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Ein Graffiti am Portal des Eichstätter Doms gilt im romantischen Altmühltal als größter anzunehmender Kriminalfall. Doch es kommt noch schlimmer: Ausgerechnet am Fronleichnamstag wird in einem Steinbruch ein ermordeter türkischer Arbeiter gefunden. Kommissar Mike Morgenstern ermittelt in Kebab- Läden, Naturkundemuseen und Steinunternehmen. Alle Spuren führen zum Urvogel Archaeopteryx, dem berühmtesten Fossil der Welt. Doch wer ist so fanatisch, um für ein Stück Stein über Leichen zu gehen?
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Seitenzahl: 377
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Richard Auer, Jahrgang 1965, studierte Diplom-Journalistik an der Katholischen Universität Eichstätt und hielt der Stadt auch danach die Treue. Mit seiner Frau und drei Söhnen wohnt er mitten in der barocken Altstadt. Seit zwei Jahrzehnten arbeitet er als Lokalredakteur beim »Eichstätter Kurier«. Im Emons Verlag erschienen »Vogelwild« und »Walpurgisöl«.www.autorenwerkstatt-auer.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-191-6 Oberbayern Krimi Originalausgabe
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EINS
Morgenstern war betrunken: Erst summte er noch leise und zurückhaltend, dann sang er immer lauter den alten Gassenhauer von Tom Petty mit, der aus den Boxen der Kneipe tönte. »I’m learning to fly …«, sang Tom Petty, und Morgenstern vollendete den Refrain: »… but I ain’t got wings.« Ich lerne das Fliegen – aber ich habe keine Flügel. Mochten andere Gäste ihm auch irritierte Blicke zuwerfen, selbst das konnte Morgenstern an diesem Abend nicht bremsen. Er hatte beste Laune – und bereits fünf Guinness getrunken. Große Pint-Gläser Guinness. Mike Morgenstern hatte sich an diesem späten Montagabend Anfang Juni von seiner Gattin Fiona spontan freigeben lassen. Kurz vor zehn war er die paar hundert Meter zum irischen Pub in der Eichstätter Altstadt geschlendert, hatte sich am Tresen niedergelassen, eine Pizza verspeist und sich im Laufe von drei Stunden dem sämigen, dunklen und bittersüßen Bier gewidmet, in dessen Schaumkrone der Wirt am Zapfhahn ein kleines Kleeblatt gemalt hatte.
Fünf Guinness, das war Oberkommissar Mike Morgenstern mit seinen zweiundvierzig Jahren nicht mehr gewohnt. In seiner Jugend hatte er Alkohol deutlich besser vertragen, zumindest kam ihm das rückblickend so vor. Aber jetzt konnte er schon ahnen, dass sein Bierkonsum am nächsten Morgen einen Brummschädel zur Folge haben würde. Seine Karaoke-Einlage war schon ein sicheres Indiz dafür, dass es zu viel geworden war, aber eindeutig wurde es ihm klar, als er nach dem Bezahlen auf die Straße und hinaus in die sternenklare Sommernacht trat. Hoppla! Eben, auf dem Weg zum Ausgang des Pubs, hatte Morgenstern sich noch sicher bewegt, aber jetzt, an der frischen, kühlen Luft, hatte er leichte Probleme, seinen angestrebten Kurs zu halten. Zum Glück war es nicht weit bis nach Hause. Er musste nicht einmal eine U-Bahn nehmen, so wie früher in Nürnberg. Bei dem Gedanken lächelte Morgenstern melancholisch.
Leise noch Tom Pettys Lied summend marschierte er vom Markt- in Richtung Domplatz. Von einem der Dom-Doppeltürme schlug die Uhr gerade eins. Kein Auto war unterwegs, nichts regte sich.
Hier sind wirklich alle Gehsteige hochgeklappt, dachte Morgenstern. Weil er fröstelte, knöpfte er sich die Jeansjacke bis zum Hals zu. Die Absätze seiner abgewetzten braunen Cowboystiefel klackerten laut auf dem Granitpflaster. Zusammen mit dem Echo, das sie von den alten Häuserfronten zurückwarfen, hätte man annehmen können, eine Pferdekutsche sei am Heranrollen. Morgenstern grinste in sich hinein. In der nächtlichen Stille war er nicht zu überhören: klack, klack, klackerdiklack.
