Vier Pfoten und zwei Weihnachtswunder - Petra Schier - E-Book + Hörbuch

Vier Pfoten und zwei Weihnachtswunder Hörbuch

Petra Schier

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Beschreibung

Zwischen Lena und Martin, den ihr Vater in der familieneigenen Sicherheitsfirma einstellt, fliegen die Fetzen. Und auch die neue Mitarbeiterin Maria hat ein Geheimnis, dass sie mit Lenas Vater Arndt verbindet. Im Advent heißt es daher Gefühlschaos statt Besinnlichkeit. Auch der Weihnachtsmann sitzt in der Klemme: Er kann nur aktiv werden, wenn es einen offiziellen Weihnachtswunsch gibt. Als er schließlich sogar zwei erhält, ist es jedoch beinahe zu spät. Kann er mithilfe des kleinen Havanesers Buddy das Weihnachtsfest für die vier retten?

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Zeit:10 Std. 58 min

Sprecher:Henriette Schreurs
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Originalausgabe

© 2024 HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von zero Werbeagentur, München

Coverabbildung von S_Photo, marina shin, Picture-Pets,

Olga Kri / Shutterstock

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749907731

www.harpercollins.de

1. Kapitel

»Papaaa?«

Martin Liebrecht zuckte zusammen. Die Stimme seiner Tochter war ein lieblicher Singsang, der sich am Ende leicht anhob.

»Nein.«

»Du weißt doch noch gar nicht, was ich sagen will.« Nun klang Jeanine ernüchtert, jedoch immer noch mit einem hoffnungsvollen Unterton.

Er grinste in ihre Richtung. »Ich kaufe dir keine neuen Schuhe.«

»Will ich auch gar nicht.« Die Vierzehnjährige warf triumphierend ihr langes, welliges kastanienbraunes Haar über die Schulter zurück. Die Farbe hatte sie von ihm geerbt, die Bewegung wahrscheinlich ihrer Mutter abgeschaut.

»Auch keine neuen Klamotten. Wir waren erst vor den Herbstferien shoppen.« Er warf ihr über den Rand seiner Zeitung einen weiteren Blick quer über den Küchentisch zu. »Dabei bin ich ein kleines Vermögen losgeworden, wie ich hinzufügen möchte.«

»Du hast aber selbst auch ganz schön zugeschlagen«, konterte sie, nun ebenfalls grinsend. »Ich bin also nicht allein für deinen finanziellen Ruin verantwortlich.«

»Unseren finanziellen Ruin«, verbesserte er. »Denk daran: Wenn ich pleite bin, dann du auch.« Glücklicherweise waren sie von diesem Zustand weit entfernt, doch seine Tochter sollte nicht glauben, dass sie einen Goldesel im Keller hätten.

»Was mich daran erinnert, dass ich noch mein monatliches Taschengeld bekommen muss. Heute ist schon der vierte November.«

»Der Erste war ein Feiertag und am Wochenende hattest du keine Gelegenheit, Geld auszugeben, also ist die kleine Verzögerung wohl zu verschmerzen.« Gemächlich zog er seine Geldbörse aus der Hosentasche und öffnete sie, dann hielt er inne. »Es gibt auch keine Taschengelderhöhung. Nicht vor deinem Geburtstag.«

»Schon klar, ich will auch überhaupt keine.«

Er ließ die Börse in gespieltem Entsetzen auf den Küchentisch fallen. »Wer bist du und was hast du mit meiner Tochter gemacht?«

Jeanine kicherte. »Also zu meinem Geburtstag natürlich schon, ist doch klar.«

»Aha.« Langsam griff er wieder nach der Börse.

»Aber heute brauche ich keine.«

»Womit wir wieder beim Thema wären«, schloss er. »Was willst du?«

»Aaaalsooo …«

»Oh, oh.« Er wappnete sich.

»Weißt du, Miriam aus meiner Klasse hat am Samstag Geburtstag.«

»Soso.« Er hatte bereits begriffen, gab dies aber nicht zu erkennen.

»Und du bist doch der liebste, süßeste und beste Papa auf der Welt, oder?«

»Das kann ich nicht beurteilen.« Er spielte das Spiel mit. »Ich gebe mir zumindest alle Mühe.«

»Ja, und außerdem bist du auch der, der mit Abstand am besten aussieht.«

»Großer Gott!« Er schauderte.

»Das sagen echt alle!«

»Wer ist alle?«

»Na, alle in meiner Klasse und der Parallelklasse und sogar ein paar Lehrerinnen, das hab ich zufällig gehört.«

»Uff.«

»Und Lehrer auch.« Jeanine lächelte breit.

Er hustete. Zumindest wusste er, woher dieses Statement kam. Ein Lehrer an Jeanines Gesamtschule war ein ehemaliger Klassenkamerad von ihm, der ihm, als sie sich zum Schuljahresbeginn wiederbegegnet waren, gestanden hatte, dass er während der Schulzeit in Martin verschossen gewesen war. Dies hatte sich jedoch mittlerweile längst gegeben, immerhin waren seither fast anderthalb Jahrzehnte vergangen, und Janosch hatte sich längst anderweitig orientiert und datete wohl auch gerade jemanden. Allerdings hatte sich zwischen ihnen stattdessen eine Freundschaft entwickelt, die Martin in der ersten Zeit geholfen hatte, sich in der neuen Stadt einzuleben. Zwar stammte er nicht gerade aus einer Großstadt, es sei denn, man wollte Münster als solche bezeichnen, aber sein Beruf hatte ihn in den vergangenen Jahren mehrmals in große bis sehr große Städte geführt. Um seiner Tochter und sich selbst den Stress weiterer Umzüge zu ersparen, etwas zur Ruhe zu kommen und sich beruflich anders aufzustellen, hatte er sich nun für diese hübsche Kleinstadt im Rheinland entschieden, die, auf zwei Seiten umgeben von Wald und auf den beiden anderen von Wiesen und Feldern, genau seiner Vorstellung von Entschleunigung entsprach. Außerdem war Köln nur eine halbe bis Dreiviertelstunde Fahrt entfernt, je nachdem, wie sich die Verkehrslage gestaltete. Eine Dosis Großstadt hin und wieder war also durchaus drin.

»Papa! Hörst du mir überhaupt noch zu?« Unter dem Tisch trat Jeanine ihn unsanft gegen das Schienbein.

»Entschuldige.« Sofort konzentrierte er sich wieder auf seine Tochter. »Miriam hat also Geburtstag. Am Samstag.«

»Genau.« Sie nickte eifrig. »Und du bist der beste, liebste …«

»Das hatten wir schon«, unterbrach er sie. »Wozu soll ich Ja sagen?«

Jeanine holte tief Luft. »Miriam gibt eine große Party, weil fünfzehn ein wichtiger Geburtstag ist.«

»Ah ja?«

»Na klar! Anderthalb Jahrzehnte!«

»Natürlich.« Er schmunzelte standhaft nicht.

»Die Party ist im Partykeller ihrer Eltern.«

»Was du nicht sagst.«

»Abends.«

Er hatte es gewusst. »Ab wann?«

»Um sechs Uhr geht es los.«

»Gut, dann kann ich dich ja um neun wieder abholen.«

»Papa!« Entgeistert starrte sie ihn an. »Die Party geht bis Mitternacht.«

»Im Leben nicht.« Er kannte Miriams Eltern gut genug, um nicht darauf hereinzufallen.

»Aber alle dürfen mindestens bis elf bleiben.«

»Miriam vielleicht, weil sie dort wohnt.«

»Doch, ganz bestimmt. Wir sind doch keine Babys mehr!«

»Ist mir bekannt.« Er zog zwei Zwanzig-Euro-Scheine aus der Geldbörse und schob sie ihr hin. »Du bist vierzehn, und mit vierzehn ist um … halb zehn Feierabend.«

»Halb elf!«

»Vergiss es.« Ebenso gemächlich, wie er sie hervorgezogen hatte, schob er die Börse in seine Hosentasche zurück. »Du kennst die Regeln, Jeanine. Partys, noch dazu mit Jungs, wie ich doch wohl annehme, sind eigentlich vor deinem fünfzehnten Geburtstag nur nachmittags gestattet. Oder eben bis maximal halb zehn. Ich fahre dich hin und hole dich ab. Take it or leave it.«

Jeanine stöhnte und verdrehte die Augen. »Du bist gemein!«

»Eben war ich noch der beste, liebste Papa der Welt.«

»Da wusste ich ja noch nicht, was für ein Despot du sein kannst. Du bist strenger als alle anderen Eltern!«

»Das bezweifle ich.«

»Ist aber so.«

»Vielleicht, weil dieser Despot mit gerade mal siebzehn nach so einer Party ein Kind gezeugt hat, das jetzt, vierzehn Jahre und zehn Monate später, mit bockigem Gesicht vor mir sitzt. Ich weiß also, wovon ich rede, meine Süßeste.«

»Iih!« Erwartungsgemäß schüttelte Jeanine sich und hielt sich die Ohren zu. »Muss das sein?«

»Und wie das sein muss. Damit gehe ich dir auf den Keks, bis du dreißig bist. Mindestens.«

»Es ist bloß eine Party!«

»Das dachte ich damals auch, ebenso wie deine Mutter, die übrigens erst sechzehn war, wie du sehr wohl weißt.«

»Jahaaa«, kam es lang gezogen und deutlich kleinlauter von seiner Tochter. »Aber das ist doch was anderes! Ich habe nicht mal einen Freund, und selbst wenn … Das würde ich nie, nie tun!«

»Das freut mich zu hören.« Er bedachte sie mit einem beredten Blick. »Trotzdem sollten wir uns mal ausführlich unterhalten.«

