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Der Traum von der perfekten Figur wird zum Albtraum: In ihrem Jugendroman für Leser ab 12 Jahren behandelt Marliese Arold das Thema Magersucht, das in Zeiten von Social Media, vor allem auf Instagram, aktueller denn je ist. Authentisch wird der Abnehmwahn geschildert und auf die Gefahren des gesellschaftlichen Drucks, der auf jungen Mädchen liegt, hingewiesen. Miriam hat schon sechs Kilo abgenommen, seit sie regelmäßig joggen geht und Diät hält. Trotzdem findet sie sich noch viel zu dick. Fünf Kilo muss sie mindestens noch schaffen. Und wenn sie vor Hunger und Magenschmerzen nicht einschlafen kann, nimmt sie Appetitzügler und Abführmittel. Bis sie eines Tages einen alarmierenden Schwächeanfall erleidet …
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Seitenzahl: 197
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Inhalt
Kapitel 1 – Nach der ersten …
Kapitel 2 – Ich läutete dreimal. …
Kapitel 3 – Ich konnte nicht …
Kapitel 4 – Sechsundfünfzig Kilo, neunhundert …
Kapitel 5 – „Hast du abgenommen?“, …
Kapitel 6 – Jenny, das kleine …
Kapitel 7 – Am Abreisetag wog …
Kapitel 8 – Völlig schwerelos. Ich …
Kapitel 9 – Die Fähre legte …
Kapitel 10 – In den nächsten …
Kapitel 11 – „Du liebe Güte, …
Kapitel 12 – Ich hatte wieder …
Kapitel 13 – Ich erfuhr es …
Kapitel 14 – „Das ist auch …
Nach der ersten Pause hatten wir Sport, und Frau Bliesel kam auf die Idee, uns wieder mal mit dem Stufenbarren zu quälen.
Von allen Turngeräten hasste ich den Stufenbarren am allermeisten. Ich fand es hirnrissig, Arme und Beine in unterschiedlicher Reihenfolge um zwei Holme zu wickeln und dann den restlichen Körper noch irgendwie herumzuschwingen. Dafür war der Mensch nicht geschaffen.
Es war die gleiche Tortur wie in den beiden Jahren zuvor. Vermutlich kannte Frau Bliesel keine anderen Übungen. Ich kam als Dritte an die Reihe. Sie rief mich auf, bevor ich aufs Klo verschwinden konnte.
Im letzten Jahr hatte ich die Übung noch geschafft, weiß der Himmel wie. Doch diesmal kriegte ich einfach nicht den Dreh. Ich hing am Barren und plagte mich. Beim Felgaufschwung kam mein rechtes Bein nicht hoch genug. Ich mühte mich ab, und meine Arme wurden schlaff und schlaffer.
„Los, Miriam, mehr Schwung!“, feuerte mich Frau Bliesel an.
Als ob ich nicht schon alles tun würde! Ich schwitzte wie ein Schwein und merkte, wie ich mehr und mehr zur Alleinunterhalterin wurde.
Hinter meinem Rücken fingen ein paar an zu kichern.
„Kann nicht mal einer die Schwerkraft aufheben?“, säuselte jemand.
Natürlich Tanja. Alte Klugscheißerin! Sie hatte irgendwann aufgeschnappt, dass ich Science-Fiction-Geschichten mochte. Seitdem nahm sie mich ständig damit hoch.
„Wie witzig“, murmelte ich, aber ich ärgerte mich trotzdem. Denen würde ich es zeigen!
Ein neuer Versuch.
Diesmal blieb mein Bein in der Luft, und ich hatte das Gefühl, dass der Felgaufschwung klappen könnte.
Ja, ja, jetzt, jetzt!
Wie ein Fremdkörper schwebte mein Bein im leeren Raum, im Niemandsland zwischen oben und unten. Die Chancen standen fifty-fifty.
Die Klasse hielt den Atem an.
Mein Bein bewegte sich einen Millimeter weit in die verkehrte Richtung. Damit war es gelaufen. Ich wurde vom eigenen Gewicht wieder nach unten gezogen. Unerbittlich. Bleischwer.
