Vielfalt der Prävention entdecken! - Yvonne Oeffling - E-Book

Vielfalt der Prävention entdecken! E-Book

Yvonne Oeffling

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Beschreibung

Kinddertagesstätten sollen heute einerseits sicherstellen, dass sie Kompetenzorte sind. Das bedeutet, dass Mitarbeitende Kindern kompetent helfen können, die von sexuellem Missbrauch betroffen sind. Andererseits muss jede Kita gewährleisten, dass ihre Einrichtung kein Tatort wird, d.h. sie muss dafür sorgen, dass all die Schutzmaßnahmen ergriffen werden, die verhindern, dass Mitarbeitende Kinder sexuell missbrauchen. Daher benötigen Kitas sogenannte "Schutzkonzepte". Das Buch informiert Leitungen und Mitarbeitende in Kindertagesstätten praxisnah über die wichtigsten Bestandteile von Schutzkonzepten zur Prävention vor sexueller Gewalt. Nach der Vermittlung von Grundlagenwissen zum Themenfeld, werden wichtige Puzzlesteine eines Schutzkonzeptes in einzelnen Artikeln vorgestellt und erläutert. Fachlich reflektierte, im Team abgesprochene und gleichzeitig an den Bedürfnissen des jeweiligen Kindes orientierte Nähe, Sexualerziehung, Genderpädagogik, klar geregeltes Vorgehen im Verdachtsfall tragen ebenso zum Schutz der Kinder bei wie eine gute Zusammenarbeit mit den Eltern bei diesen Themen, egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund. Auch nicht fehlen darf natürlich die direkte Arbeit mit den Kindern selbst, die dann sinnvoll ist, wenn alle Mitarbeitenden und Eltern über die erforderliche Interventionskompetenz verfügen. Leitungen erfahren darüber hinaus, wie sie die erforderlichen Prozesse aufsetzen und steuern können und welche Maßnahmen direkt in ihrer Verantwortung liegen, wie z.B. gezielte Maßnahmen im Bewerbungs- und Auswahlverfahren von Mitarbeitenden. All dies auch unter inklusiven Gesichtspunkten. Die umfassenden (z.T. über 30jährigen) Erfahrungen der Autorinnen aus der Fortbildungsarbeit mit hunderten von Kindertagesstätten ermöglichen einen Blick auf das Tätigkeitsfeld, der Mut macht, das Thema anzugehen.

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Inhalt

Christine Rudolf-Jilg

Vorwort

Adelheid Unterstaller

Wir können da was tun!

Was Kindertagesstätten wissen müssen, um Mädchen* und Jungen* wirksam vor sexuellem Missbrauch schützen zu können

Petra Straubinger, Christine Rudolf-Jilg

(

Inklusive) Schutzkonzepte - was denn noch alles?

Warum der strukturell verankerte Schutz von Kindern so wichtig ist und was alles dazugehört

Petra Straubinger

Alle wirken mit!

Interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Prävention für Kinder mit und ohne Behinderung stärken

Sibylle Härtl, Yvonne Oeffling

Prävention gestalten

Rolle und Aufgaben von Leitungen/Trägern bei der Verankerung von Prävention sexueller Gewalt in Institutionen

Christine Rudolf-Jilg

Ohne schlotternde Knie durch den Verdachtsfall

Hilfreiche Tipps zur Entwicklung eines Krisenleitfadens für die Kita

Miriam Zwicknagel, Petra Straubinger

Kuscheln nach Rezept?

Professioneller Umgang mit Nähe und Distanz mit Kindern mit und ohne Behinderung

Yvonne Oefßing, Anja Bawidamann

Nein sagen reicht nicht!

Präventionsarbeit mit Kindern gestalten

Fiona Langfeldt

„... und wie sieht das da unten bei dir aus?“

Sexualpädagogische Arbeit in Kitas

Fiona Langfeldt, Yvonne Oeffling

Tim und Lasse sind schwanger

Gendersensible Pädagogik in der Präventionsarbeit

Yvonne Oeffling

Gemeinsam sichere Orte schaffen

Einbindung von Eltern in die Entwicklung von Schutzkonzepten

Parvaneh Djafarzadeh

Wir wollen es nur verstehen!

Kultursensible Elternarbeit als wichtiger Bestandteil der Prävention

Christine Rudolf-Jilg

Fazit und Ausblick

Anhang

Hilfreiche Kontakte und Adressen

Über die Autorinnen

AMYNA stellt sich vor

Weitere AMYNA-Publikationen

Christine Rudolf-Jilg

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

„Jubelbuch“, so lautete der interne Arbeitstitel bei diesem Buchprojekt, das wir Ihnen heute vorstellen dürfen. Wie kam es dazu?

AMYNA e. V. feierte 2019 das 30-jährige Jubiläum, d. h., der Verein wurde 1989 gegründet. Als wir gemeinsam im Team überlegten, wie das würdig zelebriert werden könnte, kam schnell die Idee auf, gemeinsam ein Buch zu schreiben, das die langjährige Fortbildungserfahrung aller Kolleginnen mit einer unserer Hauptzielgruppen, den Kindertagesstätten, nutzt und dieses Erfahrungswissen in die Breite bringt.

