Verstummt - Karin Slaughter - E-Book

Verstummt E-Book

Karin Slaughter

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Beschreibung

Als der erfahrene Detective Michael Ormewood zu einem Tatort gerufen wird, sieht er sich mit dem brutalsten Fall seiner Karriere konfrontiert: Die Leiche einer jungen Frau, Aleesha Monroe, wurde grausam verstümmelt aufgefunden. Alles deutet auf das Werk eines krankhaften Serienmörders hin. Special Agent Will Trent ermittelt gemeinsam mit Ormewood, doch das Böse kommt ihnen näher, als ihnen lieb ist. Die Vergangenheit kann nicht länger begraben bleiben …

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Seitenzahl: 689

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Zum Buch:

Atlanta, Georgia: Ein Mörder begeht schreckliche Taten zwischen reichen Vorortsiedlungen und heruntergekommenen Innenstadtbezirken. Sein letztes Opfer, die junge Prostituierte Aleesha, wird furchtbar zugerichtet im Treppenhaus gefunden. Die Polizisten, die ihn jagen, müssen bald ebenfalls Grenzen überschreiten – so auch Michael Ormewood, ein Detective, dessen Überheblichkeit und hitziges Temperament ihn seine Karriere kosten könnten, sowie die Polizistin Angie Polaski, die verdeckt ermittelt und früher seine Geliebte war. Beide sind gezwungen, gemeinsam mit Will Trent zu ermitteln, doch nur wenige Stunden nach Auffinden der Leiche der jungen Frau überschlagen sich die Ereignisse. Es scheint, als wäre die einzige Rettung vor all dem Wahnsinn untrennbar mit Michael selbst verknüpft …

Zur Autorin:

Karin Slaughter ist eine der weltweit berühmtesten Autorinnen und Schöpferin von über 20 New York Times-Bestseller-Romanen. Dazu zählen »Cop Town«, der für den Edgar Allan Poe Award nominiert war, sowie die Thriller »Die gute Tochter« und »Pretty Girls«. Ihre Bücher erscheinen in 120 Ländern und haben sich über 40 Millionen Mal verkauft. Ihr internationaler Bestseller »Ein Teil von ihr« ist 2022 als Serie mit Toni Collette auf Platz 1 bei Netflix eingestiegen. Eine Adaption ihrer Bestseller-Serie um den Ermittler Will Trent läuft derzeit erfolgreich auf Disney+, weitere filmische Projekte werden entwickelt. Slaughter setzt sich als Gründerin der Non-Profit-Organisation »Save the Libraries« für den Erhalt und die Förderung von Bibliotheken ein. Die Autorin stammt aus Georgia und lebt in Atlanta. Mehr Informationen zur Autorin gibt es unter www.karinslaughter.com

Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel Triptych Bantam Dell, a division of Random House, Inc., New York.

© 2006 by Karin Slaughter

Ungekürzte Ausgabe im HarperCollins Taschenbuch

by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

© 2008 für die deutschsprachige Ausgabe by Blanvalet Verlag München, in der Verlagsgruppe Randomhouse GmbH

Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Klaus Berr liegen beim Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.

Published by arrangement with William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers, US

Covergestaltung von Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung von Magdalena Russocka / Trevillion Images

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749907991

www.harpercollins.de

WIDMUNG

Für Silvia

TEIL I

VERSTUMMT

Decatur City Observer, 17. Juni 1985

JUNGES MÄDCHEN AUS DECATUR ERMORDET

Gestern Morgen fanden die Eltern die fünfzehnjährige Mary Alice Finney tot in ihrem Haus in der Adams Street. Die Polizei veröffentlichte bisher noch keine Details zu dem Verbrechen. Zu erfahren war lediglich, dass dieser Fall als Mord betrachtet werde und alle, die zuletzt mit Finney gesehen wurden, befragt würden. Paul Finney, der Vater des Mädchens und einer der stellvertretenden Bezirksstaatsanwälte für das DeKalb County, sagte in einer gestern Abend veröffentlichten Stellungnahme, er vertraue vollstens darauf, dass die Polizei den Mörder seiner Tochter der Gerechtigkeit zuführen werde. Mary Alice, eine ausgezeichnete Schülerin der Decatur Highschool, war aktives Mitglied der Cheerleader-Truppe und wurde erst kürzlich zur Sprecherin ihres Jahrgangs gewählt. Informierte Quellen bestätigten, dass die Leiche des Mädchens verstümmelt wurde.

KAPITEL 1

5. Februar 2006

Detective Michael Ormewood hörte sich im Radio das Footballspiel an, während er die DeKalb Avenue hinunter zu den Grady Homes fuhr. Je näher er der Sozialsiedlung kam, desto angespannter wurde er, und als er nach rechts in das Viertel einbog, das die meisten Polizisten als Kriegsgebiet betrachteten, vibrierte sein Körper förmlich unter der Belastung. Während die Atlanta Housing Authority sich allmählich selbst auffraß, wurden solche subventionierten Projekte wie Grady zu einem Modell der Vergangenheit. Die innerstädtischen Grundstücke waren zu wertvoll, das Potenzial zum Absahnen zu hoch. Gleich anschließend lag Decatur mit seinen schicken Restaurants und sündteuren Wohnhäusern. Weniger als eine Meile in die andere Richtung erhob sich die vergoldete Kuppel des Kapitols von Georgia. Grady war so etwas wie ein Worst-Case-Szenario zwischen diesen beiden, eine lebendige Mahnung, dass die Stadt zu beschäftigt war, um zu hassen, aber auch zu beschäftigt, um sich um ihre Leute zu kümmern.

Da eben das Spiel lief, waren die Straßen ziemlich leer. Die Dealer und Zuhälter hatten sich den Abend freigenommen, um ein sehr seltenes Schauspiel mitzuerleben: Die Atlanta Falcons spielten im Superbowl. Da es Sonntagabend war, versuchten die Prostituierten, ihr Geld zu verdienen und den Kirchgängern etwas zu geben, das sie in der nächsten Woche beichten konnten. Einige der Mädchen winkten Michael zu, als er vorbeifuhr. Er erwiderte den Gruß und fragte sich, wie viele zivile Einsatzfahrzeuge hier anhielten, damit die Beamten, nachdem sie der Zentrale durchgegeben hatten, sie würden zehn Minuten Pause machen, ein Mädchen zu sich winken und sich einen blasen lassen konnten.

Gebäude neun befand sich im hinteren Teil der Siedlung, und die bröckelnden Ziegelmauern waren markiert mit dem Logo der Ratz, einer der neuen Gangs, die in die Homes eingezogen waren. Vier Streifenwagen und ein weiteres Zivilfahrzeug standen vor dem Gebäude. Auf den Bewohnerparkplätzen sah er einen schwarzen BMW und einen aufgemotzten Lincoln Navigator, dessen Zehntausend-Dollar-Sportfelgen im Licht der Straßenlaternen golden glänzten. Michael verkniff es sich, das Lenkrad herumzureißen und dem Siebzigtausend-Dollar-Geländewagen ein wenig an den Lack zu gehen. Dass diese Wichser so teure Autos fuhren, machte ihn stocksauer. Im letzten Monat war Michaels Sohn fast zehn Zentimeter in die Höhe geschossen, und alle seine Jeans waren ihm zu kurz, aber neue Klamotten mussten bis zu Michaels nächstem Gehaltsscheck verschoben werden. Tim sah aus, als würde er auf eine Springflut warten, während Daddys Steuerdollars die Miete dieser Ganoven subventionierten.

Anstatt sofort auszusteigen, blieb Michael kurz sitzen, hörte sich noch ein paar Sekunden des Spiels an und genoss einen Augenblick des Friedens, bevor seine Welt auf den Kopf gestellt würde. Er befand sich jetzt seit fast fünfzehn Jahren bei der Truppe, war direkt von der Armee zur Polizei gegangen und hatte zu spät gemerkt, dass es, abgesehen vom Haarschnitt, keinen großen Unterschied zwischen den beiden gab. Er wusste, sobald er ausstieg, würde alles in Gang kommen wie eine Uhr, die zu stark aufgezogen war. Die schlaflosen Nächte, die endlosen Spuren, die nie irgendwohin führten, die Chefs, die ihm im Nacken saßen. Die Medien würden wahrscheinlich auch Wind davon bekommen. Dann hätte er Kameras vorm Gesicht, kaum dass er das Revier verließ; die Leute würden ihn fragen, warum der Fall noch nicht gelöst sei, sein Sohn würde es in den Nachrichten sehen und von ihm wissen wollen, warum die Leute so wütend auf ihn waren.

Collier, ein junger Streifenpolizist mit Armen, die so muskelbepackt waren, dass er sie nicht gerade herunterhängen lassen konnte, klopfte an die Scheibe und bedeutete Michael, sie zu öffnen. Collier machte dabei mit seiner fleischigen Hand eine Kreisbewegung, auch wenn der Junge wahrscheinlich noch nie in einem Auto gesessen hatte, dessen Scheiben sich per Hand herunterkurbeln ließen.

Michael drückte auf den Knopf auf der Mittelkonsole und sagte: »Ja?«, während das Glas nach unten glitt.

»Wer gewinnt?«

»Nicht Atlanta«, teilte ihm Michael mit, und Collier nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. Atlantas letzte Teilnahme am Superbowl lag mehrere Jahre zurück. Denver hatte sie mit 34:19 überrannt.

Collier fragte: »Wie geht’s Ken?«

»Ken geht’s, wie’s Ken geht«, antwortete Michael, ohne näher auf den Gesundheitszustand seines Partners einzugehen.