In der Mitte des Platzes hob sich das Kriegerdenkmal schwarz vom Himmel ab. Auf der runden, steinernen Säule thronte ein Löwe, dessen linke Tatze auf einer Kugel ruhte. Morgenstern hielt kurz inne, schaute zum Löwen hinauf und musste dabei feststellen, wie sich der Himmel über ihm leicht drehte. Nein, er selbst war es, der sich drehte! Ihm war schummrig, seine Beine fühlten sich wie Gummi an, und er benötigte dringend eine Toilette. Da das öffentliche WC am Domplatz nachts zum Schutz vor Vandalen verschlossen war, sollte er zusehen, dass er schnellstens nach Hause kam. Als Polizeibeamter konnte er sich wohl schlecht an irgendeiner x-beliebigen Hausecke erleichtern.
In diesem Moment wurde er durch ein Geräusch in seinen Gedanken gestört. Es kam ganz aus der Nähe, vom Hauptportal des Doms. Etwas Metallisches war dort zu Boden gefallen, das Echo hatte die Lautstärke des Aufpralls wie in einer Arena verstärkt. Der Platz vor dem Dom, auf dem sich am Tag die parkenden Autos drängten, war um diese Uhrzeit fast leer. Morgenstern hielt den Atem an, lauschte in die Nacht. Still war es jetzt, ganz still. Er starrte zum Domportal hinüber, konnte aber keine Menschenseele entdecken. War das nicht auch egal? Er klackerte ein paar Schritte weiter, blieb dann nochmals stehen und blickte zum Dom hinüber. Ein Graffiti! Neben das Portal war rechts ein Graffiti gesprüht worden, ein paar Buchstaben nur, die aber jeder immerhin einen Meter hoch waren.
Morgenstern mochte keine Graffitis. Mehr noch, er hasste sie und war der festen Überzeugung, dass diese Schmierereien die ersten Zeichen von Verwahrlosung und Niedergang seien, die Vorboten des Faustrechts, der Anarchie. Mit moderner Kunst brauchte ihm da keiner zu kommen, genauso wenig wie mit der jugendlichen Form von politischer Meinungsäußerung. Für ihn war das alles nur Geschmiere. Sachbeschädigung. Morgenstern fühlte, wie sich Groll in ihm breitmachte, obwohl er eben noch bester Dinge gewesen war. Tom Petty, dessen Song bis vor wenigen Momenten noch in seinem Kopf nachgeklungen hatte, war verstummt. Ausgeknipst von einem einzigen metallischen Geräusch und ein paar Buchstaben an einer Wand.
Entschlossen wandte sich der Oberkommissar Richtung Hauptportal. Mit seinem gotischen Gewölbe wirkte es wie eine dunkle Höhle, deren Gang über einige Treppenstufen hinab zu den hölzernen Türflügeln des Doms führte. Fünfzehn Meter vor dem Schlund entdeckte er, was er suchte: Zwei, nein drei Personen duckten sich an den Rand der Portalhöhle, um seinem Blick zu entkommen. Vergeblich.
In dieser Sekunde war Oberkommissar Morgenstern plötzlich wieder im Dienst. »Ich habe Sie gesehen. Machen Sie, dass Sie hier rauskommen!«, rief er mit energischer und lauter Stimme. Die drei schienen zu gehorchen. Sie richteten sich auf und kamen zögerlich die fünf Treppenstufen zu ihm hinauf, bis sie auf dem Domplatz standen. Morgenstern atmete tief durch. Drei gegen einen: Das konnte ihn nicht schrecken, zumal diese drei, dem ersten Eindruck nach, schmalen, jungen Burschen ziemlich erschrocken wirkten. Dank der polizeilichen Judo-Grundausbildung würde er mit diesen Milchbubis im Ernstfall schon fertig werden.
»Haben Sie etwa den Dom beschmiert?«, fragte Morgenstern und versuchte dabei, trotz des Alkohols, so viel Autorität wie nur möglich in seine Stimme zu legen.