30 Jahre Fortbildungen zum Thema „Prävention von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ - da differenziert sich Wissen sehr aus. Im Gegensatz zu spezialisierten Fachberatungsstellen, deren Auftrag vorrangig Hilfen für Betroffene, deren Angehörige und Fachkräfte sind, hatte AMYNA e. V. seit Beginn den „Luxus“, ausschließlich in der Prävention sexueller Gewalt tätig sein zu dürfen. Die verfügbare Arbeitszeit konnte in die Auswertung und die praxisnahe, fortbildungstaugliche Übersetzung aktueller Studien- und Forschungsarbeiten, in die Analysen von Best-Practice-Beispielen oder Fallbeispielen, die Entwicklung neuer Präventionsinstrumente sowie in die Ausdifferenzierung und Präzisierung von neuen Ideen zur Verbesserung von Prävention investiert werden.

Und da hat sich einiges getan. Hatten Kitas, ebenso wie andere Anbieter von Kinder- und Jugendhilfeleistungen, noch vor 15 Jahren wenig Ahnung von der Bedeutung von Prävention, geschweige denn von der Nachhaltigkeit präventiver Maßnahmen, ist heute nicht zuletzt durch die Aufdeckungswelle nach 2010 zu sexuellem Missbrauch in Einrichtungen (u. a. Canisius-Kolleg, Kloster Ettal, Odenwaldschule) das Thema als „gesellschaftlich relevant“ und bekannt einzuschätzen. Durch die Runden Tische der Bundesregierung nach 2010, in denen um Verbesserungen für den Schutz zukünftiger Generationen gerungen wurde, kam es in der Folge zu einigen gesetzlichen Regelungen, beispielsweise die Vorgabe, dass alle Mitarbeitenden in Einrichtungen erweiterte Führungszeugnisse vorlegen müssen. Ein Tropfen auf den heißen Stein, so die Einschätzung vieler Spezialist*innen.

Wie gut, dass gleichzeitig auch die Stelle eines/einer Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (kurz: UBSKM) bei der Bundesregierung angesiedelt wurde, mit dem Auftrag, das Problem „Missbrauch in Institutionen“ möglichst umfassend zu bearbeiten. Hier werden seit 2011 Aktionen entwickelt, Forschungen angestoßen, Bündnispartner*innen gesucht und das Thema gesellschaftlich relevant und wirksam weiterentwickelt. Nicht zuletzt ist dies dem Einsatz des aktuellen UBSKM, Herrn Johannes-Wilhelm Rörig, zu verdanken, dessen persönlicher, unermüdlicher Einsatz und dessen sehr klare Haltung (und auch manchmal sehr klaren Worte) dazu führten, dass kaum jemand, der mit Kindern und Jugendlichen in der Praxis arbeitet, heute um das Stichwort „Prävention von sexuellem Missbrauch“ herumkommt.

Wie allerdings Prävention in der Praxis von Einrichtungen umgesetzt werden kann, dazu gibt es noch viele Fragen und Unsicherheiten. Leider ist das Thema bei den Ausbildungsstätten für Kinderpfleger*innen und Erzieher*innen noch nicht durchgängig angekommen. Viele haben während ihrer Ausbildung allenfalls (aber auch nicht immer) etwas über den Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII gehört. Wissen zu Schutzkonzepten in Einrichtungen, der Gestaltung fachlich korrekter Nähe und Distanz zu betreuten Kindern, dem Vorgehen bei Verdacht auf sexuelle Gewalt, Wissen zu sexueller Entwicklung von Kindern und der Abgrenzung zu sexuellen Grenzverletzungen usw. gehören noch keinesfalls zu üblichen und verpflichtenden Lehrinhalten. So wird Zukunft verschenkt!

Mit dieser Veröffentlichung wollen wir Mitarbeitende in Kindertagesstätten im deutschsprachigen Raum bei der Entwicklung von präventiven Strukturen über unsere Fortbildungen und Trägerberatungen hinaus unterstützen. Denn gerade Mitarbeiterinnen in Kindertagesstätten benötigen passgenaue und praxisrelevante Informationen, die verständlich aufbereitet sind. Hier möchte das Buch eine bislang noch bestehende Lücke schließen. Ziel des Buches ist es, verantwortliche Leitungen und Mitarbeitende in Kindertagesstätten über die relevanten Themen der Prävention, die ihr Handlungsfeld betreffen, differenziert zu informieren und Handlungsräume aufzuzeigen, wie „Schutzkonzepte“ in Kitas installiert werden können.

Im ersten Artikel stellt Adelheid Unterstaller die wichtigsten Informationen zu sexuellem Missbrauch und den Strategien von Täter*innen in Institutionen zusammen. Zudem erläutert sie Gefährdungsaspekte, die aus den Fällen in Institutionen mittlerweile bekannt sind. Dieser Artikel bildet daher die Grundlage für das Verständnis aller weiteren Artikel und gibt Informationen, auf die im Weiteren Bezug genommen wird.

Petra Straubinger und Christine Rudolf-Jilg stellen im zweiten Artikel, „(Inklusive) Schutzkonzepte - was denn noch alles?“, im Überblick zusammen, was ein Schutzkonzept eigentlich ist und welche Bausteine beinhaltet sein sollten. Zudem gibt es für alle, die inklusiv denken wollen, Anregungen, wie solch ein Schutzkonzept relativ einfach inklusiv werden kann.

Bei „Alle wirken mit!“ beschreibt Petra Straubinger als Inklusions expertin von AMYNA e. V. dann, wie wichtig die interdisziplinäre Zusammenarbeit gerade im Bereich der Prävention in inklusiven und integrativen Einrichtungen ist und wie diese Zusammenarbeit schrittweise für die Prävention nutzbar gemacht werden kann.

