Versteck dich, wenn du kannst - Mary Jane Clark - E-Book

Versteck dich, wenn du kannst E-Book

Mary Jane Clark

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Beschreibung

Du kannst ihn sehen. Du kannst ihn nicht spüren. Doch du weisst: Er ist da! Für Fernsehreporterin Grace Callahan hätte es die perfekte Sommerwoche werden können: Sie soll aus Newport, Amerikas mondänstem Ferienort, live berichten. Doch kurz bevor das Fernsehteam dort eintrifft, wird die Leiche einer seit vierzehn Jahren vermissten Frau gefunden. Zwei Tage später ist auch deren Tochter tot. Grace recherchiert für die morgendlichen Live-Berichte die Hintergründe dieser Familientragödie. Und gerät dabei selbst ins Fadenkreuz des Mörders, der jeden ihrer Schritte genau zu kennen scheint…

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Mary Jane Clark

Versteck dich, wenn du kannst

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Christine Strüh

FISCHER E-Books

Inhalt

Wieder einmal für Elizabeth [...]PrologVierzehn Jahre späterFreitag, 16. JuliKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Samstag, 17. JuliKapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Sonntag, 18. JuliKapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Montag, 19. JuliKapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58Kapitel 59Kapitel 60Kapitel 61Kapitel 62Kapitel 63Kapitel 64Kapitel 65Kapitel 66Kapitel 67Kapitel 68Kapitel 69Kapitel 70Kapitel 71Kapitel 72Kapitel 73Dienstag, 20. JuliKapitel 74Kapitel 75Kapitel 76Kapitel 77Kapitel 78Kapitel 79Kapitel 80Kapitel 81Kapitel 82Kapitel 83Kapitel 84Kapitel 85Kapitel 86Kapitel 87Kapitel 88Kapitel 89Kapitel 90Mittwoch, 21. JuliKapitel 91Kapitel 92Kapitel 93Kapitel 94Kapitel 95Kapitel 96Kapitel 97Kapitel 98Kapitel 99Kapitel 100Kapitel 101Kapitel 102Kapitel 103Kapitel 104Kapitel 105Kapitel 106Kapitel 107Kapitel 108Kapitel 109Kapitel 110Kapitel 111Kapitel 112Kapitel 113Kapitel 114Kapitel 115Kapitel 116Kapitel 117Kapitel 118Kapitel 119Kapitel 120Kapitel 121Kapitel 122Kapitel 123Kapitel 124Kapitel 125Kapitel 126Kapitel 127Kapitel 128Kapitel 129Kapitel 130Kapitel 131Kapitel 132Kapitel 133Kapitel 134EpilogDank

Wieder einmal für Elizabeth und David.

Und für alle, die mit der häufigsten erblichen Form geistiger Behinderung, dem Fragilen-X-Syndrom, zu kämpfen haben.

Bitte, lieber Gott, lass uns eine Methode finden, wie wir diese Krankheit behandeln und heilen können.

Prolog

Er wollte das Licht anlassen, aber sie war froh, dass das gar nicht infrage kam. Wenn einer der Dienstboten Licht aus den Fenstern der Gartenlaube dringen sah, würde sofort jemand angelaufen kommen, um nach dem Rechten zu sehen.

Außerdem wollte er gern Musik dabei und hatte sogar seinen Kassettenrecorder mitgebracht. Aber sie bestand auf absoluter Stille. Sie durften nicht riskieren, dass irgendein Laut nach draußen in die laue Nachtluft drang. Die langsamen, gleichmäßigen Bewegungen ihrer Körper sollten allein den Rhythmus bestimmen, der die Hütte erfüllte.

Sie lag auf dem Rücken auf dem schmiedeeisernen Bettgestell und dachte an all die Jungen und Mädchen, die auf dieser Matratze schon ein Schläfchen gehalten hatten. Bei jedem Grillenzirpen, bei jedem traurigen Aufjaulen eines Stinktiers spannte sie sich sofort wieder an. Sie überlegte, ob es auch in dem unterirdischen Gang, der unter der Laube verlief, Tiere gab. Hoffentlich nicht, denn das war ihr Fluchtweg, falls sie jemals einen brauchten.

Es fiel ihr schwer, sich gehen zu lassen. Für ihn war das kein Problem. Er war ganz in seinem Element. Aber gerade als er richtig in Fahrt kam, hörte sie die Stimme draußen vor der Hütte.

»Herr im Himmel, das ist Charlotte!«, zischte sie und schob ihn schnell weg.

So schnell sie konnten, rafften sie ihre Sachen zusammen. Er schnappte sich noch den Kassettenrecorder, während sie schon das lose Brett im Holzboden anhob, und dann ging es hinab in die Dunkelheit. Im selben Augenblick, als sich über ihnen die Tür öffnete, zogen sie die Falltür zu.

Der Lehmboden war kalt und hart unter ihren nackten Füßen.

»Worauf wartest du noch?«, flüsterte er. »Gehen wir.«

»Ich zieh mich an«, antwortete sie. Man konnte ja nicht wissen, was ihnen in diesem Tunnel begegnete, und sie würde sich wesentlich besser fühlen, wenn sie den Weg zum Wasser am anderen Ende in bekleidetem Zustand zurücklegten.

Also sortierten sie ihre Sachen nach Gefühl und streiften sie in der rabenschwarzen Finsternis über, so gut es ging. Auf einmal hörte sie von oben gedämpfte Stimmen.

»Mit wem redet Charlotte denn da?«, fragte er.

»Das kann ich auch nicht erkennen.«

Langsam setzten sie sich in Bewegung, sich mit ausgestreckten Armen an der Tunnelwand entlangtastend. Sie unterdrückte einen Aufschrei, als etwas ihr Bein streifte. Ein Waschbär? Eine Ratte? Jetzt strafte Gott sie für ihre Sündhaftigkeit.

Endlich sahen sie durch die Öffnung am Ende des Tunnels das Wasser der Narragansett Bay vor sich schimmern. Sie beschleunigten ihre Schritte, denn der Mond spendete ihnen zwar nur ein spärliches, aber hoch willkommenes Licht. Als sie ihr Ziel erreichten, blieb er stehen.

»Mist.«

»Was ist los?«

»Meine Brieftasche. Die muss mir aus der Hosentasche gerutscht sein.«

»Ach du liebe Güte.«

Er packte ihre Hand. »Keine Sorge, gehen wir weiter. Vielleicht finden die sie gar nicht.«

»Nein, ich geh zurück und hole sie«, widersprach sie fest.

Natürlich wäre sie ihm viel lieber nach draußen gefolgt, aber sie wusste auch, dass sie ohnehin die ganze Nacht kein Auge zutun würde, wenn die Gefahr bestand, dass seine Brieftasche sie verraten konnte.

»Geh ruhig. Sieh zu, dass du nach Hause kommst«, sagte sie.

»Ich begleite dich«, erbot er sich.

