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Kommissar Mike Morgenstern zieht sich die Gummistiefel an. Ein junger Schweinemäster aus der Nähe von Ingolstadt wird tot in seiner Biogasanlage gefunden. Ein tragischer Unfall, meinen die Oberkommissare Mike Morgenstern und Peter Hecht – bis sie erfahren, dass bereits in den Wochen zuvor die Ernte des Landwirtes sabotiert wurde. Der eigensinnige Bauer stand im 'Speckgürtel' rund um die Großstadt offensichtlich vielen im Weg. Doch wer ist bereit, über Leichen zu gehen?
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Seitenzahl: 420
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Richard Auer, Jahrgang 1965, studierte Diplom-Journalistik an der Katholischen Universität Eichstätt und hielt der Stadt auch danach die Treue. Mit seiner Frau und drei Söhnen sowie Kater Lorenzo wohnt er mitten in der barocken Altstadt. Seit über fünfundzwanzig Jahren arbeitet er als Tageszeitungsredakteur im Altmühltal.
www.autorenwerkstatt-auer.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2018 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: time./photocase.de
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Hilla Czinczoll
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-409-4
Originalausgabe
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Mike Morgenstern stand auf der Bierbank und sang aus voller Kehle »Ein Prosit der Gemütlichkeit«. Neben ihm stand ähnlich enthemmt sein Kollege Peter »Spargel« Hecht. Und um sie herum wogte ein ganzes Bierzelt voller schwitzender Leiber. Herbstfest in Ingolstadt, und die beiden Kriminaloberkommissare waren so privat unterwegs, wie man sich das nur vorstellen konnte. Nur sie selbst hätten sich das in dieser Form wenige Stunden vorher noch nicht vorstellen können.
Im Polizeipräsidium Oberbayern Nord, das unmittelbar an den riesigen Festplatz angrenzte, war an diesem Tag wenig los gewesen. Und irgendwann hatten die zwei Kollegen beschlossen, den langweiligen Tag auf dem Festplatz ausklingen zu lassen, so wie das Tausende anderer Menschen aus Ingolstadt und dem Umland auch taten.
Zuerst waren sie über den Platz geschlendert, hatten die Fahrgeschäfte bestaunt und sich sogar zu einer Fahrt mit der »Wilden Maus« hinreißen lassen. Als eine Art Achterbahn ohne Achter schien sie ihnen ein ausreichend harmloses Vergnügen zu sein. Es stellte sich allerdings heraus, dass die kleinen Wägelchen, in denen die Passagiere in luftiger Höhe eingeklemmt waren, mit rasender Geschwindigkeit auf Neunzig-Grad-Kurven zuschossen, wobei die Fahrgäste für eine Nanosekunde befürchten mussten, über einen Abgrund in die Tiefe zu stürzen, zerschmettert auf dem Asphalt des Ingolstädter Festplatzes. Morgenstern hatte hinterher einen flauen Magen, und deswegen hatte er es für eine gute Idee gehalten, dieses Problem im Bierzelt der Brauerei Herrnbräu zu beheben. Hecht, der der »Wilden Maus« ebenfalls mit ziemlich fahlem Gesicht entstiegen war, schloss sich an.
Das Festzelt war allerdings schon am frühen Abend bestens gefüllt gewesen, mit Mühe hatten sie zwei freie Plätze an einem Tisch etwa in der Zeltmitte ergattert, umgeben von rotgesichtigen jungen Männern in Lederhosen und rot-weiß karierten Hemden sowie deren Begleiterinnen, die allesamt Dirndl trugen und aussahen, als kämen sie gerade eben vom Friseur – was ziemlich sicher der Fall war.
Die jungen Leute, so stellte sich heraus, stammten aus Kösching, einer aufstrebenden Marktgemeinde zehn Kilometer nordöstlich von Ingolstadt, und sie waren wild entschlossen, sich an diesem Abend zu amüsieren. Zwei aus der Gruppe hätten den Tisch schon seit dem Mittag reserviert, damit die anderen jetzt am frühen Abend auch ordentliche Plätze hätten, erfuhren die Kommissare beiläufig. Denn heute sei schließlich »Showabend« mit der Joe-Williams-Band, ein Höhepunkt des Herbstfestes, den man sich als junger Mensch aus dem Ingolstädter Umland unter keinen Umständen entgehen lassen dürfe.
Hecht und Morgenstern hatten das, während sie eine Maß Bier tranken und ein Grillhendl (Morgenstern) beziehungsweise ein Schaschlik (Hecht) verzehrten, für überzogen gehalten. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Band eher gesetzte Stücke aus der Vorhölle der deutschen Schlagerlandschaft gespielt. Aber wenig später zogen die Musiker die Zügel straffer, Rolling Stones, AC/DC, und schon tanzte die Köschinger Landjugend auf den Tischen – und mit ihnen die gesamte vordere Zelthälfte.
Peter Hecht, wie immer mit Cordsakko sehr korrekt gekleidet, wandte sich seinem Kollegen zu, um ihn kopfschüttelnd auf diese grassierende Verrücktheit hinzuweisen – nur um zu bemerken, dass Mike Morgenstern, in Jeansjacke und Cowboystiefeln, seinerseits begann, die orangefarbene Bierbank zu erklimmen. Offenbar hatte eines der Dirndl-Mädchen ihn nicht lange bitten müssen. »Living next door to Alice«, grölte Morgenstern mit, und zwei Lieder später stand auch Peter Hecht auf der Bank und wunderte sich sehr über sich selbst. Da hatten sie längst die zweite Maß geordert, der dann eine dritte folgte.
»Ich kann heute nicht mehr heimfahren«, verkündete Hecht schließlich. »Ich übernachte im Büro.«
»Dann mache ich das auch so«, schloss sich Morgenstern an, zückte sein Handy, um sich daheim in Eichstätt bei seiner Frau und den beiden Söhnen abzumelden. Und damit waren endgültig alle Dämme gebrochen.
»Mögt ihr noch was?«, rief der zuständige Kellner, der zu diesem Zeitpunkt mit der Versorgung seiner Gäste kaum noch nachkam.
»Zwei Maß!«, orderte Morgenstern mit einem seligen Grinsen.
Draußen war es dunkel geworden, und die Band hatte offenkundig eine genaue Vorstellung davon, was ihr Publikum erwartete. Längst hatten die beiden Kommissare das »Fliegerlied« mit der dazugehörigen Choreografie absolviert, in der man so »stark wie ein Tiger« und so »groß wie eine Giraffe« sein durfte – und schon kam der nächste Knaller aus der langen Reihe der Oktoberfest-Wiesn-Hits. Hubert von Goiserns »Brenna tuats«. Morgenstern kannte das Lied bis dato nur aus dem Radio, und Peter Hecht musste völlig passen. Aber die Köschinger Tischgemeinschaft erwies sich als textsicher und grölte den rasend schnellen Refrain mit: »A jeder woaß, dass des Göd net auf da Wiesn wochst, und essen ka ma’s a net, oba brenna tuats guat.«
Dass das Geld nicht auf der Wiese wächst, das konnte Morgenstern gut nachvollziehen, das konnte er auch noch mitsingen, aber den Rest verstand der gebürtige Nürnberger gerade noch so, da war irgendwas mit »Hoazen und Woazen und Ruabn und …«, Heizen mit Weizen und Rüben und was auch immer? Ein seltsamer, anscheinend gesellschaftskritischer Wiesn-Hit – sehr weit weg von Helene Fischer.
Es folgte wieder einmal ein »Prosit der Gemütlichkeit« und damit die Chance auf eine kurze Verschnaufpause im Bierzelt, das inzwischen die Luftfeuchtigkeit eines holländischen Tomatentreibhauses erreicht hatte – das Wasser tropfte innen vom Zeltdach. Die Band legte eine kurze Pause ein. Ein guter Moment auch für ihn selbst, sich zu erleichtern, dachte Morgenstern und stieg mit wackligen Knien von seiner Bank. Die Köschinger taten es ihm wie auf ein geheimes Zeichen gleich.