Sibylle Härtl und Yvonne Oeffling stellen bei „Prävention gestalten“ vor allem die Rolle und die Aufgaben von Einrichtungsleitungen und Trägern von Kitas in den Fokus ihrer Ausführungen. Erforderliche Kompetenzen für gelingende Präventionsarbeit werden ebenso beschrieben, wie auch Rahmenbedingungen für eine gelingende Prävention in Einrichtungen erläutert werden.

„Ohne schlotternde Knie durch den Verdachtsfall“ lautet der Titel des Beitrags von Christine Rudolf-Jilg. Ziel ist es, Trägern von Kitas, Einrichtungsleitungen, aber auch Mitarbeitenden eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie wichtig es ist, vorab einen Krisenleitfaden zu erstellen, der klarstellt, wie bei einem Verdacht auf sexuelle Gewalt durch Mitarbeitende der Einrichtung vorzugehen ist. Dazu werden wichtige Aspekte aufgezeigt, die in einem Krisenleitfaden bearbeitet werden müssen; es wird auf gesetzliche Verpflichtungen von Einrichtungen gegenüber Behörden hingewiesen und es werden die üblicherweise Beteiligten bei der Bearbeitung eines Verdachtsfalls benannt.

Miriam Zwicknagel und Petra Straubinger beschreiben in „Kuscheln nach Rezept?“, wie der Balanceakt zwischen Nähe und Distanz im täglichen körpernahen Umgang mit Kindern in Kitas gelingen kann. Sie erläutern den Sinn und Zweck von Schutzvereinbarungen und wie Teams diese erarbeiten können.

„Nein sagen reicht nicht!“ formulieren Anja Bawidamann und Yvonne Oeffling sehr klar in ihrem Beitrag und erläutern, wie Präventionsarbeit mit Kindern gestaltet werden muss und kann, damit diese sinnvoll und wirksam sein kann. Dazu stellen sie Bewertungskriterien für die Auswahl guter Bilderbücher, aber auch externer Angebote vor.

Fiona Langfeldt, Spezialistin im Bereich sexualpädagogischer Arbeit und Mitarbeiterin bei GrenzwertICH (sexuelle Gewalt durch Kinder und Jugendliche verhindern), erklärt in ihrem Artikel „... und wie sieht das da unten bei dir aus?“, was kindliche Sexualität eigentlich ist und welche Bedeutung sie für die kindliche Entwicklung hat. Im Anschluss beschreibt sie wichtige Aspekte für die Erstellung eines sexualpädagogischen Konzeptes, das jede Kita haben sollte, und gibt praktische Tipps, wie das Thema in die alltägliche Pädagogik einfließen kann.

Auch im nächsten Beitrag wenden sich Fiona Langfeldt und Yvonne Oeffling mit „Tim und Lasse sind schwanger“ dem Thema „Sexualerziehung in der Kita“ zu, diesmal allerdings mit dem gendersensiblen Blick. Sie formulieren die Bedeutung gendersensibler Pädagogik als wichtigen Teil der Prävention von sexuellem Missbrauch und als Teil eines Schutzkonzeptes.

Dass Elternarbeit wichtig ist, ist allen Kita-Mitarbeitenden klar. Wie wichtig es ist, Eltern in die Entwicklung von Schutzkonzepten einzubeziehen, arbeitet Yvonne Oeffling in „Gemeinsam sichere Orte schaffen“ heraus. Sie wirbt für eine starke Kooperation zwischen Kita und Elternhaus und benennt Eltern als wichtige Akteure bei der Entwicklung von Schutzkonzepten.

Der Beitrag „Wir wollen es nur verstehen!“ ist der dringende Appell von Parvaneh Djafarzadeh, Eltern mit Migrationshintergrund bei der Verbesserung des Schutzes von Kindern vor sexueller Gewalt nicht einfach außen vor zu lassen, sondern vielmehr die Vielfalt von kulturellen Unterschieden und Sprachbarrieren als Herausforderung für neue kreative Ideen des Austausches ernsthaft zu nutzen. Sie fordert das Recht von Eltern aus anderen Kulturen ein, zu verstehen, wie der Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt aus Sicht der Kita verbessert werden kann. Denn Kinder sind Kinder, und alle wollen deren Schutz - Kita und Eltern, egal, welcher Herkunft sie sind.

Nach einem Fazit finden unsere Leser*innen im Anhang des Buches einige hilfreiche Adressen und Kontakte sowie Informationen und Kontaktadressen zu allen Autorinnen, die sich über persönliche Rückmeldungen zu ihrem Artikel, aber auch über andere Anfragen sehr freuen.

Wir danken allen, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben, und wünschen Ihnen, unseren Leserinnen und Lesern, viel Spaß und Freude am Lesen, vor allem aber an der Prävention von sexuellem Missbrauch.

Denn: Prävention soll Spaß machen und ermutigen, statt Angst auszulösen! Gute Prävention versteht die Kunst, komplexe Inhalte und umfangreiches Wissen so zu vermitteln, dass Lösungswege und Ansatzpunkte im eigenen Leben sichtbar werden. Gute Prävention gibt Kraft und Energie zum langfristigen, differenzierten Schutz von Mädchen* und Jungen*, ohne auf schnelle einfache Rezepte zu setzen.

Adelheid Unterstaller

Wir können da was tun!

Was Kindertagesstätten wissen müssen, um Mädchen* und Jungen* wirksam vor sexuellem Missbrauch schützen zu können

Kindertagesstätten erreichen nahezu alle Mädchen* und Jungen* in deren ersten Lebensjahren. Sie haben damit die Chance, eine zentrale Rolle bei der Prävention von sexuellem Missbrauch zu spielen und aktiv Verantwortung für den Schutz der Kinder zu übernehmen.