»Nein. Du musst hier weg. Sie dürfen nicht erfahren, dass du hier warst. Du musst verschwinden. Sofort.«

»Na gut, aber wir sehen uns dann morgen.«

Sie schluckte, als sie ihm nachsah, wie er am Ufer entlanghuschte und schließlich in der Dunkelheit verschwand. Mit einem tiefen, entschlossenen Seufzer drehte sie sich um und ging zurück in den Tunnel, wo sie sich behutsam an der Wand vorwärts tastete. Ihre Finger berührten den harten Lehm und die alten Backsteine, die sich kalt und feucht anfühlten. Unwillkürlich stellte sie sich vor, wie es für die Sklaven gewesen sein musste, die durch diesen Tunnel um ihr Leben gerannt waren, wie ihnen der gleiche modrige Geruch in die Nase gestiegen war wie jetzt ihr. Ob sie Laternen dabeigehabt hatten? Oder waren sie blind durch die Dunkelheit getappt, ohne zu wissen, was vor ihnen lag, bereit, ein unbekanntes Risiko einzugehen, weil sie genau wussten, welche Schrecken sie hinter sich ließen?

Als sie ihrer Schätzung nach in der Nähe der Leiter angekommen war, die zur Gartenlaube hinaufführte, rutschte ihre Hand an der Wand plötzlich in eine große Vertiefung. Erdbrocken lösten sich, als sie dagegendrückte. Ihr Herz schlug schneller. War der alte Tunnel überhaupt sicher? Oder konnte er jederzeit zusammenbrechen und sie unter sich begraben? Würde man sie hier jemals finden?

Sie betete. Wenn sie heute einigermaßen ungeschoren davonkam, würde sie niemals wieder in die Laube gehen. Ganz gleich, wie sehr er es sich wünschte, es war das letzte Mal gewesen. Das schwor sie.

Sie eilte weiter, in der Dunkelheit leise vor sich hin weinend.

Bis sie plötzlich über etwas stolperte und auf die Knie stürzte. Ihr Atem ging hastig und stoßweise vor Angst, ihr Herz pochte gegen die Rippen, während sie mit der Hand über den Gegenstand tastete, der sie zu Fall gebracht hatte. Er war mit einem weichen Material bedeckt, groß und unbeweglich.

Ein menschlicher Körper, noch warm, aber leblos.

Sie hatte dieses Gefühl früher schon gehabt, aber nur gelegentlich, in Träumen. Der Wunsch, der Drang, das Bedürfnis zu schreien, aber irgendwie erstarrt zu sein, unfähig, einen Laut hervorzubringen. Hastig wich sie von der Leiche zurück und drückte sich zitternd gegen die Wand.

Später wurde ihr klar, dass sie nur wenige Momente so verbracht haben konnte, aber es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. In ihrem Kopf jagten sich die Gedanken. Sie musste Hilfe holen! Die Leute aus dem Herrenhaus alarmieren. Aber das ging nicht. Sie hätte hier gar nicht sein dürfen, und die Vorstellung, dass sie ihr verbotenes Stelldichein würde erklären müssen, war unerträglich.

Und noch schlimmer – was, wenn man ihr die Schuld gab? Was, wenn sie glaubten, sie hätte einen Mord begangen? Sie versuchte sich zu beruhigen und wiegte sich in der Hocke sanft hin und her, als sie von oben ein scharrendes Geräusch hörte. Die Falltür öffnete sich schon wieder!

Sie kniff die Augen ganz fest zusammen, sicher, dass dies das Ende war. Der Mörder würde herunterkommen, um auch sie zu töten.

Doch stattdessen kam etwas von oben heruntergeflattert, traf ihren Kopf, streifte ihr Gesicht. Ein Stück Papier? Eine Karte?

Zitternd, aber unentdeckt, hörte sie, wie die Falltür sich wieder schloss.

Vierzehn Jahre später

Die Grubenlampen, die den Tunnel säumten, wurden von einem Generator gespeist, aber dies war eins der wenigen Zugeständnisse an die moderne Technologie. Die Arbeit wurde langsam und sorgfältig von Hand ausgeführt. Genau wie der Tunnel damals, vor mehr als eineinhalb Jahrhunderten gegraben worden war, so kratzten jetzt Menschen und nicht Maschinen den Lehm ab und verbanden die alten roten Backsteine mit Mörtel. Zentimeter für Zentimeter, Meter für Meter, alles äußerst gewissenhaft, um sicherzustellen, dass die Wände solide und tragfähig waren. Schließlich würden, wenn die Arbeit fertig war, tausende Touristen, Historiker und Studenten die Gelegenheit bekommen, diesen Weg entlangzugehen, den amerikanische Sklaven auf ihrer verzweifelten Flucht in die Freiheit benutzt hatten. Der Tunnel musste also absolut ungefährlich sein.

»Hier ist eine schwache Stelle«, rief ein erfahrener Maurer, und seine Worte hallten von den Wänden des unterirdischen Gangs wider.

Der Hohlspatel klopfte gegen den weichen, roten Lehm. Erdklumpen fielen auf den Boden des Tunnels. Die Vertiefung in der Wand wurde größer.

Sie gruben weiter, und zum Vorschein kamen mehrere Lagen Stoff, eingebettet in Lehm, von Schmutz und Zeit ausgeblichen und zerfetzt. Im Schein der Grubenlampen schimmerten metallisch glänzende Fäden. Behutsam wischte der Maurer den Lehm weg und folgte der Spur des goldenen Stoffs.

Die anderen Arbeiter im Tunnel scharten sich um ihn, denn sie wollten dabei sein und sehen, was da zum Vorschein kam. Als sie es erkannten, waren sie froh, dass sie nicht alleine waren. Wenn man auf so einen Fund stieß, war man lieber in guter Gesellschaft.

Es war ein menschlicher Schädel, ein menschliches Skelett, von Goldlamé umhüllt.

Freitag, 16. Juli

Kapitel 1

Sie war die Älteste.

Als Grace die Studenten betrachtete, die sich an diesem Morgen im wie immer von hektischer Betriebsamkeit erfüllten Nachrichtenraum versammelt hatten, wurde ihr der Abgrund, der zwischen ihr und den anderen Praktikanten klaffte, erst so richtig bewusst. Mindestens ein Jahrzehnt lag zwischen ihr und den Superstudenten, die sich da an ihre temporären Schreibtische lehnten, auf Computerbildschirme spähten und mit den Leuten von den Morgennachrichten plauderten, sofern diese sich die Zeit für ein Schwätzchen nehmen konnten. Die Praktikanten hatten eine gute Bildung genossen, waren motiviert und ehrgeizig. Irgendwie taten sie Grace aber auch Leid. Sie waren so furchtbar jung.

Die haben noch das ganze Leben vor sich, dachte sie, während sie einer der Studentinnen nachblickte, einer jungen Frau mit auffallend langen, sonnengebräunten Beinen. Wie brachte sie es nur fertig, in ihrem schamlos kurzen Rock trotzdem angezogen zu wirken? Vor diesen jungen Leuten lag eine hoffnungsvolle Zukunft, bald würden sie an einer renommierten Universität oder an einem angesehenen College ihren Abschluss machen, und da bastelten sie nun an ihrem Lebenslauf herum, um den ersten festen Job bei den Fernsehnachrichten zu landen. Völlig unbelastet konnten sie ihren Träumen nachjagen. Sie schleppten keinen persönlichen Ballast mit sich herum, wenn sie ins Berufsleben eintraten. Die Welt stand ihnen offen: Sie konnten gehen, wohin es ihnen beliebte, sie konnten tun und lassen, was sie wollten, frei und ungebunden.

