hafenfestes dürften im Augenblick alle Hotels im Umkreis von drei Meilen ausgebucht sein. Vermutlich sogar weit darüber hinaus. Der Präsident hält morgen die Eröffnungsrede, wissen Sie?“
„Wir nehmen es“, entschied Rose Mullingham energisch. „Sie werden ja wohl in der Lage sein, in diesem und im Zimmer nebenan ein paar Betten und eine Waschgelegenheit aufzustellen?“
Arbogast wandte sich wieselflink der großen Frau zu. „Aber das ist doch selbstverständlich, Misses Mullingham. Der gute alte Selwyn macht alles möglich, das wissen Sie doch. Ich werde Guiseppe damit beauftragen. Es soll Ihnen hier drüben an nichts mangeln. Nun ja.“
„Also schön“, erwiderte Rose und sah Fogg an. „Ich glaube, das wird ein denkwürdiger Aufenthalt, meinen Sie nicht auch?“
„Er ist es jetzt bereits“, gab Fogg mit einem Augenzwinkern zurück.
Selwyn Arbogast flitzte davon, drehte sich jedoch an der Türstelle noch einmal zu ihnen um. „Oh, selbstverständlich werden Sie für diese Zimmer nicht den vollen Preis bezahlen. Wäre ein Preisnachlass von zehn Prozent in Ordnung für Sie?“
* * *
Selwyn Arbogast eilte zur Rezeption seines Hotels zurück. Seine kleinen Äuglein musterten das Foyer, in dem sich zu diesem Zeitpunkt einige Gäste aufhielten, damit beschäftigt, Zeitung zu lesen oder auf jemanden zu warten.
Arbogast erkannte den Hotelpagen Guiseppe, als dieser mit zwei Koffern beladen an der Rezeption vorbei huschen wollte.
Der Direktor schnippte unauffällig mit den Fingern. „Guiseppe! Guiseppe!“
Der schlaksige Page mit dem schwarzen Haar und der runden Nickelbrille drehte sich um. „Mister Arbogast?“
Der Hotelbesitzer winkte den Mann zu sich heran.
Guiseppe stellte die Koffer ab.
„Hör zu“, raunte Arbogast ihm zu, während er seinem Angestellten unauffällig einen Zwanzigdollarschein in die Tasche des blütenweißen Jacketts steckte. „Im Anbau befindet sich diese grässliche alte Schachtel Mullingham. Aber sie ist nicht allein gekommen, verstehst du? Sie hat eine ganze Abordnung von Leuten bei sich.“
„Ich verstehe, Sir“, antwortete der Angestellte eilig. Dann umwölkte sich seine Stirn. „Nein, ich verstehe nicht. Im Anbau, sagten Sie? Sie haben diese Leute in eine Baustelle …“
Arbogast wiegelte den Mann mit hastigen Handbewegungen ab. „Es ist alles geklärt. Die Mullingham zahlt sogar dafür. Immerhin hat sie doch Geld wie Schmeißfliegen auf dem Mist.“
„Aber dennoch verstehe ich nicht …“
„Wie solltest du auch, wenn du mich andauernd unterbrichst?“, herrschte Arbogast den Mann an. Gleichzeitig grüßte er freundlich lächelnd ein älteres Ehepaar, das in diesem Moment an ihnen vorbei in Richtung der schwungvoll gedrechselten Treppe ging.
Der Direktor wandte sich sofort wieder Guiseppe zu. „Du wirst dafür sorgen, dass ein paar Betten und Matratzen in den Anbau geschafft werden. Du findest welche im Lager. Du weißt schon, die ausrangierten Dinger, die wir längst verbrennen wollten. Ich wusste, dass wir sie eines Tages noch gebrauchen würden. Hast du das verstanden, Guiseppe?“
Der Schwarzhaarige nickte eifrig.
Die fleischige rechte Hand Arbogasts schnellte vor und steckte eine zweite Banknote zu der ersten. In der nächsten Bewegung überreichte er dem Pagen einen kleinen weißen Zettel.
„Aber vorher wirst du zu dieser Adresse gehen. Geh direkt dorthin und lass dich von nichts und niemandem aufhalten, klar?“
„Klar, Sir“, antwortete Guiseppe.