»Könnten ihn bei dem da brauchen.« Der Streifenbeamte deutete mit dem Kopf in die Richtung des Gebäudes. »Ziemlich unappetitlich.«

Michael behielt seine Meinung für sich. Der Junge war Anfang zwanzig, wohnte wahrscheinlich bei seiner Mutter im Keller und glaubte, er sei schon ein Mann, nur weil er sich jeden Morgen eine Waffe umschnallte.

Michael hatte in der irakischen Wüste schon einige Colliers getroffen, als damals der erste Bush beschloss, dort einzumarschieren. Das waren alles eifrige Jungs mit diesem Funkeln in den Augen, an dem man erkannte, dass sie nicht nur wegen der drei Mahlzeiten und der kostenlosen Ausbildung zur Armee gegangen waren. Sie waren besessen von Pflicht und Ehre, dieser ganzen Scheiße, die sie im Fernsehen gesehen hatten und die ihnen von den Anwerbern eingetrichtert worden war, die sie dann aus der Highschool pflückten wie reife Kirschen. Man hatte ihnen eine technische Ausbildung und Einsätze nur in der Heimat versprochen, so ziemlich alles, was sie nur dazu brachte, auf der gepunkteten Linie zu unterschreiben. Die meisten von ihnen wurden schließlich mit der ersten Transportmaschine in die Wüste geschafft, wo man sie erschoss, noch bevor sie ihre Helme aufsetzen konnten.

Ted Greer kam eben aus dem Gebäude und zerrte an seinem Krawattenknoten, als bräuchte er mehr Luft. Der Lieutenant war für einen Schwarzen ziemlich bleich, da er die meiste Zeit unter Neonbeleuchtung an seinem Schreibtisch saß und auf seine Pensionierung wartete.

Er sah Michael noch im Auto sitzen und runzelte die Stirn. »Hast du heute Nacht Dienst, oder fährst du nur zum Vergnügen durch die Gegend?«

Michael ließ sich Zeit beim Aussteigen. Er zog den Schlüssel erst aus dem Zündschloss, als der Halbzeitkommentar anfing. Es war für Februar ein ziemlich warmer Abend, und die Klimaanlagen in den Fenstern der Hausbewohner summten wie Bienen um einen Bienenstock.

Greer fuhr Collier an: »Haben Sie nichts zu tun?«

Collier war so schlau, einen Abgang zu machen, und drückte dabei das Kinn an die Brust, als hätte er einen Schlag auf die Nase bekommen.

»Verdammte Sauerei«, sagte Greer zu Michael. Er zog sein Taschentuch heraus und wischte sich Schweiß von der Stirn. »Irgendein kranker Perverser hat sie sich geschnappt.«

Das wusste Michael schon von dem Anruf, der ihn von seiner Wohnzimmercouch geholt hatte. »Wo ist sie?«

»Im sechsten Stock.« Greer faltete das Taschentuch zu einem ordentlichen Quadrat zusammen und steckte es in die Tasche. »Den Notruf konnten wir zu dem Telefon da zurückverfolgen.« Er deutete auf die andere Straßenseite.

Michael starrte die Telefonzelle an, ein Relikt aus der Vergangenheit. Inzwischen hatte jeder ein Handy, vor allem Dealer und Zuhälter.

»Frauenstimme«, sagte Greer. »Das Band kriegen wir irgendwann morgen.«

»Wie lange hat es gedauert, bis jemand hier war?«

»Zweiunddreißig Minuten«, erwiderte Greer, und Michael überraschte nur, dass es so schnell gegangen war. Nach Recherchen eines lokalen Nachrichtenteams dauerte es durchschnittlich fünfundvierzig Minuten, bis auf einen Notruf aus Grady reagiert wurde. Krankenwagen brauchten sogar noch länger.

Greer drehte sich wieder dem Gebäude zu. »Bei dem Fall werden wir Hilfe anfordern müssen.«

Michael stellten sich bei diesem Vorschlag die Haare auf. Statistisch war Atlanta eine der amerikanischen Städte mit den meisten Gewaltverbrechen. Eine tote Nutte war kaum ein welterschütterndes Ereignis, vor allem, wenn man wusste, wo sie gefunden wurde.

So sagte er zu Greer: »Also ein Arschloch, das mir sagt, wie ich meine Arbeit tun soll, ist so ziemlich das Letzte, was ich brauche.«

»Dieses Arschloch hier denkt, dass du genau so was brauchst«, entgegnete der Lieutenant. Michael wusste, dass streiten nichts brachte – nicht weil Greer Insubordination nicht zuließ, sondern weil er Michael zustimmen würde, um ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen, sich dann aber umdrehen und genau das tun würde, was er sowieso wollte.

Greer fügte hinzu: »Der ist echt übel.«

»Übel sind sie alle«, erinnerte ihn Michael, öffnete die hintere Tür seines Autos und holte sein Sakko heraus.

»Das Mädchen hatte keine Chance«, fuhr Greer fort. »Geschlagen, geschnitten, in jedes Loch gefickt, das man sich nur vorstellen kann. Wir haben’s da mit einem echt kranken Wichser zu tun.«

Michael zog sein Sakko an und dachte, dass Greer klang, als wollte er sich für eine Krimiserie bei den Privatsendern bewerben. »Ken ist aus dem Krankenhaus raus. Meinte, man könnte mal vorbeikommen und ihn besuchen.«

Greer murmelte, dass er im Augenblick wahnsinnig viel am Hals habe, trottete dann zu seinem Auto und schaute sich um, als hätte er Angst, dass Michael ihm folgen würde. Michael wartete, bis sein Chef im Auto saß und vom Parkplatz fuhr, bevor er auf das Gebäude zuging.

Collier stand an der Tür, die Hand an der Waffe. Wahrscheinlich glaubte er, er würde Wache halten, aber Michael wusste, dass derjenige, der das Verbrechen begangen hatte, nicht für einen Nachschlag zurückkommen würde. Er war fertig mit der Frau. Von ihr wollte er nichts mehr.

Collier sagte: »Der Chef ist aber schnell verschwunden.«

»Danke für die Information.«

Michael atmete kurz durch, bevor er die Tür öffnete, und ließ sich dann von dem feuchten, dunklen Gebäude hineinziehen. Wer die Homes entworfen hatte, der hatte nicht an glückliche Kinder gedacht, die aus der Schule zu Milch und Keksen nach Hause kamen. Man hatte sich auf Sicherheit konzentriert, freie Flächen auf ein Minimum beschränkt und alle Beleuchtungskörper mit Stahldraht versehen, um die Glühbirnen zu schützen. Die Wände waren nackter Beton mit schmalen Fenstern in engen, kleinen Winkeln; die Drahtgitter in den Scheiben sahen aus wie gleichgeschaltete Spinnennetze. Graffiti bedeckte Oberflächen, die früher einmal weiß gestrichen waren: Bandenlogos, Warnungen und verschiedene Informationsfetzen. Links von den kaputten Briefkästen hatte jemand hingekritzelt: Kim ist eine Nutte! Kim ist eine Nutte!

Michael schaute das gewundene Treppenhaus empor und zählte die sechs Stockwerke, als eine Tür einen Spalt aufging. Er drehte sich um und sah eine uralte schwarze Frau, die ihn mit kaltem Blick anstarrte.

»Polizei«, sagte er und zückte seine Marke. »Keine Angst.«

Die Tür ging ein Stückchen weiter auf. Die Frau trug eine Schürze mit Blumenmuster über einem weißen T-Shirt und Jeans. »Hab doch keine Angst vor dir, du Scheißer.«

Hinter ihr drängten sich vier alte Frauen, alle bis auf eine Afroamerikanerinnen. Michael wusste, dass sie nicht hier waren, um zu helfen. Grady lebte, wie jede kleine Nachbarschaft, von Klatsch, und das waren die Münder, die für Nachschub sorgten.

Dennoch musste er fragen: »Hat jemand von Ihnen irgendwas gesehen?«

Sie schüttelten simultan die Köpfe, Wackeldackel auf Gradys Hutablage.

»Super«, sagte Michael und steckte seine Marke wieder ein. »Danke, dass Sie uns helfen, Ihr Viertel sicherer zu machen.«

Sie keifte: »Das ist dein Job, du Vollidiot.«

Einen Fuß bereits auf der ersten Stufe, blieb er stehen, drehte sich zu ihr um und schaute ihr direkt in die Augen. Sie erwiderte den Blick, und ihre wässrigen Augen wanderten hin und her, als würde sie das Buch seines Lebens lesen. Die Frau war jünger als die anderen, vermutlich Anfang siebzig, aber irgendwie grauer und kleiner als ihre Freundinnen. Fältchen kräuselten sich wie Spinnweben um ihre Lippen, Spuren jahrzehntelangen Ziehens an Zigaretten. Ein breiter, grauer Streifen teilte oben auf der Schädelkrone ihre Haare, grau wie die Stoppeln, die wie Dreadlocks aus ihrem Kinn wucherten. Sie trug den grellsten orangefarbenen Lippenstift, den er je an einer Frau gesehen hatte.

»Wie heißen Sie?«, fragte er.