Grace Wiley Callahan wusste sehr gut, dass ihr Schicksal ein anderes war. Im Gegensatz zu ihren Mitpraktikanten war sie kein unbeschriebenes Blatt mehr. Sie hatte eine Vergangenheit, sie trug Verantwortung. Mit ihren zweiunddreißig Jahren hatte Grace morgendliche Übelkeit, Ehe, Mutterschaft und Scheidung hinter sich – in dieser Reihenfolge. Als sie im gleichen Alter gewesen war wie diese Kids, hatte sie den Traum eines Hochschulabschlusses bereits ad acta gelegt und sich mit dreißig Punkten zu wenig vom Studium an der Fordham University verabschiedet. Als ihre Freunde ihren Magister machten, hatte sie Lucys Kinderwagen auf den Campus geschoben, um wenigstens zuzuschauen, wie die Diplome verteilt wurden. Aber ihre kleine Tochter hatte die Jubelrufe des Abschlussjahrgangs mit ihrem Kolikgeschrei mühelos übertönt.

Seither waren elf Jahre vergangen, jetzt kam Lucy bald in die sechste Klasse, und bei Grace zeigten sich bereits feine Krähenfüße um die braunen Augen und die ersten grauen Strähnen in den honigblonden Haaren. An dem Tag, als sie erfuhr, dass sie einen der begehrten Praktikumsplätze bekommen sollte, hatte sie die grauen Haare energisch ausgerupft. Sie war wild entschlossen, diese zweite Chance zu nutzen, endlich ihren Abschluss nachzuholen und alles aus der einmaligen Situation herauszuholen, dass sie im Welt-Hauptquartier der KEY News in New York arbeiten durfte. Auch die Aussicht, nächste Woche nach Newport, Rhode Island, zu fahren, war einfach phantastisch, denn KEY to America sendete eine Woche lang live aus dem Ferienort am Meer. Allerdings war ihr vollkommen klar, dass keiner der anderen Praktikanten sich Sorgen um ein Kind machen musste.

Selbstverständlich bereute Grace es keine Sekunde, Lucy zu haben. Nein, Lucy war eindeutig das Beste, was ihr je passiert war und je passieren würde. Dass sie Frank geheiratet hatte – das war eine vollkommen andere Geschichte. Als Grace im Frühjahr des ersten Studienjahrs gemerkt hatte, dass sie schwanger war, wollte er zunächst nichts mit dem Kind zu tun haben. Aber Grace weigerte sich, einen Abbruch vornehmen zu lassen. Sie war fest entschlossen, ihr Baby zu bekommen, sei es mit Frank oder ohne ihn.

Während sie jetzt auf ihre ringlose linke Hand hinabblickte, dachte sie daran, wie er sich langsam und nur widerwillig dazu durchgerungen hatte, seine Vaterpflichten anzuerkennen. Der gut aussehende, athletische Frank Callahan, Wirtschaftsstudent, kurz vor dem Examen, ließ sich von seinen Eltern drängen, »das Richtige« zu tun, und so machte er Grace schließlich einen Heiratsantrag. Etwas beklommen hatte sie ihn angenommen, denn sie wusste, dass sie ihre Ehe nicht gerade unter den besten Voraussetzungen eingingen. Aber sie hatte einfach auf das Beste gehofft.

Als Lucy fünf Monate nach der hastig geplanten Heirat auf die Welt kam, brachten Grace und Frank das Baby nach Hause in ihr kleines Kellerapartment in Hoboken, New Jersey. Jeden Morgen nahm Frank brav die U-Bahn zu seinem ersten richtigen Job bei einer Immobilienfirma, während Grace mit der kleinen Lucy daheim blieb und nur gelegentlich für die Lokalzeitung Aufträge als Freelancer annahm oder Artikel über Stadtratssitzungen und abendliche Prozesstermine schrieb. Aber als Frank in der Firma aufstieg, wurde ihm der zusätzliche Stress zu viel, und er hatte plötzlich keine Lust mehr, abends nach Hause zu hetzen, um auf Lucy aufzupassen, während Grace arbeitete. Er verdiente mehr, sie konnten sich eine größere, bessere Wohnung leisten, also brauchte Grace doch nicht mehr für dieses Käseblatt zu schreiben.

Sie fügte sich seinen Prioritäten, und so verging ein Jahr ums andere. Grace versorgte und liebte ihr kleines Mädchen und versuchte, sich nicht von den unangenehmen Seiten ihrer Ehe mit Frank das Leben vermiesen zu lassen. Wenn sie sich im Fernsehen die Nachrichten anschaute, versuchte sie nicht daran zu denken, was aus ihr hätte werden können, wenn sie das Studium beendet und wie geplant als Fernsehjournalistin gearbeitet hätte. Die Zeit verging, und wenn Grace abends ihre Tochter ins Bett gelegt hatte, verbrachte sie immer mehr Zeit allein vor irgendwelchen Nachrichtensendungen, fürchtete sich vor Franks Launen, vor seinen Wutanfällen und vor den Parfümdüften, die häufig in seinen Kleidern hingen, wenn er von einem so genannten Geschäftsessen heimkam.

Aber sie blieb bei ihm, trotz allem. Lucy zuliebe. Für Lucy würde sie an dieser Ehe festhalten. Ihr Kind sollte nicht in einer kaputten Familie aufwachsen. Lucy verdiente es, von beiden Elternteilen in ein und derselben Wohnung großgezogen zu werden. Also hielt Grace durch. Sie ging nicht weg.

Stattdessen wurde sie von Frank sitzen gelassen.

*

»Grace, wären Sie so nett, eine Kopie von diesem vorläufigen Sendeschema an Professor Gordon Cox in Newport zu faxen?« Produzent und Kameramann B.J. D’Elia hielt ihr die getippte Seite unter die Nase. »Ich weiß, das ist eine undankbare Arbeit«, entschuldigte er sich, »aber wenn ich mich nicht augenblicklich auf die Socken mache, verpasse ich meinen Zug nach Rhode Island.«

»Dafür bin ich ja da«, antwortete Grace und nahm ihm das Papier ab. Sie mochte diesen Teil des Praktikums nicht besonders, aber sie wusste, dass Vertrauen sich Stück für Stück entwickeln musste. Wenn sie solche Kleinigkeiten korrekt erledigte, würde man ihr später auch größere Aufgaben übertragen.

»Sie kommen morgen auch mit, richtig, Grace?«

»Ja.«

»Darf ich Sie dann um noch einen Gefallen bitten?« B.J. wartete ihre Antwort nicht ab, sondern drückte ihr ein gelbes liniertes Papier in die Hand. »Stellen Sie bitte ein kleines Paket über Scrimshaw und über Tätowierungen zusammen. Wir machen einen Beitrag mit einem Scrimshaw-Künstler und vielleicht auch mit einem Tätowierer, deshalb brauchen wir ein paar Fragen, die Constance im Interview stellen kann. Aber übertreiben Sie nicht«, fügte er hinzu. »Es reicht, wenn die Grundlagen abgedeckt sind, und faxen Sie mir dann, was Sie gefunden haben. Die Faxnummer von unserem Nachrichtenraum im Viking steht auf dem Papier.«

»Alles klar«, antwortete Grace, während sie ihm den Zettel abnahm und dabei seine starken, braun gebrannten Hände betrachtete.