»Papa! Echt jetzt?« Entsetzt starrte Jeanine ihn an. »Das hatten wir doch schon.«

»Doppelt hält besser.«

»O Gott!« Theatralisch schlug sie die Hände vors Gesicht. »Wie peinlich.«

»Daran ist überhaupt nichts peinlich, Süßeste, das weißt du ganz genau. Glaub einfach deinem überhaupt nicht alten Vater, dass Vorsicht besser ist als Nachsicht.«

»Aber ihr habt damals doch verhütet«, warf Jeanine ein. »Niemand konnte was dafür, dass das Kondom kaputt gegangen ist. Soll ich deshalb etwa nie im Leben Sex haben, bis ich uralt bin? Das kann es doch wohl auch nicht sein.«

»Das habe ich auch nicht gesagt.« Er blickte auf die Uhr an der Wand über der Tür. »Obwohl es mir, ehrlich gesagt, sehr lieb wäre, wenn du dir damit wirklich noch Zeit lässt.«

»Mach ich doch.«

»Viel Zeit.«

»Klar.«

»Sehr viel Zeit!«

»Papa!«

»Jeanine!« Er ahmte ihren Tonfall nach. »Es wird Zeit, dass du dich auf den Schulweg machst. Zum Glück regnet es nicht.«

»Ich habe doch diesen uncoolen Regenmantel fürs Fahrrad.«

»Den wirst du heute nicht brauchen.« Er verfolgte seine Tochter mit Blicken, wie sie sich erhob, ihre giftgrüne Jacke anzog, den pinken Fahrradhelm, wie sie ihre Schultasche ergriff und sich noch einmal kurz im Flurspiegel musterte. Sie war eine junge Frau geworden, daran würde er sich noch gewöhnen müssen. »Wünsch mir Glück für den ersten Tag in der neuen Firma.«

»Viel Glück in der neuen Firma.« Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn durch die Küchentür an. »Du wirst den Laden schon rocken, Papa.«

»Hoffentlich.«

»Die können froh sein, dass sie dich eingestellt haben.« Sie ging Richtung Haustür, wandte sich aber noch einmal um. »Du hast dich übrigens verrechnet.«

Er runzelte die Stirn. »Wobei?«

»Wir haben jetzt nicht vierzehn Jahre und zehn Monate, nachdem ich gezeugt wurde. Du hast die neuneinhalb Monate vergessen, die ich in Mamas Bauch war.« Sie grinste breit. »Mach’s gut, Papa, ich hab dich lieb, auch wenn du ein Despot bist.« Schon war sie bei der Tür.

»Ich hab dich auch lieb, auch wenn du eine nervige Teenagerin bist, Süßeste!«, rief er ihr hinterher. Er hörte ihr Glucksen und gleich darauf, wie die Haustür sich hinter ihr schloss.

Entschlossen wandte er sich wieder der Morgenzeitung zu, an deren Lektüre er sich während des längeren Urlaubs, den er sich vor dem Beginn seines neuen Jobs gegönnt hatte, sehr gewöhnt hatte. Er kam aber nicht dazu, sich wieder in den Sportteil zu vertiefen, weil sein Handy klingelte. She drives me crazy von den Fine Young Cannibals. Dieser Klingelton verhieß nichts Gutes, denn es gab nur eine Person, für die er ihn eingerichtet hatte. Rasch nahm er das Smartphone vom Tisch und atmete tief durch, bevor er den Anruf annahm. »Hallo, Alice! Wie geht es dir? Du hast dich ja in letzter Zeit rargemacht.«

»Hallo, Martin!«, schallte es gut gelaunt aus seinem Handy. »Mir geht es fantastisch. Ich hatte so wahnsinnig viel um die Ohren mit dem Engagement in Stuttgart und dieser Werbefilmserie, da bin ich zu rein gar nichts gekommen. Aber jetzt habe ich phänomenale Neuigkeiten für euch. Ist Jeanine auch da?«

»Sie hat sich gerade auf den Weg zur Schule gemacht.«

»Ach, wie schade! Aber egal, ich kann sie ja später auch noch anrufen.«

»Bitte nicht während der Schulzeit. Sie ist gegen vier wieder zu Hause.«

»Du liebe Zeit, so lange kann ich nicht warten. Ich bin doch so aufgeregt!«

»Das merke ich.« Martin runzelte argwöhnisch die Stirn. »Was für phänomenale Neuigkeiten sind das denn?«

»Ich habe einen neuen Job!«

»Tatsächlich. Herzlichen Glückwunsch.«

»Ja, danke, aber das Beste kommt noch.«

Die Nackenhärchen stellten sich ihm auf. »Ich kann es kaum erwarten.«

»Der Job ist in Köln! Es sind wieder Werbefilme, gleich eine zehnteilige Serie, und ich kriege die weibliche Hauptrolle.«

Verdammt! »Wirklich?«

»Der Wahnsinn, oder?« Alice lachte fröhlich. »Ist das nicht einfach toll? Und weißt du, da dachte ich, zumindest für die erste Zeit könnte ich doch bei euch wohnen. Du hast doch jetzt ein großes Haus und alles, und mit dem Auto ist es nicht weit von euch bis Köln. Ist das nicht geradezu ideal?«

Martin schluckte hart. Schon sah er vor seinem inneren Auge, wie Jeanines Mutter seinen Haushalt vollkommen auf den Kopf stellte. »Das ist ja …«

»Ich weiß, überwältigend. Ich bin spätestens am Wochenende bei euch. Wie findest du das?«

Das sagte er lieber nicht laut. »Alice, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.«

»Natürlich ist es das! Endlich kann ich wieder mal mehr Zeit mit Jeanine verbringen. Das wird einfach wundervoll. Oh, Martin, ich muss rennen, die Maskenbildnerin ist da. Heute ist mein letzter Tag am Theater, stell dir das nur mal vor. Ich freue mich so auf euch! Bis dann!« Und schon hörte er am typischen Sound, dass sie einfach aufgelegt hatte. Für einen langen Moment starrte Martin sein Smartphone an, nicht sicher, ob er fluchen oder auswandern sollte. Am Ende schrieb er seiner Tochter eine Textnachricht.

Papa: Achtung, Mama-Alarm! Sie will dich anrufen.

Die Antwort kam erst eine knappe Viertelstunde später, als er sich gerade in seinen silbernen Hybrid-SUV gesetzt hatte.

Jeanine:OMG! Was will sie?

Papa: Bei uns einziehen.

Jeanine antwortete mit exakt sieben Schrei-Emojis.

Papa: Sie hat einen neuen Werbefilm-Job in Köln.

Jeanine: Kannst du sie nicht aufhalten?

Papa: Wann hätte ich das jemals geschafft?

Jeanine: Ich will nicht, dass sie bei uns wohnt. Sie ist … Du weißt schon. Ich hab sie lieb, aber …

Papa: Ich weiß. Ich versuche, mir etwas einfallen zu lassen.

Jeanine: Ja, please, please, please!

Papa: Hab trotzdem einen schönen Tag.

Jeanine: Wann will sie hier sein?

Papa: Am Wochenende.

Jeanine: Uff.

Es folgte das Äffchen-Emoji, das sich die Augen zuhält. Martin konnte es seiner Tochter nachfühlen.

2. Kapitel

»Papa!« Lena Overbeck stand mit verschränkten Armen in der Glastür, die zum Büro ihres Vaters führte.

»Tochter!« Lächelnd sah Arndt Overbeck von seinem Computerbildschirm auf. »Was gibt es? Du siehst aus, als wolltest du jemanden fressen.«

»Fressen?« Lena schüttelte den Kopf. »Ermorden schon eher. Hast du mal das jüngste Tutorial gesehen, das dein ach so geschätzter neuer Mitarbeiter auf seinem YouTube-Kanal veröffentlicht hat? Vorsicht vor Phishing – Für Blondies! Kannst du mir mal verraten, wie du darauf verfallen bist, so einem machohaften, selbstgefälligen Typen einen Job anzubieten?«

»Für Blondies?« Arndt unterdrückte ein Schmunzeln.

»Lach nicht! Ich bin auch blond und diese Blondinenwitze echt leid!« Lena ging einen Schritt auf ihren Vater zu. »Wir haben vielleicht momentan einen Personalengpass, aber du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mit einem Mann zusammenarbeite, der so wenig Respekt vor Frauen hat, blonden insbesondere. Ich kann dir jetzt schon prophezeien, dass das keine drei Tage gut geht, ohne dass ich ihn lynche.«

»Das wäre aber bedauerlich«, erklang hinter ihr eine dunkle Männerstimme. »Ich wollte eigentlich mindestens hundert Jahre alt werden. Übrigens heißt das Video aus guten Gründen eben nicht für Blondinen, sondern für Blondies und richtet sich an alle Geschlechter, biologische wie soziale. Meine Anfänger-Tutorials mit dem Zusatz für Blondies sind mit die erfolgreichsten meines gesamten Kanals, weil sie mit Humor Sachverhalte verständlich vermitteln. Tutorials für Dummies finde ich viel schlimmer, und ein langweiliges für Anfänger lockt niemanden hinter dem Ofen hervor.«

»Sie!« Lena war erschrocken zu ihm herumgefahren. Auf seine Worte fiel ihr so schnell keine passende Antwort ein, deshalb tippte sie stattdessen auf ihre Armbanduhr. »Sie sind zu spät.«

»Höchstens dreißig Sekunden«, konterte er lächelnd. »Ich war überpünktlich, als ich das Gebäude betreten habe. Dass ich hier nicht einfach hereingeplatzt bin, liegt daran, dass ich aus Respekt vor Ihnen gewartet habe, bis Sie fertig waren.«

»Ach.« Lena ärgerte sich unsagbar, dass sie auch darauf nichts zu erwidern wusste. Sie war doch sonst nicht auf den Mund gefallen!

