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Wie kommt es, dass zwei, die füreinander bestimmt scheinen, sich verfehlen? Victoria und Johannes sind schon seit der Kindheit ineinander verliebt. Aber sie ist die Tochter des Grundbesitzers, er der Sohn des Müllers, und so stehen von Anfang an die Standesunterschiede zwischen ihnen. Johannes geht in die Stadt, studiert und wird Schriftsteller, Victoria dagegen muss einen anderen heiraten, einen mit Geld, denn ihr Vater hat finanzielle Sorgen … Eine bewegende Liebesgeschichte des großen norwegischen Autors und Nobelpreisträgers Knut Hamsun (1859–1952).
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Seitenzahl: 168
Knut Hamsun
Eine Sommererzählung
Reclam
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962277
2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
Coverabbildung: Otto Ubbelohde, Frau in Weiß, um 1900 – © akg-images
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2024
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-962277-4
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014475-6
www.reclam.de
Victoria
Anhang
Der Sohn des Müllers ging umher und dachte nach. Er war ein kräftiger Bursche von vierzehn Jahren, gebräunt von Sonne und Wind, voll verschiedenster Ideen.
Wenn er erwachsen war, wollte er Zündholzfabrikant werden. Wie famos gefährlich, wenn er dann so mit Schwefel an den Fingern einherging, dass niemand den Mut hatte, ihn zu begrüßen. Was für einen Respekt er unter den Kameraden wegen seines unheimlichen Handwerks genießen würde!
Er sah sich nach seinen Vögeln im Wald um. Er kannte sie ja alle, wusste, wo ihre Nester lagen, verstand ihre Schreie und antwortete mit verschiedenen Zurufen. Mehr als einmal hatte er ihnen Teigkugeln gebracht, die er aus dem Mehl in der Mühle seines Vaters geknetet hatte.
Alle diese Bäume am Waldpfad entlang waren seine guten Bekannten. Im Frühling hatte er den Saft aus ihren Stämmen gezapft, und im Winter war er wie ein kleiner Vater für sie gewesen, hatte sie von Schnee befreit und ihre Zweige aufgerichtet.
Und sogar oben in dem verlassenen Granitbruch war ihm kein Stein fremd, er hatte Buchstaben und Zeichen in sie hineingehauen und sie aufgestellt, sie wie eine Gemeinde um ihren Pfarrer geordnet. Die wunderlichsten Dinge der Welt gingen in diesem alten Granitbruch vor sich.
Er bog in einen Seitenweg ein und kam an den Teich hinab, die Mühle war im Gang, ein ungeheurer und schwerer Lärm umgab ihn. Er war daran gewöhnt, hier umherzugehen und laut mit sich selber zu reden; jede Schaumperle hatte gleichsam ein kleines Leben für sich, über das man reden konnte, und dort bei der Schleuse fiel das Wasser gerade herab und sah aus wie ein blankes Gewebe, das zum Trocknen hinausgehängt war. Im Teich unterhalb des Wasserfalls waren Fische; er hatte dort gar manches Mal mit seiner Angelrute gestanden.
Wenn er erwachsen war, wollte er Taucher werden, ja, das wollte er. Dann stieg er vom Deck eines Schiffs in das Wasser und kam in fremde Länder und Reiche hinab, wo große, wunderliche Wälder standen und sich hin und her wiegten und ein Schloss aus Korallen auf dem Grund lag. Und die Prinzessin winkt ihm aus einem Fenster zu und sagt: Komm herein!
Da hört er hinter sich seinen Namen; der Vater stand da und schrie ihm zu:
»Johannes! – Man hat aus dem Schloss nach dir geschickt. Du sollst die jungen Herrschaften zur Insel hinüberrudern.«
Er machte sich schleunigst auf den Weg. Eine neue und große Gnade war dem Sohn des Müllers geschehen.
Das Herrenhaus lag in der grünen Landschaft wie ein kleines Schloss, ja, wie ein unermesslicher Palast in der Einsamkeit. Das Haus war ein weißgestrichenes hölzernes Gebäude mit vielen Bogenfenstern in den Wänden und auf dem Dach, und von dem runden Turm herab wehte eine Flagge, wenn Gäste im Haus waren. Die Leute nannten es das Schloss. Vor dem Herrenhaus aber lag auf der einen Seite die schmale Meeresbucht, und auf der andern streckten sich große Wälder; in der Ferne sah man einige kleine Bauernhäuser.