Morgenstern war schon am Anfang aufgefallen, dass es zwischen seinen Banknachbarn und der Besatzung mehrerer Nachbartische kleine Nickligkeiten gegeben hatte, bis hin zu scheinbar zufälligen Rempeleien, wahrscheinlich unvermeidbar, wenn man da Lederhose an Lederhose auf den Bierbänken stand. Aber in den letzten Minuten hatte sogar er gespürt, wie sich der Raum zwischen den Tischen quasi elektrostatisch aufgeladen hatte. Aggression lag in der Luft. Und als die Köschinger nun von ihren Bänken stiegen, zurück auf den harten Holzboden, waren sie leider nicht wie Morgenstern auf dem Weg zur öffentlichen Bedürfnisanstalt, sondern wandten sich geradewegs zwei Nachbartischen zu.
Anführer war ein kurz gewachsener, verkniffen wirkender dicker Bursche, etwas über dreißig Jahre alt, flankiert von zwei deutlich jüngeren Freunden. Er baute sich im breiten Mittelgang des Herrnbräu-Zelts vor den beiden Nachbarbänken auf. Und gerade als Hecht und Morgenstern sich in Richtung Toilette entfernen wollten, griff der Dicke in die rechte Tasche seiner Lederhose. Morgenstern fürchtete eine Schrecksekunde lang, der Mann könnte ein Messer ziehen, den Hirschfänger vielleicht, der bei vielen Lederhosenträgern als unverzichtbares modisches Accessoire galt. Doch als der Bursche die Faust aus der Tasche nahm, präsentierte er seinen Kontrahenten nichts anderes als ein kleines Häufchen Körner, dargeboten auf der hingestreckten Handfläche. Dazu setzte er ein maliziöses Grinsen auf.
Alle hatten sich erhoben, Morgenstern hielt den Atem an und spürte noch, wie Hecht ihn an der Jacke zupfte und damit aufforderte, schleunigst zu verschwinden. Doch Morgenstern war außerstande, sich zu bewegen, wie im Bann dieser unfassbaren Gewitterstimmung, die nun ihren Höhepunkt erreichte.
»Gaimersheimer! – Linsenpuffer!«, rief der Bursche nur. Dann warf er die Handvoll Körner, es handelte sich also um Linsen, mit einer lässigen Bewegung direkt vor die jungen Leute auf den Boden, wie eine Bäuerin, die ihre Hühner füttert.
Das war genau der verheerende Blitzschlag, der sich in der vergangenen Stunde angekündigt hatte. Die Jugendlichen von den Nachbartischen waren also aus dem Markt Gaimersheim, noch so eine prosperierende Vorstadtgemeinde von Ingolstadt. Und nun sprangen die Gaimersheimer Burschen auf und stürzten sich mit dem Schmähruf »Mantelflicker!« auf die Köschinger. Es gab erst Gerangel, dann Fausthiebe. Hecht und Morgenstern, alkoholbedingt nicht so reaktionsschnell, wie es die Situation erfordert hätte, befanden sich von einer Sekunde auf die andere mitten in dieser Auseinandersetzung zwischen zwei Marktgemeinden, von denen ihnen die eine so gleichgültig war wie die andere.
Die Provokation war wohl kalkuliert gewesen, denn kein Mensch im Deutschland des dritten Jahrtausends füllte sich vor einem Bierzeltbesuch die Hosentasche zufällig mit altmodischen beziehungsweise im Zeitalter der Superfood-Bewegung fast schon wieder neumodischen Hülsenfrüchten. Und ausgesprochen seltsam war auch, dass die uralten »Necknamen« eines bayerischen Dorfes immer noch Auslöser für eine Schlägerei sein konnten. Dass die Kommissare sich nun im Auge des Sturms befanden, war ein Missverständnis, ganz klar – aber es galt das uralte Prinzip: Mitgefangen – mitgehangen.
Morgenstern erhielt einen Faustschlag ins Gesicht und schlug instinktiv zurück, unmittelbar danach landete ein unbekannter Kontrahent einen Leberhaken. Morgenstern knickte zusammen, die Luft blieb ihm weg. Als er wieder zu Atem kam, stürzte er sich in blinder Wut umso mehr ins Getümmel. Mit einem Mal spürte er einen starken Arm, der ihn nach hinten wegzerrte. Er drehte sich mit erhobener Faust um: Ein schwarz gekleideter bulliger Securitymann zog ihn in Richtung Zeltausgang, ein weiterer eskortierte Peter Hecht aus der heiligen Halle der Brauerei Herrnbräu.
»Schauts, dass’s euch schleichts, bsuffene Waagscheitl!«, hörte Morgenstern. Er hakte sich bei seinem Kollegen unter und wankte auf mäandernden Wegen gemeinsam mit ihm über den Festplatz Richtung Ausgang, ein Bild des Jammers.
»Mein Sakko hat einen Riss«, klagte Hecht. Dass sein rechtes Auge veilchenviolett angelaufen war, hatte er anscheinend noch gar nicht bemerkt.
Von Ferne hörten sie, dass die Joe-Williams-Band zum musikalischen Endspurt dieses Abends ansetzte: »Atemlos durch die Nacht«.
Die beiden Kommissare erwachten am nächsten Morgen in ihrem gemeinsamen Büro auf dem harten Linoleumboden liegend. Hecht hatte sich notdürftig mit seiner Jacke zugedeckt und als Unterlage für seinen Kopf das dicke Telefonbuch der Region Ingolstadt verwendet. Morgenstern hatte sich auf seine Jeansjacke gebettet. Sein Kopf pochte im Takt seines Pulses wie das Metronom eines Klavierspielers. Sein Mund: trocken wie nach einem Dreitagesritt durch die Wüste Gobi.
Mühsam rappelte er sich auf und trat vor das kleine Waschbecken mit Spiegel, das sich in der Ecke des Büros neben der Tür befand. Was er zu sehen bekam, übertraf alle Befürchtungen: Er hatte Nasenbluten gehabt und sah aus wie ein Zombie, die Unterlippe leicht angeschwollen, die Haare wirr und klebrig von Bier, das irgendeine junge Frau bei der gestrigen Kontroverse arglistig über die Gegner geschüttet hatte.
Von Hechts Schlafplatz war ein leises Stöhnen zu hören.
»Wir sind zu alt für so was«, sagte Morgenstern. Dann begann er, sich mit viel kaltem Wasser in Form zu bringen.
»Ich kenn dich nicht, aber ich wasch dich«, sagte er zu seinem Spiegelbild und dann in Richtung Hecht: »Vielleicht könnten wir erst einmal ein paar Überstunden abbauen. Ich glaube nicht, dass wir heute Vormittag in der Abteilung eine große Hilfe sind.«
»Du bist schuld«, nuschelte der Kollege, als er sich langsam aufrappelte. »Ich wollte bloß eine Radlermaß trinken.«
»Das behaupten hinterher alle.«
Hechts Telefon schlug Alarm. »Jetzt kommt der vernichtende Anpfiff«, sagte er nach einem Blick aufs Display. »Das ist der Schneidt.«
»Oje!«, seufzte Morgenstern. Kriminaldirektor Adam Schneidt, ihr gestrenger Vorgesetzter, hatte bestimmt schon läuten hören, in welch indiskutablem Zustand seine beiden Oberkommissare zu später Stunde ins Präsidium eingerückt waren. Mindestens der Pförtner, dieses Plappermaul, hatte sie gesehen, wahrscheinlich aber auch noch etliche andere Kollegen von der Nachtschicht.
Morgenstern fiel jetzt wieder ein, dass er vor dem Schlafen anlässlich einer Heißhungerattacke den Gemeinschaftskühlschrank in der kleinen Teeküche geplündert hatte und dabei ertappt worden war, wie er ein Paar uralte, eingehutzelte Cabanossi-Würstchen in sich hineingestopft und mit dem Inhalt einer schon seit Wochen offenen Flasche Apfelschorle hinuntergespült hatte.
Besorgt ging Hecht ran: »Ja?« Dann nickte er eifrig. »Wir kommen sofort.«
»Was gibt’s?«, fragte Morgenstern.
»Ein tödlicher Unfall auf einem Bauernhof. Wir sollen uns das mal ansehen.«
»Ausgerechnet wir zwei – in unserem Zustand?«
»Fang ja nicht an, mit Schneidt drüber zu diskutieren.« Hecht hob warnend den Zeigefinger. Dann ging er zum Waschbecken und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht.
Morgenstern sah bei sich nun ebenfalls noch Handlungsbedarf und schob dieses Mal sogar den ganzen Kopf unter den Wasserhahn, um sich provisorisch die Haare zu waschen. Er wischte sich sorgfältig das Gesicht ab, betupfte seine Lippe. »Das muss reichen«, sagte er und summte eine kleine Melodie: »Auf in den Kampf, Tore-hehe-hero …« Dann traten sie auf den Flur.