Sie hob verächtlich das Kinn, antwortete aber trotzdem: »Nora.«

»Jemand hat von der Telefonzelle da draußen einen Notruf getätigt.«

»Hoffentlich hat derjenige sich danach die Hände gewaschen.«

Michael gestattete sich ein Lächeln. »Haben Sie sie gekannt?«

»Alle ham wir sie gekannt.« Ihr Ton verriet, dass es noch viel mehr zu sagen gäbe, sie aber nicht diejenige sei, die es einem vertrottelten, weißen Bullen erzählen würde. Es war ziemlich offensichtlich, dass Nora nicht unbedingt einen Collegeabschluss in der Tasche hatte, aber auf so etwas hatte Michael noch nie Wert gelegt. Er sah es an den Augen, dass die Frau es faustdick hinter den Ohren hatte. Straßenschläue. In einer Gegend wie Grady wurde man nicht so alt, wenn man blöd war.

Michael nahm den Fuß von der Stufe und ging auf die Frauen zu. »Hat sie gearbeitet?«

Nora schaute ihn noch immer argwöhnisch an. »Fast jede Nacht.«

»Sie war ein anständiges Mädchen«, bemerkte die weiße Frau hinter ihr.

Nora schnalzte mit der Zunge. »So ein junges kleines Ding.« Ihre Stimme klang fast vorwurfsvoll, als sie sagte: »Kein Leben für sie, aber was hätte sie denn tun sollen?«

Michael nickte, als würde er verstehen. »Hatte sie Stammkunden?«

Sie schüttelten alle den Kopf, und Nora antwortete: »Sie hat die Arbeit nie mit nach Haus gebracht.«

Michael wartete, ob sonst noch etwas kommen würde. Er zählte im Geist die Sekunden und dachte, zwanzig würde er ihnen geben. Ein Hubschrauber flog über das Gebäude, und ein paar Straßen entfernt quietschten Autoreifen, aber niemand achtete darauf. Es war ein Viertel, wo die Leute nervös wurden, wenn sie nicht wenigstens ein paarmal pro Woche Schüsse hörten. Ihr Leben hatte eine natürliche Ordnung, und Gewalt – oder deren Androhung – gehörte dazu wie Fast Food und Schnaps.

»Okay«, sagte Michael, als er bei fünfundzwanzig angelangt war. Er zog eine Visitenkarte heraus und gab sie Nora mit der Bemerkung: »Was zum Arschwischen.«

Sie schnaubte verächtlich und hielt die Karte zwischen Daumen und Zeigefinger. »Mein Arsch ist größer als die hier.«

Er zwinkerte anzüglich und ließ seine Stimme heiser klingen. »Glaub bloß nicht, dass ich das nicht bemerkt hätte, Darling.«

Sie lachte rau und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Die Karte hatte sie allerdings behalten. Er wertete dies als positives Zeichen.

Michael ging wieder zur Treppe und nahm die erste Etage zwei Stufen auf einmal. Alle Gebäude in Grady verfügten über Aufzüge, aber sogar die funktionierenden waren gefährlich. In seinem ersten Jahr als Streifenpolizist war Michael zu einer häuslichen Auseinandersetzung in die Homes gerufen worden und in einem dieser quietschenden Kästen mit einem kaputten Funkgerät stecken geblieben. Ungefähr zwei Stunden lang hatte er versucht, nicht noch zusätzlich zu dem überwältigenden Gestank nach Pisse und Kotze beizutragen, bis sein Sergeant bemerkte, dass er sich nicht gemeldet hatte, und ein Team schickte. Die alten Hasen hatten dann noch eine halbe Stunde über seine Dummheit gelacht, bevor sie ihn befreiten.

Willkommen bei den Brüdern.

Als Michael die zweite Etage in Angriff nahm, spürte er eine Veränderung in der Luft. Zuerst bemerkte er den Geruch: die übliche Mischung aus frittiertem Essen, Bier und Schweiß, jetzt allerdings durchsetzt von dem unverkennbaren Gestank eines gewaltsamen Todes.

In dem Gebäude hatten die Leute auf den Tod wie üblich reagiert. Anstatt des beständigen Wummerns von Rap aus unzähligen Lautsprechern hörte Michael jetzt nur das Murmeln von Stimmen hinter geschlossenen Türen. Fernseher waren leise gedreht, die Showeinlagen zur Halbzeit dienten als Hintergrundgeräusch, während die Leute über die junge Frau im sechsten Stock redeten und Gott dankten, dass es diesmal sie getroffen hatte und nicht ihre Töchter oder sie selbst.

In der relativen Stille drangen nun Geräusche das Treppenhaus herunter, die vertrauten Laute an einem Tatort, wenn Spuren gesichert und Fotos geschossen wurden. Auf dem Absatz der vierten Etage blieb Michael stehen, um Atem zu holen. Er hatte zwei Monate zuvor mit dem Rauchen aufgehört, aber seine Lunge wollte ihm das noch nicht so recht glauben. Er kam sich vor wie ein Asthmatiker, als er die nächste Etage hochstieg. Über ihm lachte jemand heiser auf, und er hörte, wie andere Polizisten mit einfielen, die übliche, aufgesetzt kaltblütige Heiterkeit, die es ihnen erst ermöglichte, ihre Arbeit zu tun.

Unten wurde eine Tür aufgerissen, Michael lehnte sich über das Geländer und erblickte zwei Frauen, die eine Trage ins Foyer bugsierten. Sie hatten dunkelblaue Regenjacken an mit der Aufschrift LEICHENSCHAUHAUS in leuchtend gelben Buchstaben.

Michael rief: »Hier oben.«

»Wie weit oben?«, fragte eine der beiden.

»Sechster Stock.«

»Verdammte Scheiße«, fluchte sie.

Michael packte den Handlauf des Geländers, zog sich die nächsten Stufen hoch und hörte, wie die beiden Frauen bei ihrem Aufstieg weitere Flüche ausstießen und die Trage gegen das Metallgeländer klapperte. Im vorletzten Stockwerk spürte er plötzlich, wie sich ihm die Haare im Nacken sträubten. Sein Hemd war schweißnass, aber so etwas wie ein sechster Sinn jagte ihm einen Schauer über den Rücken.

Ein Blitzlicht flammte auf, und eine Kamera surrte. Michael wich behutsam einem roten Stiletto aus, der flach auf dem Boden lag, als hätte sich jemand dort hingesetzt und ihn ausgezogen. Auf der Trittfläche der nächsten Stufe sah er den perfekten Umriss einer blutigen Hand. Auch die folgenden Stufen zeigten Handabdrücke; offensichtlich war hier jemand die Treppe hochgekrochen.

Am Absatz der fünften Etage stand Bill Burgess, ein erfahrener Streifenpolizist, der so ziemlich jede Art von Verbrechen kannte, die Atlanta zu bieten hatte. Neben ihm breitete sich eine dunkle Pfütze gerinnenden Blutes aus; die Ränder zerfaserten in dünne Rinnsale, die Stufe um Stufe hinuntertropften. Michael interpretierte die Szene. Hier war das Opfer bei seinem Fluchtversuch gestürzt, hatte sich wieder aufgerappelt und dabei Blut verschmiert.

Bill schaute die Treppe hinunter, weg von dem Blut. Sein Gesicht wirkte kreidebleich, die Lippen waren ein dünner, rosafarbener Schlitz. Michael blieb stehen und dachte, dass er Bill noch nie so bestürzt gesehen hatte. Das war der Mann, der sich Chicken Wings bestellte, nachdem er kurz zuvor sechs abgetrennte Finger im Müllcontainer hinter einem chinesischen Restaurant gefunden hatte.

Die beiden Männer sprachen nicht, während Michael vorsichtig um die Blutpfütze herumging. Mit der Hand am Geländer bog Michael nun auf die letzte Treppe ein und war froh, etwas zum Festhalten zu haben, als er schließlich die Szene vor sich sah.

Die Frau war nur teilweise bekleidet. Ihr enges rotes Kleid war vorne aufgeschnitten und klaffte wie ein Morgenmantel auseinander, sodass man ihre kakaofarbene Haut und einen Streifen zu einer dünnen Linie rasierter Schamhaare, der zu ihrer Ritze führte, erkennen konnte. Ihre Brüste wirkten unnatürlich hoch angesetzt, Implantate hielten sie in dieser perfekten Form. Ein Arm war seitlich ausgestreckt, der andere lag über ihrem Kopf, und die Finger griffen nach dem Geländer, als wäre ihr letzter Gedanke gewesen, sich hochzuziehen. Das rechte Bein war am Knie abgewinkelt und gespreizt, das linke schräg weggestreckt, sodass Michael ihre Spalte direkt vor sich hatte.

Michael schottete sich innerlich gegen die Geschäftigkeit um ihn herum ab, trat noch einen Schritt auf die Frau zu und versuchte sie zu sehen, wie der Mörder sie gesehen hatte. Ihr Make-up war verschmiert, dick aufgetragener Lippenstift und Rouge in dunklen Linien, um ihre Züge zu betonen. Ihre krausen schwarzen Haare waren orangefarben gesträhnt und standen in alle Richtungen ab. Ihr Körper war hübsch, oder zumindest hübscher, als man erwartet hätte nach den Einstichnarben an den Armen, die deutlich zeigten, was sie gewesen war: eine Frau, die sich das Geld für ihre Sucht in der Horizontalen verdiente. Die Quetschungen auf den Oberschenkeln konnten sowohl von ihrem Mörder stammen als auch von einem Kunden, der es gern grob mochte. Wenn Letzteres der Fall war, hatte sie es wahrscheinlich bereitwillig erduldet, weil sie wusste, dass sie für den Schmerz mehr Geld bekäme und mehr Geld auch mehr Lust bedeutete, wenn sie sich später die Nadel in den Arm stieß und die Wärme sich in ihren Adern ausbreitete.