»Und wer will das wissen?«, pflaumte ihn der Größte des Trios patzig an.
In diesem Moment sah Morgenstern auf dem Gehwegpflaster eine Spraydose liegen. Die also hatte beim Herunterfallen das laute Geräusch verursacht, das ihn aufgeschreckt hatte.
»Morgenstern, Oberkommissar. Mir scheint, ich habe Sie da bei etwas Illegalem erwischt.« Die drei jungen Männer standen unbeweglich da, noch immer fünfzehn Meter von Morgenstern entfernt. Jetzt musste er sich um die Formalitäten kümmern. Er hatte die Personalien festzustellen und irgendwie die Kollegen von der Polizeiinspektion zu benachrichtigen. Hatte er überhaupt sein Handy eingesteckt? Morgenstern fummelte mit leicht fahrigen Bewegungen in der Brustasche seiner Jeansjacke nach seinem Mobiltelefon herum, wobei er die Sprayer für zwei, drei Sekunden aus den Augen lassen musste. Ein Fehler, ein Kardinalfehler sogar: Zwei der Burschen rannten wie auf Kommando los und sprinteten am Dom entlang gen Westen. Der dritte zögerte kurz, gab dann aber ebenfalls Fersengeld.
»Verdammt noch mal, bleiben Sie stehen!«, brüllte Morgenstern aus Leibeskräften in die Nacht, dann folgte er den Ausreißern. Seine geliebten Cowboystiefel stellten sich dabei als Hindernis heraus: Das abgewetzte Granitpflaster des Platzes war so spiegelglatt, dass der Oberkommissar aufpassen musste, um mit seinen ebenso glatten Sohlen nicht auszurutschen. Hätte er nur seine Turnschuhe getragen! Immerhin war seine Kondition gut, dessen war er sich sicher.
Die drei bogen an der Pfahlstraße in Richtung Rathaus ab. Sie hatten zwar fünfzig Meter Vorsprung, aber das musste noch nichts heißen. Morgenstern nahm all seine Kräfte zusammen und sprintete hinterher.
»Der Wolf hetzt die Meute«, triumphierte er innerlich, als der Abstand sich deutlich verringerte. Er konnte die Burschen schon keuchen hören. Noch zweihundert Meter, und wenn es unbedingt sein musste, auch zwei Kilometer, dann würde er sie eingeholt haben. An einer engen Gasse bogen die Gejagten nach links ab. Sie wollten also den Fußsteg über die Altmühl nehmen, folgerte Morgenstern. Dahinter begann der Radweg, der am Fluss entlangführte. Auf der geraden Strecke würden die Burschen keine Chance mehr gegen ihn haben, Morgenstern, erfolgreicher Bezwinger des Nürnberger Halbmarathons vor drei Jahren.
Die fünf Guinness waren der Grund, warum Morgenstern viel zu spät auf das Hindernis reagierte, das ihm plötzlich den Weg blockierte. Die Sprayer hatten an der Einmündung in die Gasse im Vorbeirennen fünf prall gefüllte gelbe Säcke auf den Weg geworfen, in denen die Bewohner vorbildlich ihren Plastikabfall für die Müllabfuhr gesammelt hatten. Die Eichstätter Bürger waren wahre Meister der Mülltrennung. In riesigen Bergen warteten alle vier Wochen an jeder Straßenecke die Recyclingsäcke auf die anstehende Abholung. Morgenstern wurde von der Miniaturbarrikade völlig aus der Bahn geworfen. Er schaffte es gerade noch, über den ersten Müllsack zu springen, doch dann landete er mit dem linken Fuß auf einem zweiten, der mit einem dumpfen Knall aufplatzte und seinen Inhalt kreuz und quer auf der Gasse verstreute. Leere Milchtüten und ausgespülte Joghurtbecher flogen durch die Luft, und der Oberkommissar konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Obwohl er mit seinen Armen ruderte, um die Balance zu bewahren, fiel er mit den Handflächen voran aufs Pflaster. Trotz seiner Abwehrhaltung schlug er mit Nase und Kinn auf dem harten Steinboden auf. Er hörte noch, wie die Sprayer über die Altmühlbrücke rannten, doch für ihn, den Verfolger, war die Jagd zu Ende.