Derweil hatte ihr Vater sich erhoben und begrüßte Martin Liebrecht mit Handschlag. »Herzlich willkommen im Team! Wie wir ja bereits vereinbart haben, sprechen wir einander alle mit Vornamen an. Ob wir auch irgendwann zum Du übergehen werden, hängt davon ab, wie gut wir miteinander auskommen.« Er warf Lena einen vielsagenden Blick zu. »Lena wird Ihnen Ihren Arbeitsplatz zeigen und Sie über die aktuellen Aufträge informieren. Sie ist neben der Computersicherheit auch für unseren Verkauf verantwortlich, sowohl online als auch persönlich. Ich hoffe, ihr werdet trotz des etwas holprigen Starts gut miteinander auskommen.«

»An mir soll es nicht liegen.« Martin streckte Lena die rechte Hand entgegen, die sie nach kurzem Zögern ergriff.

»Solange Sie mich nicht auch als Blondie bezeichnen – oder behandeln.«

»Das käme mir nie in den Sinn.« Er klang eindeutig zu amüsiert.

Lena entzog ihm die Hand wieder. »Hier entlang.« Ohne darauf zu achten, ob er ihr folgte, verließ sie das Büro und steuerte ihr eigenes schräg gegenüber an, in dem sie bisher allein gearbeitet hatte.

»Groß ist das hier«, stellte Martin fest, als er das Büro hinter ihr betrat.

»Das links ist Ihr Platz, rechts meiner.« Sie deutete auf die beiden großen, höhenverstellbaren Schreibtische, die sich nebeneinander an der langen Wand gegenüber der Tür befanden und mit umfangreicher Computerausrüstung ausgestattet waren. »Am besten gebe ich Ihnen zuerst einen Überblick über die Aufträge, an denen ich bereits arbeite und bei denen Sie …« Sie stockte, weil er sich noch nicht von der Tür wegbewegt hatte, sondern sich nur stirnrunzelnd umsah. »Stimmt etwas nicht? Warum setzen Sie sich nicht, damit wir …«

»Das ist kein guter Arbeitsplatz«, unterbrach er sie.

»Wie bitte?« Perplex starrte sie ihn an. »Wir sind mit brandneuer Technik ausgerüstet und der besten Software am Markt, nicht zu vergessen, die ich selbst programmiert habe. Die ist sowieso einzigartig. Es wird hoffentlich nicht lange dauern, bis Sie sich eingearbeitet haben.«

»Dieser Raum verbreitet negative Energie.«

»Negative … was?« Hatte sie sich verhört?

»Haben Sie die ganze Zeit schon mit dem Rücken zur Tür gearbeitet?«

Verständnislos hob sie die Schultern. »Auf diese Weise habe ich jede Menge Platz für Notizen an der Wand vor mir, und die Bildschirme lassen sich auch gut dort aufhängen.«

»Und müssen jedes Mal verstellt werden, wenn der Schreibtisch rauf oder runtergefahren wird«, ergänzte er und trat nun doch einige Schritte in den Raum. »Ich wette, Sie fühlen sich ständig getrieben, so ein ganz kleines bisschen?«

Sie starrte ihn an. »Der Job ist nun mal manchmal stressig.«

»Wenn man mit dem Rücken zur Tür sitzt, weiß man nie, was hinter einem vorgeht. Durch die Tür könnte Gefahr hereinkommen, und dadurch verfällt man in einen unterschwelligen Fluchtmodus. Wohl ein Erbe unserer Vorfahren aus der Steinzeit.«

»Ist das so?« Skeptisch beäugte sie erst ihren Schreibtisch, dann ihn.

»Ich kann es Ihnen beweisen. Setzen Sie sich mal.« Er deutete auf ihren Stuhl.

Zögernd gehorchte sie und hörte, wie er zur Tür zurückging. »Und was jetzt?«

»Schalten Sie den Bildschirm ein und fangen Sie mit einer beliebigen Arbeit an.«

»Okay.« Immer noch skeptisch, öffnete sie eine Datei, an der sie am Vortag gearbeitet hatte. Von Martin war kein Geräusch zu vernehmen. Nach einer knappen Minute verschränkte sie die Arme. »Das ist albern. Natürlich bin ich jetzt abgelenkt, weil ich weiß, dass Sie hinter mir stehen.« Als er nicht antwortete, drehte sie sich um und sah ihn ganz ruhig am Türstock lehnen. »Das beweist gar nichts.«

»Und wie oft haben Sie sich in der Vergangenheit schon umgedreht, weil Sie dachten, es wäre jemand da?«

Sie zuckte mit den Achseln. Ganz unrecht hatte er nicht. Diesmal hatte sie gewusst, dass er hinter ihr stand, aber manchmal hatte sie tatsächlich das Bedürfnis, sich zur Tür umzudrehen, weil sie sich vergewissern wollte, dass niemand dort war, selbst wenn die Tür geschlossen war. »Und was nun? Diagnostizieren Sie bei mir jetzt einen Verfolgungswahn?«

»Nein, nur ganz normale Reaktionen Ihres Unterbewusstseins.« Nun stieß er sich vom Türstock ab und ging zu seinem neuen Arbeitsplatz. »Fassen Sie mal mit an!«

»Wie bitte?« Eilig sprang sie auf, als er begann, den Tisch von der Wand abzurücken. »Was soll das werden?«

»Wir sorgen für einen besseren Flow der Energien.«

»Himmel!« Unschlüssig, was sie davon halten sollte, trat sie näher und half ihm, den Tisch in die Mitte des Raumes zu schieben und dabei keines der Geräte, die sich darauf befanden, zu Boden zu stoßen. »Warten Sie doch mal, hier ist alles verkabelt!«

»Kein Problem.« Kurzerhand riss Martin wahllos alle Kabel aus ihren Buchsen.

»Hey!« Verärgert fiel sie ihm in den Arm. »Wissen Sie eigentlich, wie viel Arbeit es ist, das alles wieder anzuschließen?«

»Das mache ich schon, keine Sorge.« Unbeeindruckt machte er weiter, bis der Tisch so stand, dass man vom Sitzplatz aus sowohl die Tür als auch die beiden Fenster, die zur Straße und dem Parkplatz zeigten, im Auge hatte. »Und jetzt Ihrer.«

»Meiner?« Argwöhnisch blickte sie ihn an, und da sie direkt neben ihm stand, fiel ihr auf, dass er fast einen Kopf größer war als sie. Ungünstig, aber leider war sie nun mal nur eins achtundsechzig.

»Ihr Schreibtisch«, erklärte er und machte sich bereits daran zu schaffen. »Wir stellen ihn Kopf an Kopf zu meinem, sodass wir uns ansehen können, wenn wir miteinander reden, ohne eine Genickstarre zu bekommen.«

»Finger weg von meinen Sachen!« Erbost stellte sie sich ihm in den Weg. »Sie haben ja Nerven, gleich am ersten Tag das Büro ins totale Chaos zu stürzen. Meinen Schreibtisch und alles, was sich darauf befindet, fasst niemand an außer mir.«

»Okay, okay, dann helfen Sie mal mit. Ich verspreche, Sie werden hinterher viel entspannter arbeiten. Wir beide werden das tun.«

»Sie haben doch noch gar nicht hier gearbeitet«, konterte sie giftig.

»Nein, aber es würde mir sehr schwerfallen, wenn ich ständig gegen eine Wand starren müsste und gleichzeitig die Tür im Rücken hätte. Wie soll man da auf Dauer kreativ bleiben?«

»Kreativ?«

»Unsere Arbeit besteht aus kreativen Elementen, nicht bloß aus Nullen und Einsen, das werden Sie doch wohl nicht abstreiten, oder? Abgesehen davon macht es einen viel herzlicheren, offenen und einladenden Eindruck, wenn Kunden, die hier hereinkommen, nicht als Erstes mit Ihrem Rücken Bekanntschaft machen.«

»Für Verkaufsgespräche haben wir einen eigenen Raum.«

»Und wie oft hat sich trotzdem schon mal ein Kunde oder eine Kundin hier herein verirrt?«

Schnaubend begann Lena, die Sachen auf ihrem Schreibtisch zusammenzuschieben. Viele waren es nicht, weil sie sich streng anerzogen hatte, jedem Teil einen festen Platz zuzuweisen, sodass es im Büro stets aufgeräumt und wie im Prospekt aussah. Sorgsam schaltete sie Computer und Bildschirm sowie Drucker und Scanner aus, bevor sie alle Geräte vom Strom trennte und die übrigen Kabel löste.