„Kein Kind kann sich alleine vor sexuellem Missbrauch schützen!“ - das liest man häufig, und leider ist das in den allermeisten Fällen auch tatsächlich so. Wer sich mit dem Vorgehen von Tätern und Täterinnen beschäftigt, sieht auch bald, warum das so ist: Sexueller Missbrauch ist eine beabsichtigte Tat, Täter und Täterinnen setzen alles in ihrer Macht Stehende dafür ein, den Missbrauch zu ermöglichen und gleichzeitig nicht entdeckt zu werden. Viele von ihnen sind „Meister der Manipulation“, wie es Ursula Enders, die seit vielen Jahren als Beraterin bei Zartbitter Köln mit Missbrauchsfällen in unterschiedlichsten Kontexten zu tun hat, einmal formuliert hat. Davon wird in diesem Kapitel noch die Rede sein.

Wenn wir Mädchen* und Jungen* vor sexuellem Missbrauch schützen wollen, dann kommen wir nicht daran vorbei, uns mit dem Vorgehen von Täter*innen zu beschäftigen, denn jede präventive Maßnahme, die wirksam sein will, muss sozusagen eine „Antwort“ auf deren Strategien sein. Können Kindertagesstätten so etwas leisten, fragen Sie sich vielleicht. Und führt das nicht zu weit weg von unseren Kernaufgaben? Ja, Kindertagesstätten können und müssen dies leisten und: Prävention von sexuellem Missbrauch gehört zu den Kernaufgaben von Kindertagesstätten, nämlich Kindern die besten Entwicklungschancen zu bieten.

Wo können Kindertagesstätten bei der Prävention ansetzen?

Kindertagesstätten können auf drei unterschiedlichen Ebenen den Strategien von Täter*innen etwas entgegensetzen und damit dem Schutz der Kinder vor sexuellem Missbrauch dienen.

1. Sie können nachhaltige Erfahrungsräume für Mädchen* und Jungen gestalten, in denen Kinder erfahren,

was ihre Rechte sind und dass diese geachtet werden

wie Erwachsene in einer angemessenen und kindgerechten Art mit Nähe und Distanz zu Kindern umgehen

dass sie verlässlich Mitsprache- und Mitbestimmungsmöglichkeiten haben

dass ihre Beschwerden willkommen sind, gehört und ernst genommen werden

dass auf ihre Bedürfnisse angemessen reagiert wird und sie nicht manipuliert werden

dass sie als Individuen und Persönlichkeiten respektiert werden

dass eigene Grenzen richtig und wichtig sind und dass es Hilfe gibt, wenn jemand diese Grenzen verletzt

was positives Körpererleben ist, ohne dass jemand ihre Intimität verletzt

dass ihr Körper schützenswert ist und dass sie stolz auf ihn sein dürfen, egal, wie er aussieht

dass es eine Sprache auch für Genitalien und Sexualität gibt und dass darüber auch gesprochen werden darf (viele Kinder können über ihre negativen Erlebnisse nicht berichten, weil sie keine geeigneten Worte dafür haben)

dass Unterschiedlichkeit etwas Positives ist und dass niemand gemobbt und diskriminiert werden darf

Wenn wir Mädchen* und Jungen* diesen positiven Erfahrungsraum eröffnen, wenn sie erleben können, wie es ist, wenn ihre Grenzen respektiert werden, wenn sie sprachfähig sind, wenn es um Grenzverletzungen geht, vergrößern wir ihre Chance zu spüren, wann sie manipuliert werden, und es wird ihnen leichter gemacht, sich schutzfähigen Erwachsenen mitzuteilen und Hilfe zu holen.

2. Sie können lernen, wie Sie betroffenen Kindern am besten helfen können, und Sie können sich als kompetente, handlungsfähige, vertrauenswürdige und verlässliche Ansprechpartner*innen für die großen und kleinen Nöte der Kinder zeigen, Das erforderliche Wissen können Sie in Fortbildungen erwerben.

3. Und Sie können in Ihrem Verantwortungsbereich - Ihrem Träger, Ihrer Einrichtung - Strukturen schaffen und einfordern, die die Wahrscheinlichkeit senken, dass Kinder innerhalb der Einrichtung sexualisierte Gewalt erfahren müssen. Neben den bereits unter Punkt 1 genannten Ausführungen betrifft dies

die Personalauswahl und Personalführung

das Leitbild Ihrer Organisation

den Verhaltenskodex

das pädagogische, medienpädagogische und sexualpädagogische Konzept (in dem auch die unter Punkt 1 genannten Anforderungen verbindlich verankert werden)

die räumlichen Rahmenbedingungen in der Einrichtung

eine gute Zusammenarbeit mit den Eltern

Leitfäden und die Handlungskompetenz bei Verdacht auf sexuelle Gewalt innerhalb oder außerhalb der Einrichtung

die professionelle Öffentlichkeitsarbeit, die den Kinderschutz miteinbezieht

die Qualifizierung der Mitarbeitenden

und eine zuverlässige Qualitätssicherung

All dies zusammen ergibt das Schutzkonzept Ihrer Einrichtung.