Adam Schneidt sah sich die zwei Helden schweigend an, dann schüttelte er missbilligend den Kopf. »Ich will gar nicht wissen, was Sie beide angestellt haben. Aber eines sind Sie ganz sicher nicht: eine Zierde für den Verein. Wir werden ein andermal drüber sprechen, verlassen Sie sich drauf. Jetzt wird Ihnen ein bisschen frische Landluft guttun. Wir haben einen Toten in Kösching. Ein junger Bauer. Der ist gerade eben erst gefunden worden. Ist in seine Biogasanlage geraten. Muss eine ziemlich unschöne Sache sein. Sie fahren raus und kümmern sich drum, dass das alles seine Ordnung hat.«
»Ein Arbeitsunfall?«, fragte Morgenstern.
»Ein Unfall, genau. Und jetzt ab mit Ihnen. Wo waren Sie denn überhaupt gestern Nacht?«
»Herbstfest«, brummelte Morgenstern.
»Wird nicht wieder vorkommen«, versprach Hecht.
»Ich hätte Sie beide für vernünftiger gehalten. Sie sind doch keine zwanzig mehr.«
»Das haben wir auch gemerkt«, räumte Hecht zerknirscht ein.
»Man muss wissen, wann man aufhören soll«, dozierte Schneidt.
Hecht nickte. »Wenn’s am schönsten ist.«
Sie zogen ab, und Morgenstern war heilfroh, dass Hecht sich bereit erklärte, den Fahrer zu machen, seinem sicher noch beachtlichen Restalkoholspiegel zum Trotz.
***
Der Markt Kösching war eine dieser Gemeinden im Umland von Ingolstadt, die am meisten vom nahezu ungebremsten Wachstum der Großstadt profitiert hatten. »Speckgürtel« nannte man diesen Ring von ehemals bäuerlich geprägten Ortschaften, die im Laufe weniger Jahrzehnte ihre Einwohnerzahl glatt verdoppelt hatten.
Es war überall dasselbe: Eine Wohnsiedlung nach der anderen war an die metastasenhaft wuchernden Dorfränder geklebt worden. Und die Neubürger hatten sich auf ihre knapp bemessenen, sündteuren Grundstücke schicke Häuser mit Doppelgarage gebaut und sich dabei bis über beide Ohren verschuldet, ohne dabei eine emotionale Nähe zu ihrer neuen Heimat aufzubauen. Die Zugezogenen und ihre Familien orientierten sich zum großen Teil nach Ingolstadt. Die Siedlungen konnten jederzeit als Schlafstädte durchgehen. Deshalb waren die Neubaugebiete jetzt im Herbst das bevorzugte Ziel osteuropäischer Einbrecherbanden, die in der frühen Dämmerung blitzartig über Terrassentüren eindrangen, während die Hausherren noch rechtschaffen ihren Arbeitspflichten in der Ingolstädter Automobilfabrik oder bei einem ihrer zahlreichen Zulieferunternehmen nachkamen, um sich von dem vielen Geld Dinge leisten zu können, die sie nicht brauchten.
Die Ortskerne hatten vom Zuzug indessen nur wenig profitieren können und litten unter denselben Strukturproblemen, wie es sie überall auf dem Land gab: Einzelhandel und Gastronomie hielten sich mehr schlecht als recht über Wasser, der Pfarrer klagte in jeder seiner Predigten über schwachen sonntäglichen Kirchenbesuch – und vergraulte mit seinem Geschimpfe auch noch die letzten Getreuen.
In Kösching gab es mitten im Dorf, an der Hauptstraße, noch einige Bauernhöfe. Aber der Hof, den Hecht und Morgenstern nun suchten, war schon vor vielen Jahren an den Ortsrand ausgesiedelt. Die Landwirtsfamilie hatte wohl früh die Zeichen der Zeit erkannt und sich im Norden der Ortschaft eine ebenso praktische wie schmucklose Betriebsstätte samt Bungalow inmitten ihrer eigenen Äcker und Felder errichtet. Allein: Der Abstand zum Dorf hatte nicht ganz gereicht. Die Wohnbebauung war im Laufe der Zeit nachgerückt, sodass der Aussiedlerhof bereits an eines der Neubaugebiete grenzte, das er mit einem zwei Meter hohen grünen Maschendrahtzaun mühsam auf Abstand hielt.
Hecht und Morgenstern, die von Ingolstadt aus über die B 16 nach Kösching gefahren waren, sahen schon von Weitem, dass sie richtig waren. Die Biogasanlage stand etwas abgesetzt am südlichen Ende der Hofanlage, und hier waren die vereinigten Hilfsdienste bereits versammelt. Die Feuerwehr war mit ihrer Drehleiter ausgerückt, ein Rettungswagen vom Roten Kreuz, ein Streifenwagen der Polizeiinspektion Ingolstadt und ein Malteser-Fahrzeug des Kriseninterventionsteams standen neben dem kreisrunden Gärtank und den gewaltigen Betonwänden der Fahrsilos, in denen die Maissilage gelagert wurde.
Die Kommissare stiegen aus und sahen sich um. Von frischer Landluft konnte hier keine Rede sein, stellten sie fest. Es roch intensiv nach dem angegorenen Silomais, und Morgenstern nahm zudem noch das süßsaure, scharfwürzige Ammoniak-Aroma einer Schweinemastanlage wahr. Zwei riesige Güllefässer standen auf dem grob geschotterten Platz zwischen einer Maschinenhalle und dem einfach gebauten Bungalow der Bauernfamilie, dazu ein gigantischer grüner Traktor – wohl der PS-protzende Stolz des modernen Landmanns.
Langsam näherten sich die Kommissare der Menschengruppe, die sie zunächst gar nicht registrierte. Die Männer – es handelte sich ausschließlich um Männer – umstanden einen rechteckigen dunkelgrünen Stahlkasten, etwa in der Größe eines Lkw-Aufliegers, der direkt an den runden Gärtank angrenzte und mit ihm durch eine stählerne Röhre verbunden war. An der rechten Schmalseite war der Kasten abgeflacht, und davor stand ein gelber Radlader mit gesenkter Schaufel. Langsam näherten sich Hecht und Morgenstern, beide mit mulmigem Gefühl.
Ein Feuerwehrmann war gerade dabei, die Anlage rundherum mit einem Trassenband abzusperren, für den Fall, dass sich Schaulustige aus dem Dorf zu nahe heranwagen sollten. Davon konnte aber zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede sein, die Helfer in ihren Uniformen waren unter sich. Mit drei Ausnahmen: ein Herr im Anzug, möglicherweise der eilig herbeigerufene Bürgermeister, der Pfarrer, erkennbar an seiner schwarzen Kleidung und dem Priesterkragen, und ein Rentner in blauer Latzhose und mit schwarzen Gummistiefeln.
Der Feuerwehrmann hielt kurz inne und sah die beiden neuen Besucher skeptisch an. Morgenstern erinnerte sich an seine geschwollene Unterlippe und kramte nach seinem Ausweis: »Kripo«, sagte er.
»Scheußliche Sache«, warnte sie der Feuerwehrler und deutete mit dem Daumen über seine Schulter in Richtung Gärtank. »In dem Kasten sind die zwei Förderschnecken, die schaufeln den Mais in die Anlage. Er ist irgendwie in die Schnecke reingekommen. Es sind nur noch einzelne Teile von ihm drin. Anscheinend ist das meiste schon im Gärbehälter.«
Er schüttelte den Kopf. »Also ich für meine Person habe für heute genug gesehen. Und ich kann euch garantieren, dass ich schon vieles erlebt habe. Wir Köschinger Feuerwehrler müssen oft raus auf die Autobahn.« Der Mann rollte weiter sein Trassenband ab, in sicherer Entfernung von der »Kammer des Schreckens«.
Morgenstern war also nicht unvorbereitet, als er sich dem Kasten mit den Förderschnecken näherte, und doch packte ihn ein furchtbares Grauen, als er sich schließlich hineinbeugte: Er blickte direkt auf einen abgetrennten Arm, der aus der gelb-braunen Maissilage herausragte. »Verdammt«, sagte er und wandte sich entsetzt ab.