Johannes ging zur Anlegebrücke und schiffte die jungen Herrschaften ein. Er kannte sie von früher, es waren die Kinder des Schlossherrn und ihre Kameraden aus der Stadt. Alle trugen sie hohe Stiefel zum Waten, Victoria aber, die nur Spangenschuhe trug und die auch erst zehn Jahre alt war, musste ans Ufer getragen werden, als sie an der Insel waren.
»Soll ich dich hinübertragen?«, fragte Johannes.
»Darf ich es tun?«, sagte der Stadtherr Otto, ein Mann im Konfirmationsalter, und nahm sie in seine Arme.
Johannes stand da und sah zu, wie sie hoch aufs Land hinaufgetragen wurde, und hörte sie danken. Dann rief Otto zurück:
»Ja, nun gibst du wohl acht aufs Boot – wie heißt er eigentlich?«
»Johannes«, antwortete Victoria. »Ja, er gibt acht auf das Boot.«
Er blieb zurück. Die andern gingen mit Körben in den Händen landeinwärts, um Eier zu suchen. Er stand eine Weile da und grübelte; er wäre gern mit den andern gegangen, und das Boot hätten sie sehr wohl auf das Ufer ziehen können. Zu schwer? Es war nicht zu schwer. Er umklammerte das Boot mit der Faust und zog es ein Stück hinauf.
Er hörte das Lachen und Schwatzen der jungen Gesellschaft, die sich entfernte. Nun ja – auf Wiedersehn. Aber sie hätten ihn recht gut mitnehmen können. Er kannte Nester, zu denen er sie hätte führen können, wunderliche, versteckte Höhlen im Berg, wo Raubvögel mit Borsten auf dem Schnabel wohnten. Einmal hatte er auch ein Wiesel gesehen.
Er schob das Boot ins Wasser und ruderte bis an die andere Seite der Insel herum. Er hatte eine ganze Strecke gerudert, als ihm zugerufen wurde:
»Rudere zurück. Du scheuchst die Vögel auf!«
»Ich wollte Ihnen nur zeigen, wo das Wiesel ist?«, entgegnete er in fragendem Ton. Er wartete eine Weile. »Und dann könnten wir die Wurmhöhle ausräuchern? Ich habe Streichhölzer bei mir.«
Er erhielt keine Antwort. Da wendete er das Boot um und ruderte zum Landungsplatz zurück. Hier zog er das Boot aufs Ufer.
Wenn er erwachsen war, wollte er eine Insel vom Sultan kaufen und allen Zutritt dazu verbieten. Ein Kanonenboot sollte seine Küsten beschützen. »Eure Herrlichkeit«, würden die Sklaven melden, »ein Boot liegt da draußen auf dem Riff, auf dem es gestrandet ist. Die jungen Leute darin kommen um.« – »Lasst sie umkommen!«, antwortete er.
»Eure Herrlichkeit, sie rufen um Hilfe, wir können sie noch retten, und es ist eine weißgekleidete Frau unter ihnen.«
»Rettet sie!«, kommandiert er mit Donnerstimme. So sieht er die Schlosskinder nach vielen Jahren wieder, und Victoria wirft sich ihm zu Füßen und dankt ihm für ihre Errettung. »Da ist nichts zu danken! ich tat nur meine Pflicht«, antwortet er. »Geht frei umher in meinen Landen, wo es Euch beliebt.« Und dann lässt er der Gesellschaft die Pforten des Schlosses öffnen und bewirtet sie auf goldenen Schüsseln, und dreihundert braune Sklavinnen singen und tanzen die ganze Nacht. Als aber die Schlosskinder wieder abreisen wollen, da ist es Victoria nicht möglich, sie wirft sich vor ihm in den Staub nieder und schluchzt, weil sie ihn liebt. »Lasst mich hierbleiben, stoßt mich nicht von Euch, Eure Herrlichkeit, macht mich zu einer Eurer Sklavinnen.«
Von Erregung durchschauert, schlendert er landeinwärts. Ja, er will die Schlosskinder erretten. Wer weiß, vielleicht haben sie sich jetzt auf der Insel verirrt? Vielleicht ist Victoria zwischen zwei Steinen hängen geblieben und kann nicht loskommen? Er aber braucht nur den Arm auszustrecken, um sie zu befreien.