Das sind - zugegebenermaßen - hohe Anforderungen an Einrichtungen. Die gute Nachricht ist: Sie haben Anspruch auf Unterstützung bei der Erarbeitung eines solchen Schutzkonzeptes. Nach §8b SGB VIII (2) haben Träger von Einrichtungen, in denen sich Kinder oder Jugendliche ganztägig oder für einen Teil des Tages aufhalten oder in denen sie Unterkunft erhalten, (...) gegenüber dem überörtlichen Träger der Jugendhilfe (gemeint ist hier das Landesjugendamt) Anspruch auf Beratung bei der Entwicklung und Anwendung fachlicher Handlungsleitlinien zur Sicherung des Kindeswohls und zum Schutz vor Gewalt sowie zu Verfahren der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an strukturellen Entscheidungen in der Einrichtung und zu Beschwerdeverfahren in persönlichen Angelegenheiten.1 Fragen Sie bei Ihrem Jugendamt oder Ihrer Fachaufsicht nach, an wen Sie sich wenden können. Auch wir wollen Sie mit diesem Buch bei der Erarbeitung unterstützen. Alle oben genannten Punkte erläutern und beschreiben wir daher für Sie in den nächsten Kapiteln.

Auf den folgenden Seiten geht es nun um die Basisinformationen zu sexuellem Missbrauch, vor deren Hintergrund die einzelnen Maßnahmen zur Prävention erst verständlich werden.

Wovon sprechen wir hier eigentlich? Was ist genau damit gemeint, wenn von sexuellem Missbrauch die Rede ist?

„Sexueller Missbrauch [...] an Kindern ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor Mädchen* und Jungen* gegen deren Willen vorgenommen wird oder der sie aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen können. Der Täter oder die Täterin nutzt dabei seine/ihre Machtund Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse auf Kosten des 1 Kindes zu befriedigen.“2 Bei Kindern ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sie aufgrund ihres Entwicklungsstandes sexuellen Handlungen von Erwachsenen an und mit ihnen nicht zustimmen können. Diese sind immer als sexuelle Gewalt zu werten, selbst wenn ein Kind damit einverstanden wäre.

Diese Definition ist hilfreich, wenn es sich um eindeutige Fälle von sexuellem Missbrauch handelt, beispielsweise die Manipulation an den nackten Genitalien eines Kindes. In der Realität sind Fachkräfte jedoch häufiger mit Situationen konfrontiert, die eine Bewertung, ob es sich um sexuellen Missbrauch handelt, nicht sofort und nicht eindeutig zulassen. Hier sind weitere Differenzierungen hilfreich.

Was meinen Sie: Ist das sexueller Missbrauch?

1. Die 7-jährige Melanie ist aufgrund einer organischen Erkrankung inkontinent und braucht Hilfe beim Wechseln der Windel. Ihr ist das unangenehm, aber sie hat mit ihrer Bezugserzieherin Miray eine gute Methode gefunden, sodass das im Stehen ganz schnell geht. So ist es für Melanie in Ordnung. Als Miray einmal krank ist, bekommt die Praktikantin Nicole den Auftrag, Melanie zu wickeln. Nicole hebt Melanie auf den Wickeltisch und nimmt ihr die Windel ab. Auf Melanies Protest hin meint sie nur: „Aber ich muss dich doch wickeln, sei doch bitte nicht so bockig.“ Sie macht es genauso, wie sie es von den Zweijährigen im Kinderhaus gewöhnt ist: Sie spreizt ihre Beine, macht sie mit einem Feuchttuch sauber und legt eine neue Windel an. Abends läuft Melanie weinend und verstört zu ihrer Mutter und erzählt ihr die Geschichte. Die Mutter bittet Nicole am nächsten Tag um ein Gespräch und erklärt ihr das Problem. Nicole versteht sofort, was sie falsch gemacht hat und dass sie Melanies Grenzen verletzt hat. Sie ist sehr betroffen. Sie entschuldigt sich anschließend bei Melanie. Sie verspricht ihr, dass dies nicht wieder vorkommt. Melanie ist erleichtert. Nicole informiert anschließend auch die Leitung der Einrichtung über den Vorfall.

2. Zum Kinderhaus gehört ein toller großer Garten, in dem die Kinder viel Freiraum haben. Ein paar 4- und 5-jährige Jungen treffen sich ab und zu hinter ein paar Sträuchern und spielen heimlich Weitpinkeln. Einmal gesellt sich Erzieher Frank zu ihnen und pinkelt mit ihnen um die Wette. Einige der Jungen finden das cool, andere fühlen sich unwohl.

3. Eine Mutter erzählt der Erzieherin verunsichert, dass ihr Mann mit ihrem 15-jährigen Sohn Pornofilme schauen würde. Er meine, das sei die beste Art, einen Jungen aufzuklären. Einmal war auch der 5-jährige Lukas, der die Einrichtung besucht, mit im Raum gewesen, als die Mutter nach Hause kam. Eigentlich fände sie das nicht richtig, aber ihr Mann sei da sehr überzeugend und deshalb sei sie sich nicht mehr so sicher. Es wären ja nur Softpornos, das sei doch sicherlich nicht so schlimm, oder?

4. Zwei 5-jährige Mädchen ziehen sich im Kindergarten zum Doktorspielen in die Kuschelecke zurück. Sie untersuchen gegenseitig ihre Genitalien. Als eine der beiden aufhören möchte, droht die andere damit, sie nicht zu ihrem Kindergeburtstag einzuladen, wenn sie nicht mit ihr weiterspielen würde.

Diese Beispiele zeigen nur einige wenige Punkte in einem breiten Spektrum möglicher sexueller Gewalt auf. Nicht bei jedem Beispiel handelt es sich um sexuellen Missbrauch.

Hilfreiche Prüffragen können hier sein:

Handelt die jeweilige Person absichtsvoll, um eigene sexuelle Bedürfnisse oder Machtbedürfnisse mit sexuellen Mitteln zu befriedigen?