Interessiert trat Martin neben sie und nahm ein kleines Bündel Kabel in die Hand. »Die sind ja alle beschriftet.« Lena hob die Schultern. »Es ist einfacher, sie auf diese Weise schnell wieder an den richtigen Platz zu stecken.«

»Sie sind also ein Ordnungsfreak?«

Sie schnaubte. »Freak?«

Sogleich hob er beschwichtigend die Hände. »Das war nur eine Frage, ganz wertfrei. Ich weiß gerne, mit welchem Menschentyp ich es zu tun habe. Ich bin selbst mehr der Typ kreatives Chaos. Warten wir mal ab, wie sich das vertragen wird.«

Nicht gut, argwöhnte sie, schob aber schließlich doch ihren Tisch ebenfalls in die Mitte des Raumes und gegen seinen. Tatsächlich waren beide Tische so konzipiert, dass sie problemlos auf diese Weise harmonierten. Es gab sogar passende Aussparungen für Kabel, damit alles auch passte, wenn die Tische auf unterschiedliche Höhen eingestellt waren. Sie hatte nur nie darauf geachtet, weil sie sich das Büro seit der Verlegung der Firma von Düsseldorf hierher vor wenigen Jahren nie mit jemandem geteilt hatte. Auch in Düsseldorf war sie allein in einem Büro gewesen. Securifant war kein großer Betrieb. Sie legten viel Wert darauf, die Firma familiär zu halten und die Belegschaft überschaubar. Zuletzt hatten sie allerdings einige Erfolge verbucht und sahen sich nun gezwungen, das Team doch um einige Personen zu ergänzen. Statt fünf Wachfrauen und -männer beschäftigten sie nun zehn, und Martin war ihr zur Seite gestellt worden, weil die Aufträge im Bereich IT-Sicherheit enorm zugenommen hatten, sodass sie allein mit der Arbeit nicht mehr hinterherkam. Immerhin musste sie sich auch noch um den Verkauf kümmern. Möglicherweise würden sie auch in dieser Sparte bald noch jemanden einstellen. Außerdem war ihre Empfangsdame und Betriebsassistentin Marita vor drei Wochen in Rente gegangen, wodurch sich die Arbeitslast noch einmal vergrößert hatte.

Glücklicherweise hatten sie bereits einen Ersatz gefunden. Die Mutter ihrer Freundin Melissa hatte sich angeboten, für eine Weile einzuspringen. Zwar besaß sie keine Ausbildung im Sicherheitssektor, oder überhaupt eine, aber sie schien sehr motiviert zu sein, alles zu lernen, was für den Job wichtig war. Melissa hatte erzählt, dass ihre Mutter sogar diverse Kurse bei der Volkshochschule belegt hatte, um ihre Kenntnisse in Büroführung zu erweitern.

Melissa und ihre Mutter Maria hatten ein eher kompliziertes Verhältnis, das sich erst allmählich zu entspannen schien. Lena wusste, dass es dabei um Melissas Kindheit ging, ebenso wie um Marias schwierige Ehe mit Melissas Vater, der die beiden Frauen auf subtile, aber effektive Art und Weise beherrscht hatte. Melissa war nach seinem Tod sehr jung von einem nicht minder dominanten Mann schwanger geworden und hatte ihn geheiratet, nur um wenige Jahre später mit ihrem kleinen Sohn bei Nacht und Nebel vor den Gewalttätigkeiten zu fliehen, die seitdem ihr Leben bestimmt hatten. Auf Umwegen war sie hier in der Stadt gelandet und Lennart begegnet.

Lena bewunderte ihren Bruder dafür, mit wie viel Liebe und Geduld er Melissas Vertrauen und das ihres kleinen Jungen Andy gewonnen hatte, und schließlich auch ihr Herz.

»Sie sind ja auf einmal so still«, riss Martins Stimme sie aus den Gedanken. »Ich hoffe, Sie planen nicht bereits heimlich mein gewaltsames Ableben.«

»Äh … nein.« Sie fluchte innerlich. Äh? Was sollte das denn? Demonstrativ sah sie sich um. »Und was mache ich jetzt mit meinen Plänen und Notizen an der Wand?«

Interessiert trat Martin an die Stelle, wo vorher ihr Tisch gestanden hatte. »Das meiste sieht mir aus, als hätte es sich schon vor langer Zeit erledigt. Wir könnten große Whiteboards anbringen, auf denen wir Schaltpläne in Großformat entwerfen. Ich mache das in der ersten Phase gerne mit der Hand. Und wenn wir hier seitlich noch einen weiteren Tisch aufstellen, können wir ein paar unserer Gerätschaften dorthin auslagern und dahinter ein weiteres Board oder einen großen Bildschirm anbringen, auf den sich unsere Daten spiegeln lassen, wenn wir gemeinsam an einem Projekt arbeiten oder zwei Bereiche miteinander verschmelzen müssen.«

»Verschmelzen?« Das Wort verursachte ihr aus unerfindlichen Gründen eine Gänsehaut.

»Zusammenführen.«

»Schon klar.« Warum reagierte sie heute so eigenartig? Was er sagte, war ja nicht falsch. Sie wusste nur nicht, was sie von ihm halten sollte. Dafür, dass heute sein erster Tag hier war, seine erste Stunde, um genau zu sein, legte er eine ganz schön fordernde Attitüde an den Tag. Wenn das so weiterging, konnte sie sich auf etwas gefasst machen. Zwar hielt sie sich nicht für unflexibel, aber sie hatte sich in der Firma wie familiär eine gewisse Grundordnung anerzogen, um ihr Leben im Griff zu behalten. Veränderungen jeglicher Art prüfte sie lieber auf Herz und Nieren, bevor sie ihnen zustimmte. Ins kalte Wasser ließ sie sich nicht gerne stoßen, und im Moment hatte sie das Gefühl, als tauche sie bereits bis zum Kinn ins kalte Nass ein.

»Allmählich sollten wir hier fertig werden«, wechselte sie das Thema. »Wir haben baldige Deadlines für einige Aufträge, und ein kompletter Umbau des Büros war nicht eingeplant.«

»Tut mir leid.« Er lächelte leicht, was sie ärgerlicherweise noch mehr aus dem Konzept brachte. »Ich arbeite nun mal besser, wenn die Energie fließt.«

»Wenn die Energie fließt?«, echote sie, immer noch skeptisch.

»Das wird sie nun definitiv tun«, bestätigte er. »Warten Sie es nur ab!«

3. Kapitel

»Ach, ist das schön!« Mit einem zufriedenen Seufzen ließ Santa Claus, auch als Weihnachtsmann bekannt, sich auf die Couch in seinem Wohnzimmer fallen und bedeutete seiner Frau mit Gesten, es ihm gleichzutun. »Es ist Anfang November, und ich habe ganz fleißig bereits alle eingegangenen Wünsche bearbeitet. Wenn das so weitergeht, wird die Vorweihnachtszeit dieses Jahr endlich einmal ruhig und entspannt. Kein Chaos, keine scheinbar unlösbaren Probleme oder Wünsche, die wir nur mit jeder Menge kosmischer Hilfe in letzter Sekunde erfüllen können. Einfach nur eine besinnliche Zeit, in der wir uns zusammen mit den Menschen auf den Heiligen Abend freuen dürfen.«

»Beschrei es nur ja nicht!« Lachend ließ Santas Frau sich neben ihm nieder und kuschelte sich an ihn, als er seinen Arm um sie legte und sie an sich zog. »Eine kleine Verschnaufpause von all den nervenaufreibenden Wunscherfüllungen der vergangenen Jahre hätten wir uns ja wirklich verdient. Aber bei den unberechenbaren Menschen weiß man ja nie.«

»Zumindest habe ich bisher keine sonderlich schwierig zu erfüllenden Wünsche erhalten, und weder das Weihnachtswunsch-Radar noch sonst eine Warneinrichtung, die unsere IT-Elfen für mich eingerichtet haben, hat bisher auch nur einen Mucks von sich gegeben. Das lässt doch hoffen, mein Schatz, nicht wahr?« Lächelnd küsste der Weihnachtsmann seine Frau auf die Schläfe. »Wann hatten wir in den letzten Jahren schon mal Muße, so gemütlich zusammenzusitzen – zumindest um diese Jahreszeit!« Er hielt inne. »Ich hoffe, ich halte dich jetzt nicht von einer deiner wichtigen Arbeiten ab, meine Liebste. Wolltest du nicht dieser Tage anfangen, Plätzchen, Stollen und Lebkuchen zu backen?«

»Ja, das hatte ich vor«, bestätigte sie lächelnd, »aber auf einen Abend kommt es wohl nicht an. Ich sitze gerne mit dir hier zusammen und genieße die Ruhe und den Frieden.«

»Ob wir mal schauen sollen, was das Fernsehprogramm hergibt?«, schlug Santa Claus vor. »Bestimmt bringen sie schon wieder viele schöne neue Weihnachtsfilme. Oder wie wäre es mit einem alten Klassiker?«

»Gute Idee.« Santas Frau zückte ihr Smartphone und rief die App mit dem digitalen Programm aller Fernsehsender und Streamingdienste der Welt auf. Rasch tippte sie ein passendes Suchwort ein und lachte, als sie die Liste mit den Ergebnissen sah. »Da werden wir aber weit mehr als nur einen Abend brauchen, wenn wir die alle anschauen wollen.«

Auch der Weihnachtsmann lachte, als er die lange Liste mit Vorschlägen sah. »Na, dann nehmen wir uns eben mehr Zeit. Wie gesagt, wenn alles so schön ruhig bleibt, haben wir ja nicht so viel Stress und Aufregung wie in den vergangenen Jahren. Das tut uns ganz sicher gut.«

»Mhm.« Seine Frau blätterte sich durch die Ergebnisliste. »Vielleicht können wir ja auch mal das Christkind zu einem gemeinsamen Filmabend überreden. Gesetzt den Fall natürlich, dass bei ihm ebenfalls kein Chaos herrscht.«

»Eine wunderbare Idee!« Der Weihnachtsmann strahlte. »Wir sollten das unbedingt im … Ja, Rudolph?«, unterbrach er sich, weil in diesem Moment das Rentier mit der leuchtend roten Nase den Kopf zur Wohnzimmertür hereinsteckte. »Was gibt es denn? Du weißt doch, dass ihr Rentiere nicht einfach ungebeten ins Haus kommen sollt.«

»Entschuldigt bitte.« Rudolph scharrte ein wenig mit den Hufen. »Ich habe mir auch allen Schmutz draußen vor der Tür abgetreten, Ehrenwort!«

»Schon gut.« Santas Frau richtete sich ein wenig auf. »Was ist denn? Braucht ihr etwas?«

»Na ja, ich bin nicht sicher.« Rudolph trat vorsichtig näher. »Im Stall ist irgendwas komisch.«

»Definiere komisch.« Nun richtete auch der Weihnachtsmann sich neugierig auf. »Ist das Dach undicht?«

»Nein, gar nicht.« Rudolph schüttelte den Kopf.