Die Kinder aber sahen ihn ganz erstaunt an, als er kam. Hatte er das Boot verlassen?
»Ich mache dich für das Boot verantwortlich«, sagte Otto.
»Ich könnte Ihnen zeigen, wo Himbeeren wachsen?«, sagt Johannes in fragendem Ton.
In der kleinen Gesellschaft herrschte tiefe Stille. Victoria griff gleich zu.
»Ach! Wo denn?«, fragte sie.
Der Stadtherr aber bezwang sich bald und sagte:
»Damit können wir uns jetzt nicht befassen.«
Johannes fuhr fort:
»Ich weiß auch, wo Muscheln zu finden sind.«
Abermaliges Schweigen.
»Sind Perlen darin?«, fragte Otto.
»Denk nur, wenn welche darin wären!«, sagte Victoria.
Johannes antwortete: Nein, das wisse er nicht; aber die Muscheln lägen weit draußen auf dem weißen Sand; man müsse ein Boot haben, und man müsse danach tauchen.
Da wurde die Idee gänzlich verlacht, und Otto meinte:
»Ja, du siehst mir auch aus wie ein Taucher.«
Johannes fing an, schwer zu atmen.
»Wenn Sie wollten, könnte ich ja dort auf den Berg hinaufgehen und einen schweren Stein in die See hinabrollen«, sagte er.
»Wozu das?«
»Ach – zu nichts. Aber dann könnten Sie es ja ansehen.«
Aber auch dieser Vorschlag wurde nicht angenommen, und Johannes schwieg beschämt. Dann begann er, fern von den andern, an einem anderen Ende der Insel Eier zu suchen.
Als die ganze Gesellschaft wieder unten am Boot versammelt war, hatte Johannes mehr Eier als die andern. Er trug sie vorsichtig in seiner Mütze.
»Wie geht es zu, dass du so viele gefunden hast?«, fragte der Stadtherr.
»Ich weiß, wo die Nester sind«, antwortete Johannes glücklich. »Jetzt lege ich sie zu den deinen, Victoria.«
»Halt!«, schrie Otto. »Weshalb tust du das?« Alle sahen sie ihn an. Otto zeigte auf die Mütze und fragte:
»Wer steht mir dafür, dass die Mütze rein ist?«
Johannes sagte nichts. Sein Glück war schnell vorbei. Er begab sich mit den Eiern ins Innere der Insel zurück.
»Was hat er nur? Wohin geht er denn?«, fragt Otto ungeduldig.
»Wohin gehst du, Johannes?«, ruft Victoria und läuft ihm nach.
Er steht still und antwortet leise:
»Ich lege die Eier wieder in die Nester zurück.«
Sie standen eine Weile da und sahen sich an.
»Und dann gehe ich heute Nachmittag zum Steinbruch«, sagte er.
Sie erwiderte nichts.
»Dann könnte ich dir die Höhle zeigen.«
»Ja, aber ich habe solche Angst«, antwortete sie. »Du sagtest, sie sei so dunkel.«
Da lächelte Johannes trotz seiner großen Betrübnis und sagte mutig:
»Ja, aber ich bin ja bei dir!«
Er hatte sein ganzes Leben lang oben in dem alten Granitbruch gespielt. Die Leute hatten ihn dort oben arbeiten und reden hören, obwohl er allein war; zuweilen war er der Pfarrer gewesen und hatte Gottesdienst abgehalten.
Der Ort lag seit langer Zeit verlassen da, jetzt wuchs Moos auf den Steinen, und alle Spuren von Menschenhänden waren verwischt. Aber drinnen in der geheimnisvollen Höhle hatte der Sohn des Müllers Ordnung geschaffen und alles mit vielerlei Kunst ausgeschmückt, und dort wohnte er als Häuptling der tapfersten Räuberbande der Welt.