»Danke, Grace. Vielen Dank.« Er schenkte ihr ein Lächeln, das weiße, gleichmäßige Zähne entblößte, und beugte sich ein Stück näher zu ihr. »Ich verrate Ihnen ein Geheimnis. Das ist meine erste Außenübertragung als Produzent, und ich bin ein bisschen nervös.«

»Wirklich? Ich dachte, Sie sind ein alter Hase.«

»O nein. Ich arbeite hier seit sechs Jahren als Kameramann und Cutter und hab auch schon davor ein paar Jahre bei kleinen Lokalsendern verbracht. Aber erst vor ein paar Monaten hat man mich auch zum Produzenten ernannt. Mehrfachfunktionen sind zurzeit schwer angesagt. Man macht zwei oder drei Jobs zum Preis von einem, wenn man eine Stelle wie diese behalten möchte.«

Grace war ein bisschen neidisch. Sie schätzte, dass B.J. ungefähr in ihrem Alter sein mochte, vielleicht ein, zwei Jahre älter, und er stand mit beiden Beinen fest im Berufsleben. Sie überlegte, ob er wohl verheiratet war und ob seine Frau mit ihrem Kind allein zu Hause blieb, während er sich seinen Platz in der Welt eroberte. Aber aus irgendeinem Grund glaubte sie das nicht. Nicht nur, weil er keinen Ring trug, sondern weil sie das undefinierbare Gefühl hatte, dass er ungebunden war. Sicher, es gab genug Männer, die sich im Job benahmen, als seien sie allein stehend, obwohl sie in Wirklichkeit eine Familie zu ernähren hatten. Frank gehörte beispielsweise zu diesem Typ. Als sie jetzt B.J. nachschaute, der schlaksig zurück zu seinem Schreibtisch schlenderte, erwischte sie sich dabei, dass sie hoffte, er wäre anders als ihr Exmann.

Als sie sich an die Ausführung ihrer Aufgabe machte und die Nummer ins Faxgerät eintippte, kam die miniberockte Praktikantin zu ihr herüber.

»Dir hat er wenigstens was zu tun gegeben«, flüsterte sie. »Ich gehe bald die Wände hoch vor Langeweile. Wenn ich noch eine Minute länger im Internet surfe, dann schneid ich mir die Pulsadern auf. Die haben hier einfach nicht genug zu tun für uns alle.«

Grace lächelte, während sie auf den elektronischen Piepton wartete, der anzeigte, dass das Fax gesendet wurde. Jocelyn Vickers, eine dunkelhaarige Schönheit, hatte Recht. Die Praktikanten hatten wirklich eine Menge Freizeit.

»Es wird bestimmt besser, wenn wir nach Newport kommen, meinst du nicht?«, beschwichtigte sie ihre Kollegin. »Da müsste es eigentlich jede Menge Arbeit für uns geben. Und wenn nicht, verbringen wir wenigstens eine Woche in einem wunderschönen Ort.«

»Ja, stimmt vermutlich«, erwiderte Jocelyn achselzuckend.

»Ich war noch nie in Newport. Du etwa?«, fragte Grace in dem Versuch, die Konversation etwas zu erweitern. Die jüngeren Praktikanten hatten sich nicht gerade um Kontakt mit ihr bemüht. Anscheinend wussten sie nicht so recht, was sie von ihr halten sollten. Grace, die ältere Dame. Was hatten sie denn auch mit einer geschiedenen Mutter gemeinsam?

»Ich hab ungefähr jeden Sommer meines Lebens dort verbracht«, seufzte Jocelyn. »Meine Eltern haben da ein Haus.«

»Echt? Das muss doch toll sein.« Während Grace den inzwischen übertragenen Terminplan für Newport wieder aus dem Faxgerät nahm, fiel ihr Blick auf das bekannte beige-schwarzbraune Karomuster, das unter Jocelyns perfekt pedikürten Zehen hervorlugte. Burberry. Über hundert Dollar für ein Paar Riemchensandaletten aus Plastik. Schön für sie. Auf einmal wurde Grace bewusst, dass ihre eigenen Schuhe – schwarze Pumps, die sie im DSW Shoe Warehouse im Ausverkauf erworben hatte – dagegen zweitklassig und total langweilig aussahen.

»Ja, Newport kann ganz lustig sein, wenn man weiß, wo man hingehen und sich amüsieren kann.« Jocelyn strich sich ihre langen, schwarzen, teuer geschnittenen Haare aus dem Gesicht.

»Na, damit kommst du bei den Leuten hier bestimmt gut an, Jocelyn.«

»Nenn mich doch Joss.« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Ja, damit rechne ich auch fest. Ich fahre heute Abend schon hin, damit ich früh da bin und ein bisschen aushelfen kann. Ich möchte mich gern unersetzlich machen, wenn wir nächste Woche alle hinfahren, ich bin nämlich absolut scharf drauf, nach dem Praktikum die feste Stelle zu kriegen.«

Da bist du nicht die Einzige, dachte Grace, und ihr sank der Mut, wenn sie daran dachte, was Jocelyn ihr alles voraus hatte. Da bist du nicht die Einzige.

Natürlich konnte nur einer von den Sommerpraktikanten eine feste Stelle als Produktionsassistent bekommen. Alles hing davon ab, was man draufhatte, und Grace war entschlossen, ihr Bestes zu geben. Sie brauchte diesen Job wirklich.

*

Kapitel 2

Professor Gordon Cox zog das Schriftstück aus seinem Fach und überflog die gefaxten Informationen. Später würde er sich den Terminplan von KEY News genauer ansehen. Jetzt hatte er erst mal ein Seminar zu halten.

Vor dem großen Spiegel mit dem reich verzierten Rahmen blieb er stehen und überprüfte sein Äußeres. Dichte silbergraue Haare bildeten einen interessanten Kontrast zu seinen dunklen Augen und dem leicht gebräunten Teint. Vielleicht war er ein bisschen früh grau geworden, aber der Effekt gefiel ihm recht gut. Ein distinguierter, lässig-eleganter Akademiker wirkte auf leicht zu beeindruckende junge Studentinnen ausgesprochen attraktiv.

Wenn er auf Agatha Wagstaff doch die gleiche Wirkung hätte. Seit man die menschlichen Überreste entdeckt hatte, drohte Agatha damit, den Geldhahn für die Restaurierung des alten Sklaventunnels zuzudrehen, falls sich herausstellte, dass der unterirdische Gang tatsächlich das Grab ihrer Schwester gewesen war. Dann würde Gordons Lieblingsprojekt, in das er die ganzen siebzehn Jahre, die er jetzt schon an der Salve Regina University lehrte, so viel investiert hatte, mit quietschenden Bremsen zum Stillstand kommen. Und bei dem Gedanken bekam er jetzt schon Magenkrämpfe.

Dass der Tunnel von Shepherd’s Point für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollte, wurde in Historikerzirkeln als bedeutendes Ereignis angesehen, und Gordon, die treibende Kraft hinter dem Projekt, hatte sich in der Denkmalschutzgemeinde inzwischen einen Namen gemacht. Er hatte sogar läuten hören, dass er als Kandidat für den Stipplewood Prize gehandelt wurde, aber vermutlich musste er sich jetzt sowohl von der Auszeichnung als auch von seinem Vermächtnis verabschieden. Agatha war ein verrücktes Huhn, und sie hatte schon immer Vorbehalte dagegen gehabt, ihren kostbaren Tunnel der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Welche Chance gab es überhaupt noch, dass sie zu ihrer Vereinbarung stehen würde, wenn sich zeigte, dass der Tunnel vierzehn Jahre lang die letzte Ruhestätte ihrer Schwester gewesen war?

Der Gedanke, dass sein Vorhaben nun womöglich null und nichtig war, dass er Agatha umsonst Honig ums Maul geschmiert und sich vergeblich um ihre Nichte Madeleine bemüht hatte – ganz zu schweigen von der ganzen Forschungsarbeit, den Monographien und Vorträgen –, deprimierte ihn zutiefst.