Der Einsatzleiter der Feuerwehr trat heran, begleitet von zwei uniformierten Beamten der Polizeiinspektion Ingolstadt. »Wir haben alles so gelassen, wie es war«, sagte er wie zur Entschuldigung. »Was will man da noch machen?«
Morgenstern schloss die Augen und versuchte, das Bild von dem blutigen blassen Arm zu verdrängen. »Der Staatsanwalt kommt bestimmt auch gleich. Dann sehen wir weiter. Weiß man schon, wer der Mann ist?«
»Da gibt es keinen Zweifel«, sagte der Kommandant. »Es ist der Junior hier vom Hof. Der Willibald. Sein Vater ist da drüben. Der Simon. Er hat ihn vorhin entdeckt.« Er deutete mit einer kurzen Kopfbewegung zu dem Rentner in Latzhose, der sich inzwischen auf einen umgedrehten leeren Bierkasten gesetzt hatte und starr in die Ferne blickte.
Der Kommandant sprach weiter: »Der Willi hat heute früh erst die Schweine versorgt und hinterher die Biogasanlage neu befüllt. Er hat mit dem Radlader Silage hier ins Zwischendepot gekippt. Und dann ist er irgendwie in die Förderschnecken gekommen. Da kannst du nichts mehr machen. Die Dinger haben eine unglaubliche Kraft.«
»Ein Arbeitsunfall«, sagte Hecht, der den Arm ebenfalls gesehen hatte und noch bleicher wurde, als er an diesem Morgen ohnehin schon war. »Da brauchen wir nicht bloß den Staatsanwalt, sondern auch noch die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft und einen Sachverständigen vom TÜV oder der Dekra. Das kann doch nicht sein, dass die Förderschnecken in Betrieb sind, während daneben einer rumwerkelt.«
Der Kommandant nickte. »Die Schnecken waren sogar noch in Betrieb, als der Vater dazugekommen ist. Er hat dann da drüben den Not-Aus-Knopf gedrückt. Aber da war schon alles zu spät.«
»Kann man mit ihm sprechen?«, fragte Morgenstern vorsichtig.
»Versuchen Sie’s. Der Herr Bieber ist noch einer vom ganz alten Schlag. Hart im Nehmen. Der hat die Leute vom Kriseninterventionsteam mitsamt dem Herrn Pfarrer weitergeschickt. Der macht das alles mit sich selbst aus.«
Morgenstern sah sich um und versuchte, sich die Szenerie einzuprägen. Was gar nicht so einfach war, denn sein Kopf dröhnte. Er sah den Radlader direkt am stählernen Rand des Depots, sah eine breite Schneeschaufel aus Aluminium mit hölzernem Stiel auf dem Boden liegen. Gut möglich, dass der Jungbauer damit verstreute Silagereste per Hand in die stählernen Schnecken befördert hatte. War es denkbar, dass er dabei ins Stolpern gekommen und nach vorne in den Behälter gekippt war?
An einem Morgen wie diesem konnte sich Morgenstern eine solche folgenschwere Koordinationsschwäche sehr gut ausmalen. Er selbst war heute schließlich ebenfalls nicht gut auf den Beinen. Da konnte es schon passieren, dass man mal kurz ins Straucheln geriet. Er sah, dass die Fläche rund um das Zwischendepot von platt gefahrener Maissilage glänzte: Bestimmt war das eine gefährliche Schmierschicht.
Morgenstern wollte gerade zu dem Bauern gehen, als ihn der Feuerwehrkommandant am Ärmel zupfte und auf die Seite zog, als wolle er ihn ins Vertrauen ziehen.
»Was gibt’s denn?«
Hecht gesellte sich mit dazu, und der Kommandant sagte leise: »Da ist eine Sache, die komisch ist.«
»Was denn?«, fragten die Kommissare wie aus einem Munde.
»Die Stahlstangen im Maisacker. Sie haben doch bestimmt davon gehört.«
Morgenstern verneinte, aber Hecht konnte sich erinnern. Er sah den Kommandanten an und zog die Augenbrauen hoch. »War das hier? War das dieser Hof?«
»Dieser Hof und noch zwei andere.«
Morgenstern verstand nur Bahnhof. »Was ist da los mit Stahlstangen?«
Hecht erklärte es ihm. Seit einigen Jahren kam es an verschiedenen Orten in Deutschland vor, dass Metallstangen aus Edelstahl auf Maisfeldern deponiert wurden. Ein klarer Fall von Sabotage – denn wenn die großen Maishäcksler kamen, um die Felder abzuernten, zerstörten die Stahlstücke das gesamte Dreschwerk. Der Schaden ging inzwischen in die Hunderttausende. Und genau das war auch hier in Kösching geschehen. Erst vor wenigen Wochen.
»Das war hier ganz in der Nähe«, erklärte der Kommandant und deutete in Richtung Norden. »Mehrere Äcker dahinten waren präpariert. Jemand hat Stahlstücke direkt in die Maisstängel gebunden, in Höhe der Kolben. Die Lohndrescher vom Maschinenring haben sich danach geweigert, noch weiterzumachen, weil sie um ihre teuren Geräte gefürchtet haben. Deswegen haben dann wir von der Feuerwehr Trupps zusammengestellt, die die Äcker durchstreift haben. Wir haben aber nichts mehr gefunden.«
Hecht nickte. »Die Kollegen von der Kripo waren draußen. Logisch. Aber sie haben bisher noch keine heiße Spur.«
Jetzt erinnerte sich auch Morgenstern wieder. Die Attacken im Maisfeld hatten Schlagzeilen gemacht, aber das war während seines Urlaubs gewesen. Deswegen wirkte er nun gar so unterbelichtet.
»Erst eine Sabotage im Maisfeld – und dann stirbt der Sohn bei einem Unfall.« Morgenstern seufzte. »Danke für den Hinweis, Herr Kommandant.«
»Nichts zu danken. Ich war der Meinung, das sollten Sie wissen, bevor Sie mit dem Simon Bieber reden, mit dem Vater.« Und damit wandte sich der Kommandant wieder seinen Leuten zu, die rat- und hilflos um die mit Blut verschmierten Förderschnecken herumstanden und hofften, dass nicht sie es sein würden, die die Leichenteile schließlich einsammeln mussten.
Die Ermittler wandten sich endgültig dem Bauern zu, der nach wie vor auf seinem Bierkasten saß und sie nun mit glasigen Augen anblickte.
»Können wir kurz mit Ihnen sprechen?«, fragte Hecht.
Der Mann in der blauen Latzhose nickte.
»Der Tote ist Ihr Sohn?«
»Ja. Der Willi.«
»Wie alt war Ihr Sohn?«
»Er ist sechsunddreißig. Der Hoferbe. Ich habe ihm den Hof vor drei Jahren übergeben. Zu seinem dreiunddreißigsten Geburtstag. Seitdem gehört das alles ihm.«
»Und Ihre Frau?«, fragte Morgenstern so einfühlsam wie möglich. »Wo ist die jetzt gerade?«
Der Mann sah zum Himmel, wischte sich über die Augen, und Morgenstern ahnte, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er hätte besser zuerst den Feuerwehrkommandanten oder den Bürgermeister gefragt.
»Meine Rosa ist auf dem Friedhof. Schon seit fünf Jahren.«
»Das tut mir leid«, sagte Morgenstern und reichte dem Mann die Hand. »Mein Beileid.«
Der Bauer ergriff seine Hand und drückte sie ohne besonders großen Druck. Morgenstern spürte die schwieligen, an harte Arbeit gewöhnten Finger.
»Haben Sie noch weitere Kinder?«
»Gott sei Dank«, sagte der Bauer. »Ich habe noch eine ältere Tochter. Die Marga. Sie ist in der Nähe von Donauwörth verheiratet, auf einem großen Bauernhof, viel größer als unserer. Und es gibt noch den Konrad, der ist jünger als der Willibald. Der wohnt mit seiner Lebensgefährtin in Rieshofen bei Walting, drunten im Altmühltal.«
»Hat Ihr Sohn, der Willibald, Familie?«
Bieber schüttelte den Kopf. »Nein. Er war mit mir auf dem Hof allein.« Er schlug wieder die Hände vors Gesicht.