Ist die handelnde Person von ihrem Alter und Entwicklungsstand her überhaupt in der Lage, in dieser Form absichtsvoll zu handeln?

Wie empfinden die betroffenen Kinder die Situation?

Geht es hier um eine sexuelle Handlung?

Und, falls wir zu dem Schluss kommen, dass es sich um sexuelle Gewalt handelt: Bewegen wir uns noch diesseits oder jenseits strafrechtlich relevanter Handlungen?

Und um es gleich vorweg zu sagen: Egal, zu welcher Einschätzung wir bei den einzelnen Beispielen gelangen, fachlicher Handlungsbedarf besteht bei jeder dieser Situationen, nur die Art und das Ausmaß der Intervention unterscheiden sich.

Im ersten Falle handelt es sich - sofern die Betroffenheit und die Einsicht von Nicole glaubwürdig sind - um eine sexuelle Grenzverletzung.3 Sexuelle Grenzverletzungen passieren meist unabsichtlich - aufgrund von falschen Einschätzungen, mangelnder Sensibilität, Unwissenheit, fachlicher und persönlicher Unzulänglichkeit und ähnlichen Gründen. Sie dienen nicht - und das ist ein wesentlicher Punkt - der Befriedigung von Machtbedürfnissen und/oder sexuellen Bedürfnissen der handelnden Person. Sie sind deshalb nicht als sexueller Missbrauch zu werten. Gleichwohl gibt es nach solchen Situationen einen fachlichen Handlungsbedarf. Es wurde deutlich, dass die Situation Melanie verstört hat. Es war richtig und wichtig, dass Nicole sich entschuldigt hat und Melanie die Sicherheit gegeben hat, dass es nicht mehr vorkommt. Ob das ausreicht, oder ob weitere Maßnahmen nötig sind, damit Melanie sich in der Einrichtung wieder geschützt fühlt, wird sich zeigen. Es war auch richtig von Nicole, die Einrichtungsleitung zu informieren und den Vorfall nicht unter den Teppich zu kehren. Darüber hinaus trägt nicht nur Nicole, sondern auch die Einrichtungsleitung sowie die Praktikumsanleiter*in Verantwortung für die Situation. Sie haben Nicole ohne ausreichende Information und Übergabe in diese Situation geraten lassen. Wenn Nicole erst kurz in der Einrichtung ist und noch keine Beziehung zu den Kindern aufbauen konnte, ist es außerdem grundsätzlich zu hinterfragen, ob sie bereits mit dem Wickeln beauftragt werden kann.

In der zweiten Situation handelt es sich, unserer Einschätzung nach, um eine sexuelle Grenzüberschreitung. Eine sexuelle Grenzüberschreitung geschieht nicht aus Versehen, sondern wird mit Absicht herbeigeführt, ist aber noch unterhalb der Grenze zu strafrechtlich relevanten Handlungen. Sie ist entweder Ausdruck persönlicher/fachlicher Mängel oder zielt darauf ab, einen sexuellen Missbrauch anzubahnen. Sie setzt sich ggf. über den Widerstand ihres Gegenübers, über Normen und Regeln der Gesellschaft bzw. der Einrichtung oder über fachliche Standards hinweg.

Im konkreten Beispiel besteht kein Zweifel daran, dass es gegen jeden fachlichen Standard und jede gesellschaftliche Norm verstößt, wenn eine Fachkraft vor den Kindern oder Jugendlichen die Geschlechtsteile entblößt. So eine Situation geschieht nicht zufällig, sondern mit Absicht. Sie ist (im günstigsten Falle) der Ausdruck eines gravierenden persönlichen und fachlichen Unvermögens bzw. eines fehlenden Gespürs für die eigene Rolle als Fachkraft und die erforderlichen Generationengrenzen. Sie kann aber auch eine gezielte Desensibilisierung von Kindern zur Anbahnung eines sexuellen Missbrauchs darstellen. Die Grenzziehung zu einem strafrechtlich relevanten sexuellen Missbrauch ist hier nicht ganz eindeutig. Es handelt sich beim gemeinsamen „Pinkeln“ zwar nicht um eine erkennbare sexuelle Handlung, die Situation könnte jedoch als exhibitionistische Handlung gewertet werden. Voraussetzung für den Straftatbestand des Exhibitionismus wäre, dass sich der Erzieher in dieser konkreten Situation sexuell erregen oder befriedigen möchte. Auch wenn es sich noch nicht um einen sexuellen Missbrauch im strafrechtlichen Sinne handelt, bedarf es hier einer sorgfältigen Abklärung, unterstützender Arbeit mit den Kindern und Eltern und einer eindeutigen (auch arbeitsrechtlichen) Intervention durch die Einrichtung.4

Im dritten Beispiel hingegen handelt es sich in Bezug auf den 5-jährigen Lukas ganz eindeutig um eine strafbare Handlung des Vaters. Das Strafgesetzbuch wertet es als sexuellen Missbrauch, wenn einem Kind Pornografie gezeigt wird.5 In Bezug auf den 15-jährigen Sohn ist die Situation strafrechtlich nicht ganz eindeutig. Es ist zwar verboten, Minderjährigen Pornografie zugänglich zu machen, bei Personensorgeberechtigten wird hier jedoch eine Ausnahme gemacht, sofern diese dadurch nicht ihre Erziehungspflicht gröblich verletzen.6 Das müsste - wie immer in strafrechtlich relevanten Fällen - im Einzelfall geprüft werden. Tatsache ist jedoch, dass Pornos für Minderjährige nicht geeignet sind und auf keinen Fall ein geeignetes Instrument zur Sexualaufklärung darstellen, auch dann nicht, wenn es sich um sogenannte Softpornos handelt.