Mühsam rappelte sich Morgenstern inmitten der Müllsäcke auf und trat dabei frustriert mit einem seiner Stiefel gegen einen bislang unbeschädigten Beutel, der nun ebenfalls platzte. Erst als er sich mit dem Ärmel seiner Jeansjacke den Schweiß vom Gesicht wischte, bemerkte er, dass er heftiges Nasenbluten hatte und zudem beide Handballen aufgeschürft waren. Vorsichtig säuberte er die Hände an der Hose, dann legte er den Kopf weit in den Nacken, um auf diese Weise das Nasenbluten zu stoppen. In dieser sonderbaren Haltung ging er nach Hause: blutverschmiert, den Blick zum sternenklaren Himmel gerichtet und plötzlich sehr, sehr müde.
ZWEI
Der Dienstagmorgen begann mit einem Donnerwetter im Hause Morgenstern: Fiona war außer sich, als ihr Blick beim Aufwachen auf ihren Gatten mit blutverkrusteter Nase und verschrammtem Kinn fiel. Zu allem Überfluss hatte er durch sein Nasenbluten auch noch Bettdecke und Kissen verschmiert.
Noch etwas benommen versuchte Morgenstern, von seinen nächtlichen Eskapaden zu erzählen, wurde aber immer wieder von Fiona unterbrochen. »Wie viel Bier hast du getrunken? Fünf Halbe? Da wundert mich gar nichts mehr.« Fiona schüttelte den Kopf, während sie in der Küche die Kaffeemaschine in Gang setzte. »Du weißt doch, dass du nichts verträgst.«
Die meisten Männer würden sich durch eine solche Aussage in ihrer Ehre gekränkt fühlen – so auch Mike Morgenstern, der sofort zur Verteidigung ausholte. »Fünf Guinness, das müsste eigentlich schon gehen. Schließlich habe ich auch noch eine Pizza gegessen, als Unterlage.«
»Hat aber anscheinend nicht geholfen«, konterte Fiona vorwurfsvoll. »Und warum musstest du, um alles in der Welt, dann auch noch so junge Sprayer jagen? Überlass das doch lieber deinen Kollegen von der Inspektion.«
Fiona wusste selbst, dass das für ihren Mann kein akzeptables Argument war. Er konnte einfach nicht wegschauen, lieber brachte er sich selbst in Teufels Küche oder zumindest um seine Freizeit. Doch jetzt zeigte er sich zu ihrer Überraschung ehrlich zerknirscht.
»Wahrscheinlich hätte ich wirklich einfach heimgehen sollen, anstatt die Milchbubis durch die halbe Stadt zu hetzen. Was ist denn schon der Lohn dafür? Zum Narren habe ich mich gemacht.« Missmutig trank Morgenstern einen Schluck Kaffee.
»Wie geht es dir überhaupt?«, fragte Fiona nun mit deutlich mehr Mitgefühl. »Kannst du zur Arbeit, oder willst du einen Tag zu Hause bleiben?«
»Nie im Leben bleib ich hier!«, entrüstete sich Morgenstern. »Ich bin schon wieder vollkommen auf dem Damm.« Das war zwar nicht ganz korrekt, die Schrammen schmerzten in der Tat kaum noch, aber die alkoholbedingten Kopfschmerzen würden ihm sicher bis zum frühen Nachmittag zu schaffen machen, doch für vom Alkohol verursachtes Leiden gab es kein Attest: nicht vom Hausarzt und erst recht nicht von Fiona.
»Ich fahre dann nach Ingolstadt rüber«, kündigte er an, »aber zuvor schaue ich noch bei der Eichstätter Polizei vorbei und gebe denen wegen der Sprayer Bescheid.«
»Hättest du das nicht gleich heute Nacht machen sollen?«, fragte Fiona.
»Ich weiß, ich weiß«, brummte Morgenstern und nahm einen weiteren großen Schluck Kaffee. »Aber ich musste mich erst einmal selbst verarzten, und dann konnte ich nicht anders, als mich einfach hinzulegen. Die Kollegen hätten die Männer doch sowieso nicht mehr gefunden. Die waren längst über alle Berge.« Er stellte die leere Kaffeetasse neben das Spülbecken.