Die Augen waren weit aufgerissen und starrten leer die Wand an. Eine ihrer falschen Wimpern hatte sich gelöst und klebte als dritter Wimpernbogen unter ihrem linken Auge. Die Nase war gebrochen, die eine Wange durch den zertrümmerten Knochen unter dem Auge verschoben. Licht spiegelte sich in etwas in ihrem Mund, das Michael, als er noch einen Schritt näher trat, als Blut erkannte, mit dem ihr Mund bis zum Rand gefüllt war. Die Deckenbeleuchtung glänzte in dem roten Tümpel wie ein Vollmond.

Pete Hanson, der diensthabende Leichenbeschauer, stand oben auf der Treppe und redete mit Leo Donnelly. Leo war ein Arschloch, das immer den harten Bullen spielte, über alles Witze riss und zu laut und zu lange lachte. Doch Michael hatte ihn mehr als einmal an der Bar gesehen, wo seine Hand kaum zur Ruhe kam, weil er einen Scotch nach dem anderen kippte, um sich den Geschmack des Todes aus dem Mund zu spülen.

Leo entdeckte Michael und grinste breit, als wären sie alte Kumpel, die hier zusammenkamen, um sich zu amüsieren. Er hielt einen verschlossenen Beweismittelbeutel aus transparentem Plastik in der Hand, den er ein ums andere Mal ein paar Zentimeter in die Höhe warf und wieder auffing, als wollte er gleich damit Baseball spielen.

»Was für eine Nacht, wenn man Bereitschaft hat«, sagte Leo.

Michael hielt sich mit einer Zustimmung zurück. »Was ist passiert?«

Leo spielte weiter mit dem Beutel und wog ihn in der Hand. »Doc meint, sie ist verblutet.«

»Vielleicht«, korrigierte ihn Pete. Michael wusste, dass der Arzt Leo genauso gern mochte wie jeder andere in der Truppe, was hieß, dass er den Mistkerl nicht ausstehen konnte. »Genaueres weiß ich erst, wenn ich sie auf dem Tisch habe.«

»Fang«, sagte Leo und warf Michael den Beutel zu.

Michael sah in Zeitlupe, wie der Beutel in torkelnder Bewegung auf ihn zuflog wie ein Football mit Schlagseite. Er fing ihn, bevor er zu Boden fiel, und seine Finger schlossen sich um etwas Dickes und offensichtlich Feuchtes.

Leo sagte: »Was für deine Katze.«

»Was zum …« Michael beendete den Satz nicht. Er wusste, was es war.

»Schaut euch sein Gesicht an.« Leos dröhnendes Lachen hallte von den Wänden wider.

Michael konnte nur den Beutel anstarren. Er schmeckte Blut im Rachen, die metallische Schärfe unerwarteter Angst. Die Stimme, die aus seinem Mund kam, klang nicht wie die seine – eher so, als wäre er unter Wasser, vielleicht am Ertrinken. »Was ist passiert?«

Leo lachte noch immer, deshalb antwortete Pete. »Er hat ihr die Zunge abgebissen.«

KAPITEL 2

6. Februar 2006

Nach seiner Rückkehr aus dem Golfkrieg quälten Michael Albträume. Sobald er die Augen schloss, kamen Kugeln auf ihn zugeschossen, Bomben rissen Arme und Beine ab, und Kinder rannten eine Straße entlang und schrien nach ihren Müttern. Michael wusste, wo ihre Mütter waren. Er hatte hilflos dabeigestanden, als die Frauen vor dem Feuer einer explodierten Granate zu fliehen versuchten und gegen die vernagelten Fenster des Schulhauses hämmerten, in dem sie bei lebendigem Leib verbrannten.

Jetzt quälte ihn Aleesha Monroe. Die zungenlose Frau aus dem Treppenhaus war ihm nach Hause gefolgt und hatte sich mit irgendeinem Trick in seine Träume geschlichen, sodass es jetzt Michael war, der sie die Treppe hochjagte, Michael, der sie auf den Absatz warf und ihr die Beine auseinanderriss. Er spürte, wie sich ihre langen, roten Nägel in seine Haut gruben, als sie versuchte, ihn abzuwehren, und ihn dabei würgte. Er bekam keine Luft mehr, griff sich an den Hals, packte ihre Hände, versuchte, sie wegzureißen. Dann wachte er so laut schreiend auf, dass Gina sich neben ihm im Bett aufsetzte und die Bettdecke an die Brust drückte, als hätte sie einen Verrückten in ihrem Schlafzimmer.

»Mein Gott, Michael«, zischte sie und drückte sich die Hand aufs Herz. »Du hast mir eine Heidenangst eingejagt.«

Er griff nach dem Glas Wasser neben dem Bett und verschüttete ein wenig davon auf seiner Brust, als er große Schlucke trank, um das Feuer in seiner Kehle zu löschen.

»Schatz«, sagte Gina und berührte mit den Fingerspitzen seinen Hals. »Was ist passiert?«

Michael spürte ein Brennen am Hals und legte seine Finger dorthin, wo eben die ihren gewesen waren. Er ertastete einen Riss in der Haut, und als er aufstand, um in den Spiegel über der Frisierkommode zu schauen, sah er, dass Blut in einem dünnen Rinnsal aus der frischen Wunde sickerte.

Sie fragte: »Hast du dich im Schlaf gekratzt?«

»Ich weiß es nicht.« Doch er wusste es. Noch immer verschlug ihm der Traum den Atem.

Gina hielt sich seine Hand an ihren Mund und rümpfte die Nase. Zuerst dachte er, sie wolle sie küssen, doch dann fragte sie: »Warum riechst du eigentlich wie Bleichmittel?«

Er hatte sich alles abschrubben müssen – den Gestank, die Klebrigkeit, die einem anhaftete, wenn man mit Toten umging. Doch das wollte Michael ihr nicht sagen, wollte ein solches Gespräch gar nicht erst beginnen, weshalb er einen Blick auf den Wecker warf und fragte: »Wie spät ist es?«

»Scheiße«, stöhnte sie und ließ seine Hand los. »Kann ich ja gleich aufstehen. Meine Schicht fängt in zwei Stunden an.«

Michael griff nach dem Wecker und schaute selber nach. Halb sieben. Nachdem der Tatort besichtigt, die Wohnung der Frau durchsucht und der Papierkram erledigt war, hatte er vielleicht vier Stunden Schlaf bekommen.

Die Dusche rauschte, die Rohre rumpelten in der Wand, als der Boiler ansprang. Michael ging ins Bad, beobachtete, wie Gina das T-Shirt auszog, in dem sie geschlafen hatte.

»Tim ist schon auf«, sagte sie, während sie den Slip auszog. »Du solltest mal nachsehen, damit er nichts anstellt.«

Michael lehnte an der Wand, bewunderte Ginas flachen Bauch und wie die Muskeln in ihren Armen sich spannten, als sie das Gummiband von den Haaren zog. »Bei ihm ist sicher alles in Ordnung.«

Gina bemerkte, dass er sie anstarrte. »Schau nach.«

Michael lächelte. Ihre Brüste waren noch so fest wie vor Tims Geburt, und bei ihrem Anblick wurde ihm ganz anders. »Melde dich krank«, sagte er.

»Klar doch.«

»Wir schauen uns einen Film an, machen es uns auf der Couch gemütlich.« Er hielt kurz inne, versuchte es dann weiter. »Weißt du noch, wie wir uns früher stundenlang einfach nur geküsst haben?« Mann, seit Monaten hatte er nicht mehr als einen Schmatz auf die Wange bekommen. »Wir könnten uns doch wieder mal so küssen. Sonst nichts. Nur küssen.«

»Michael«, sagte Gina und beugte sich in die Dusche, um die Wassertemperatur zu prüfen. Dann stieg sie in die Kabine. »Hör auf, mich anzuglotzen wie eine Hure, und schau nach deinem Sohn.«

Sie schloss die Kabinentür, und er blieb noch eine Minute stehen, betrachtete ihre Silhouette hinter dem Glas und fragte sich, wann es angefangen hatte schiefzulaufen zwischen ihnen.

Er hatte Gina kennengelernt, bevor seine Einheit in den Golf aufbrach. Keiner erwartete, dass ihm da drüben was passierte, aber Michael und seine Kameraden hatten es hochgespielt und wollten alles mitnehmen, was sie kriegen konnten, bevor sie in der Wüste abgesetzt wurden. Ellen McCallum war ein zierliche, gefärbte Blondine, nicht allzu intelligent – genau das Mädchen, an das man sich gern erinnerte, wenn man in irgendeinem dreckigen, sandverkrusteten Zelt eine Million Meilen von zu Hause entfernt feststeckte und den Jungs von einer Kleinen zu Hause erzählte, die das Leder von einer Couch saugen konnte.

Michael hatte fast eine ganze Woche versucht, in Ellens Slip zu kommen, als Gina, ihre Cousine, auftauchte. Sie hatte ihn ziemlich zur Schnecke gemacht, weil er mit ihrer kleinen Lieblingscousine herumgemacht hatte, aber als er ein paar Tage später das Land verließ, war es Gina, an die er dachte. Ihre lockigen, braunen Haare, ihr zartes Gesicht, die sanfte Wölbung ihres Arsches. Er begann, ihr zu schreiben, und zu seiner Überraschung antwortete sie ihm – anfangs richtig gemein, aber als sie sich dann ein wenig beruhigt hatte, wurde sie fast liebenswürdig. Er befand sich in Kuwait, angeblich, um den Frieden zu sichern, als irgendein vertrottelter Teenager mit einer Pistole herumspielte und ihm unbeabsichtigt ins Bein schoss. Der Junge war ein lausiger Schütze, aber die Wunde wollte nicht heilen. Als Michael für eine Operation auf den Stützpunkt nach Deutschland geschickt wurde, war es Gina, die er als Erste anrief.