Trotz allem war sich Gordon bewusst, dass er einen Traumjob hatte. Er hatte die Möglichkeit, anderen Menschen die Augen zu öffnen und sie für die kulturelle und historische Pracht um sie herum empfänglich zu machen. Er konnte in seiner persönlichen Leidenschaft schwelgen und wurde sogar noch dafür bezahlt.

Natürlich hätte die Bezahlung besser sein können. Deshalb hielt er in der Sommerpause immer freiwillige Kurse. Er hatte sowieso nicht das Bedürfnis, Newport während der Hochsaison zu verlassen. Wenn Millionäre sich das historische Seebad ausgesucht hatten, um hier ihre Sommercottages zu bauen, dann war die Stadt auch gut genug für ihn. Warum sollte er ausgerechnet die schönsten Monate anderswo verbringen? Nein, er verreiste lieber in den Winter- oder den Frühlingsferien. Im Juli und August war er lieber zu Hause.

Genau wie Charlotte Sloane.

*

Gordon hatte wohlweislich nicht vorher angerufen, um zu fragen, ob es in Ordnung war, dass er eine Gruppe Studenten mit nach Shepherd’s Point brachte. Er wollte nicht riskieren, dass Agatha ihnen den Zutritt auf das Grundstück der weitläufigen viktorianischen Villa verweigerte, die auf einem riesigen Areal sanft hügeligen Ackerlands am äußeren Rand von Newport stand.

»Nur weiter«, wies er den Fahrer an, als er vor dem Tor langsamer wurde. »Fahren Sie hier durch und direkt zu der Gartenlaube hinüber.« Als der Wagen über das ungeteerte Sträßchen holperte, dem das schwere Ausgrabungsgerät ziemlich zugesetzt hatte, setzte Gordon seine Ausführungen für die Studenten fort.

»Shepherd’s Point hatte in der Geschichte der afro-amerikanischen Bevölkerung von Newport eine wichtige Bedeutung. Die Villa wurde auf einer ehemaligen Schafweide gebaut. Der Schäfer, ein Mann mit hohen moralischen Grundsätzen, half verzweifelten Sklaven, die sich auf der Flucht vor ihren Südstaaten-Herren befanden. So wurde vom Meer zu dem kleinen Schuppen ein Tunnel gebaut, der nach Shepherd’s Point und damit in die Freiheit führte. Als Jahre später der Silbermagnat Charles Wagstaff Senior das große Herrenhaus baute, wurde die Schäferhütte als Gartenlaube und Spielort für die Wagstaff-Kinder instand gesetzt. Der Tunnel darunter blieb intakt.«

Gordon stieg als Erster aus dem Bus und zuckte zusammen, als der Schmerz in sein Knie fuhr. Die Studenten folgten ihm zu der alten Laube; unterwegs setzte er seinen Vortrag fort.

»Bislang gibt es nur einen dokumentierten, der Öffentlichkeit zugänglichen unterirdischen Tunnel der Underground Railroad. Dieser führt zum Haus des bekannten Abolitionisten Henry Ward Beecher in Peekskill, New York. Aber es existierten bereits Gerüchte über den Tunnel in Shepherd’s Point. Auch in Newport wurde über seine Existenz gemunkelt, und einige Leute schlichen sich sogar auf das Grundstück, um ihn zu suchen.

Seit Jahren versuchen Historiker, Agatha Wagstaff dazu zu überreden, den Tunnel für die Öffentlichkeit freizugeben und seiner Restaurierung zuzustimmen. Fast wäre es so weit gewesen, aber dann verschwand vor vierzehn Jahren Ms. Wagstaffs einzige Schwester, Charlotte Wagstaff-Sloane, auf geheimnisvolle Weise. Daraufhin zog sich Agatha völlig zurück, und die Verwirklichung des Projekts rückte wieder in weite Ferne. Wie Sie sehen, verfiel Shepherd’s Point immer mehr.«

Alle Augen wandten sich der grauen Villa zu, die am anderen Ende eines weitläufigen, von Unkraut überwucherten Rasens aufragte.

»Vor kurzem ließ sich Agatha aufgrund finanzieller Schwierigkeiten dazu überreden, doch mit den Arbeiten am Tunnel zu beginnen. Die Stadtverwaltung schloss mit ihr einen Vertrag, dass die Steuerschulden für Shepherd’s Point getilgt würden, wenn Agatha im Gegenzug ihr Einverständnis zur Öffnung des Tunnels gab.«

Inzwischen hatte die Gruppe die Laube erreicht. Gelbes polizeiliches Absperrband blockierte den Eingang, aber es gab keine Wache. Die Studenten sahen zu, wie Gordon das Band ohne Zögern entfernte und die Tür öffnete.

»Dürfen wir das denn, Professor?«, fragte einer besorgt.

»Das ist schon in Ordnung. Ich übernehme die Verantwortung. Ich weiß nicht, wie sich die Zukunft des Tunnels entwickeln wird, nachdem man hier diesen grausigen Fund gemacht hat. Aber ich möchte, dass Sie alle den Gang sehen können. Vielleicht sind wir für sehr lange Zeit die Letzten, die diesen historischen, heiligen Ort zu Gesicht bekommen.«

Im Gänsemarsch traten die Studenten durch die schmale Tür und drängten sich in dem einzigen Raum zusammen. Falls es einmal ein Feldbett für den Schäfer gegeben hatte, oder vielleicht auch einen Tisch mit kleinen Stühlen, damit die Wagstaff-Mädchen hier ihre Teepartys abhalten konnten, so war dieses Mobiliar längst verschwunden. Die einzige Spur des Lebens, das hier einmal stattgefunden hatte, war der geschwärzte Kamin, in dem noch Aschereste lagen.

Seinen Knieschmerzen zum Trotz kniete der Professor nieder und klappte eine Falltür im Boden zurück; eine schmale Holztreppe kam zum Vorschein. Die Studenten reckten die Hälse, um in den dunklen Gang hinuntersehen zu können. So fasziniert waren sie, dass keiner merkte, wie hinter ihnen jemand hereinkam und in der Tür stehen blieb.

Eine schrille Stimme durchschnitt die abgestandene Luft. »Schert euch weg! Raus hier, samt und sonders! Verschwindet von meinem Grundstück, und zwar augenblicklich!«

Vor ihnen stand Agatha Wagstaff, Herrin von Shepherd’s Point. Die blauen Augen quollen aus dem milchweißen Gesicht, der knallrote Lippenstift war grotesk verschmiert.

»Agatha, bitte«, rief Gordon flehentlich. »Ich möchte nur, dass meine Studenten den Tunnel sehen. Bitte geben Sie uns ein paar Minuten.«

»Nein, Gordon, auf gar keinen Fall. Wenn Sie und Ihre Studenten nicht im Handumdrehen von hier verschwinden, rufe ich die Polizei. Charlotte wollte Sie von Anfang an nicht hier haben. Sie wollte nicht, dass unser Anwesen zu einer Touristenattraktion verkommt. Sie wollte nicht, dass andere Leute sich in diesem Tunnel herumtreiben.«

Kapitel 3

Nach dem Essen traf Grace sich mit den anderen Praktikanten im KTA-Konferenzraum, wo die persönlichen T-Shirts verteilt wurden. Höchst angetan betrachtete sie ihres. KEY NEWS – CALLAHAN war in großen schwarzen Lettern auf die Vorderseite des weißen Shirts gedruckt. Aber aus der eitlen Freude wurde sofort Anspannung, als der Ausführende Produzent Linus Nazareth in den Saal marschierte und anfing herunterzurasseln, was bei der Außenübertragung in Newport alles von den Praktikanten erwartet wurde.