»Was war das eigentlich, was die Kerle da an den Dom gesprüht haben?«, erkundigte sich Fiona.
»Hm«, Morgenstern dachte nach, »ich kann mich nicht mehr erinnern. Aber ich glaube, nichts Besonderes, sonst hätte ich mir das auf jeden Fall gemerkt.« Er grübelte weiter: »Ich muss wirklich passen. Es waren nur ein paar Buchstaben, wahrscheinlich waren sie noch gar nicht fertig. Solche Idioten. Wer beschmiert denn schon einen Dom?«
***
Die Kollegen der Polizeiinspektion Eichstätt waren bereits über das Graffiti informiert worden, als Morgenstern Anzeige erstattete. Schon um sechs Uhr in der Früh hatte der Dommesner empört Alarm geschlagen, und wenig später hatte sich noch ein knappes Dutzend Kirchgänger und Passanten telefonisch bei den Beamten gemeldet. Die Besatzung eines Streifenwagens hatte schon Fotos vom Delikt gemacht und die vom Mesner sorgfältig sichergestellte Farbdose in die Inspektion gebracht.
Morgenstern war verlegen, als er den Kollegen am Eingangsbereich über seinen spontanen nächtlichen Einsatz informierte. Auch wenn er erst kurz in Eichstätt war – er war erst im Februar von Nürnberg hierhergezogen –, kannte er die meisten Beamten der Inspektion bereits flüchtig. Es hatte sich ausgezahlt, dass er im Polizeisportverein regelmäßig zum Volleyballtraining ging. Ein bisschen Kontaktpflege konnte nie schaden.
»Und du hast die drei Sprayer nachts wirklich auf frischer Tat ertappt?«, fragte der Kollege Klaus Binder.
»Sage ich doch, aber sie sind mir entwischt. Unten an der Herzoggasse bin ich über ein paar Abfallsäcke gestolpert, und als ich mich wieder aufgerappelt hatte, waren sie weg«, berichtete Morgenstern und präsentierte Binder seine Handballen, die mit großen Hansaplaststreifen verarztet worden waren.
»Ach, du warst das?«, grinste er. »Heute früh haben wir aus der Herzoggasse eine Beschwerde wegen Vandalismus bekommen, weil jemand den ganzen Müll verstreut hat. Da reagieren die Leute hier allergisch drauf. Du machst dir noch keine Vorstellung davon, mit welchem Pipifax wir es in Eichstätt laufend zu tun haben.«
»Dann habt ihr heute immerhin schon einen Fall geklärt«, sagte Morgenstern optimistisch.
»Und die Sprayer kriegen wir auch noch, verlass dich drauf«, versprach Binder. »Wir kennen schließlich unsere Pappenheimer. Kannst du die Burschen beschreiben?«
Morgenstern dachte nach. Die Sprayer hatten im geschützten Dunkel gestanden, einer hatte eine dunkle, vielleicht schwarze Windjacke getragen. »Nicht wirklich, ich habe fast gar nichts gesehen.« Heute war er wirklich keine große Hilfe.
Binder seufzte: »Na ja, nicht so schlimm, Mike. Falls dir noch etwas einfällt: Sachbearbeiter ist Hartmut Gruber. Den kennst du doch?«
»Ich glaube schon«, log Morgenstern, um nicht wieder sein Unwissen zugeben zu müssen. »Hoffentlich kriegt ihr die Schmierfinken. Schon mir zuliebe.« Er dachte kurz nach. »Was haben die eigentlich genau an die Mauer gesprayt?«
»Nur ein paar Buchstaben, die bisher aber noch keinen Sinn ergeben. Warte, ich schau kurz in den Computer, wir haben die Fotos schon ins System gestellt.« Während Binder ein paar Angaben in den PC tippte, meinte er an Morgenstern gewandt: »Mit Graffitis haben wir hier in Eichstätt zum Glück nur selten zu tun. Einmal hat jemand an die Mauer vom bischöflichen Priesterseminar ›Gott ist tot‹ geschmiert, aber kurz darauf hat ein anderer Sprayer das in ›Gott ist total lieb‹ abgeändert.«
Morgenstern schüttelte ungläubig grinsend den Kopf. Dieses erzkatholische Eichstätt war ihm noch immer ein Buch mit sieben Siegeln.