Eine Woche nach seiner Entlassung heirateten sie, und zwei Wochen später unterschrieb er beim Atlanta Police Department. Gina machte ihren Abschluss an der Krankenpflegeschule am Georgia Baptist und bekam einen Job am Crawford Long Hospital. Zwei Jahre später wechselte sie ins Piedmont, wo man ihr mehr bezahlte. Michael erhielt seine goldene Marke und wechselte von seinem Streifenposten in Grady zur Sitte, was ihm ebenfalls einen Batzen mehr Geld einbrachte. Bald entwickelte sich ihr Leben besser, als Michael es je erwartet hätte. Sie kauften ein Haus knapp nördlich von Atlanta, sparten Geld für schlechte Zeiten und dachten daran, ein oder zwei Kinder zu haben, eine richtige Familie zu gründen. Dann kam Tim.

Er war ein stilles Baby, aber Michael sah ein Funkeln in seinen blauen Augen. Als er Tim das erste Mal in den Arm nahm, war es, als würde er sein eigenes Herz in Händen halten. Es war Barbara, Ginas Mom, die als Erste die Probleme erkannte. Er schreit nie. Er zeigt kein Interesse an seiner Umgebung. Er starrt stundenlang die Wände an. Michael wehrte sich mit Zähnen und Klauen dagegen, aber der Arzt bestätigte Barbaras Verdacht. Irgendwann im Verlauf von Ginas Schwangerschaft hatte Tim an Sauerstoffmangel gelitten. Er würde sich nie über das Niveau eines Sechsjährigen hinausentwickeln. Sie wussten nicht, wie oder warum, aber so war es eben.

Michael hatte Barbara nie gemocht, aber Tims Diagnose brachte ihn dazu, sie zu hassen. Es war ein Klischee, dass man seine Schwiegermutter nicht ausstehen konnte, aber sie hatte immer gedacht, ihre Tochter hätte etwas Besseres verdient, und betrachtete jetzt Tims Problem als Michaels Versagen. Außerdem war sie eine religiöse Spinnerin, die sehr schnell den Splitter im Auge des anderen sah, den Balken im eigenen jedoch kaum. Sie war nicht nur der Typ, der ein Glas immer als halb leer betrachtete – sie dachte, das Glas sei halb leer und wir alle müssten dafür büßen.

»Tim?«, rief Michael und streifte ein T-Shirt über, während er durchs Haus ging. »Wo bist du, Kumpel?«

Er hörte Kichern hinter der Couch, ging aber weiter zur Küche.

»Wo ist Tim denn hin?«, fragte er, als er sah, dass sein Sohn einen vollen Karton Cheerios auf dem Küchentisch verstreut hatte. Tims blaue Schale war bis zum Rand voll mit Milch, und eine Sekunde lang sah er Aleesha Monroes roten Mund, angefüllt mit ihrem eigenen Blut.

»Buh!«, kreischte Tim und umklammerte Michael an der Taille.

Michael erschrak, obwohl Tim es praktisch jeden Morgen so machte. Das Herz hämmerte in seiner Brust, als er seinen Sohn in die Arme nahm und hochhob. Der Junge war jetzt acht und viel zu schwer, um noch getragen zu werden, aber Michael konnte nicht anders. Er strich die abstehende Strähne auf Tims Kopf glatt. »Gut geschlafen, Kleiner?«

Tim nickte, wand sich in Michaels Armen und drückte gegen seine Schulter, damit er ihn wieder herunterließ.

»Dann wollen wir die Schweinerei mal aufräumen, bevor Ba-Ba kommt«, sagte er, schob ein paar Frühstücksflocken mit der Hand zusammen und schüttete sie wieder in den Karton. Unter der Woche kam Barbara vorbei, um auf Tim aufzupassen. Sie brachte ihn zur Schule, holte ihn wieder ab, kümmerte sich um sein Mittagessen und überwachte die Hausaufgaben. An den meisten Tagen verbrachte sie mehr Zeit mit ihm als Michael oder Gina, aber sie beide hatten keine andere Wahl.

»Ba-Ba wird diese Schweinerei bestimmt nicht gefallen«, sagte Michael.

»Nee«, stimmte Tim ihm zu. Er saß mit untergeschlagenen Beinen am Tisch. Der Schlitz in seiner Spiderman-Pyjamahose stand offen.

»Pack deine Ausrüstung ein, Kumpel«, ermahnte ihn Michael und kämpfte gegen die Traurigkeit an, die ihn überkam, als Tim an den Knöpfen herumfummelte.

Michael war ein Einzelkind gewesen, wahrscheinlich ein bisschen mehr als verzogen. Als Tim geboren wurde, hatte er von Babypflege keine Ahnung. Tim die Windeln zu wechseln war ihm unangenehm gewesen, und er versuchte, es so schnell wie möglich und mit minimalem Körperkontakt hinter sich zu bringen. Jetzt konnte Michael an nichts anderes denken als daran, dass Tim in wenigen Jahren in die Pubertät käme. Sein Körper würde wachsen und ihn zu einem Mann machen, aber sein Verstand würde nie mithalten können. Er würde nie wissen, wie es ist, eine Frau zu lieben, das, was Gott ihm gegeben hatte, zu benutzen, um einem anderen menschlichen Wesen Freude zu bereiten. Er würde nie eigene Kinder haben, nie erfahren, was für eine Freude und was für ein Herzschmerz es ist, Vater zu sein.

»Wer hat denn diese Schweinerei da angerichtet?«, fragte Gina. Sie trug den seidenen blauen Morgenmantel, den Michael ihr vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte; die Haare waren in ein Handtuch gewickelt. »Hast du das verbrochen?«, neckte sie Tim, nahm sein Kinn in die Hand und küsste ihn auf den Mund. »Ba-Ba wird das aber nicht gefallen«, sagte sie. Insgeheim freute es Michael, dass der Junge es nicht schaffte, sie Oma Barbara zu nennen, wie sie es wollte.

Tim wollte nun beim Aufräumen mithelfen, machte aber die Unordnung nur noch schlimmer. »Oh-oh«, sagte er, als er auf die Knie ging, jedes Cheerio einzeln aufhob und laut abzählte, während er sie seiner Mutter gab.

Gina fragte: »Kommst du heute Abend zu einer vernünftigen Zeit nach Hause?«

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich an einem Fall arbeite.«

»In einer Bar?«, fragte sie. Er drehte ihr den Rücken zu und holte zwei Tassen aus dem Schrank. In der Nacht zuvor war er viel zu aufgedreht gewesen, um direkt nach Hause zu fahren. Leo hatte vorgeschlagen, noch auf einen Drink zu gehen und über den Fall zu reden, und Michael hatte das Angebot als willkommene Ausrede angenommen, um ein paar Bourbons zu kippen und das zu verdauen, was er gesehen hatte.

»Elf …«, zählte Tim. »Zwölf …«

»Du stinkst wie ein Aschenbecher«, sagte Gina.

»Ich habe nicht geraucht.«

»Hab ich auch gar nicht gesagt.« Sie schüttete eine Handvoll Cheerios in den Karton und streckte die Hand nach weiteren aus.

»Vierzehn …«, fuhr Tim fort.

»Ich hab einfach noch ein bisschen Zeit gebraucht.« Michael goss Kaffee in die Tassen. »Leo wollte über den Fall reden.«

»Leo brauchte eine Ausrede, um sich zu besaufen.«

»Oh-oh«, piepste Tim.

»Sorry, Liebling«, entschuldigte Gina sich bei ihrem Sohn. Ihr Ton wurde sanfter. »Du hast eine Zahl ausgelassen. Was ist mit der Dreizehn passiert?«

Tim zuckte die Achseln. Im Augenblick konnte er erst bis achtundzwanzig zählen, aber Gina sorgte dafür, dass er dabei keine einzige Zahl ausließ.

»Zieh dich jetzt für Ba-Ba an. Sie wird gleich hier sein«, erklärte Gina Tim.

Tim stand auf und hüpfte, von einem Fuß auf den anderen tänzelnd, aus der Küche.

Gina schüttete die restlichen Cheerios in den Karton und setzte sich stöhnend an den Tisch. Sie hatte für dieses Wochenende eine Doppelschicht übernommen, damit ein bisschen mehr Geld ins Haus kam. Der Tag hatte noch gar nicht richtig angefangen, und sie sah bereits erschöpft aus.

»Viel zu tun gestern Abend?«, fragte er.

Sie trank einen Schluck Kaffee und schaute ihn über den aus der Tasse aufsteigenden Dampf an. »Ich brauche Geld für den neuen Therapeuten.«

Michael seufzte und lehnte sich an die Anrichte. Tims alter Sprachtherapeut hatte ihn so weit gebracht, wie er konnte. Der Junge benötigte jetzt einen Spezialisten, und gute Spezialisten wurden von der staatlichen Versicherung nicht bezahlt.

»Fünfhundert Dollar«, sagte Gina. »Das reicht dann bis zum Ende des Monats.«

»O Mann.« Michael spürte Kopfschmerzen heraufziehen und rieb sich mit den Fingern die Augen. Er dachte an den BMW und den Lincoln, die er letzte Nacht in Grady gesehen hatte. Für das Geld, was die beiden kosteten, könnte Tim zu fünfzig Spezialisten gehen.