»Sie haben zwölf Stunden am Tag, sieben Tage die Woche erreichbar zu sein. Dafür bekommen Sie alle einen Pieper, und wenn Sie angepiept werden, antworten Sie gefälligst. Und zwar umgehend«, verkündete Linus Nazareth mit seiner tiefen, dröhnenden Stimme. »Richten Sie sich danach, wenn Sie ernsthaft hier mitarbeiten wollen. Für jeden im Team ist das eine unumstößliche Tatsache, über die nicht diskutiert wird. Und wenn jemand mit dem Gedanken spielt, bei den Fernsehnachrichten Karriere zu machen, dann sollte er – oder sie – sich lieber gleich daran gewöhnen. Wenn eine Story auftaucht, gibt es keine Ausreden. Keine heißen Dates, keine Familiengeburtstage, rein gar nichts ist wichtiger als Ihre Verpflichtungen gegenüber KEY to America.«

»Ich finde das absolut okay, Mr. Nazareth«, meldete sich ein junger Mann mit einem weichen, gedehnten Akzent zu Wort. »Genauso hab ich es mir vorgestellt, und das ist auch der Grund, warum mich diese Arbeit so reizt. Die Spannung, das Unberechenbare daran.«

Nazareth betrachtete den schlaksigen Knaben, der an der Wand lehnte, und versuchte, ihn einzuschätzen. Meinte er seinen süßlichen Enthusiasmus etwa ernst?

»Na ja, am Anfang sagt das wahrscheinlich jeder«, entgegnete er. »Wie war nochmal Ihr Name, junger Mann?«

»Ich bin Sam. Sam Watkins.«

»Und wo studieren Sie, Sam?«

»An der Northwestern.«

»Gute Uni. Aber Sie kommen nicht aus Chicago, oder?« Linus war der Akzent des jungen Mannes nicht entgangen.

»Nein. Ich bin aus Oklahoma. Hollis, Oklahoma, Sir.«

»Ganz schön weit weg von zu Hause, was?« Linus staunte immer wieder, wie bereitwillig die jungen Leute aus allen Ecken des Landes angereist kamen, um hier einen Sommerjob zu machen, für den sie kein Geld und nicht einmal Kost oder Logis bekamen. Er hatte läuten hören, dass dieses Jahr sogar jemand aus England da war.

Sam nickte. »Ja, Sir.«

Wenn es für Linus auch nur im Geringsten von Interesse gewesen wäre, hätte er den Knaben gefragt, wo er während des Praktikums in Manhattan wohnte. Normalerweise campierten die Praktikanten bei Freunden oder Bekannten, in einer Stadtwohnung oder draußen in den Suburbs, auf der Couch oder im Gästezimmer. Bisweilen kamen auch welche in den einigermaßen erschwinglichen Studentenbuden unter, die von den New Yorker Universitäten auf dem Campus zur Verfügung gestellt wurden. Aber solche persönlichen Kleinigkeiten waren Linus egal.

»Nun, Sam, wie gesagt – am Anfang sind die meisten jungen Journalisten ganz wild darauf, alles stehen und liegen zu lassen, wenn eine Story auftaucht, aber irgendwann wird es nervig, und zwar meistens schneller als man denkt.« Linus sah sich im Raum um. »Ich will euch hier nichts vormachen. Es ist besser, ihr wisst von Anfang an Bescheid, was für ein Leben euch erwartet, wenn ihr euch dafür entscheidet, so zu leben.«

Während sie weiter den Ergüssen des Ausführenden Produzenten lauschte, spürte Grace, wie ihr Magen rebellierte. Genau das waren ja die Dinge, über die sie sich Sorgen machte, wenn sie nachts wach lag. Für Grace war die Vorstellung, jemals den Geburtstag ihrer Tochter verpassen zu müssen, fast unerträglich. Sicher, Lucy wurde älter, aber sie brauchte ihre Mutter immer noch sehr – ihre Anwesenheit bei Schulaufführungen, Elternabenden, Arztterminen und in unendlich vielen anderen Situationen, in die man unweigerlich geriet, wenn man ein Kind hatte. Und wenn Lucy erst mal in die Pubertät kam, dann war das elterliche Engagement fast noch wichtiger, vor allem, wenn sowieso schon ein Elternteil das Kind im Stich gelassen hatte. Aber andere Frauen schafften das doch auch, oder etwa nicht? Gleichzeitig eine gute Mutter zu sein und den Lebensunterhalt für sich und ihr Kind zu verdienen. Also gab es einen Weg. Es musste einen geben. So lange man die nötige Unterstützung hatte, ließ sich das alles bewältigen.

Bitte, lieber Gott, mach, dass Dad gesund bleibt, betete sie im Stillen. Ohne die Hilfe ihres Vaters hätte Grace nicht gewusst, was sie tun sollte.

Kapitel 4

Eine halbe Stunde vor Feierabend war Grace mit der Internetrecherche fertig. Sie hatte mehrere hervorragende Artikel über die alte Kunst des Scrimshaw und über das Tätowieren gefunden. Es gab sogar einen gemeinsamen roten Faden: Für beides brauchte man eine ruhige Hand: Beim Scrimshaw ritzte man ein feines Muster in Elfenbein, Muscheln oder Ähnliches, beim Tätowieren in die menschliche Haut.

Grace druckte die entsprechenden Seiten aus, und damit sie in dem provisorischen Nachrichtenraum, der im Bellevue Ballroom des Hotel Viking in Newport eingerichtet worden war, nicht verloren gingen, machte sie einen Vermerk darauf, dass sie für B.J. D’Elia bestimmt waren. Dann legte sie alles sendebereit ins Faxgerät. Zehn Minuten später kam knisternd eine Stimme aus der Sprechanlage: »Grace Callahan, bitte Leitung zwei.«

Die einzigen Anrufe, die Grace in den letzten Wochen bei KEY News bekommen hatte, waren von Lucy gewesen und hatten jedes Mal in ihr den Wunsch geweckt, an zwei Orten gleichzeitig zu sein – den Sommer mit Lucy zu verbringen und trotzdem das Praktikum in New York zu machen.

»Ich bin gerade dabei zu gehen, Schätzchen«, sagte sie, als sie den Hörer abhob. »Ich müsste kurz nach sechs zu Hause sein, wenn die Züge mitspielen.«

Das männliche Lachen am anderen Ende erschreckte sie. »Okay, Schätzchen, bis dann!«

»Oh, tut mir Leid. Ich dachte, es wäre meine Tochter«, stammelte Grace. »Wer ist denn dran, bitte?«

»Ich bin es, B.J. Ich hab das Material bekommen, das Sie gerade gefaxt haben. Genau das, was wir brauchen. Danke, Grace.«

»Ah, dann sind Sie also schon dort.«

»Ja. War überhaupt kein Problem. Ich hab den Metroliner bis direkt nach Kingston genommen und dann ein Taxi vom Bahnhof zum Hotel. Es ist sehr nett hier, es wird Ihnen bestimmt gefallen.«

»Ich freue mich schon«, erwiderte Grace wahrheitsgemäß. Seit Frank sie vor vier Jahren einmal mit auf eine Geschäftsreise nach Boston genommen hatte, war sie nicht mehr ohne Lucy weggefahren – und die drei Tage damals waren nicht gerade ein reines Vergnügen gewesen.