»Fehlt Futter oder Wasser?«

»Nein, alles da.«

»Ist die Heizung wieder ausgefallen?«, schlug Santas Frau vor, doch wieder schüttelte das Rentier den Kopf. »Nein, nein, das ist es alles nicht.«

»Was dann?«, hakte Santa Claus nach.

Rudolph legte den Kopf leicht schräg. »Hört ihr es denn nicht?«

Verwundert hob der Weihnachtsmann den Kopf. »Was sollen wir hören?«

»Hier drinnen ist es sogar noch lauter.« Das Rentier trippelte ein wenig hin und her. »Da ist so ein komisches Geräusch draußen im Stall und auch hier im Haus. Es ist ein ganz hoher, zirpender Ton, wie eine weinende Grille, die irgendwo gefangen ist.«

»Können Grillen überhaupt weinen?« Santa Claus runzelte die Stirn und grinste gleichzeitig amüsiert.

»Santa!« Seine Frau stieß ihn mahnend mit dem Ellenbogen an, dann wandte sie sich wieder dem besorgten Rentier zu. »Ein seltsames Geräusch hört ihr also? Seit wann?«

»Ich weiß nicht genau.« Rudolph scharrte wieder etwas. »Seit ein paar Stunden. Die anderen haben mich geschickt, um euch Bescheid zu sagen. Dasher und Blitzen haben schon richtiges Ohrenweh davon.«

»Herrje, dann scheint es ja wirklich ernst zu sein.« Santas Frau erhob sich. »Da sollten wir besser mal nachsehen, was da los ist, nicht wahr, mein Lieber?« Auffordernd streckte sie die Hand aus und half ihrem Mann aufzustehen.

»Das sollten wir wohl tun«, stimmte er zu. »Auch wenn ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, woher dieses mysteriöse Geräusch rühren könnte.«

»Dann gehen wir der Sache jetzt auf den Grund«, befand seine Frau. »Na los, Rudolph, lass uns gemeinsam hinaus in den Stall gehen.«

4. Kapitel

»Tja, da wären wir also.« Maria Seifert drückte auf den Zündknopf ihres noch fast neuen, quietschorangefarbenen Kleinwagens und drehte sich im Sitz um. Auf der Rückbank hatte sie die beiden Transportboxen festgeschnallt, in denen Lilly-Anne und Karl-Gustav mit ihr von Berlin hergereist waren. Die Katze und der Kater lebten nun schon seit über einem Jahr bei ihr und waren ihr zu guten, wenn nicht gar ihren besten Freunden geworden. Was das über sie als Person aussagte, darüber vermied sie es meistens nachzudenken. Sollten die Leute ruhig glauben, sie sei eine verrückte Katzenlady. Damit lagen sie ja im Grunde gar nicht so falsch. Seit nun fast zwei Jahren befand sie sich in Therapie und begann allmählich, die Person zu werden, die sie sein wollte. Spät, ganz sicher, doch hoffentlich nicht zu spät. Sie hatte Jahre, nein Jahrzehnte damit zugebracht, sich anzupassen, unterzuordnen und damit wertvolle Lebenszeit vergeudet. Was aber noch viel schlimmer war: Sie hatte sich von ihrer Tochter entfremdet, ihrem einzigen Kind, und sie nicht davor beschützt, dass ihr ein ähnliches Schicksal bevorstand. Ein schlimmeres sogar, doch als Maria dies begriffen hatte, war es bereits zu spät gewesen. Erst seit dem vergangenen Dezember redeten sie wieder miteinander, wie Mutter und Tochter es tun sollten. In den vergangenen elf Monaten waren sie einander wieder nähergekommen, wenn nicht örtlich, so doch emotional. Auch zu ihrem nun siebenjährigen Enkel Andy hatte Maria endlich Kontakt. Sie liebte den intelligenten kleinen Mann von ganzem Herzen und war fest entschlossen, ihn nach Strich und Faden zu verwöhnen. Denn so etwas taten doch Großmütter nun einmal, nicht wahr? Sie hatte sich sogar mittlerweile mit der Bezeichnung Oma abgefunden, obgleich sie fand, dass es für eine Frau, die in zwei Monaten erst siebenundvierzig Jahre alt wurde, eine etwas schmeichelhaftere Begrifflichkeit geben sollte, die sie als Großmutter auszeichnete.

»Na, was meint ihr? Sollen wir reingehen?« Maria versuchte, durch die Gittertüren der Transportboxen etwas zu erkennen, doch ihre beiden Begleiter schienen ihr unisono beleidigt den Rücken zuzuwenden. Antwort gaben sie ihr natürlich auch nicht, obwohl zumindest Karl-Gustav oft und gerne mit ihr redete. Das Autofahren mochten die beiden aber nicht, schon gar nicht, wenn es sich über so viele Stunden hinzog wie heute.

»Na, dann machen wir das mal«, gab Maria sich schließlich selbst die Antwort. Sie bemühte sich um ein fröhliches Lächeln und ein kleines Lachen, um zu überspielen, wie nervös sie in Wahrheit war. Fake it until you make it hatte sie sich zum Motto gemacht. Sie wollte so gerne wirklich selbstbewusst und positiv eingestellt sein und hatte in dieser Hinsicht auch schon große Fortschritte gemacht, doch manchmal bekam sie einfach Angst vor der eigenen Courage. Das musste aber ohne Not niemand wissen, also war sie gut darin geworden, ihre Unzulänglichkeiten zu überspielen.

Ganz richtig war dieses Verhalten nicht, das war ihr bewusst, und ihr Therapeut hätte es wohl auch nicht gutgeheißen, aber er war in Berlin und sie hier, einige hundert Kilometer entfernt. Sie hatte sich bereits um einen neuen Therapieplatz hier in der Nähe gekümmert, aber es würde noch fast vier Wochen dauern, bis sie den ersten Termin wahrnehmen konnte. Bis dahin durfte sie in Notfällen ihren alten Therapeuten jederzeit anrufen. Was sie nicht tun würde.

Er hatte ihr sehr geholfen, das stand außer Frage, aber sie hatte nun einen Schritt in ein neues, anderes Leben gemacht, und da brauchte sie auch für ihre Psyche einen Neuanfang, eine veränderte Perspektive. Die kleine Pause bis Anfang Dezember würde nicht schaden, da sie die größten Probleme längst hinter sich gelassen hatte. Nun fehlte ihr noch der Feinschliff, wie sie fand, und in den kommenden Wochen würde sie für sich herausfinden, wie genau der aussehen sollte.

Ihr Haus zu verkaufen und ihr gesamtes altes Leben in Berlin zurückzulassen, war einfacher gewesen, als sie gedacht hatte. Und mit Lennarts Einliegerwohnung hatte sie ohne Schwierigkeiten eine Bleibe ganz in der Nähe von Melissa und Andy gefunden. Lennart war vor einigen Monaten zu Melissa und Andy gezogen, die ein bezauberndes Blockhaus in einer noch bezaubernderen Ferienhaussiedlung gemietet hatten. Es lag etwas abseits auf einer Lichtung mitten im Wald und bot für die drei ausreichend Platz. Der einzige Nachteil, wenn man so wollte, war der Umstand, dass sie nun mit Lennarts Vater Arndt unter einem Dach, Tür an Tür, leben musste. Sie war ihm und Lennart sehr dankbar, dass sie ihr die Wohnung vermieteten, ebenso wie Lennarts Schwester Lena, die im Obergeschoss eine eigene Wohnung hatte. Auch dafür, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen Job haben würde, als Betriebsassistentin bei Securifant, der Sicherheitsfirma, die Arndt gemeinsam mit seinen Kindern aufgebaut hatte. Problematisch war dabei nur, dass sie und Arndt einander von früher kannten. Aus einer Zeit, an die sie sich kaum traute zurückzudenken, denn damals, vor nun achtundzwanzig Jahren, war sie schon einmal, wenn auch nur für ein Wochenende, mutig gewesen. Doch dann hatte die Realität sie schnell wieder eingeholt und jenes Flämmchen Mut unbarmherzig erstickt.

Sie hatte niemals damit gerechnet, Arndt Overbeck noch einmal zu begegnen. Die Wahrscheinlichkeit war einfach viel zu gering gewesen, sodass sie sich sogar eingebildet hatte, sie hätte die Ereignisse von damals vergessen. Dann war er am Heiligen Abend plötzlich und ohne Vorwarnung bei Melissa aufgetaucht. Selbst jetzt, so viele Monate später, spürte sie noch den Nachhall des Schrecks und des wilden Satzes, den ihr Herz gemacht hatte, als sie begriff, wer da vor ihr stand und dass er der Vater des neuen Freundes ihrer Tochter war. Vielleicht hätte sie früher darauf kommen können, wegen Lennarts und Lenas Nachnamen, wegen einiger Details, die sie hier und da über die beiden erfahren hatte. Aber der Groschen war erst gefallen, als sie ihm gegenübergestanden und ihn nach all der Zeit auf den ersten Blick wiedererkannt hatte.