Hecht rückte näher an ihn heran und ging in die Hocke, um auf Augenhöhe zu sein. »Können Sie uns schildern, was da heute genau passiert ist?«
Der Mann schniefte, nickte, zog ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich. »Ich habe es auch Ihren Kollegen schon erzählt. Wir beide, ich und der Willi, sind um Viertel vor sieben aufgestanden. Mein Sohn hat Kaffee gekocht, den haben wir getrunken, einen Hefezopf mit Marmelade gegessen und dazu die Zeitung gelesen. Den ›Donaukurier‹. Dann sind wir in den Stall und haben uns um die Schweine gekümmert. Sie müssen wissen: Wir haben dahinten ungefähr tausend Mastschweine. Ich war noch eine Zeit lang im Stall und habe überprüft, ob alle Viecher gesund sind. Da kann man nämlich gar nicht genug aufpassen. Und der Willi ist rüber zur Biogasanlage. Ich habe nicht weiter nach ihm geschaut. Weil bei uns zweien macht halt jeder, was gerade ansteht. Wir stehen uns da nicht gegenseitig im Weg rum.«
»Und dann?«, fragte Morgenstern.
»Kurz vor acht habe ich dann doch mal nachgeschaut, wo er bleibt. Ein paar von den Schweinen waren krank, und die wollte ich ihm zeigen. Also habe ich ihn gerufen. Das war ziemlich genau um acht Uhr. Wir haben nämlich ein Radio im Stall, und ich hatte mir gerade noch den Wetterbericht angehört.«
»Und dann haben Sie den Willibald gesucht?«, wollte Hecht wissen, der immer noch in seiner unbequemen Hockposition verharrte.
»Ich habe mir immer noch nichts dabei gedacht, als er nicht geantwortet hat. Das Gelände ist ja groß. Als ich ihn dann endlich gefunden habe, war es schon passiert.« Er stöhnte auf. »Wenn ich doch nur eher rausgegangen wäre!«
»Machen Sie sich keine Vorwürfe«, sagte Morgenstern. Und wusste gleichzeitig, dass wohl das ganze restliche Leben des Rentners, der um die siebzig Jahre alt war, von Selbstvorwürfen überschattet sein würde. Hätte ich doch dies getan, hätte ich doch jenes gelassen. So erging es allen Menschen, die mit einem schicksalhaften Unglück konfrontiert waren und einfach nicht fassen konnten, dass da wie aus dem Nichts eine höhere, grausame Macht zugeschlagen hatte. Dass das eine Leben zerstört und das andere für immer aus der Bahn geworfen worden war. Es gab da keinen Trost, das wusste Morgenstern von den vielen Kriminalfällen, bei denen er schon der Überbringer schlechter Nachrichten hatte sein müssen.
»Wir brauchen das alles später auch noch genau fürs Protokoll«, erklärte Hecht. »Ich habe mir aber das Wesentliche schon aufgeschrieben, Herr Bieber. Sie wissen ja, wie das ist. Sie werden bestimmt auch für die Unfallversicherung und die Berufsgenossenschaft noch viele Fragen beantworten müssen.«
Der Bauer nickte apathisch. »Ich weiß selbst noch nicht auf alles eine Antwort.«
»Welchen Eindruck hat denn Ihr Sohn heute früh auf Sie gemacht?«, wollte Morgenstern wissen.
Der Bauer überlegte. »Ehrlich gesagt keinen besonders guten. Wissen Sie, er ist gestern Abend unterwegs gewesen und erst spät heimgekommen. Sie waren zu mehreren in Ingolstadt.«
»Mehrere aus Kösching?«
»Genau. Zu fünft. Ein ganzes Auto voll. Und der Willibald hat seine Hirschlederhose angezogen und sein Trachtenhemd und seinen Walkjanker.«
Hecht und Morgenstern warfen sich vielsagende Blicke zu. »Waren die auf dem Herbstfest?«
»Genauso wie alle Jahre. Das gehört einfach zum Bauernjahr dazu. Gerade wenn der Großteil der Ernte schon drin ist. Es steht bloß noch ein wenig Mais draußen und natürlich die Zuckerrüben. Das hat er feiern wollen, auch wenn er dafür allmählich schon zu alt ist. Die anderen waren alle jünger. Aber er ist gerne mit denen zusammen. Bei denen hat er Respekt. Er ist halt ein richtiger Köschinger.«
Die beiden Kommissare schauten sich erneut an. »Herr Bieber, haben Sie vielleicht ein Bild von Ihrem Sohn für uns? Ein Foto?«
»Wofür brauchen Sie denn das?«, fragte der Bauer. Aber dann stand er, ohne eine Antwort abzuwarten, schwerfällig auf, ging langsam zum Haus und kam erst nach einer Weile wieder zurück. In der Hand hielt er ein gerahmtes Foto, das er wohl direkt von einem Nagel im Wohnzimmer genommen hatte. »Das hat der Willi erst vor einem Dreivierteljahr hier beim Fotografen machen lassen«, sagte der Vater bekümmert. »Er hat es mir zu Weihnachten geschenkt.«
Ein Blick genügte, dass Hecht und Morgenstern ihre Befürchtungen in vollem Umfang bestätigt sahen: Auf dem Foto war ein kurz gewachsener, korpulenter Bursche mit dicken schwarzen Augenbrauen und fleischiger Nase zu sehen, in kariertem Hemd und Lederhose. Wäre er nicht Bauer gewesen, hätte er jederzeit auch als klassischer Metzger durchgehen können.
Morgenstern nickte Hecht zu, und der griff sich an sein malträtiertes Auge. Der Mann auf dem Bild, Willibald Bieber, war niemand anderes als der Provokateur vom Herbstfest, der Mann, der eigens eine Hosentasche voll Linsen mit ins Festzelt gebracht hatte, um die Gaimersheimer Burschen mit voller Absicht bis aufs Blut zu triezen.
Morgenstern atmete tief durch. Dann streckte er die Hand aus: »Können wir das Foto bitte für eine Weile bekommen?«
Zögernd gab ihm der Vater das Bild im modischen Aluminiumrahmen. »Genau mit diesem Gewand ist er gestern auf dem Herbstfest gewesen. Er hat vielleicht ein bisschen viel Bier erwischt, das habe ich ihm heute früh schon angemerkt. Und außerdem hat er ein paar Schrammen gehabt. Ich möchte gar nicht wissen, was da wieder passiert ist.«
»Wir auch nicht«, sagte Morgenstern ins Ungefähre hinein. »Aber es wäre auf jeden Fall besser für ihn gewesen, wenn er gestern daheim auf dem Sofa geblieben wäre.«
Hecht steckte das Bild in seine braune Lederaktentasche.
Ein dunkelblauer BMW fuhr vor. »Der Staatsanwalt«, sagte Morgenstern und wirkte dabei erleichtert. »Der muss jetzt entscheiden, wie es weitergeht.«
Alle Blicke richteten sich auf den Mann, der schwerfällig aus dem Wagen kletterte und sich nun auf das Silo mit den stählernen Förderschnecken zubewegte. Er warf einen einzigen kurzen Blick auf die Anlage, kam dann bleich auf Hecht und Morgenstern zu und winkte sie zur Seite. »Was halten Sie davon? Und wie sehen Sie beide denn überhaupt aus?«
Morgenstern räusperte sich und rückte dann mit der Sprache heraus. Es würde sich ohnehin nicht geheim halten lassen, was da gestern im Herrnbräu-Festzelt geschehen war.
»Wir waren im Bierzelt. Und sind dann versehentlich in eine Rauferei geraten. Wir waren der sogenannte Kollateralschaden.«
»Geschieht Ihnen ganz recht«, sagte der Staatsanwalt. »Wie heißt es in der Bibel: Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Und mit wem haben Sie sich angelegt?«
Morgenstern deutete mit dem Daumen zur Biogasanlage. »Mit ihm. Ausgerechnet.«
Fast gleichzeitig mit dem Staatsanwalt war auch die Spurensicherung gekommen, zwei Kollegen, die mit großer Selbstverständlichkeit begannen, den Unfallort zu fotografieren und zu vermessen. Einer ließ sich sogar im Rettungskorb der Feuerwehrdrehleiter direkt über den Unglücksort hieven, um eine perfekte Darstellung der Situation aus der Vogelperspektive zu erhalten. Dieselbe Möglichkeit nutzten wenig später auch Morgenstern und Hecht, wobei sie allerdings unterschätzt hatten, in welche Schwingungen der ausgefahrene Rettungskorb geraten würde. Für einen Augenblick war es wie am Abend zuvor in der »Wilden Maus«, und Morgenstern musste die Augen schließen. Aber er riss sich zusammen und sah sich die gesamte Situation von oben an. Er entdeckte nichts Auffälliges.