»Da haben wir’s ja schon: ›1/20 DAR‹.« Klaus Binder war auf der Suche nach dem Graffiti-Foto fündig geworden.
Morgenstern zog seine Stirn in Falten: »›1/20‹? Das scheint mir ein Datum zu sein, so wie Nine-Eleven, der 11. September mit dem Terroranschlag auf das World Trade Center. Die Amis kürzen das Datum auf die gleiche Weise ab.«
»Dann würde das also auf den 20. Januar hinweisen. Aber was ist mit ›DAR‹?«
»Das wiederum sagt mir gar nichts. Erinnert mich an Darfur, die Krisenregion im Sudan. Vielleicht gibt es da ja einen Jahrestag am 20. Januar?«, grübelte Morgenstern. »Sag mal, wie sieht es hier in Eichstätt eigentlich mit der linken Szene aus, oder gibt es vielleicht sogar Autonome?«
»Eher nicht«, antwortete Binder. »An der Uni haben wir ein paar Linke, aber Militante sind uns noch nicht untergekommen.« Er hielt inne. »Doch, warte mal: Vor ein paar Jahren tauchte am Finanzamt auf dem Residenzplatz ein Graffiti auf. Das Säubern hat ein Heidengeld gekostet, weil alle Fassaden unter Denkmalschutz stehen. Da ging es gegen den G8-Gipfel in Deutschland. ›Stoppt G8‹, haben da welche hingeschmiert. Wenn ich es mir recht überlege, haben wir ziemlich viele Ökos hier in Eichstätt. Sogar unser Bischof ist so ein Grüner.« Der Inspektionsbeamte sah Morgenstern plötzlich prüfend an, dann sagte er: »Apropos Bischof, da fällt mir etwas ein. Was machst du eigentlich am Donnerstagvormittag?«
»An diesem Donnerstag? Am Feiertag?«
»Ganz genau. An Fronleichnam.«
»Da mache ich mit meiner Familie eine Radtour.«
Binder grinste: »Da habe ich aber eine viel bessere Idee. Geh am besten gleich mal zu unserem Inspektionsleiter rauf in den ersten Stock. Du kommst uns wie gerufen.« Lächelnd nahm er den Telefonhörer und kündigte den völlig ratlosen Mike Morgenstern beim Inspektionsleiter Hauptkommissar Manfred Huber an. »Wegen Fronleichnam, Sie wissen schon … Genau, Morgenstern von der Kripo Ingolstadt … Nein, der wohnt doch bei uns in Eichstätt … Das weiß ich nicht.« Der Kollege legte eine Hand auf die Hörermuschel und wandte sich an Morgenstern: »Bist du katholisch?«
»Warum willst du das denn wissen? Getauft bin ich schon, aber so richtig katholisch schon lange nicht mehr …«
»Er ist katholisch«, verkündete Binder triumphierend seinem Chef und trug dabei wieder dieses sonderbare Lächeln zur Schau. »Rauf mit dir«, sagte er zu Morgenstern, als er aufgelegt hatte. Dann deutete er mit dem Zeigefinger an die Decke, zum ersten Stock hinauf. »Du wirst schon sehnsüchtig erwartet.«
Hauptkommissar Huber redete nicht lange um den heißen Brei herum. »Lieber Kollege Morgenstern. Am Donnerstag findet bei uns in Eichstätt doch die große Fronleichnamsprozession statt, die durch die gesamte Altstadt führt. Mit Bischof und allem Pipapo. Die Polizeiinspektion Eichstätt hat unter meiner Führung dabei die wichtige Aufgabe, den Bischof mit der Monstranz in Ehrenformation zu begleiten. Leider sind wir dafür im Moment noch zu wenig Leute, weshalb wir jeden Mann benötigen. Ich habe da an Sie als unseren Retter gedacht.«
Morgenstern war baff. »An mich? Aber ich gehöre doch gar nicht zu Ihrer Inspektion!«
»Das macht überhaupt nichts. Die Ingolstädter leihen Sie uns bestimmt ganz problemlos aus. Das ist doch Ehrensache. Ich muss nur kurz mit Kriminaldirektor Schneidt telefonieren, dann ist das geritzt. Das machen wir auf dem ganz kleinen Dienstweg.« Er grinste.