»Nimm’s vom Ersparten«, meinte er.

Sie lachte spöttisch auf. »Von welchem Ersparten?«

Weihnachten. Sie hatten ihre Ersparnisse für Weihnachten geplündert.

»Ich melde mich für noch eine Schicht im Krankenhaus an.« Sie hob die Hand, um seinen Protest abzuwürgen. »Er braucht einfach das Beste.«

»Er braucht seine Mutter.«

»Was ist mit seiner Großmutter?«, keifte sie.

Michaels Gesicht wurde hart. »Ich werde meine Mutter um keinen einzigen Cent mehr bitten.«

Sie stellte die Tasse so heftig auf den Tisch, dass ihr Kaffee auf den Handrücken spritzte. Dieser Streit war unmöglich zu gewinnen – Michael wusste das, hatten sie ihn doch seit fünf Jahren praktisch jede Woche. Er machte bereits Überstunden, brachte zusätzliches Geld nach Hause, damit Tim auch alles bekam, was er brauchte. Gina übernahm zweimal pro Monat Wochenendschichten, aber dass sie auch noch an Feiertagen arbeitete, ließ Michael nicht zu. Er sah sie sowieso kaum noch. Manchmal hatte er das Gefühl, als wollte sie es so. Sie waren kein Ehepaar mehr, sondern eine Interessengemeinschaft, eine Non-Profit-Organisation, die für Tims Wohlergehen arbeitete. Michael konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann sie zum letzten Mal Sex gehabt hatten.

»Cynthia hat gestern Abend angerufen«, sagte Gina. Die verwöhnte Nachbarin. »Sie hat ’ne lockere Bodendiele oder sonst was.«

»Lockere Bodendiele?«, wiederholte er. »Wo ist Phil?«

Sie drückte die Handflächen auf die Tischplatte und stand auf. »Botswana. Mann, ich weiß es auch nicht, Michael. Sie hat nur gefragt, ob du das vielleicht reparieren könntest, und ich habe Ja gesagt.«

»Wolltest du dich vielleicht vorher mit mir absprechen?«

»Mach’s oder lass es«, blaffte sie und kippte den Rest ihres Kaffees ins Spülbecken. »Ich muss mich jetzt für die Arbeit anziehen.«

Er sah ihr nach, wie sie den Gang entlangging. Jeder Morgen lief so ab: Tim veranstaltete eine Schweinerei, sie räumten auf, und dann gab’s Streit über irgendwas Blödes. Und als Krönung des Ganzen würde gleich Barbara hier auftauchen und etwas finden, worüber sie sich beklagen konnte, ob es sich nun um ihren schmerzenden Rücken handelte, ihre magere Sozialhilfe oder die Tatsache, dass er ihr einen behinderten Enkel geschenkt hatte. In letzter Zeit hatte sie die Angewohnheit, Artikel über das Golfkriegssyndrom an die Kühlschranktür zu kleben, und natürlich wollte sie damit andeuten, dass Michael im Irak etwas Schreckliches getan haben musste, das jetzt dieses Leid über ihre Familie brachte.

Michael ging ins Schlafzimmer und zog sich schnell an. Das Duschen ließ er aus, damit er nicht noch einmal ins Bad gehen und sich mit Gina kabbeln musste. Er sah Barbaras Toyota in die Einfahrt biegen, holte deshalb den Hammer aus seiner Werkzeugkiste und schlich sich zur Hintertür hinaus, als sie vorn hereinkam.

Ein Teil des Maschendrahtzauns um den hinteren Garten war im letzten Eissturm von einem Baum niedergerissen worden, aber es war einfach kein Geld vorhanden gewesen, um ihn zu reparieren. Als er über die kaputte Stelle stieg, achtete er darauf, nicht mit dem Hosenbein an dem verbogenen Draht hängen zu bleiben und auf die Nase zu fallen. Nicht schon wieder.

Er klopfte an der Hintertür und schaute durchs Fenster, um festzustellen, ob Cynthia auch kam. Sie ließ sich ziemlich viel Zeit und tapste dann in einem kurzen Babydoll-Mäntelchen, das vorn auseinanderklaffte und das Hemdchen zeigte, das sie darunter trug, durch die Diele. Das Ganze war weiß und so gut wie durchsichtig. Michael fragte sich, wo Phil sich befand. Sollte Gina in einem solchen Aufzug Phil die Tür öffnen, würde er sie verdammt noch mal umbringen.

Cynthia sperrte langsam Schloss und Riegel auf und bückte sich dabei. Ihre langen Haare hingen ihr offen ins Gesicht. Das Hemdchen war so tief ausgeschnitten, dass er ihre Brustwarzen sehen konnte.

Er umklammerte den Hammer ein wenig fester und spürte ein elektrisches Sirren im Kopf. Eigentlich sollte er sofort kehrtmachen. Scheiße, irgendwann musste Phil doch wieder heimkommen, sollte er es doch machen.

Mit einem breiten Lächeln öffnete Cynthia ihm die Tür. »Wie geht’s, Nachbar?«

»Wo ist Phil?«

»Indianapolis«, antwortete sie und hielt sich die Hände vor den Mund, um ein Gähnen zu verstecken. »Verkauft den Massen Stützstrümpfe, damit er mir den Lebensstil bieten kann, an den ich mich gewöhnt habe.«

»Na gut.« Er schaute über ihre Schulter. Die Küche war ein Schweinestall. Im Spülbecken stapelten sich schmutzige Teller, überall lagen Pizzaschachteln herum, Aschenbecher quollen über von Zigaretten. Auf einem Glas mit einer orangefarbenen Flüssigkeit sah er Schimmel wuchern.

»Gina hat mir gesagt, du hast eine lockere Diele«, erklärte er.

Sie lächelte. »Die muss befestigt werden.«

Michael legte den Hammer weg. »Warum hast du sie angerufen?«

»Nachbarn helfen Nachbarn«, erwiderte sie, als wäre es so einfach. »Du hast Phil versprochen, dass du dich um mich kümmerst, wenn er weg ist.«

So hatte Phil das allerdings nicht gemeint.

Sie zog ihn am Hemdkragen ins Haus. »Du siehst so angespannt aus.«

»Ich kann so nicht weitermachen.«

»Was machst du denn?«, fragte sie und zog ihn näher an sich.

Er dachte an Gina, dass sie ihn nie mehr richtig anschaute und wie es sich anfühlte, wenn sie ihn wegstieß.

Sie schob ihm die Hand zwischen die Beine. »Fühlt sich aber an, als ob du kannst.«

Michael hielt den Atem an. Sein Blick wanderte über die Hügel ihrer kleinen Brüste zu den Warzen. Er spürte, wie seine Zunge zwischen den Lippen hervorglitt, konnte schon beinahe fühlen, wie es wäre, wenn er diese Warzen in den Mund nahm.

Sie zog den Reißverschluss seiner Hose auf und griff hinein. »Gefällt dir das?«, fragte sie und ließ den Daumen auf ihm kreisen.

»O Gott«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ja.«

Decatur City Observer, 19. Juni 1985

ZEUGEN IM FINNEY-MORD GESUCHT

Im Fall der ermordeten Mary Alice Finney bittet die Polizei eventuelle Zeugen, sich zu melden. Das Mädchen wurde am letzten Sonntag tot in ihrem Haus in Decatur aufgefunden. Polizeichef Harold Waller gab bei einer Pressekonferenz bekannt, dass Mary Alice früher an diesem Abend mit Freunden zur Lenox Square Mall ging. Die Fünfzehnjährige wurde zum letzten Mal gesehen, als sie mit einem Fremden eine Party verließ. Das DeKalb County Police Department bittet nun jeden, der das Mädchen entweder gesehen oder Informationen über den Fremden hat, sich zu melden. Die Familie verweigert jedes Interview, aber Paul Finney, stellvertretender Bezirksstaatsanwalt für das DeKalb County und der Vater des ermordeten Mädchens, bat in einer formellen Erklärung um strikte Beachtung der Privatsphäre. Gut unterrichtete Quellen geben an, Sally Finney, die Mutter des Mädchens, habe ihre Tochter gefunden, als sie sie für den Kirchgang wecken wollte.

KAPITEL 3

Michael fühlte sich beschissen. Verdammt, er war beschissen.

Das erste Mal mit Cynthia konnte man als Unfall bezeichnen. Michael wusste, dass das nur eine lahme Ausrede war. Es war ja nicht so, als würde man einfach stolpern, und als Nächstes stellt man fest, dass man in einer Muschi steckt, aber so in der Richtung dachte Michael wirklich. Phil hatte eines Abends aus Kalifornien angerufen und war verzweifelt, weil er Cynthia nicht erreichen konnte. Der Mann war ständig unterwegs. Er verkaufte Damenstrümpfe an die großen Warenhäuser und schob dabei wohl auch die eine oder andere Nummer. Michael hatte keine Beweise dafür, aber er hatte drei Jahre lang für die Sitte gearbeitet und kannte diese Art von Vertretern, die sich auf Reisen immer beim örtlich verfügbaren Frischfleisch bedienten. Die dauernden Anrufe bei Cynthia dienten eher zur Beruhigung seines schlechten Gewissens, waren Phils Versuche, sie zu kontrollieren, wenn er sich schon selber nicht kontrollieren konnte.