Schließlich gab der Staatsanwalt die Unglücksstelle frei, und nach kurzer Beratschlagung wurden zwei Rettungssanitäter gebeten, die sterblichen Überreste von Willibald Bieber so weit wie nur irgend möglich zu bergen. Zur Sicherheit war auf dem ganzen Hof der Strom abgestellt worden, damit sich die tödlichen Förderschnecken unter keinen Umständen noch einmal in Bewegung setzen konnten. Das war eine unverhandelbare Bedingung der Sanitäter gewesen, mit denen alle Anwesenden aufrichtiges Mitleid hatten.
Morgenstern wandte sich ab, als die beiden in das Silo stiegen und ihrer traurigen Pflicht nachkamen. Andere hatten da weniger Bedenken, ein Pressefotograf, der direkt hinter Morgenstern stand, machte keinerlei Anstalten, seine Nikon aus Pietätsgründen zur Seite zu legen. Morgenstern zischte ihn an: »Wenn Sie noch ein einziges Bild machen, dann müssen Sie sich eine neue Kamera kaufen. Darauf können Sie Gift nehmen.«
Mehrere umstehende Feuerwehrleute nickten zustimmend und sahen den Fotografen grimmig an.
»Leichenfledderer!«, rief ihm einer der Sanitäter aus dem Silo zu.
Der Fotograf, der merkte, wie sich die angespannte Grundstimmung auf ihn fokussierte, so wie eine finstere Gewitterwolke sich in einem Talkessel festsetzt, trollte sich unter fadenscheinigem Entschuldigungsgemurmel und hob dabei beschwichtigend die Hände. Er mache hier bloß seinen Job, für die Münchner Redaktion der »Bild«-Zeitung, hörte Morgenstern ihn noch sagen. Ihn packte mit einem Mal ein heiliger Zorn.
Er ging dem Fotografen nach, packte ihn von hinten rüde an der Schulter und drehte ihn zu sich herum. »Sie sehen sich also gerne tote Menschen an? Sie finden das spannend? Dann kommen Sie mal mit.« Und ehe sich’s der Mann aus München versah, schubste ihn Morgenstern in Richtung der Förderschnecken zurück. »Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was die Leute hier leisten, was die sich zumuten? Die können jede Hilfe brauchen. Sie steigen jetzt hier rein und machen sich nützlich.«
Der Fotograf grinste ungläubig. »Das ist nicht Ihr Ernst«, sagte er. »Das können Sie nicht von mir verlangen.«
Doch von allen Seiten kam zustimmendes Gebrumme, Morgenstern hörte sogar ein paar Bravorufe. Und ein kurzer Blick auf den Staatsanwalt zeigte ihm, dass dieser nichts einzuwenden hatte oder zumindest demonstrativ zur Seite sah. Irgendwer von der Feuerwehr zauberte wie aus dem Nichts ein Paar Gummihandschuhe hervor, wie sie auch die Sanitäter trugen, und hielt es dem Fotografen zusammen mit einem dicken schwarzen Plastiksack vor die Nase, während ein anderer ihm die Kamera von der Schulter streifte. »Ich passe gut auf Ihren Apparat auf, keine Sorge«, sagte er mit finsterem Blick.
»Wenn wir hier fertig sind, dürfen Sie so viele Bilder machen, wie Sie wollen«, versprach Morgenstern. »Von mir aus auch ein Selfie.«
Als der Mann zögernd – aber immerhin freiwillig – zwischen die Förderschnecken stieg, brandete Beifall auf. In diesem Moment fand die gesamte beklemmende Anspannung der vergangenen zwanzig Minuten endlich ein Ventil.
»Das machen wir in Zukunft immer so«, sagte der Feuerwehrkommandant. Und der Staatsanwalt fügte hinzu: »Hart an der Grenze zur Selbstjustiz. Aber ich würde sagen, gerade noch im grünen Bereich. Der Zweck heiligt die Mittel. Bei uns in Bayern auf jeden Fall.«
Morgenstern sah sich nach dem Bürgermeister um. Der hatte als Mann der Tat kurz zuvor eigenhändig den Radlader von der Silo-Einfahrt weggefahren, damit der nicht länger im Weg stand. Jetzt unterhielt er sich ein Stück abseits mit gedämpfter Stimme mit den Leuten vom Kriseninterventionsteam.
»Können wir kurz mit Ihnen sprechen, unter sechs Augen?«, fragte Morgenstern und stellte sich und Hecht vor.
»Aber sicher doch.« Er gab den beiden nacheinander die Hand. »Franz Eichler, CSU«, stellte er sich vor.
Die Malteser gingen diskret ein Stück zur Seite und hielten Ausschau, ob eventuell der Fotograf oder jemand anderes ihren psychologischen Beistand benötigte.
»Ein schrecklicher Unfall«, sagte der Bürgermeister. »Eine Tragödie. Ich kenne die Familie Bieber gut. Das ist eine Katastrophe.«
»Erzählen Sie uns etwas über die Familie«, sagte Hecht.
»Und über diese Stahlstangen im Maisfeld wüssten wir auch gerne Näheres«, fügte Morgenstern hinzu.
»Was die Stahlstangen angeht, fragen Sie am besten Ihre Kollegen von der Polizei«, gab Eichler zurück. Er zog sich seine Anzugjacke aus und hängte sie sich locker über die Schultern. »Das war schon eine hinterfotzige Sache. Es hat sich in letzter Zeit kaum noch ein Bauer mit seinem Maishäcksler ins Feld getraut. Wir haben sogar Suchtrupps zusammengestellt.«
»Das haben wir schon gehört«, sagte Hecht.
»Ein Bauer hier aus dem Dorf hat aus Angst seinen uralten einreihigen Häcksler wieder aus dem Stadel geholt, den ›Maisblitz‹ von Mengele, weil der Lohndrescher nicht mehr hat kommen wollen.«
»Maisblitz«, wiederholte Morgenstern. »Ein starker Name. Den merke ich mir.«
»Auf jeden Fall waren mehrere Bauern betroffen, die ihre Felder alle nebeneinander haben. Und keiner weiß, was dahintersteckt. Vielleicht irgendwelche ökologischen Spinner. Leute, die etwas dagegen haben, dass hier immer mehr Mais wächst.« Der Bürgermeister tippte sich an die Stirn.
»Ist es denn so schlimm?«, fragte Hecht.
»Ach was. Bei uns gibt es viele Zuckerrüben und auch viel Weizen. Bloß das Vieh auf den Höfen wird immer weniger. Milchbauern gibt es fast gar keine mehr. Und solche wie der Bieber, die auf Schweinemast setzen, werden auch immer weniger. Das ist halt der Strukturwandel«, sagte der Bürgermeister. »Da kannst du nichts machen.«
Morgenstern sah sich das Gemeindeoberhaupt näher an. Der Mann war von kleiner Statur und etwa vierzig Jahre alt, schien aber auf den ersten Blick älter, weil er einen markanten Schnauzbart trug.
»Gibt es in der Gemeinde irgendeinen Verdacht, was diese Stahlstangen angeht? Kursieren Gerüchte?«
»Das haben mich Ihre Kollegen natürlich als Erstes gefragt. Hat der Willibald Bieber Feinde?«
»Und? Hatte er welche?«
Bürgermeister Eichler wiegte nachdenklich den Kopf. »Im Vertrauen gesagt: Er hat sich das Leben nicht leicht gemacht. Er war stur.«
»Aber er hatte auch Freunde«, gab Morgenstern zu bedenken. Er dachte an den feierfreudigen Bauern, der da neben ihm auf der Bierbank getanzt und voll Begeisterung bei »Skandal im Sperrbezirk« der Spider Murphy Gang mitgegrölt hatte – und dabei als Sangespartner von Mike Morgenstern begleitet worden war.