Selbstverständlich hatte ihre gemeinsame Vergangenheit keinerlei Auswirkungen auf die Gegenwart. Warum auch? Achtundzwanzig Jahre waren eine lange Zeit, eine ganze Generation, um genau zu sein, und jenes kurze Wochenende war im Vergleich dazu nur ein Fingerschnipsen. Deshalb sprachen sie auch nicht darüber. Es war schlicht und ergreifend nicht notwendig, solche alten Kamellen, wie man hier sagte, ans Tageslicht zu holen. Dumm nur, dass sie sich in Arndts Gegenwart immer befangen fühlte. Verlegen. Und ihr Herz hüpfte auch jedes Mal ganz unanständig, wenn sie ihm begegnete. Vollkommen irrational und vor allen Dingen albern.

Sie brauchte sich nach all der Zeit weder zu schämen noch einzubilden, dass jenes Wochenende für sie beide mehr gewesen war als dieser Fingerschnipp. Solche Dinge waren vielleicht der Stoff für kitschige Hollywoodstreifen oder romantische Netflixserien – beides hatte sie inzwischen für sich entdeckt, ebenso wie herzerwärmende Liebesromane –, jedoch keinesfalls etwas, das im realen Leben jemals passieren würde. Schon gar nicht ihr. Das war einfach ausgeschlossen, so viel Verstand besaß sie schließlich.

Sie mochte für den größten Teil ihres Lebens das Denken und Entscheiden erst ihrem Vater, dann ihrem Ehemann überlassen haben, was aber nicht bedeutete, dass sie es nicht konnte. Sie begann gerade, ihren Kopf zu benutzen, ihren Verstand kennenzulernen und auf die Bedürfnisse ihres Herzens zu hören, aber auch auf die ihres Körpers und ihrer Seele. Da kam es nicht infrage, sich in Erinnerungen zu verstricken, die mit dem Hier und Jetzt rein gar nichts zu tun hatten.

Ein leises, eindeutig vorwurfsvolles Mauzen riss Maria aus ihren verschlungenen Gedanken, und sie wurde sich bewusst, dass sie immer noch im Auto saß, auf dem überdachten Stellplatz, den Arndt ihr zusammen mit der Einliegerwohnung zur Verfügung stellte. »Entschuldigt bitte, ihr zwei.« Rasch griff Maria nach ihrer Handtasche. »Ich schließe nur schnell die Tür auf und dann hole ich euch!«

Sie stieg aus dem Wagen und reckte sich ausgiebig. Wenn sie ehrlich zu sich war, musste sie zugeben, dass sie nur so lange im Auto sitzen geblieben war, weil sie ihren viel gerühmten neuen Mut hatte zusammenkratzen müssen. Dabei musste sie nicht einmal befürchten, Arndt zu begegnen, denn er hatte ihr gestern mitgeteilt, dass er am heutigen Abend nicht zu Hause sein würde. Er hatte sich von Lennart und Lena überreden lassen, sich wieder mehr seinem Hobby, dem Sportschießen, zu widmen, und würde den heutigen Abend auf dem Schießplatz verbringen. Maria schauderte ein wenig beim Gedanken an solch ein Hobby. Sie hatte einen gehörigen Respekt vor jeder Art von Schusswaffen und würde bestimmt nur unter Androhung von Gewalt eine Pistole oder ein Gewehr in die Hand nehmen.

So lag das Haus nun im Dunkeln – zumindest bis sie sich dem Eingang näherte. Ein Bewegungsmelder ließ die Beleuchtung über der Haustür aufflammen. In einem der Fenster im Erdgeschoss sah sie eine hübsche, auf antik getrimmte Laterne mit LED-Kerze, und neben der Eingangstür stand eine Engelsfigur, die ein ebenfalls mit LEDs umrahmtes Schild mit der Aufschrift Sei herzlich willkommen! in Händen hielt. Irgendwie kitschig, aber trotzdem auch nett. Arndt hatte ihr gesagt, dass er ihren Hausschlüssel unter dem Engel deponieren würde, und genau dort fand sie ihn auch. Es war albern, doch ihre Hand zitterte ein bisschen, als sie die Haustür aufschloss und nach dem Lichtschalter tastete.

Als die Beleuchtung anging, sah Maria sich eingehend um. Sie war vor einem halben Jahr hier gewesen, um sich die Wohnung anzuschauen. Damals schon hatte sie über die üppigen Grünpflanzen gestaunt, die die große Diele bevölkerten, in der sie nun stand. Es gab eine große Garderobe auf der rechten Seite, die von allen Bewohnern des Hauses benutzt werden konnte. Geradeaus befand sich die Tür zu Arndts Wohnung, linker Hand führte eine geschwungene helle Holztreppe ins Obergeschoss und hinunter in die Einliegerwohnung. Und auf jedem nur erdenklichen freien Platz tummelten sich Grünlilien, Efeututen, ein Ficus benjamina von enormen Ausmaßen wuchs neben dem Treppenaufgang in die Höhe und Breite, und die Namen der unzähligen weiteren Gewächse würde sie wohl googeln müssen. Sie hatte zwar pflichtschuldig in ihrem früheren Heim stets eine sorgfältig ausgesuchte Auswahl an Zimmerpflanzen kultiviert, weil das nach Ansicht ihres verstorbenen Mannes zu einem ordentlichen Haushalt dazugehörte, aber besondere Freude hatte ihr das Zimmergärtnern nie bereitet. Seit sie die beiden Katzen hielt, war sie ganz auf Katzengras, Bromelien und Bananenpflanzen umgestiegen, weil diese ungiftig waren. Auch eine noch kleine Bergpalme besaß sie und liebäugelte mit einer Kokospalme. Doch wahrscheinlich würde das bereits zu viel für die achtzig Quadratmeter, die fortan ihr Reich sein würden.

»Hallo, Mama, da bist du ja!« Unbemerkt war Melissa durch die Haustür getreten.

»Huch!« Erschrocken fuhr Maria zu ihr herum. »Du meine Güte, jetzt bin ich aber erschrocken!« Sie presste ihre Hand aufs Herz, trat aber gleichzeitig auf Melissa zu, um sie zaghaft zu umarmen und auf die Wange zu küssen. »Ich hatte dich noch gar nicht erwartet.«

»Ich bin ein bisschen früher losgefahren.« Melissa lächelte verhalten. »Lennart meinte, du brauchst vielleicht doch mehr Hilfe beim Auspacken, als du gedacht hast. Sein Umzug zu uns hat auch viel länger gedauert, als er erst angenommen hatte. Er und Andy bauen heute Abend wieder mal eine Höhle, das ist eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen.« Während sie sprach, leuchteten ihre Augen vor Liebe auf, und das wärmte Marias Seele.

»Ich muss mir bald mal eine dieser legendären Höhlen ansehen«, befand sie. »Andy erzählt so gerne davon.«

»Wenn du ihn lässt, baut er auch bei dir in der Wohnung eine.« Melissa hustete. »Komplettes Chaos inbegriffen. Aber erzähl, wie war die Fahrt? Bist du gut durchgekommen? Wie geht es Lilly-Anne und Karl-Gustav?«

Maria, die versucht hatte, sich vorzustellen, wie ihr Enkel in ihrer Wohnung aus Stühlen, Sesseln und Decken eine Höhle baute, hatte Mühe, gleichzeitig alle Fragen zu beantworten. »Wir haben dreimal im Stau gestanden, aber sonst ging es ganz gut. Ich sollte mich aber jetzt beeilen, damit die Katzen aus ihren Transportboxen kommen. Am besten stelle ich als Erstes die beiden Katzenklos auf.«

Melissa räusperte sich. »Ich staune immer noch, dass du dir zwei Katzen angeschafft hast. Früher wäre so etwas undenkbar gewesen.«

»Weil dein Vater Haustiere verabscheut hat.« Maria hob die Schultern. »Ein Tier, ganz gleich welches, wäre bei uns nicht glücklich gewesen. Und später, als dein Vater … nicht mehr da war, habe ich nicht die Kraft aufgebracht, mehr als den Status quo aufrechtzuerhalten. Dabei hätten mir – und dir ebenfalls – Haustiere bestimmt gutgetan. Wie geht es eigentlich Sissi? Ist sie immer noch so quirlig?« Auch wenn sie normalerweise einigen Respekt vor Hunden hatte, war ihr Lennarts Boxermädchen inzwischen sehr ans Herz gewachsen.

»Sie ist ein Schatz, wie immer. Sie und Andy sind die besten Freunde.«

Maria lächelte. »Das ist schön. Ich habe viel darüber gelesen, wie positiv sich Haustiere auf die Charakter- und Persönlichkeitsentwicklung von Kindern auswirken. Karl-Gustav und Lilly-Anne werden sich freuen, Andy wiederzusehen. Sie haben immer gerne mit ihm gespielt.« Während sie sprach, schaltete sie das Licht an der Treppe ein und stieg die wenigen Stufen hinab bis zu der Tür, die in die Einliegerwohnung führte. Ganz kurz hielt sie inne, schloss die Augen und atmete tief ein, bevor sie den Schlüssel ins Schloss steckte.

Die Wohnung war hell und großzügig geschnitten, mit großen Fenstern und einer breiten Terrassentür, die zum angrenzenden Garten zeigten. Das Haus war an einem leicht abfallenden Hang gebaut, sodass die Einliegerwohnung ebenerdig zum Garten lag, während vom Erdgeschoss aus eine breite Steintreppe ins Freie führte. Die Terrasse und den Garten teilten sich alle drei Parteien, was natürlich bei Vater, Sohn und Tochter gar kein Problem gewesen war. Maria wusste noch nicht so recht, wie sie diese Situation meistern würde, aber drei erwachsene Menschen würden sicherlich einen Kompromiss finden.