»Das geht mir jetzt aber zu schnell«, versuchte Morgenstern zu protestieren, »ich war bestimmt schon zwanzig Jahre lang in keiner Kirche mehr.«
»Na, dann wird es doch höchste Zeit, dass wir das mal wieder üben, mein lieber Morgenstern«, schmunzelte Huber unbeirrbar. »Außerdem ist das alles ganz simpel. Wir gehen zu sechst neben dem Bischof mit der Monstranz her und machen ein möglichst feierliches Gesicht. Das ist alles.«
»Können das nicht vielleicht Kollegen machen, die frömmer sind als ich?«, bat Morgenstern verzweifelt. »Eigentlich hatte ich den Feiertag auch schon verplant.«
»Leider nein. Alle Kollegen, die nicht im Urlaub und nicht zum Inspektionsdienst eingeteilt sind, habe ich bereits verpflichtet.«
»Aber ich könnte doch für die Prozession den Verkehr regeln? Sozusagen als Angebot unter Freunden?«
Huber winkte ab: »Alles schon längst geklärt. Das machen unsere Beamten, die evangelisch sind.«
Geschlagen gab Morgenstern den Kampf gegen die Prozession auf und fügte sich seinem offensichtlich unvermeidlichen Schicksal. Wie es aussah, würde er noch lange in Eichstätt leben, und da konnte ein bisschen guter Wille, der vor den Polizeikollegen demonstrativ zur Schau gestellt wurde, nicht schaden. Er hatte vor, so auch bei Fiona zu argumentieren. Seine Frau, das ahnte er, würde von den neuen Plänen alles andere als begeistert sein.
»Also gut, was muss ich tun?«, gab er nach.
»Heute ist, warten Sie mal, Dienstag. Wir treffen uns morgen um fünfzehn Uhr hier in der Inspektion. Dann wirst du eingekleidet … Ich sage jetzt einfach mal Du«, fügte er erklärend hinzu, »wir Prozessionsteilnehmer gehören doch alle zusammen. Also: Ich bin der Manfred.«
»Mike«, erwiderte Morgenstern verhalten und schüttelte Huber zur Bekräftigung ihrer neuen, katholisch inspirierten Beziehung die Hand. Beim Volleyballspielen waren beide noch beim distanzierten Sie geblieben. Der Glaube versetzt eben doch Berge, dachte Morgenstern.
DREI
Wie vereinbart fand sich Morgenstern am Mittwochnachmittag in der Polizeiinspektion Eichstätt ein, um die Galagarderobe für den Fronleichnamszug das erste Mal in Augenschein zu nehmen. Die Kleiderkammer, ein schmaler, langer und fensterloser Raum, befand sich im Keller des Gebäudes. An den beiden Längsseiten reihten sich alte, verschrammte Holzspinde aneinander. Es roch nach Mottenkugeln. Zwei Neonlampen tauchten den Raum in kaltes, grelles Licht. Fünf Beamte der Eichstätter Inspektion waren bereits anwesend und probierten ihre Festuniformen an. Neben dem Inspektionsleiter Manfred Huber kannte Morgenstern noch zwei Kollegen vom Volleyball.
»Nur über meine Leiche!«, rutschte es dem Oberkommissar raus, als er das wichtigste und auffälligste Kleidungsstück für den Einsatz am kommenden Tag sah: Es war ein weit über die Knie reichender Mantel mit knisternder Kunststoffoberfläche und einem mächtigen Kragen aus künstlichem braunem Pelz. »Ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass ich mich mit so etwas auch nur für eine Minute auf der Straße sehen lasse? In all meinen Dienstjahren in Nürnberg habe ich so ein Ding noch nicht gesehen. Das ist doch wieder typisch für Eichstätt. Ich sage es meiner Frau immer wieder: Hier ist die Zeit stehen geblieben.«
Huber, der gerade in einem der Spinde herumwühlte, drehte sich um, als er Morgensterns Stimme hörte: »Ja, der Kollege Morgenstern ist auch endlich da! Grüß dich! Warum regst du dich denn so auf?«
»Nie im Leben ziehe ich so ein Ding da an!«, verkündete Morgenstern voller Überzeugung und deutete auf den grünen Mantel.