Er schellt mit einer silbernen Glocke. Ein kleines Männlein, ein Zwerg mit einer Diamantschnalle an der Mütze, hüpft herein. Das ist der Diener. Er verneigt sich bis in den Staub. »Wenn Prinzess Victoria kommt, so führe sie herein«, sagt Johannes mit lauter Stimme. Der Zwerg verneigt sich abermals bis in den Staub und verschwindet. Johannes streckt sich bequem auf dem weichen Diwan aus und überlegt. Dort will er sie bitten, Platz zu nehmen, und ihr köstliche Gerichte in silbernen und goldenen Gefäßen reichen; ein flammender Holzstoß sollte die Höhle erleuchten; hinter dem schweren Goldbrokat-Vorhang am Ende der Höhle sollte ihr Lager bereitet werden, und zwölf Ritter sollten Wache halten.
Johannes erhebt sich, kriecht aus der Höhle heraus und lauscht. Es raschelt in den Zweigen und in dem Laubwerk unten auf dem Fußpfad.
»Victoria!«, ruft er.
»Ja!«, ertönt die Antwort.
Er geht ihr entgegen.
»Ich habe eigentlich gar nicht den Mut«, sagt sie.
Er zuckt die Achseln und sagt:
»Ich bin eben drin gewesen. Ich komme gerade heraus.«
Sie gehen in die Höhle hinein. Er weist ihr einen Sitz auf einem Stein an und sagt:
»Auf dem Stein hat der Riese gesessen.«
»Hu!, rede nicht mehr davon, erzähl es mir nicht! Hattest du keine Angst?«
»Nein!«
»Ja, aber du sagtest doch, er hätte nur ein Auge, und wer das hat, ist ein böser Geist.«
Johannes besann sich.
»Er hatte zwei Augen, aber er war blind auf dem einen. Das sagte er selber.«
»Hat er noch weiter etwas gesagt? Nein, erzähl es mir nicht.«
»Er fragte, ob ich ihm dienen wolle.«
»Aber das wolltest du doch wohl nicht? Gott behüte dich davor!«
»Ja, ich habe nicht nein gesagt.«
»Bist du von Sinnen! Willst du in den Fels eingeschlossen werden?«
»Ja, ich weiß nicht. Auf der Welt ist es auch so schlecht.«
Pause.
»Seit diese Jungen aus der Stadt hier sind, gibst du dich nur mit denen ab«, sagt er.
Abermalige Pause.
Johannes fährt fort:
»Aber ich bin stärker, wo es darauf ankommt, dich zu tragen und aus dem Boot zu heben, als irgendeiner von ihnen. Ich bin überzeugt, ich könnte dich eine ganze Stunde halten. Sieh hier?«
Er nahm sie in die Arme und hob sie in die Höhe. Sie umschlang seinen Nacken.
»So, nun musst du mich nicht länger halten.«
Er setzte sie nieder. Sie sagte:
»Ja, aber Otto ist auch stark. Und er hat sich auch mit erwachsenen Leuten geprügelt.«
Johannes fragt zweifelnd:
»Mit erwachsenen Leuten?«
»Ja, das hat er wirklich getan. In der Stadt.«
Pause. Johannes denkt nach.
»Nun ja, dann ist die Sache aus«, sagt er. »Ich weiß, was ich tue.«
»Was willst du tun?«
»Ich verdinge mich bei dem Riesen.«
»Nein, bist du denn ganz von Sinnen, wie?«, schreit Victoria.
»Ach ja, mir ist es einerlei. Ich tue es.«
Victoria denkt über einen Ausweg nach.
»Ja, aber nun kommt er am Ende nicht wieder?«
Johannes antwortet:
»Er kommt!«
»Hierher?«, fragt Victoria schnell.
»Ja!«
Victoria erhebt sich und nähert sich dem Ausgang.