Womit sie nicht gerechnet hatte, war, dass in dem großen Wohnraum und der linker Hand angrenzenden Küche bereits alle Möbel aufgebaut waren, die sie online in diversen Möbelhäusern bestellt und hierher hatte liefern lassen. Sie hatte sich mental bereits darauf eingestellt, tagelang mit dem Aufbau beschäftigt zu sein. Dazu hatte sie sich bereits unzählige Tutorials auf YouTube angeschaut und ebenfalls alle erforderlichen Werkzeuge gekauft. Diese lagen ordentlich aufgereiht auf dem rechteckigen Esstisch, der sich an die Kücheninsel anschloss und um den auf drei Seiten insgesamt vier Stühle standen. »Oh, wow!«, entfuhr es ihr, als ihr klar wurde, dass ein paar gute Geister ihr die ganze schwere Arbeit abgenommen hatten. »Wer hat denn hier gewirkt? Das wäre doch gar nicht nötig gewesen.«

»Lennart und Arndt waren da anderer Meinung.« Melissa grinste. »Ich meinte zwar, dass ich dir gerne mal beim Arbeiten mit einem Akkuschrauber zusehen würde, aber sie haben mich überstimmt. Du musst jetzt nur entscheiden, ob alles so stehen bleiben soll oder ob du etwas umstellen möchtest. Die anderen Zimmer sind auch so weit fertig.«

»Im Ernst?« Maria fühlte sich ganz überwältigt. Eilig ging sie nach rechts zu der Tür, die ins Nebenzimmer führte, das Lennart als Büro genutzt hatte. Auch Maria hatte sich einen Schreibtisch angeschafft und neben einigen Schränken auch noch einen weiteren, höhenverstellbaren Tisch, an dem sie die Bastelarbeiten angehen konnte, für die sie seit einiger Zeit eine Vorliebe entwickelt hatte. In der hinteren Ecke stand das Rudergerät, das sie sich in einem Anflug von Ehrgeiz zugelegt hatte. Schließlich wollte sie sich irgendwie fit halten. Pilates und Rudern passten ihrer Meinung nach gut zusammen, und beides konnte sie hier erledigen, ohne in ein Fitnessstudio gehen zu müssen.

Neugierig eilte sie zurück in den kleinen Empfangsraum, von dem aus sie Bad und Schlafzimmer erreichen konnte. Das Bad war durch ihre Wahl an Farben jetzt ein Traum in hellem Blau und sonnigen Gelbtönen, die perfekt zu den weißen Wand- und gelben Bodenfliesen passten. Toilette, Dusche, Badewanne mit Blick in den Garten, ein schönes, großes Waschbecken mit nagelneuem Spiegelschrank.

Das Schlafzimmer lag dem Bad gegenüber und ging zur Straße hinaus. Das eins sechzig breite Bett war ebenso aufgebaut worden wie Kleiderschrank und Kommoden. Da das Zimmer klassisch cremeweiß gestrichen war, hatte sie sich für dunkle Kirschholzmöbel entschieden, die in natura noch besser aussahen als auf dem Computerbildschirm. Wenn sie erst die bunten Läufer, Vorhänge und Kissen sowie Decken im Quiltstil hier verteilt hatte, war der Raum perfekt.

»Unglaublich, dass ihr das alles heimlich aufgebaut habt.« Sie hätte Melissa gerne an sich gedrückt, wusste aber nicht, ob ihre Tochter dafür schon offen war. Also ergriff sie nur ihre Hände. »Danke. Einfach nur danke!«

»Keine Ursache.« Zu Marias Freude erwiderte Melissa den Händedruck. »Die Möbel sind sehr schön. Erst dachte ich ja, dass dieser Landhausstil in Weiß im Wohnzimmer vielleicht zu eintönig sein könnte, weil die Küche ja schon ganz weiß ist, aber zusammen mit den dunkelbraunen Sitzmöbeln wirkt das alles sehr edel und gleichzeitig gemütlich. Ich hätte gar nicht gedacht, dass du …« Sichtlich verlegen brach sie ab.

»Dass deine Mutter einen so guten Geschmack haben könnte?« Maria lachte, vielleicht ein klein wenig zu laut, aber es kam von Herzen. »Ich war mir auch erst nicht sicher, was das angeht. Du weißt, dass dein Vater hinsichtlich der Einrichtung unseres Hauses alle Entscheidungen getroffen hat, und davor musste ich mich nach den Wünschen und Vorstellungen meiner Eltern richten. Ich muss erst lernen, solche Dinge ohne Hilfe zu entscheiden, aber es fängt an, mir Spaß zu machen. Offenbar habe ich auch einen ganz passablen Blick für Farben und Formen. Das hätte ich gar nicht erwartet.«

»Es ist schön, dass es dir so gut geht.« Eingehend sah Melissa sich um. »Du hast es verdient, nach deinen eigenen Vorstellungen zu leben und glücklich zu sein.«

»Habe ich das?« Überrascht hob Maria den Kopf.

»Selbstverständlich.« Melissa ergriff nun ihrerseits Marias Hände und drückte sie. »Du hattest es nicht leicht, Mama. Ich konnte mich nie gut in dich hineinversetzen, aber in letzter Zeit habe ich viel mit Lennart geredet und … na ja, ich fange an, die Dinge auch aus deiner Perspektive zu sehen. Unsere Familie war total verkorkst, und wir beide leiden nach wie vor darunter. Trotzdem bin ich froh, dass du jetzt hier bist. Vielleicht …« Wieder brach Melissa ab.

Maria nickte ihr mit klopfendem Herzen zu. »Ja, vielleicht …« Sie räusperte sich energisch. »Jetzt hole ich aber schnell Lilly-Anne und Karl-Gustav. Wärst du so lieb, die beiden Katzenklos hereinzutragen?«

***

Erst eine geraume Weile später, Melissa war längst nach Hause gefahren, war Maria aufgefallen, dass die gesamte Wohnung mit Spezialgittern an den Fenstern katzensicher gemacht worden war. Sogar ein gutes Drittel der riesigen, mit Natursteinen gepflasterten Terrasse war fachmännisch eingezäunt und sogar mit einer doppeltürigen Schleuse versehen worden, durch die sie den angrenzenden Terrassenbereich mit den Sitzgelegenheiten und den Garten betreten konnte, ohne Angst haben zu müssen, dass ihre Lieblinge entwischten.

Wie sollte sie sich dafür nur bedanken? Sie hatte sich tage-, nein, wochenlang Gedanken darüber gemacht, wie sie mit Arndt über die Sache mit der Katzensicherheit reden sollte. Er wusste zwar um ihre beiden Stubentiger und hatte keinerlei Einwände gegen die Haustiere erhoben, doch dass er von sich aus gleich die ganze Wohnung samt Außenbereich katzensicher machen würde, ohne sie darüber zu informieren oder Geld dafür zu verlangen, hätte sie niemals erwartet. Oder sich auch nur vorstellen können. Ganz offensichtlich waren Vater und Sohn einander sehr ähnlich, nicht nur äußerlich, denn so, wie sie Lennart bisher kennengelernt hatte, würde sie ihm so eine zuvorkommende Geste sofort zutrauen. War es also vielleicht seine Idee gewesen? Aber selbst, wenn dies der Fall war, hatte Arndt offensichtlich nicht gezögert, den Vorschlag in die Tat umzusetzen. Und das für eine Frau, die die beiden kaum kannten und die bei dem, was Melissa über sie erzählt haben musste, nicht unbedingt gut weggekommen sein dürfte.

Sie hatte viele Fehler gemacht; zu viele, um sie auch nur ansatzweise zählen zu können. Eine Wiedergutmachung war kaum möglich, und dass sie spätestens seit dem Tod ihres Mannes mit Depressionen zu kämpfen gehabt hatte, war in ihren Augen auch keine Entschuldigung. Sie war vom Leben, ihrer Ehe, Melissa, einfach von allem überfordert gewesen und hatte nie den Mut und die Kraft aufgebracht, sich aus dem goldenen Käfig, in den sie hineingeboren worden war und den sie auch in ihrer Ehe nie wirklich infrage gestellt hatte, zu befreien. Sie wusste jetzt, dass sie es hätte versuchen müssen, wenn schon nicht um ihrer selbst, dann zumindest um Melissas willen. Vielleicht wären ihrer Tochter dann einige wirklich schreckliche Jahre erspart geblieben. Andererseits würde es dann Andy nicht geben, diesen wunderbaren, klugen und liebenswerten Siebenjährigen. Und Melissa wäre niemals Lennart begegnet, der ihr so unglaublich guttat. Dann hätte sie, Maria, diesen Neuanfang hier und heute auch nicht versuchen können.

War also am Ende alles vorbestimmt? Hatte alles so kommen müssen, damit sie, Melissa und Andy schließlich zu diesem Punkt hatten gelangen können? Wie oft hatte sie schon darüber nachgedacht, zu einer abschließenden Erkenntnis war sie jedoch bislang nicht gekommen.

Sie hatte sich auf ihrer neuen Couch ausgestreckt, während Karl-Gustav und Lilly-Anne es sich auf ihrem Bauch und ihren Beinen bequem gemacht hatten und tief und fest schliefen. Die beiden hatten ihr neues Zuhause zunächst einer sehr eingehenden Musterung unterzogen, dann die Katzenklos benutzt, und nun schienen sie sich bereits ganz heimisch zu fühlen. Maria war erleichtert, dass sie so anpassungsfähig waren, denn bestimmt gab es auch Katzen, die einen Umzug weit weniger gut wegsteckten.