»Aber, aber! Das ist ein Parademantel der Bayerischen Polizei.« Huber lächelte milde und tippte dabei auf das am rechten Ärmel aufgenähte Staatswappen. »Er ist zwar nicht mehr ganz neu, aber bei uns immer pfleglich behandelt worden. Der ist noch tipptopp, dem fehlt es an nichts.«
»Und ich dachte, die wären alle schon vor dreißig Jahren in die Altkleidersammlung gewandert«, spottete Morgenstern. »Hör doch bloß mal, wie der knistert. Ist alles aus Plastik.« Theatralisch ergriff er den rechten Ärmel des Mantel-Ungetüms, schüttelte ihn, als würde ein leibhaftiger Polizeibeamter drinstecken, und lästerte: »Guten Tag, Oberkommissar Morgenstern mein Name, schönen Mantel haben Sie da an, vielleicht ein bisschen warm für die Jahreszeit …«
»Nun mach hier mal kein Theater. Auch wenn du noch neu bist, gibt es keinen Grund, sich so anzustellen«, reagierte Huber beleidigt. »Wir anderen tragen das Ding schließlich auch, ohne dass wir uns deswegen Flöhe einfangen.« Tröstend fügte er hinzu: »Ist ja nur für ein paar Stunden. Und repräsentativ ist der Mantel auf alle Fälle.«
Morgenstern traute seinen Ohren nicht. »Repräsentativ? Ihr spinnt doch total. Solche Mäntel hatte früher die Gestapo an!«
Da war sie wieder, seine berühmte große Klappe, die ihm in seinem Leben schon so viel Ärger eingebrockt hatte. Bereits in der Zehntelsekunde, in der ihm das Wort herausgerutscht war, hatte er es bereut. Doch es war zu spät.
Hauptkommissar Huber räusperte sich kurz, dann sagte er in einem Ton, der keinerlei Diskussion mehr zuließ: »Mike, du ziehst diesen Mantel an wie jeder andere von uns auch, und dann will ich kein Wort mehr hören. Und merk dir zwei Dinge: Wir machen keine Modenschau, und wir sind hier nicht in Nürnberg.«
Das hatte gesessen. Huber wandte sich einem Spind zu, pflückte einen froschgrünen Mantel heraus und reichte ihn seinem Kollegen. Gehorsam probierte Morgenstern das Kleidungsstück an.
»Größe zweiundfünfzig passt! Das habe ich mir gleich gedacht«, sagte Huber.
Morgenstern schwieg. Wie ein grüner Nikolaus!, dachte er, aber zum Glück behielt er die spontane Assoziation diesmal für sich. Zufrieden klopfte Huber dem Kollegen auf die Schulter, was augenblicklich ein leises Knistern auslöste, und verkündete geradezu euphorisch: »Sechs Polizeibeamte, wie sich das gehört. Eine ordentliche Ehrengarde für das Allerheiligste. Treffpunkt ist morgen, Punkt sieben Uhr vor dem Dom. Und vergesst die weißen Handschuhe nicht.« An Morgenstern gewandt fügte er noch hinzu: »Die Strecke ist ziemlich lang, deshalb empfehle ich dir bequeme Schuhe. Aber dem Anlass angemessen, also komm mir bloß nicht in deinen Cowboytretern.«
»Gelobt sei Jesus Christus«, gab Morgenstern spöttisch zurück. In dieser sonderbaren Situation wollte er dann doch das letzte Wort haben.
Aber er hatte sich zu früh gefreut. »In Ewigkeit. Amen«, kam von Manfred Huber trocken die katholisch-korrekte Antwort.
VIER
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