»Komm, lass uns lieber wieder gehen.«
»Das eilt nicht«, sagt Johannes, der selber bleich geworden ist, »denn vor heute Nacht kommt er nicht. In der Mitternachtsstunde.«
Victoria beruhigt sich und will ihren Sitz wieder einnehmen. Johannes aber wird es schwer, das Unbehagen zu überwinden, das er selber hervorgerufen hat, es wird ihm zu gefährlich in der Höhle, und er sagt:
»Wenn du durchaus wieder hinauswillst, so habe ich da draußen einen Stein mit deinem Namen, den kann ich dir zeigen.«
Sie kriechen aus der Höhle heraus und finden den Stein. Victoria ist stolz und glücklich darüber. Johannes ist gerührt, er könnte weinen und sagt:
»Wenn du den ansiehst, musst du zuweilen, wenn ich fort bin, an mich denken. Mir einen freundlichen Gedanken schenken.«
»Ja«, erwidert Victoria. »Aber du kommst doch wohl wieder?«
»Das mag Gott wissen. Nein, ich komme wohl nicht wieder.«
Sie treten ihren Heimweg an. Johannes ist dem Weinen nahe.
»So leb denn wohl«, sagt Victoria.
»Nein, ich kann dich noch eine kleine Strecke begleiten.« Dass sie ihm so herzlos Lebewohl sagen kann, je eher, je lieber, macht ihn übrigens bitter, lässt den Zorn in seinem verwundeten Gemüt aufbrausen. Er steht plötzlich still und sagt mit gerechter Empörung: »Aber das will ich dir doch sagen, Victoria, du bekommst keinen, der so gut gegen dich ist, wie ich es gewesen wäre. Das will ich dir nur sagen.«
»Ja, aber Otto ist auch gut«, wendet sie ein.
»Ja, meinetwegen nimm ihn!«
Sie gehen schweigend einige Schritte weiter.
»Ich werde es schon gut bekommen. Deswegen kannst du unbesorgt sein. Denn du weißt ja noch gar nicht, was für einen Lohn ich haben soll.«
»Nein. Was für einen Lohn sollst du denn haben?«
»Die Hälfte des Reiches. Das ist die eine Seite der Sache.«
»Ach, sollst du das wirklich haben!«
»Und dann bekomme ich die Prinzessin.«
Victoria stand still.
»Das ist doch wohl nicht wahr?«
»Ja, das hat er gesagt.«
Pause. Victoria sagt leise vor sich hin:
»Wie sie wohl aussehen mag?«
»Ach, darauf kannst du dich verlassen, sie ist schöner als irgendein Mensch auf der Welt. Und das wissen wir ja auch schon im Voraus.«
Victoria ist ganz geknickt.
»Willst du sie denn haben?«, fragt sie.
»Ja«, antwortet er, »es wird wohl so kommen.« Da aber Victoria wirklich bewegt ist, fügt er hinzu: »Aber es ist möglich, dass ich einmal wiederkomme. Dass ich einmal einen kleinen Ausflug auf die Erde mache.«
»Ja, aber dann bringe sie, bitte, nicht mit«, flehte sie. »Wozu willst du sie mitbringen?«
»Nein, ich kann auch allein kommen.«
»Willst du mir das versprechen?«
»Ach ja, das kann ich dir versprechen. Aber was machst du dir im Grunde daraus! Denn ich kann es ja gar nicht erwarten, dass du dir etwas daraus machst.«
»Das musst du nicht sagen, hörst du«, entgegnet Victoria. »Ich bin überzeugt, dass sie dich nicht so liebhaben wird wie ich.«
Eine süße Wonne durchbebt sein junges Herz. Sie hätte vor Freude und Scham über ihre Worte in die Erde sinken können. Er wagte sie nicht anzusehen, er wandte den Blick ab. Dann nahm er einen Zweig vom Feld auf, schälte die Rinde mit den Zähnen ab und schlug sich damit in die Hand. Schließlich fing er aus Verlegenheit an zu pfeifen.
»Ja, jetzt muss ich wohl nach Hause gehen«, sagt er.
»Dann lebe wohl«, entgegnet sie und reicht ihm die Hand.
Der Sohn des Müllers ging von zu Hause fort. Er blieb lange weg, er ging zur Schule und lernte so viel, wuchs, wurde groß und stark und bekam einen Flaum auf der Oberlippe. Es war so weit bis zur Stadt, die Reise hin und zurück war so teuer, der sparsame Müller ließ den Sohn viele Jahre lang Sommer und Winter in der Stadt. Er lernte die ganze Zeit.
Aber jetzt war ein erwachsener Mann aus ihm geworden, er war achtzehn, zwanzig Jahre alt.