Träge ließ sie den Blick über die Taschen, Koffer und Kartons schweifen, die überall in der Wohnung verteilt standen, und spürte dem Gefühl der Erleichterung nach, dass sie die Möbel nicht aufzubauen brauchte. Stattdessen würde sie morgen gleich mit Auspacken und Einräumen beginnen können. Und übermorgen würde sie dann den allerersten Job ihres Lebens antreten. Zumindest den ersten bezahlten Job, denn im Haushalt war sie natürlich für alles zuständig gewesen und ehrenamtlich hatte sie sich während ihrer Ehe auch oft betätigt, das war einfach von ihr erwartet worden. Sie hatte dies kaum jemals infrage gestellt, und oft hatte sie die ehrenamtliche Beschäftigung sehr begrüßt, weil sie dadurch einmal aus dem Haus gekommen war. Zwar hatte sie bei der Gelegenheit ausschließlich Kontakt zum Freundeskreis ihres Mannes gepflegt, denn einen eigenen hatte sie nie besessen, und sich dort denselben snobistischen, einengenden und, wie sie inzwischen begriffen hatte, frauenfeindlichen Ansichten gegenübergesehen, aber das hatte sie in Kauf genommen wie so vieles andere, was sie heute bitter bereute.

Der Gedanke an die Reaktion ihrer Eltern, als diese erfahren hatten, dass Maria das Haus verkaufen und so gut wie alle Brücken hinter sich abbrechen wollte, um in Melissas und Andys Nähe sein zu können, schlug ihr immer noch auf den Magen, auch wenn sie noch so vorhersehbar gewesen war.

Da ihre Augen verdächtig zu brennen begannen, drängte Maria diese Gedanken energisch beiseite und konzentrierte sich auf etwas anderes. Wo sollte sie die Kratzbaum- und Spiellandschaft für Lilly-Anne und Karl-Gustav aufstellen? Wahrscheinlich würde sie dafür noch einmal um Hilfe bitten müssen, dabei hatte sie die Nettigkeit doch gar nicht verdient, mit der Lennart und sein Vater ihr all die Arbeit einfach und ohne großes Aufheben abgenommen hatten. Sie musste sich dafür erkenntlich zeigen, wenn sie auch noch nicht wusste, wie. Da es im ganzen Haus absolut still war, konnte Maria das Motorengeräusch wahrnehmen. Vermutlich kehrten Arndt oder Lena nach Hause zurück. Ihr Herz kam aus dem Takt, was natürlich absolut bescheuert war.

Kurz darauf ging die Haustür, gleich darauf eine weitere. Also war Arndt nach Hause gekommen, denn Lena hätte ja die Treppe ins Obergeschoss genommen. Da nur das Licht über der Anrichte in der Küche brannte, konnte sie beim Blick aus dem Fenster den Lichtschein erkennen, der durch die Fenster über ihr in den Garten fiel. Es war ein merkwürdiges Gefühl, nun nicht mehr ganz allein im Haus zu sein. Irgendwie aufregend und beruhigend zugleich.

Sie war wirklich verkorkst, stellte sie bei sich fest, dass die Anwesenheit ihres Vermieters in der Wohnung über ihr sie nervös machte. Doch immerhin hatte sie seit dem Tod ihres Mannes vor fast elf Jahren ganz allein in einem großen, wenig heimeligen Haus gelebt. Ans Alleinsein war sie gewöhnt, an die Einsamkeit, nicht jedoch an die Gegenwart eines anderen Menschen, der nicht nur ihr Vermieter, sondern darüber hinaus ein ausgesprochen großherziger, liebenswürdiger Mensch war und ein erschreckend attraktiver Mann. Mit so etwas hatte sie keinerlei Erfahrung.

Ganz automatisch versuchte sie, sich vorzustellen, was Arndt nun oben in seiner Wohnung tun würde. Vielleicht noch einen Happen essen? Etwas trinken? Oder gleich zu Bett gehen? Es war immerhin schon weit nach zehn Uhr. Morgen war Dienstag, also musste er bestimmt früh in der Firma sein. Auch für sie wurde es Zeit, schlafen zu gehen, wenn sie am morgigen Tag fit sein wollte. Als es leise an der Wohnungstür klopfte, schrak sie heftig zusammen. Ihr Herz pochte wie wild bis hinauf in ihre Kehle.

»Ja, bitte?«, rief sie leise und versuchte, sich aufzurappeln, ohne die Katzen zu Boden zu stoßen. Karl-Gustav und Lilly-Anne erwachten natürlich und verzogen sich maunzend in Richtung des weich gepolsterten Körbchens, in dem sie fast immer gemeinsam den größten Teil der Nacht verbrachten, bevor sie sich in den frühen Morgenstunden zu Maria ins Bett gesellten. »Moment, bin schon da!« Endlich stand Maria auf ihren Füßen. Sie fasste prüfend in ihr Haar, während sie auf die Wohnungstür zusteuerte.

»Maria?« Arndts Stimme war angenehm dunkel. »Entschuldige bitte die späte Störung. Ich wollte …« Er brach ab, als sie die Tür öffnete, und lächelte ihr zu. »Hallo.«

»Guten Abend, Arndt.« Warum wollte sich ihr Herzschlag einfach nicht beruhigen? War sie nicht ganz bei Trost? Unsicher wich sie dem Blick aus seinen dunkelblauen Augen aus. »Möchtest du kurz hereinkommen?«

»Aber nur einen Moment.« Er trat an ihr vorbei in die Wohnung, als sie die Tür freigab, und ihr wurde wieder einmal bewusst, wie attraktiv er war: groß, breitschultrig wie sein Sohn, mit blondem, von grau durchsetztem kurzem Haar und kurz geschorenem Oberlippen- und Kinnbart. »Ich möchte dich wirklich nicht lange stören, sondern wollte mich nur vergewissern, dass du gut angekommen bist und alles so ist, wie du es dir vorgestellt hast, hier in der Wohnung, meine ich. Hattest du eine gute Reise?«

»Ja, beides.« Endlich hatte sie sich gefangen und lächelte zurück. »Die Fahrt war zwar lang und anstrengend, aber alles in allem okay. Und was die Wohnung angeht …« Sie holte tief Luft. »Ihr seid ja verrückt, dass ihr alle Möbel für mich aufgebaut habt. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.«

»Ach was, das war doch selbstverständlich.« Er winkte lässig ab.

»Nein, war es nicht«, widersprach sie. »Dafür kann ich euch nicht genug danken. Und dann habt ihr auch noch alles katzensicher gemacht! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Ein einfaches Danke ist vollkommen ausreichend.«

»Nein, ist es nicht.«

»Doch, ist es.« Er sah sie ernst an. »Immerhin sind wir jetzt … na ja, fast Familie.«

»Fast Familie«, echote sie.

»Vielleicht irgendwann nicht mehr nur fast, wenn das mit Lennart und Melissa weitergeht, wovon ich ausgehe.«

»Ja, klar.« Familie. Das Wort hatte für ihn mit Sicherheit eine ganz andere, positivere Bedeutung als für sie. »Das wäre … schön.«

Aufmerksam musterte er sie. »Hättest du etwas dagegen?«

Sie erschrak. »Nein! Gar nicht. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken … Ich freue mich sehr für Melissa und Lennart und natürlich für Andy. Ich bin es nur nicht gewohnt, Familie als etwas Angenehmes zu empfinden.«

»Immer noch so schlimm?« Seine Miene nahm einen mitfühlenden Ausdruck an. »Du hast mir damals erzählt, dass dein Verhältnis zu deiner Familie nicht das beste ist. Daran hat sich also nichts geändert?«

Damals. Sie schluckte hart. Ihre Gedanken waren sofort bei jenem Wochenende vor achtundzwanzig Jahren, und prompt überschlug sich ihr Puls wieder. Sie wollte sich jedoch nichts anmerken lassen. »Meine Eltern sind zu wenig flexibel, um sich auch nur jemals ansatzweise zu ändern. Sie sehen keinen Anlass dazu. Dass ich mich endlich von ihnen gelöst habe und hierhergezogen bin, sehen sie als Affront, nicht mehr und nicht weniger. Sie sind beleidigt und gehen davon aus, dass ich in kürzester Zeit aufgebe und wieder zu ihnen zurückkehren werde.«

»Was du nicht vorhast.«

»Nein.« Sie straffte die Schultern. »Ich habe viel zu lange damit gewartet, diesen Schritt zu tun. Himmel, ich habe mein halbes Leben schon hinter mir und war noch nie wirklich selbstständig! Wenn es nicht so peinlich und traurig wäre, müsste ich wohl darüber lachen.«

Arndts Miene wurde wieder ernst. »Es muss dir nicht peinlich sein. Niemand hat das Recht, über dich zu urteilen. Schon gar nicht jemand, der die Zusammenhänge nicht kennt.«

Er kannte sie, zumindest einige. Sie hatte ihm damals ihr Herz ausgeschüttet. Darüber wollte sie lieber nicht nachdenken. Er wusste tatsächlich eine Menge über sie; mehr, als vielleicht gut war. »Ich habe das Recht, über mich zu urteilen«, antwortete sie schließlich mit etwas Verspätung. »Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich viel zu viel falsch gemacht habe. Ich war dumm und schwach. Das muss ich akzeptieren und versuchen, von jetzt an alles so anzugehen, wie ich es für richtig halte. Auch wenn ich immer noch in vielen Bereichen herausfinden muss, was ich überhaupt will und … wer ich bin.«

Nachdenklich nickte Arndt. »Du solltest nicht zu streng mit dir sein. Wir machen alle Fehler, und alles kann ja auch nicht schlecht gewesen sein. Du hast immerhin eine ganz wundervolle, liebenswerte Tochter und einen tollen Enkelsohn. Ich bin sicher, in den beiden steckt mehr Gutes von dir, als du dir zugestehen willst.«

»Gutes von mir?« Sie lachte vielleicht eine winzige Spur zu schrill. »Wenn Melissa dir da mal nicht widersprechen würde.«