Gina hatte damals Nachtschicht gearbeitet und bereits angefangen, Michael die kalte Schulter zu zeigen, wenn er sich ihr zuwandte. Tims Probleme wurden immer offensichtlicher, und ihre Reaktion darauf war, dass sie sich in die Arbeit stürzte und Doppelschichten fuhr, weil sie es nicht ertragen konnte, nach Hause zu kommen und sich um ihren behinderten Sohn zu kümmern. Michael war krank vor Kummer, erschöpft, weil er sich nachts in den Schlaf weinte, und verdammt einsam.

Cynthia war verfügbar und mehr als bereit, ihn von seinen Sorgen abzulenken. Nach diesem ersten Mal hatte er sich gesagt, es werde nicht wieder vorkommen – und das tat es auch nicht, für mindestens ein Jahr. Michael hatte seine Arbeit und Tim, und das war alles, woran er dachte, bis zu diesem Tag im letzten Frühling, als Cynthia Gina erzählte, dass ihr Spülbecken undicht sei.

»Geh rüber und reparier es für sie«, hatte Gina zu Michael gesagt. »Phil ist nie da. Die arme Kleine hat keinen Menschen, der sich um sie kümmert.«

Michael war nicht verliebt in Cynthia und auch nicht so dumm zu glauben, dass sie für ihn solche Gefühle hegte. Im reifen Alter von vierzig hatte er gelernt, dass eine Frau, die einem bereitwillig einen blies, so oft sie einen sah, nicht verliebt war – sondern auf der Suche nach irgendetwas. Vielleicht liebte sie den Kick, Michael in Phils Bett zu bumsen. Vielleicht liebte sie es auch, Gina durchs Küchenfenster zu sehen und zu wissen, dass sie sich etwas nahm, das einer anderen Frau gehörte. Michael konnte es sich nicht leisten, lange über ihre Motive nachzugrübeln. Seine eigenen kannte er nur zu gut. In diesen fünfzehn oder zwanzig Minuten, die er nebenan verbrachte, war sein Hirn völlig leer, und er dachte weder an die Rechnungen der Spezialisten noch an die Raten für die Hypothek noch an den Anruf der Kreditkartengesellschaft, die anfragte, wann sie mal wieder etwas Geld erwarten könne. Michael dachte einfach nur an Cynthias perfekten kleinen Mund und seine eigene Lust.

Eines Tages würde sie allerdings etwas verlangen. Er war nicht so blöd, das zu vergessen.

»Yo, Mike!«, rief Leo und klopfte mit den Knöcheln auf Michaels Schreibtisch. »Wach auf.«

»Was ist los?«, fragte Michael und setzte sich auf. Das Revier war leer bis auf die beiden, und Greer hatte sich bei heruntergelassenen Jalousien in seinem Büro eingeschlossen.

Michael deutete zu der geschlossenen Tür. »Holt er sich da drin mal wieder einen runter?«

»Hat ’nen Kerl vom GBI bei sich, der aussieht wie Lurch aus der Addams Family.«

»Warum?«, fragte Michael, aber er wusste, warum. Gestern Abend hatte Greer gesagt, er werde sich bei diesem Fall Hilfe von außen holen, und das Georgia Bureau of Investigation war die nächste Sprosse auf der Hierarchieleiter.

»Er bespricht sich nicht mit mir«, sagte Leo, setzte sich auf Michaels Tischkante und brachte dabei Papiere durcheinander. Er tat das immer, egal, wie oft Michael es ihm verbot.

»Probleme mit der Alten gestern Nacht?«, erkundigte sich Leo.

»Nein«, log Michael und ließ den Blick durch den Bereitschaftssaal streifen. Er war deprimierend und dunkel, und durch die Fensterwand schaute man hinaus auf den schmutzigen Home-Depot-Baumarkt, der die Morgensonne aussperrte. Die City Hall East war ein ehemaliges Sears-Kaufhaus, ein zwölfstöckiges Gebäude am Anfang einer Kurve in der Ponce de Leon Road, das einen ganzen Block einnahm. Ein Eisenbahngleis trennte es von einer alten Ford-Fabrik, die in Luxuslofts umgewandelt worden war. Der Staat hatte das verlassene Sears-Gebäude vor Jahren gekauft und verschiedene Behörden darin untergebracht. Es gab mindestens dreißig verschiedene Dienststellen und über fünfhundert städtische Angestellte. Michael arbeitete seit zehn Jahren dort, aber abgesehen von dem stets überfüllten Parkplatz kannte er nur die drei Stockwerke, die das Atlanta Police Department benutzte, und die Leichenhalle.

»Yo«, wiederholte Leo und klopfte noch einmal auf den Schreibtisch.

Michael stieß sich mit dem Stuhl vom Tisch ab, um ein Stück von Leo wegzukommen. Denn Leo, der Kette rauchte und regelmäßig Schlucke aus der Flasche in seinem Spind nahm, hatte einen Atem wie ein Hundefurz.

»Träumst du von irgendeiner Muschi?«

»Halt’s Maul«, blaffte Michael, weil Leo seiner Meinung nach zu sehr ins Schwarze getroffen hatte.

»Ich hab mir überlegt, später mal Ken zu besuchen.« Leo zog eine Mandarine aus der Tasche und schälte sie. »Wie geht’s ihm?«

»Okay«, antwortete Michael, doch in Wahrheit hatte er mit Ken eine ganze Woche lang nicht gesprochen. Sie waren eine Weile Partner gewesen und befreundet, bis Ken sich eines Tages an den Arm gefasst hatte und zu Boden gegangen war. Er hatte Michael gerade von einer großartigen Frau erzählt, die er am Abend zuvor kennengelernt hatte, und im ersten Augenblick dachte Michael, dieses Umkippen sei eine Art Witz gewesen. Dann hatte Ken angefangen zu zucken. Sein Mund klappte auf, und er pinkelte auf dem Boden des Bereitschaftssaals in die Hose. Dreiundfünfzig Jahre und plötzlich ein Schlaganfall wie ein alter Mann. Die ganze rechte Seite seines Körpers war hinüber, Arm und Bein so nutzlos wie eine nasse Zeitung. Sein Mund war permanent verzerrt, sodass ihm Sabber aufs Kinn tropfte wie einem Baby.

Keiner von der Truppe wollte ihn sehen oder hören, wie er versuchte zu sprechen. Ken erinnerte sie daran, was die meisten von ihnen vielleicht erwartete. Zu viele Zigaretten, zu viel Alkohol, zwei oder drei in die Brüche gegangene Ehen, und alles endete damit, dass man seine einsamen alten Tage katatonisch vor der Flimmerkiste in irgendeinem beschissenen staatlichen Pflegeheim verbrachte.

Greers Tür ging auf, und ein schlaksiger Mann in einem dreiteiligen Anzug kam heraus. Er trug eine lederne Aktentasche, die in seiner riesigen Hand wie eine Briefmarke aussah. Michael begriff, warum Leo ihn Lurch genannt hatte. Er war groß, über eins neunzig, und dürr wie eine Bohnenstange. Auch seine Oberlippe sah komisch aus, als hätte man sie ihm aufgeschlitzt und schief wieder zusammengenäht. Leo hatte allerdings, wie üblich, die falsche Fernsehserie erwischt. Mit zwei Knubbeln links und rechts am Hals hätte der Kerl bei den Munsters mitspielen können.

»Ormewood«, sagte Greer und winkte ihn zu sich. »Das ist Special Agent Will Trent vom CAT.«

Leo entfaltete seinen üblichen Charme. »Was, zum Teufel, ist CAT?«

»Special Criminal Apprehension Team«, erklärte Greer. Eine Sondereinheit zur Verbrechensfrüherkennung und -bekämpfung.

Michael konnte beinahe spüren, wie Leo sich anstrengen musste, um nicht darauf hinzuweisen, dass die Abkürzung ja SCAT lauten müsse. Es gab nicht viel, was seinen Kollegen verstummen ließ, aber Trent stand sehr dicht bei Leo und überragte ihn um fast dreißig Zentimeter. Die Hände des staatlichen Ermittlers waren groß genug, um Leos Kopf zu umklammern und ihn zu zerdrücken wie eine Kokosnuss.

Leo war ein Idiot, aber blöd war er nicht.

Trent sagte: »Ich gehöre zu einer Sondereinheit des Georgia Bureau of Investigation, die gegründet wurde, um örtliche Strafverfolgungsbehörden bei der Identifikation und Verhaftung von Gewaltkriminellen zu unterstützen. Hier bin ich allerdings ausschließlich als Berater tätig.«

Er redete, als würde er aus einem Lehrbuch vorlesen, und sprach jedes Wort sehr sorgfältig aus. Mit seiner Sprache und seinem dreiteiligen Anzug hätte der Kerl auch ein Professor sein können.

»Michael Ormewood.« Michael ließ sich erweichen und streckte die Hand aus. Trent fasste sie, nicht zu fest, aber auch nicht schlaff, als würde er einen Fisch halten. »Das ist Leo Donnelly«, sagte nun Michael, da Leo damit beschäftigt war, sich eine halbe Mandarine in den Mund zu stopfen, sodass ihm der Saft über den Handrücken lief.

»Detective.« Trent nickte Leo flüchtig zu. Er schaute auf die Uhr und sagte dann zu Michael: »Die Autopsieergebnisse sind erst in einer Stunde fertig. Ich würde gern unsere Notizen vergleichen, wenn Sie mal kurz Zeit haben.«

Michael sah zu Greer und fragte sich, was sich in den letzten zwei Minuten in der Nahrungskette verändert hatte. Er bekam allmählich das Gefühl, dass man ihn ganz nach unten durchgeschoben hatte, und das gefiel ihm überhaupt nicht.