»Freilich hatte der Willi Freunde. Er hatte aber keine Freundin, soweit ich das weiß. Früher mal, aber da ist dann nichts draus geworden.«
»Haben Sie eine Idee, warum die Beziehung zerbrochen ist?«
»Ich glaube, dass die aus Ingolstadt war. Aus der Stadt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die irgendwann zu ihm auf den Hof gezogen wäre. Wer tut sich denn heutzutage so etwas an?«
»Ach«, machte Peter Hecht. »Meine Schwester hat in einen Spargelhof in Waidhofen eingeheiratet. Wo die Liebe halt hinfällt. Und sie macht die Arbeit gerne.«
»Da hat Ihr Schwager aber Glück gehabt«, meinte Eichler. »Ausnahmen bestätigen die Regel. Früher hat man immer gesagt: Schönheit vergeht – Hektar besteht. Aber das ist Schnee von gestern. Heute macht keiner mehr den Rücken krumm und stellt sich fünfzehn Stunden am Tag in einen stinkenden Saustall.« Er hielt sich die Hand vor den Mund und schaute erschrocken um sich, ob ihm jemand zuhörte. Aber anscheinend hatte niemand seine despektierliche Bemerkung über die Haupteinkommensquelle von Vater und Sohn Bieber aufgeschnappt. Leise fügte er hinzu: »Man soll im Haus des Gehängten nicht vom Strick reden.«
»Das war jetzt auch nicht besser«, tadelte ihn Morgenstern.
»Jedenfalls hatte der Willibald schon etliche Leute, die mit ihm nicht gut klargekommen sind. Seit er den Hof übernommen hat, ist mit ihm nicht gut Kirschen essen gewesen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na ja, er war halt unglaublich störrisch. Es gibt Ärger mit mehreren Nachbarn. Wenn der Wind ungünstig steht, dann bekommen die die ganze Ladung ab.« Der Bürgermeister hielt sich die Nase zu, um zu zeigen, was er meinte.
»Aber Sie selbst haben doch das Bauland da drüben ausgewiesen, nicht wahr?«, gab Hecht zu bedenken.
»Das war mein Vorgänger. Aber ich hätte es genauso gemacht. Irgendwohin muss sich die Gemeinde doch entwickeln. Wenn Sie wüssten, wie viele Bauinteressenten wir hier auf der Warteliste haben – Einheimische und Auswärtige. Unser Gewerbegebiet platzt auch aus allen Nähten. Und dann sitzen hier in bester Lage die Biebers mit ihrem Hof und halten die Entwicklung einer ganzen Gemeinde auf.«
Morgenstern hob den Kopf und sah Franz Eichler skeptisch an. »Dann hatten Sie also auch Ärger mit ihm?«
»Ärger? Was heißt schon Ärger? Man hat halt verhandelt, ein ums andere Mal. Über den Verkauf von Äckern. Wissen Sie, was Politik ist? Politik ist das Bohren dicker Bretter. Das ist nicht von mir, sondern von Max Weber.«
»Und wer soll das sein, dieser Weber?«, fragte Morgenstern.
Er erwischte den Bürgermeister damit genau auf dem falschen Fuß. Der errötete für einen Moment. Dann musste er zugeben, dass er es selbst nicht wusste. »Das haben Sie uns auf dem Bürgermeister-Seminar der Hanns-Seidel-Stiftung beigebracht, und ich habe es mir gemerkt, weil es so überzeugend klingt. Dicke Bretter bohren: Das hat was von rechtschaffenem, solidem Handwerk.«
Peter Hecht, der es mit seinem rechtschaffenen, soliden bayerischen Realschulabschluss zu einem geradezu enzyklopädischen Wissen gebracht hatte, wusste wieder einmal Rat: »Max Weber war der bekannteste deutsche Gesellschaftsforscher. Ein Soziologe, nach dem der Max-Weber-Platz in München benannt ist. Aber um auf Ihre Gemeinde zurückzukommen: Wer kommt denn nun für den Stahl im Maisfeld in Frage?«
»Irgendwelche Spinner. Ich glaube nicht, dass sie es konkret auf den Bieber-Hof abgesehen hatten. Das war mehr was allgemein Gesellschaftskritisches, meiner Meinung nach.«
»Oder eine offene alte Rechnung?«, schlug Hecht vor. »Das hatten wir schon öfter.«
»Alles ist möglich«, meinte der Bürgermeister. »Die ganze Gemeinde beteiligt sich am Rätselraten. Sie hätten die letzten Sonntage beim Frühschoppen im Amberger-Bräu dabei sein sollen. Da haben sich die Leute die Köpfe heiß diskutiert, der junge Bieber war mittendrin. Und was ist dabei rausgekommen? Nichts, rein gar nichts. Außer, dass keiner mehr dem anderen traut. Am Ende ist jeder verdächtig. Glauben Sie mir: So eine Sache ist pures Gift für eine Dorfgemeinschaft.«
»Ich denke, da müssen wir mal hin. Zum Stammtisch«, sagte Morgenstern mehr zu Hecht als zum Bürgermeister.
»Da werden Sie nichts anderes erfahren als dummes Gewäsch.« Eichler machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber lassen Sie sich von mir nicht aufhalten.«
Eine wichtige Frage hatte Morgenstern noch: »Was ist das eigentlich für eine sonderbare Rivalität hier zwischen den Gemeinden? Mein Kollege und ich, wir haben zufällig miterlebt, wie es auf dem Ingolstädter Herbstfest zu einer handfesten Auseinandersetzung zwischen Burschen aus Kösching und Gaimersheim gekommen ist. Das war eine richtige Schlägerei.«
»Ach das«, winkte der Bürgermeister ab. »Das gibt es wahrscheinlich schon seit Jahrhunderten, früher war das noch viel schlimmer, vor allem zwischen den Burschen aus Kösching und Kasing. Die jungen Kerle haben einfach zu viel Kraft, und wenn das Testosteron überschießt, dann stürzen die sich in den Kampf. Am liebsten mit den Leuten aus der Nachbarschaft, weil man die schon ein bisschen kennt und einschätzen kann. Das ist nichts Ernstes. Mehr so die Rubrik: Was sich liebt, das neckt sich. Die kennen sich alle, heute mehr denn je, wo sie doch alle miteinander Seite an Seite bei Audi arbeiten.«
»Nach Necken sah mir das nicht aus«, sagte Hecht und rieb sich sein Auge.
»Unsere Burschen sind manchmal halt ein wenig rustikal, vor allem, wenn sie zu tief in den Maßkrug geschaut haben. Aber eigentlich sind das alles recht umgängliche Menschen. Wir sind hier ein freundlicher Menschenschlag.«
»Na dann«, sagte Morgenstern und sah hinüber zur Silagekammer. Die Bergungsarbeiten, wenn man das so nennen wollte, wurden gerade beendet. Mit blassen Gesichtern stiegen die Helfer aus dem Silo.
Den dreien, auch dem Fotografen, wurde von allen Seiten respektvoll auf die Schulter geklopft. Mit zitternden Fingern zündete sich der Mann von der Boulevardpresse eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Wenig später aber hatte er sich bereits wieder so weit regeneriert, dass er sich seine Kamera zurückholte und erneut Fotos schoss. Jetzt auch von den schwarzen Säcken, die er zuvor selbst gefüllt hatte.
Die Feuerwehr packte ihre Siebensachen zusammen, fuhr die Drehleiter ein und rückte ab, gefolgt vom Wagen des Kriseninterventionsteams. Morgenstern wusste, dass die Männer sich nun noch im Feuerwehrhaus zusammensetzen würden, um die Erlebnisse gemeinsam zu rekapitulieren. Auch in ländlichen Gegenden wusste man inzwischen, was ein posttraumatisches Belastungssyndrom war. Mit solchen Dingen war nicht zu spaßen.
Morgenstern selbst allerdings wehrte sich mit Händen und Füßen, wenn ihm dienstlich psychologischer Rat angeboten wurde, wie es bei der Polizei ebenfalls längst gang und gäbe war. Und so würde er es auch dieses Mal halten, nahm er sich vor. Ein Indianer kennt keinen Schmerz.
Der Krankenwagen des Roten Kreuzes fuhr gleichfalls davon. Es wurde still auf dem Bieber-Hof. Nur aus dem Stall war das Grunzen und Quieken der Schweine zu hören, die sich ums Futter stritten oder sich aus quälender Langeweile gegenseitig in die Schwänze bissen. Morgenstern fragte sich, was der alte Bieber jetzt wohl mit seinem Hof anstellen würde. Wo, wenn nicht hier, galt schließlich die Devise: Das Leben geht weiter, irgendwie und sowieso.
Simon Bieber war aufgestanden und ging mit schlurfenden Schritten Richtung Haus, gefolgt vom Pfarrer und vom Bürgermeister, den maßgeblichen Autoritäten jeder Gemeinde. Die Ermittler wollten sich nach kurzem Zögern anschließen, aber Bieber wollte sie im Haus nicht mit dabeihaben. »Sie können später wiederkommen. Ein andermal«, sagte er. Und es blieb ihnen nicht viel mehr übrig, als das in diesem Moment zu akzeptieren.