Da stieg er an einem Nachmittag im Frühling vom Dampfer an Land. Auf dem Schloss war die Flagge für den Sohn gehisst, der ebenfalls mit demselben Schiff in die Ferien nach Hause kam; man hatte für ihn einen Wagen an die Anlegebrücke hinuntergeschickt. Johannes begrüßte den Schlossherrn, die Schlossherrin und Victoria. Wie groß und erwachsen Victoria geworden war! Sie erwiderte seinen Gruß nicht. Er nahm die Mütze noch einmal ab, und er hörte, wie sie ihren Bruder fragte:
»Du, Ditlef, wer ist das, der da grüßt?«
Der Bruder antwortete:
»Das ist Johannes. Müllers Johannes.«
Sie wandte ihm den Blick noch einmal zu, jetzt aber genierte er sich, noch einmal zu grüßen. Und dann fuhr der Wagen los.
Johannes ging nach Hause.
Du großer Gott, wie amüsant und klein die Stube war! Er konnte nicht aufrecht zur Tür hineinkommen. Die Eltern empfingen ihn mit einem Willkommenstrunk. Eine heftige Bewegung ergriff ihn, alles war so lieb, so rührend, der Vater und die Mutter empfingen ihn so ergraut, so gütig, sie reichten ihm nacheinander die Hand und hießen ihn daheim willkommen.
Noch am selben Abend ging er umher und sah sich alles an, war bei der Mühle, beim Steinbruch und besuchte den Fischplatz, mit Wehmut lauschte er den bekannten Vögeln, die bereits Nester in den Bäumen bauten, und machte einen Abstecher zum großen Ameisenhaufen im Wald. Die Ameisen waren fort, der Haufen ausgestorben. Er wühlte darin herum; es war kein Leben mehr dadrinnen. Während er umherschlenderte, bemerkte er, dass der Wald des Schlossherrn arg gelichtet war.
»Kannst du dich hier wieder zurechtfinden?«, fragte der Vater im Scherz. »Hast du deine alten Drosseln wiedergefunden?«
»Ich kenne nicht alles wieder. Der Wald ist vom Abholzen gelichtet.«
»Es ist der Wald des Schlossherrn«, antwortete der Vater. »Wir dürfen seine Bäume nicht zählen. Jeder kann Geld nötig haben, der Schlossherr hat viel Geld nötig.«
Tage kamen und gingen, milde, liebe Tage, wunderliche Stunden voll Einsamkeit, voll weicher Erinnerungen an die Kinderjahre, voll von einem Zurückrufen zum Himmel und zur Erde, zur Luft und zu den Bergen.
Er ging den Weg entlang, der zum Schloss führte. Er war am Morgen von einer Wespe gestochen worden, und seine Oberlippe war angeschwollen; wenn er jetzt jemand begegnete, wollte er grüßen und sofort weitergehen. Er traf niemand. Im Schlossgarten sah er eine Dame; als er näher herankam, grüßte er tief und ging vorüber. Es war die Schlossherrin. Er bekam noch Herzklopfen wie in alten Zeiten, wenn er am Schloss vorüberging. Die Ehrfurcht vor dem großen Haus, den vielen Fenstern, der strengen, feinen Persönlichkeit des Schlossherrn saß ihm noch im Blut.
Er schlug den Weg zur Anlegebrücke ein.
Da begegneten ihm plötzlich Ditlef und Victoria. Johannes wurde unangenehm berührt; sie glaubten vielleicht, dass er ihnen nachgegangen sei. Er hatte außerdem eine geschwollene Oberlippe. Er hemmte seine Schritte, unentschlossen, ob er weitergehen sollte. Er ging weiter. Noch aus weiter Entfernung grüßte er und behielt die Mütze in der Hand, während er vorüberging. Sie beantworteten beide stumm seinen Gruß und schritten langsam weiter. Victoria sah ihn gerade an; ihr Gesicht veränderte sich ein wenig.
Johannes setzte seinen Weg in Richtung Kai fort; eine Unruhe hatte ihn ergriffen, sein Gang wurde nervös. Nein, wie groß Victoria geworden war, ganz erwachsen, schöner denn je zuvor. Ihre Augenbrauen liefen fast über der Nase zusammen, sie waren wie zwei feine Samtlinien. Die Augen waren dunkler geworden, ganz dunkelblau.