Greer drehte ihnen den Rücken zu und watschelte in sein Büro zurück. Bevor er die Tür schloss, rief er noch »Haltet mich auf dem Laufenden« über die Schulter.

Einen Augenblick musterte Michael Trent. Der Staatsbulle sah überhaupt nicht aus wie ein Polizist. Trotz seiner Größe besaß er keine wirkliche Präsenz. Mit einer Hand in der Hosentasche stand er da, völlig entspannt, beinahe lässig. Ihm fehlte das Auftreten eines Gangsterjägerprofis, eines Mannes, der es gewohnt war, jeden Abschaum dieser Welt hinter Schloss und Riegel zu bringen.

Michael starrte den Mann an und überlegte, was passieren würde, wenn er dem Arschloch einfach sagte, er solle Leine ziehen. Nach seinem Streit mit Gina heute Morgen und der Nummer mit Cynthia hatte er jetzt das Gefühl, jemandem eine faire Chance geben zu sollen. Er deutete mit der Hand zur Tür. »Besprechungszimmer ist da hinten.«

Trent lief den Gang entlang. Michael folgte ihm, betrachtete die Schultern des Mannes und fragte sich, wie der es ins GBI geschafft hatte. Normalerweise waren die Staatsbullen Adrenalinjunkies, ihre Körper so voll mit Testosteron, dass ihnen ständig der Schweiß auf der Stirn stand.

»Wie lange sind Sie schon dabei?«, fragte Michael.

»Zwölf Jahre.«

Michael schätzte, dass Trent mindestens zehn Jahre jünger war als er, aber das verriet ihm nicht, was er wissen wollte. »Ex-Soldat?«

»Nein«, antwortete Trent und öffnete die Tür zum Besprechungszimmer. In diesem Zimmer waren die Fenster tatsächlich sauber, und im Sonnenlicht entdeckte Michael nun eine zweite Narbe auf einer Seite von Trents Gesicht. Von rosa zu fast weiß verblassend, lief sie vom Ohr parallel zur Drosselvene am Hals entlang und verschwand dann in seinem Kragen.

Da hatte ihn jemand ziemlich tief aufgeschlitzt.

»Golfkrieg«, sagte Michael und klopfte sich auf die Brust, weil er glaubte, den Mann so vielleicht aus der Reserve zu locken. »Und Sie waren sicher nicht dabei?«

»Nein«, erwiderte Trent und setzte sich an den Tisch. Er öffnete seine Aktenmappe und zog einen Stapel kräftig bunter Aktendeckel heraus. Im Profil sah Michael jetzt, dass Trents Nase mindestens zweimal gebrochen war, und er fragte sich, ob der Mann vielleicht Boxer war. Doch dafür war sein Körper zu schlank, das Gesicht zu kantig. Was in seiner Vergangenheit auch passiert sein mochte, der Mann hatte etwas an sich, das Michael nervös machte.

Trent blätterte in den Akten und brachte sie in eine Art Ordnung, als er bemerkte, dass Michael noch immer stand. »Detective Ormewood, ich gehöre zu Ihrem Team«, sagte er.

»Tatsächlich?«

»Ich will mir hier keine Gloriole verdienen«, erklärte Trent, auch wenn Michaels Erfahrung nach das »G« in GBI genau das bedeutete. Die Jungs standen in dem Ruf daherzukommen, die halbe Arbeit zu machen und den ganzen Ruhm einzuheimsen.

Trent fuhr fort: »Ich will niemandem das Rampenlicht streitig machen oder in den Nachrichten zu sehen sein, wenn wir den bösen Buben fangen. Ich will Sie einfach nur bei Ihrer Arbeit unterstützen und dann wieder verschwinden.«

»Wie kommen Sie drauf, dass ich Unterstützung brauche?«

Trent blickte von seinen Akten hoch und musterte Michael kurz. Dann schlug er einen grell pinkfarbenen Aktendeckel auf, drückte ihn platt und schob ihn Michael zu. »Julie Cooper aus Tucker«, sagte er und nannte den Namen einer Stadt, die etwa zwanzig Meilen von Atlanta entfernt lag. »Fünfzehn Jahre. Sie wurde vor vier Monaten vergewaltigt und beinahe zu Tode geprügelt.«

Michael nickte und blätterte in der Akte, machte sich jedoch nicht die Mühe, die Details zu lesen. Dann kam er zum Foto des Opfers und hielt inne. Lange blonde Haare, dick aufgetragener Lidschatten, zu viel Lippenstift für ein Mädchen dieses Alters.

Trent schlug einen weiteren Aktendeckel auf, diesmal einen neongrünen. »Anna Linder, vierzehn, aus Snellville.«

Knapp nördlich von Tucker.

»Am dritten Dezember letzten Jahres wurde Linder entführt, als sie ihre Tante besuchen wollte, die nur ein paar Häuser von ihrem entfernt wohnt.« Trent gab Michael die Akte. »Vergewaltigt, verprügelt, die gleiche Vorgehensweise.«

Michael blätterte in der Akte, bis er das Foto gefunden hatte. Linders Haare waren dunkel, die Prellungen im Bereich ihrer Augen noch dunkler. Er nahm das Foto des Mädchens zur Hand und betrachtete es eingehend. Der Mund sah ziemlich übel zugerichtet aus, die Lippen waren aufgeplatzt, eine Blutspur lief zum Kinn. Sie hatte irgendein Glitzerzeug auf dem Gesicht, das im Blitzlicht der Kamera leuchtete.

»Man fand sie am nächsten Tag im Stone Mountain Park, wo sie sich in einem Graben versteckt hatte.«

»Okay«, sagte Michael, der auf die Verbindung zu ihrem Fall wartete.

»Beide Mädchen geben an, von einem Mann überfallen worden zu sein, der eine schwarze Skimaske trug.« Trent legte ihm nun einen orangefarbenen Aktendeckel vor, in dem das Foto mit einer Büroklammer an die oberste Seite geheftet war. »Dawn Simmons aus Buford.«

Michael musste zweimal hinschauen, denn das Mädchen konnte kaum älter als zehn Jahre sein. »Sie ist jünger als die anderen«, sagte er, angewidert von dem Gedanken, dass irgendein kranker Perverser dieses Kind angefasst hatte. Sie war nicht viel älter als Tim.

»Sie wurde vor sechs Monaten überfallen«, berichtete Trent. »Sie gibt an, dass ihr Angreifer eine schwarze Skimaske trug.«

Michael schüttelte den Kopf. Buford war eine Stunde entfernt, und das Mädchen war zu jung. »Zufall.«

»Das glaube ich auch«, entgegnete Trent. »Solche Kerle bewegen sich nicht außerhalb ihres Betätigungsfelds.«

Michael hatte sich an den Tisch gesetzt, ohne es zu merken. Er legte das Foto der Zehnjährigen auf den Tisch und schob es Trent wieder zu, weil er das Gefühl hatte, kotzen zu müssen, wenn er es noch länger ansah. O Gott, die armen Eltern. Wie konnte man so etwas nur durchstehen?

»Was soll das heißen? Betätigungsfeld?«, fragte Michael.

Trent verlegte sich wieder auf seine Professorenstimme. »Kindervergewaltiger sind auf eine spezielle Altersgruppe fixiert. Ein Mann, der sich von Zehnjährigen angezogen fühlt, betrachtet Fünfzehn- oder Sechzehnjährige meistens schon als zu alt. Dasselbe gilt für einen Mann, der sich für Teenager interessiert. Er ist wahrscheinlich ebenso angewidert wie Sie von dem Gedanken, dass jemand ein so junges Mädchen belästigt.«

Michaels Magen zog sich zusammen. Trent sprach so sachlich darüber, als würde er übers Wetter reden. Er musste ihn einfach fragen: »Haben Sie Kinder?«

»Nein«, gab Trent zu, ohne Michael die gleiche Frage zu stellen. Vielleicht wusste er die Antwort bereits, wahrscheinlich von Greer. Michael überlegte, was dieser Mistkerl über Tim gesagt hatte.

Trent fuhr fort: »Ich habe die Eltern in all diesen Fällen angerufen, um herauszufinden, ob wir mit den Mädchen reden und von ihnen jetzt, da seit den Überfällen schon einige Zeit vergangen ist, neue Informationen bekommen können. Meiner Erfahrung nach erinnern sich die Opfer solcher Verbrechen an mehr, wenn sie bereits eine gewisse Distanz zu den Überfällen haben.« Dann fügte er hinzu: »Kann sein, dass es Zeitverschwendung ist, kann aber auch sein, dass wir etwas erfahren, woran sie sich bei den ersten Befragungen nicht erinnern konnten.«

»Stimmt«, sagte Michael und bemühte sich, nicht verärgert zu klingen. Er hatte selber genügend Vergewaltigungen bearbeitet und brauchte keine Lektionen mehr.

»Ich glaube, der Täter ist ein gebildeter Mann«, erklärte Trent. »Wahrscheinlich Mitte bis Ende dreißig. Unglücklich mit seinem Job, unglücklich mit seiner persönlichen Situation.«

Michael hielt den Mund. Seiner Meinung nach waren Täterprofile völliger Blödsinn. Von der Sache mit der Bildung abgesehen, könnte Trent über so ziemlich alle Männer in der Truppe reden. Nähme man das Vögeln der Nachbarin als Charakterisierung mit dazu, hätte er eben Michael beschrieben.