Immerhin brachten sie den Mann noch dazu, ihnen die Telefonnummern seiner Kinder Konrad und Marga zu holen. Dann drehte Bieber sich schweigend um und schritt durch die Tür ins Innere des Bungalows. Die Tür schloss sich hinter ihm. Im Stall schrie ein Schwein, als ginge es um sein Leben. Morgenstern wurde klar, dass in diesem Umfeld niemand Willibald Biebers Todesschreie wahrgenommen haben würde. Ein einsamer, unbemerkter Tod – nicht gut für Ermittlungen aller Art.
Die beiden Kriminaloberkommissare waren froh, als sie wieder in ihrem Auto saßen.
»Ich brauche dringend einen Kaffee«, sagte Morgenstern. In Kriminalfilmen hatte er oft gesehen, dass noch am entlegensten Tatort mitten im Wald plötzlich eine gute Seele in Gestalt eines Streifenbeamten ein paar Pappbecher mit Milchkaffee aus dem Nichts gezaubert hatte. Aber da blieb ihnen hier in der Köschinger Realität der Schnabel sauber.
So steuerte Hecht den Wagen als Erstes in die Ortsmitte der Marktgemeinde, auf der Suche nach einer Bäckerei mit Imbiss. Er stellte das Auto in der zentralen Marktstraße ab, und sie schauten sich um. Obwohl es später Vormittag war, war wenig los.
»Sind wohl alle beim Arbeiten«, sagte Hecht. »Da hat an einem gewöhnlichen Werktag keiner Zeit zum Spazierengehen.«
»Und zum Shoppen auch nicht«, gab Morgenstern zurück. »Ist sowieso nicht das geborene Einkaufsparadies. Mit Ausnahme von dem Modegeschäft da drüben.«
Es war unübersehbar: Die einstmals noch vorhandene Funktion als halbwegs zentraler Einkaufsort hatte der Ortskern von Kösching schon lange eingebüßt. Das war auch den etwas größeren Orten in der Region so ergangen. Der ehemalige Mittelpunkt der Gemeinden hatte seine Bedeutung schleichend an großflächige Gewerbegebiete auf der grünen Wiese abgegeben, auf denen sich die großen Lebensmittelfilialisten ihre monströsen Verkaufshallen errichtet hatten. Und als wäre das nicht schon genug, mussten die kleinen Einzelhändler auch noch gegen die übermächtige Konkurrenz der Großstadt kämpfen, vom krakenartigen Online-Handel ganz zu schweigen. Morgenstern wusste von seinem Wohnort Eichstätt, wohin es ihn von Nürnberg aus verschlagen hatte, wie schwer das war, und in Hechts Heimatstadt Schrobenhausen sah die Situation nicht besser aus.
Die Ingolstädter hatten sich im Westen ihrer Stadt ein gewaltiges Einkaufszentrum genehmigt, um das sich im Laufe der Jahre weitere riesige Läden und ein Kinocenter geschart hatten. Und im Osten der Stadt, nur einen Steinwurf von Kösching entfernt, hatte sich direkt neben einer Erdölraffinerie und in Sichtweite zur Autobahn ein Fabrikverkaufszentrum angesiedelt, das »Ingolstadt Village«. Sie waren eben erst direkt daran vorbeigefahren.
Morgenstern war mit seiner Frau Fiona und seinen Söhnen Marius und Bastian ein einziges Mal dort gewesen und konnte beim besten Willen nicht nachvollziehen, warum ausgerechnet dieser künstliche Ort zur mit Abstand meistbesuchten Attraktion im gesamten Naturpark Altmühltal samt Ingolstädter Umland geworden war. Über eine Million Besucher jährlich drängten sich in den Straßen dieses durch und durch artifiziellen Dorfes, das zuckerbäckerartig im Neuengland-Stil auf irgendeine Industriebrache gezirkelt worden war, mit Läden und Lokalen, die alle so taten, als stammten sie aus dem 18. Jahrhundert. Sogar ganze arabische Familien auf Europa-Shoppingtour hatte Morgenstern hier entdeckt und sich vergebens die Frage gestellt: Gibt’s hier was umsonst?
All diese Entwicklungen hatten für Ortskerne vom Kaliber Köschings bestenfalls die undankbare Rolle des kommerziellen Sidekicks gelassen. Der Platz, an dem man noch eilig überraschende Notkäufe tätigte für das, was man anderswo zu erwerben vergessen hatte. Und das war an diesem Vormittag deutlich zu spüren. Der Amberger-Bräu, an dem die Kommissare auf der Suche nach einer Bäckerei vorbeikamen, verkündete prompt auf einem Schild an der Tür, dass er erst am Spätnachmittag zu öffnen gedenke.
Die Grundversorgung sicherte derweil die Filiale einer regionalen Bäckereikette, die sich in bester Marktlage eingemietet hatte, um den Menschen im Ortskern frische Semmeln und Brezen, Brot und Zuckerzeug zu offerieren, dazu Sandwiches für die kleine Mahlzeit zwischendurch und – selbstverständlich – den unvermeidlichen Mitnehm-Kaffee im isolierenden Pappbecher mit Plastikdeckel, der dem Käufer hier wie überall als »Coffee to go« New Yorker Weltläufigkeit, Mobilität und hektische Dringlichkeit bescheinigte.
Morgenstern hatte es allerdings definitiv nicht eilig, sondern nahm an einem der schmalen Tischchen Platz, die gegenüber dem langen Verkaufstresen aufgestellt waren. Hecht bestellte schwarzen Kaffee für Morgenstern und ein Glas Kamillentee für sich selbst. Dazu für jeden fettiges Schmalzgebäck in Gestalt eines Apfelkücherls, gewälzt in Zimtzucker.
»Was machen wir jetzt mit dieser Sache?«, fragte Hecht, als sie sich schließlich gegenübersaßen.
»Aufessen«, sagte Morgenstern.
»Quatsch. Ich meine dieses Unglück oder was immer das war. Was hältst du davon? Das war ein Unfall, oder nicht?«
Morgenstern führte nachdenklich die Kaffeetasse zum Mund und zuckte zurück, als das heiße Porzellan seine angeschlagene Unterlippe berührte. Es war, als hätte er einen kleinen Stromschlag abbekommen.
»Unfall oder nicht«, wiederholte er. »Für mich ist die ganze Geschichte nicht koscher.« Er blies sorgfältig in seinen dampfenden Kaffee. »Erst diese Sache mit den Stangen im Mais, jetzt ist der junge Bieber tot. Das können wir nicht so stehen lassen.«
»Und wenn es Zufall war? Es scheint doch so, als ob die Stangen nicht speziell dem Bieber-Hof gegolten haben.«
»Dann müssen wir das trotzdem irgendwie klären«, beharrte Morgenstern. »Zwei unglückliche Zufälle nacheinander – das ist für mich mindestens einer zu viel.«
Hecht trank vorsichtig von seinem Kamillentee – und spülte mit dem Schluck sorgfältig seinen Mund aus.
»Aber zu gurgeln fängst du jetzt nicht an«, moserte Morgenstern. »Ist ja widerlich.«
»Mir geht’s nicht besser als dir. Und in der Bäckerei gibt es halt mal kein Aspirin.«
»Oh doch«, meldete sich eine Stimme von der anderen Seite des Tresens. »Das ist eine unserer leichtesten Übungen. Sie glauben gar nicht, wie oft wir das hier in der Früh verkaufen. Ein Aspirin mit einem kleinen Glas Wasser und dazu gleich einen doppelten Expresso.«
»Espresso«, korrigierte Hecht kühl.
»Ich sag immer schon Expresso«, erklärte die Verkäuferin, eine resolute, stämmige Frau von etwa fünfundzwanzig Jahren. »Mögen Sie jetzt ein Aspirin oder nicht?«
»Zwei«, sagte Morgenstern. »Für mich nämlich auch.«
Die Verkäuferin hatte gerade keine weitere Kundschaft zu betreuen und kam mit den beiden Wassergläsern, in denen schon – als Service des Hauses – die Kopfschmerztabletten sprudelten, leutselig an das Tischchen der Kommissare.
»Sie waren gestern wohl auf dem Ingolstädter Herbstfest?«, fragte die Bäckereifachkraft mit mütterlich-neugierigem Ton, der gar nicht recht zu ihrem jugendlichen Alter passen wollte.