»Grace, ich weiß, Sie möchten gerne Schluss machen und heimfahren, aber ich wollte fragen, ob Sie eventuell noch etwas für mich recherchieren könnten.«

»Selbstverständlich. Legen Sie los«, antwortete sie und suchte in ihrem Gedächtnis bereits nach einer späteren Verbindung ab Penn Station.

»Wunderbar«, meinte B.J. und brachte ohne weitere Umstände sein Anliegen vor. »Die Lokalzeitung bringt als Aufmacher eine Geschichte über ein menschliches Skelett, das in einem alten Tunnel auf einem Grundstück namens Shepherd’s Point entdeckt worden ist, ganz hier in der Nähe. Es wird spekuliert, dass die Knochen möglicherweise von einer gewissen Charlotte Wagstaff-Sloane stammen, einer wohlhabenden Dame der Gesellschaft, die vor vierzehn Jahren verschwunden ist. Bisher weiß noch niemand etwas Genaueres. Der Tunnel war Teil der Underground Railroad, und Gott allein weiß, wer ihn alles schon für seine eigenen Zwecke benutzt hat. Auf jeden Fall gehe ich davon aus, dass sich für KTA etwas Interessantes daraus machen lässt – die rätselhafte Geschichte mit Mrs Sloane, dazu die alte Sklavensaga …«

»Hab schon angebissen!«, antwortete Grace. »Ich mach mich gleich dran, und bevor ich gehe, faxe ich Ihnen alles, was ich gefunden habe.«

»Super, Grace. Ich weiß das echt zu schätzen. Und ich sehe Sie dann morgen Nachmittag, richtig?«

»Jawoll. Ich werde da sein.«

Grace drückte auf den Knopf am Telefon, um die Verbindung zu unterbrechen, und wollte ihn gerade wieder loslassen, um ihren Vater anzurufen, als Jocelyn vor ihrem Schreibtisch stehen blieb. »Du musst doch bestimmt bald nach Hause, oder?«

Irgendwie wurde Grace das unbehagliche Gefühl nicht los, dass ihre Kollegin sie kontrollierte und sich ständig Gedanken darüber machte, wer von ihnen beiden engagierter wirkte. Aber auf dieses Spielchen hatte Grace ganz und gar keine Lust.

»Ich wollte gerade gehen, aber jetzt hat B.J. angerufen und mich gebeten, etwas für ihn zu recherchieren.«

»Ach ja? Was denn?«

Was soll’s? Ist ja kein Geheimnis. »Er braucht Hintergrundinformationen über eine alte Geschichte. In Newport ist angeblich vor Jahren eine Frau namens Charlotte Wagstaff-Sloane verschwunden. Jetzt hat jemand auf ihrem Anwesen menschliche Knochen gefunden und man denkt, es könnten ihre sein.«

»In Shepherd’s Point?« Das Gesicht der Praktikantin leuchtete auf. Anscheinend wusste sie, wovon die Rede war.

Grace nickte. »Kennst du das Anwesen?«

»Ja, ich kenne auch die Familie. Wenn ich in Newport bin, unternehme ich sogar manchmal etwas zusammen mit Madeleine, Charlottes Tochter. Sie ist nett, wenn auch ein bisschen seltsam – als wäre sie gar nicht richtig da, wenn du weißt, was ich meine. Wahrscheinlich war das Verschwinden ihrer Mutter ein furchtbares Trauma für sie.« Etwas abrupt wechselte sie das Thema und verabschiedete sich. »Tja, viel Glück bei deinen Recherchen, wir sehen uns dann da oben.«

Grace wandte sich wieder dem Telefon zu und tippte die vertraute Nummer ein. Nach dem dritten Klingeln meldete sich Walter Wiley. »Dad, ich bin’s«, sagte sie. »Alles klar so weit?«

»Prima, Schätzchen, kein Problem. Lucy ist oben in ihrem Zimmer und stöhnt darüber, was sie in den Sommerferien alles lesen soll.«

»Ich sag ihr ein paar Takte dazu, wenn ich heim komme, Dad. Lass dich bloß auf keine fruchtlosen Diskussionen mit ihr ein.«

Zwar war es ganz schön, wenn mal ein anderer das Meckern erledigte, aber sie wollte nicht, dass ihr Vater sich aufregte. Nach seiner Pensionierung – er hatte bei einer Telefongesellschaft gearbeitet – hatte er Prostatakrebs gehabt, der sich zum Glück als therapierbar erwies, und vor ein paar Monaten hatte man ihm einen Herzschrittmacher eingepflanzt. Obwohl er immer behauptete, er sei »fit wie ein Turnschuh«, wurde Grace den Verdacht nicht los, dass ihr Vater einfach nicht mehr so viel Energie hatte wie früher. Ihre Mutter war schon seit einigen Jahren tot, und der Gedanke, ihren Dad ebenfalls zu verlieren, war unerträglich.

»Ich komme ein bisschen später nach Hause, Dad. Ist das in Ordnung?«

»Na klar, Schätzchen. Ich hoffe doch, du gehst nach der Arbeit noch mit ein paar von deinen Kollegen aus.«

Grace lächelte vor sich hin. Walter ermunterte sie ständig, sich ein bisschen mehr unter die Leute zu mischen.

»Nein Dad, ich hab noch einen Auftrag, den ich erledigen muss. Aber ich weiß nicht genau, wie lange ich dafür brauche. Wahrscheinlich ein bis zwei Stunden.«

»Kein Problem, Schätzchen. Ich hab schon eine Pizza geholt. Uns kann also nichts passieren.«

Gerade wollte Grace auflegen, als ihr etwas einfiel. »Hey, Dad, ist heute der Scheck von Frank gekommen?« Die Unterhaltszahlung war schon wieder eine Woche überfällig.

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.

»Dad?«

»Nein, Grace, von Frank ist nichts gekommen. Dafür aber ein Brief von einer Anwaltskanzlei in Boston.«

Grace zuckte zusammen, ein unwillkürlicher Reflex nach den ganzen Anwaltsbriefen, die sie im Zuge der Scheidung bekommen hatte. Anfangs hatte sie bei jedem einzelnen fast durchgedreht. Am Ende war sie nur noch ärgerlich geworden. Soll ich warten, bis ich zu Hause bin?, überlegte sie. Nein, sieh der Sache lieber gleich ins Gesicht, beschloss sie dann.

»Bitte, Dad, mach ihn auf, ja?«

»Moment, Schätzchen.«

Sie lauschte, während Walter den Hörer auf der Küchenzeile ablegte, und stellte sich vor, wie er in die Diele hinausging und den Umschlag aus dem Stapel holte, der da auf dem kleinen Schreibtisch lag. Die Sekunden verstrichen. Es dauerte zu lange. Schließlich hörte sie, wie ihr Vater den Hörer wieder aufnahm.

»Grace?«

»Ja?«

»Keine guten Nachrichten, Schätzchen.« Seine Stimme klang gepresst.