Arbogast schien noch immer nicht ganz zufrieden. „Es ist äußerst wichtig und dringend. Ich möchte, dass du diese Sache sofort erledigst. Verstanden?“
„Ja, Sir.“
„Noch Fragen?“
„Ja, Sir.“
„Und welche?“
Guiseppe trat von einem Bein auf das andere. „Nun ja, was soll ich bei dieser Adresse tun?“
Arbogast nickte grimmig. „Ich habe diese Frage erwartet. Du wirst dort vermutlich einige Leute antreffen. Es spielt für dich keine Rolle, wer sie sind. Geh einfach dort hin und sage ihnen …“
„Ja, Sir?“, fragte Guiseppe dazwischen.
Arbogast bedeutete seinem Angestellten, sich zu ihm herunter zu beugen. Er kam dem Mann so nahe, dass seine Lippen beinahe das linke Ohr des Pagen berührten.
„Sag ihnen nur diese drei Worte: Sie sind da!“
* * *
Guiseppe hatte vor etwa zehn Minuten das Hotel verlassen. Sein Weg führte ihn durch das Hafenviertel. Irgendwo hinter ihm war noch immer das bunte Treiben am Pier, das gelegentliche Tuten der Dampfer auf dem Wasser, während er selbst in ein gefährlich scheinendes Halbdunkel aus schmalen Straßen eintauchte, aus denen schnell enge Gassen wurden.
Im Schatten der hohen Hauswände hatte der Angestellte Mühe, die Schrift auf dem inzwischen zerknitterten Zettel zu erkennen.
Doch. Es war die richtige Gasse. Guiseppe blinzelte, als er nach dem richtigen Haus Ausschau hielt.
Vor einer grauen Fassade blieb er stehen. Die Fenster waren staubig und ließen keinen Blick in Innere dringen.
Zaghaft klopfte der junge Italiener an. Er wartete, klopfte noch einmal. Gerade als er sich wieder zum Gehen wenden wollte, vernahm er von innen her Schritte, die sich ihm näherten.
Die Klinke wurde heruntergedrückt. Knarrend öffnete sich die Tür einen winzigen Spalt.
„Wer da?“, fragte eine Stimme von der anderen Seite.
„Ich … mein Name ist … ich soll Ihnen sagen …“ Guiseppe spürte, wie sich in seinem Hals ein Kloß festgesetzt hatte. Er schwitzte plötzlich stark, und seine Hände zitterten.
Etwas stimmte nicht mit diesem Haus. Und schon gar nicht mit den Leuten, die es bewohnten.
Guiseppe wusste mit einem Mal, dass es mehrere waren. Ein Auge tauchte rechts von ihm in der Höhle einer geborstenen Fensterscheibe auf.
„Was ist los mit dir, Kleiner?“, fragte die Stimme. Sie gehörte eindeutig zu einem Mann und klang wie das Schnattern einer Ente.
„Ich soll Ihnen sagen, dass sie da sind“, presste Guiseppe hastig heraus, froh, diese Worte endlich über seine Lippen gebracht zu haben.
Stille. Niemand antwortete ihm. Stattdessen konnte er sie atmen hören. Ob sie jetzt hinter der Tür im dämmrigen Halbdunkel Blicke miteinander tauschten. Guiseppe war sich beinahe sicher, dass sie es taten.
Dann endlich: Die Erlösung. Die Stimme meldete sich abermals zu Wort: „Es ist gut, Kleiner. Du kannst jetzt gehen.“
„D-danke, Sir“, stotterte Guiseppe und wandte sich um.
„Ach, und Kleiner?“
„J-ja?“
„Wirf den Zettel hier herüber. Und dann solltest du besser vergessen, dass du hier gewesen bist. Klar?“
„Klar“, echote Guiseppe und beeilte sich, Arbogasts Notiz zusammenzuknüllen und zur noch immer leicht geöffneten Tür herüberzuwerfen. Er beobachtete, wie das kleine Kügelchen über das Kopfsteinpflaster hüpfte und direkt vor der Schwelle zum Haus liegenblieb.
Eine behaarte Hand schob sich durch den Türspalt und nahm es an sich.