Schließlich noch das letzte Beispiel. Auch wenn es hier um kindliche Sexualität geht und das eine Kind ein anderes gegen dessen Willen dazu bringen möchte, weiterzuspielen, sprechen wir hier nicht von sexuellem Missbrauch. Kinder in diesem Alter wissen zwar, was sie wollen, und können dies auch gegen den Willen anderer durchsetzen, sie sind aber zu jung, um die Folgen ihres Handelns abzusehen. Bei nicht einvernehmlichen Doktorspielen sprechen wir von sexuellen Grenzverletzungen durch Kinder.7 Wir sprechen von übergriffigen Kindern, nicht von kleinen „Täter*innen“. Auch in solchen Fällen muss auf einer pädagogischen Ebene interveniert werden. Auch im Rahmen kindlicher Sexualität ist es eindeutig nicht in Ordnung, wenn ein Kind ein anderes zu sexuellen Aktivitäten überreden möchte, die das andere Kind ablehnt. Es handelt sich jedoch nicht um einen sexuellen Missbrauch im oben genannten Sinn.

Wenn Sie in der Realität solche oder ähnliche Situationen abschätzen müssen, dann lassen Sie sich im Einzelfall gut von einer Fachberatungsstelle beraten und begleiten.

In diesem Absatz ging es lediglich darum, ein Gefühl für die Unterschiede zwischen unabsichtlichen sexuellen Grenzverletzungen, absichtsvollen sexualisierten Grenzüberschreitungen, strafrechtlich relevantem sexuellem Missbrauch und kindlichen sexuellen Grenzverletzungen zu vermitteln.

Wichtig ist darüber hinaus zu wissen, dass auch das Strafrecht sowohl sexuelle Handlungen mit als auch Handlungen ohneKörperkontakt als sexuellen Missbrauch wertet, sofern sie von „einiger Erheblichkeit“ sind.

Ist das, was die Kinder erleben, wirklich so schlimm? Die Folgen sexuellen Missbrauchs

Sexueller Missbrauch ist ein belastendes und in vielen Fällen traumatisierendes Lebensereignis. Er hat in den meisten Fällen gravierende Folgen für das Lebensgefühl und die Entwicklung von Mädchen* und Jungen*. Betroffene Kinder empfinden Angst, Ekel, erleben einen Vertrauens- und Kontrollverlust und in vielen Fällen auch einen Realitätsverlust, denn Täter*innen stellen das Erleben der Kinder oft infrage: „Das ist doch schön, anderen gefällt das.“ Bei einem mehrmaligen sexuellen Missbrauch werden die Mädchen* und Jungen* über den Missbrauch hinaus vom Täter oder der Täterin in eine Dynamik hineingezogen, die auf vielen Ebenen Einfluss auf ihr Erleben hat. Abhängigkeiten werden aufgebaut, der Geheimhaltungsdruck wird vergrößert, Schuldzuweisungen werden verfestigt, die Verantwortung wird auf das Kind verschoben, um nur einige Merkmale zu nennen.

Die Folgen können sowohl unmittelbar nach einem sexuellen Missbrauch auftauchen als auch lebenslang für die Betroffenen spürbar sein. Es kann kurzfristige und langfristige körperliche und psychosomatische Beschwerden geben, wie z. B. gynäkologische Erkrankungen, Schmerzerkrankungen, Essstörungen. Sexueller Missbrauch kann zu kurz-, mittel- und langfristigen psychischen Beeinträchtigungen und Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten führen, wie z. B. akute posttraumatische Belastungsstörungen, Ängste, Schlafstörungen, aggressives Verhalten, Depressionen und vieles mehr. Zudem kann sexueller Missbrauch langfristigen Einfluss auf das eigene sexuelle Erleben und die Beziehungsfähigkeit haben.8

Es gibt in einigen Untersuchungen auch Gruppen von Kindern, die nach einem sexuellen Missbrauch keine auffälligen Belastungen zeigen. Vermutet wird, dass diese Kinder weniger intensive Formen eines sexuellen Missbrauchs erdulden mussten oder dass sie rasch und ausreichend Unterstützung und Hilfe erhalten haben. Auch wurde in einigen Fällen deutlich, dass manche Kinder erst zeitverzögert Symptome zeigen.9 Wenn Kinder also keine Symptome zeigen, so ist das noch kein Hinweis darauf, dass sie keinen sexuellen Missbrauch erlebt haben.

Umgekehrt ist es allerdings auch so, dass nicht von Symptomen, wie den oben genannten, auf einen sexuellen Missbrauch geschlossen werden kann. Es gibt kein spezifisches Muster an Symptomen, das eindeutig auf einen sexuellen Missbrauch hinweist. Alle oben genannten Beschwerden können auch Hinweise auf andere belastende Lebensereignisse sein. Wenn der sexuelle Missbrauch nicht von einer dritten Person beobachtet wurde und es keine Sachbeweise (wie z. B. Bildaufnahmen) gibt, dann bleibt in der Regel allein der Bericht des betroffenen Kindes, um von einem sexuellen Missbrauch zu erfahren.

Wenn Kinder in Ihrer Einrichtung belastet wirken, dann ist das für Sie als Fachkraft in erster Linie ein Signal, das Kind zu unterstützen und sehr aufmerksam zu sein. Sind die Gründe für die Belastung nicht bekannt, dann macht es Sinn, sich von einer guten Fachberatungsstelle Hilfe für eine sorgfältige Abklärung zu holen.