»Wieso? Was steht denn in dem Brief?«

»Frank beantragt das alleinige Sorgerecht für Lucy. Er möchte, dass sie in Zukunft bei ihm und seiner neuen Frau in Massachusetts lebt.«

Grace versuchte zu verdauen, was ihr Vater da gerade gesagt hatte, aber sie wussten beide nicht, dass oben an der Treppe ein kleines Mädchen kauerte und das Gespräch ihres Großvaters belauschte.

Kapitel 5

Als Jocelyn durch die schwere Drehtür nach draußen trat, schlug ihr die schwüle Luft ins Gesicht, ein scharfer Kontrast zu den fast eisig klimatisierten Räumen im Broadcast Center. Vom heißen Gehweg aus entdeckte sie den Chauffeur ihrer Eltern in der dunkelgrünen Mercedes-Limousine, die auf der anderen Seite der Fifty-seventh Street parkte. Nicht ganz verkehrsgerecht überquerte sie die belebte Straße und stieg in den Wagen, ohne darauf zu warten, dass der Chauffeur die Tür für sie aufmachte.

»Okay, Carl. Fahren wir.«

Als sie sich in den Ledersitz sinken ließ, bemerkte Jocelyn den Weidenkorb auf dem Boden. Gut. Rosa hatte also tatsächlich etwas zu essen für die Reise eingepackt. Joss beugte sich hinunter und klappte den Deckel des Korbs auf. Hühnersalat mit Rosinen und Walnüssen, ein Behälter mit frischer Melone und Trauben, ihre liebsten Haferkekse, ein paar Flaschen Aquafina. Perfekt. Sie brauchten also nicht anzuhalten.

Aber als die Limousine nach Norden auf den West Side Highway einbog, stöhnte Joss auf. Der Nachmittagsverkehr war bereits so dicht und zähflüssig, dass die Autos sich nur noch zentimeterweise aus Manhattan heraus ins Wochenende bewegten. Die Fahrt nach Rhode Island, die für gewöhnlich dreieinhalb Stunden dauerte, würde heute garantiert länger ausfallen.

Vorhin im Aufzug war ihr eine Idee gekommen. Wenn sie heute Abend in Newport ankam, würde sie persönlich mit Tommy sprechen, sie wusste ja, dass sie gute Chancen hatte, ihn mit den anderen Jungs in der Bar bei Salas’ anzutreffen. Immer wenn sie gelangweilt war oder einfach nur sichergehen wollte, dass er immer noch verfügbar war, wenn sie ihn wollte, schaute Joss dort vorbei, um mit ihrem Exfreund zu flirten und ihn wieder ein bisschen mehr an sich zu binden. Tommy war so berechenbar, immer erpicht darauf, ihr zu gefallen. Er wollte sie unbedingt zurückhaben und konnte einfach nicht akzeptieren, dass ihre Beziehung für Joss nur eine Sommeraffäre gewesen war. Tommy war groß, sah unheimlich gut aus und war der jahrgangsbeste Schütze in der Polizeiausbildung. Aber für Jocelyn Vickers kam es überhaupt nicht in Frage, sich in Newport niederzulassen und einen Cop zu heiraten – das war nicht das Leben, das sie sich vorstellte. Schon allein der Gedanke daran machte ihr eine Gänsehaut.

Trotzdem – als angehender Polizist konnte Tommy ihr helfen, ihre wahren Ziele zu verwirklichen. Wenn Tommy ihr ein paar Insiderinformationen über das Skelett lieferte, das man auf dem alten Wagstaff-Anwesen gefunden hatte, konnte Joss sich bei den maßgeblichen Leuten von KEY News einschmeicheln und ihre Chancen auf einen festen Job vergrößern.

Es gab keine Zeit zu verlieren. Wenn sie Tommy dazu überreden konnte, die Informationen sofort zu beschaffen, lag heute Abend, wenn sie ihn traf, hoffentlich schon alles für sie bereit. Sie kramte in ihrer Kate-Spade-Tasche nach ihrem Handy und tippte die Vorwahl von Newport ein.

Kapitel 6

Als Grace endlich nach Hause kam, war ihr Vater auf dem Wohnzimmersofa eingeschlafen. Sie holte sich schnell ein Stück kalte Pizza aus dem Karton in der Küche und schlenderte damit ins Fernsehzimmer, wo sie Lucy vor der Mattscheibe fand. Ihre Tochter war besessen von Law and Order. Da eigentlich immer auf irgendeinem Sender eine Wiederholung der Serie lief, saß Lucy viel zu oft vor der Glotze.

»Warum vergeudest du deine Zeit mit so was, Lucy?« Grace küsste ihre Tochter auf den Kopf. »Ich mag es nicht, wenn du dir das ansiehst. Das ist viel zu reißerisch.«

»Nein, das ist toll, Mom. Und ich muss wissen, wer es war«, erwiderte Lucy, ohne ihre großen braunen Augen auch nur einen Moment vom Bildschirm abzuwenden.

»Aber du weißt doch bestimmt schon, wer es war. Es ist eine Wiederholung.«

»Ja, stimmt, aber es ist trotzdem gut.«

Grace setzte sich auf das Zweiersofa, mampfte ihre Pizza und starrte auf den Fernseher, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Sie musste Frank anrufen, und davor graute ihr.

»Hast du für morgen alles fertig, Schätzchen?«

»Klar, Mom.«

»Alles zusammengepackt?«

»Nein, noch nicht. Das mach ich nach der Sendung.«

Grace hatte keine Lust zu meckern. Nicht jetzt, wo sie ihre Tochter die ganze nächste Woche nicht sehen würde. Lucy würde bei Frank und dieser hübschen neuen Stiefmutter sein, mit der man sich so wundervoll amüsieren konnte, weil sie nie etwas zu tun hatte – abgesehen davon, sich die Nägel maniküren zu lassen, einzukaufen und jeder Laune von Lucy nachzugeben.

»Na gut, Lucy«, sagte Grace und stand auf. »Ich geh nach oben und erledige solange noch ein paar Dinge.«

Oben zog sie die Tür ihres Zimmers hinter sich zu und ging zum Telefon auf dem Nachttisch. Als sie am anderen Ende die Stimme ihres Exmannes hörte, musste sie schlucken.

»Hi Frank. Ich bin’s, Grace.«

»Oh, hallo. Wie geht es dir?« Er klang immer so förmlich, so völlig frei von jeder emotionalen Beteiligung.

»Was glaubst du denn, wie es mir geht, Frank?« Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Ich hab heute den Brief von deinem Anwalt bekommen.«

»Aha. Und?«

»Warum tust du das, Frank?« Unwillkürlich hob Grace die Stimme. »Bitte, ich flehe dich an, zieh den Antrag zurück. Lucy braucht wirklich nicht noch mehr Unruhe in ihrem Leben.«

»Wegen Lucy hab ich den Antrag ja gestellt, Grace.« Seine Gelassenheit konnte einen wahnsinnig machen. »Es ist besser für Lucy, wenn sie bei uns wohnt.«

»Wieso? Wieso sollte das besser für sie sein, Frank? Erklär es mir«, verlangte Grace. »Lucy hat sich in der Schule hier in Warwick gut eingelebt. Endlich hat sie Freunde gefunden. Es wäre nicht fair, sie schon wieder rauszureißen. Sie hat weiß Gott genug durchgemacht.«

»Bald kommt Lucy in die Pubertät, Grace. Das ist eine schwierige Zeit. Pubertierende brauchen viel Halt und gute elterliche Rollenvorbilder. Eltern, die für sie da sind. Die sich engagieren. Die mitkriegen, was bei ihrem Kind läuft.«