Sollte sich herausstellen, dass es sich bei der deutlich gewordenen Belastung um einen sexuellen Missbrauch handelt, ist es für Fachkräfte gut und wichtig zu wissen, dass sie die Situation des Kindes positiv beeinflussen können. Neben der Sicherstellung des Schutzes der Kinder durch die Fachkräfte und das Hilfesystem (u. a. Jugendamt) haben einfühlsame Reaktionen und eine positive emotionale Unterstützung aus dem sozialen Nahraum der Kinder einen wichtigen Einfluss auf die Schwere der gezeigten Symptome.

Wie viele Kinder sind denn überhaupt betroffen?

Sexueller Missbrauch betrifft nicht nur einzelne Kinder, sondern viele.

Allein im Jahr 2018 wurden 12.321 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern10 111z123ur Anzeige gebracht, darüber hinaus noch 424 Fälle von sexuellem Missbrauch an Schutzbefohlenen ab 14 Jahren11 und 934 Fälle von sexuellem Missbrauch an Jugendlichen.12,13

Die angezeigten Fälle bilden jedoch nur einen Teil des real vorkommenden sexuellen Missbrauchs ab. Bei Weitem nicht jeder Fall kommt zur Anzeige. Sogenannte Dunkelfeldstudien, in denen Erwachsene und Jugendliche befragt werden, ob sie in ihrer Kindheit und Jugend sexuellen Missbrauch erlebt haben, geben Einblick in dieses Feld. Doch auch diese Studien können immer nur Annäherungen an die Realität sein. Je nach befragter Gruppe und Eingrenzung der Handlungen kommen sie zu etwas unterschiedlichen Ergebnissen. In einer repräsentativen Studie14 1v5on 201115 gaben von insgesamt 2504 befragten Erwachsenen 12,6 % an, in Kindheit und Jugend einen sexuellen Missbrauch erlebt zu haben. In den beiden anderen repräsentativen Studien, die in Deutschland 1997 und 201116 veröffentlich wurden, liegen die Zahlen etwas niedriger.

In offiziellen Verlautbarungen der Bundesregierung wird davon ausgegangen, dass es, rein statistisch gesehen, in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder gibt, die einen sexuellen Missbrauch erleben mussten. 17

Es gibt jedoch auch Gruppen von Kindern, die deutlich häufiger betroffen sind als der Durchschnitt. Wir nennen diese Gruppen von Kindern „vulnerable Gruppen“, weil sie aufgrund ihrer Lebensumstände besonders verletzungsoffen sind, was von Tätern und Täterinnen verstärkt ausgenutzt wird. Das betrifft Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen18, bei denen es Hinweise gibt, dass das Risiko eines sexuellen Missbrauchs bis zu fünfmal höher ist als bei Kindern ohne Behinderung.19 Auch (emotional) vernachlässigte Kinder, Mädchen* und Jungen*, die bereits einen sexuellen Missbrauch erfahren haben, Kinder, die Partnerschaftsgewalt bei den Eltern erleben mussten20 und Kinder mit Fluchterfahrung haben ein höheres Risiko, sexuellen Missbrauch erleben zu müssen. Schaut man sich die Täter*innenstrategien an, dann wird auch deutlich, warum das so ist. Täter und Täterinnen docken gerne an „Schwachstellen“ von Kindern an, und nutzen z. B. deren Bedürftigkeit aus. Häufig zeigen sie sich auch hilfreich in Situationen, bei Gelegenheiten und in Zeiten, in denen die Schutzfähigkeit von Müttern und Vätern eingeschränkt ist (Erkrankung der Großeltern, starke Arbeitsbelastung, eigene Suchterkrankung u. Ä.). All dies erhöht für sie die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder nichts erzählen, dass sie kein Gehör bei schutzfähigen Erwachsenen finden oder den Kindern sogar nicht geglaubt wird.

Wo und durch wen geschieht sexueller Missbrauch? Die Täter und Täterinnen

Sexueller Missbrauch wird sowohl durch Männer als auch durch Frauen begangen, wobei der Anteil der Männer deutlich größer ist. Auch wenn der Anteil der Frauen geringer ist (es werden Zahlen um höchstens 10 % genannt), darf diese Tatsache nicht negiert werden. Wir hören aus Kindertagesstätten immer wieder die Vorstellung, dass die Kinder gut geschützt seien, weil dort ausschließlich Frauen tätig seien. Ein reines Frauenteam bedeutet jedoch nicht, auf Schutzmaßnahmen verzichten zu können: Es gibt Frauen, die sexuellen Missbrauch begehen.

Hier muss jedoch ergänzt werden, dass über Täterinnen und ihr Vorgehen immer noch sehr wenig bekannt ist. Deutlich mehr Informationen aus der Wissenschaft gibt es über männliche Täter.

In der Öffentlichkeit wird Täterschaft teilweise mit Pädosexualität gleichgesetzt. Es wird davon ausgegangen, dass v. a. oder ausschließlich diejenigen einen sexuellen Missbrauch begehen, die eine sexuelle Präferenz für Kinder aufweisen. Das ist jedoch nicht richtig. Nach einer Studie von Seto21 ist nur ein Anteil von 40 bis 50 % der Täter pädokriminell. Bei 50 bis 60 % der Täter handelt es sich um sogenannte Ersatzhandlungen, also um eine Tätergruppe, deren sexuelle Präferenz sich eigentlich auf gleichaltrige Erwachsene richtet, die jedoch trotzdem Kinder sexuell missbraucht.22