Mit der Kniekehle krachte ich auf den Holm. Vor Schmerz traten mir die Tränen in die Augen. Hoffentlich riss eine Sehne. Dann brauchte ich das nächste Vierteljahr nicht mehr mitturnen.
„Was ist mit deinen Bauchmuskeln los, Miriam?“, fragte Frau Bliesel. „Mehr Spannung. Los, noch einen Versuch.“
Als ich Bauch hörte, hätte ich sie umbringen können. Sie hatte also auch gemerkt, wie fett ich seit letztem Jahr geworden war. Inzwischen sah es bestimmt jeder. Bloß nicht meine Mutter. Die behauptete nach wie vor, die Jeans seien beim Waschen eingegangen. Das sagte sie wahrscheinlich selbst dann noch, wenn ich zwei Zentner wog.
Ich hatte die Nase voll, ließ den Holm los und sprang auf die Matte.
„Was denn, was denn!“, meckerte Frau Bliesel los, die kein Herz für Drückeberger hatte.
„Meine Hände sind rutschig, ich hab überhaupt keinen Halt“, log ich.
„Dann nimm Talkum!“
Ich grinste sie an und ging zur Talkum-Schüssel. Es lag nicht am Talkum. Selbst wenn ich mich bis zu den Ellbogen damit einrieb, würde das nichts an der Tatsache ändern, dass ich achtundfünfzig Kilo wog.
Ein Zentner, sechzehn Pfund.
Langsam und sorgfältig weißte ich meine Handflächen mit Talkum, so als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt. Meine Schneckentempotaktik hatte Erfolg. Frau Bliesel ließ von mir ab und rief Tanja an den Barren. Ich guckte aus den Augenwinkeln zu. Mir war klar, dass Tanja wieder eine Show abziehen würde, als sei sie Anwärterin auf die nächsten Olympischen Spiele.
Na bitte, es ging schon los. Allein dieses arrogante Lächeln. Tanja grüßt den Rest der Welt, vor allem so sportliche Nieten wie mich! Ich wünschte ihr von Herzen, dass sie richtig auf ihre ekelhafte Schnauze knallen würde.
Aber Tanja stürzte natürlich nicht, sie patzte nicht einmal. Man konnte vor Neid nur grün werden. Sie und der Barren, das waren keine Feinde, sondern Partner. Mühelos wickelte sie ihren Körper um die Stangen, sie federte auf den Holmen zurück, es gab keine Stockung, keine Pause, keinen Fehler. Eine wahre Augenweide, wenn es nicht gerade die Kotztüte Tanja gewesen wäre!
Frau Bliesel strahlte vor Stolz, ganz nach dem Motto: Seht euch Tanja an, meine Lieben, es ist also doch noch nicht Hopfen und Malz verloren.
Ich hielt es nicht mehr aus. Der Unterschied konnte nicht größer sein. Erst ich, dann die sagenhafte Tanja … Meine Niederlage war grenzenlos. Mich packte die wilde Wut, und weil ich nicht vor der Klasse losflennen wollte, rannte ich raus in den Duschraum.
In der ganzen Schule gab es keinen Ort, der unromantischer war. Die fahlgelben Kacheln waren eine Scheußlichkeit für sich. Jeder, der reinkam, litt an Gelbsucht. Als ich in den Spiegel guckte, war das Ergebnis gnadenlos.
Mein Gott, wie fett mein Gesicht aussah! Bronto-Miriam, die Speckschwarten-Queen! Wenn ich mein Kinn auf die Brust presste, hatte ich ein Doppelkinn wie Mama. Mein Bauch war längst kein Bäuchlein mehr, sondern eine Trommel. Und mein Busen war eine Katastrophe. Es gab tatsächlich ein paar Mädchen in meiner Klasse, die mich um meine Oberweite beneideten. Ich hätte ihnen gerne die Hälfe abgegeben, den Idiotinnen, die massig mit rassig verwechselten. Große Brüste lagen bei uns in der Familie. Mama und Oma brauchten D-Körbchen. Ich quetschte meinen Busen noch immer in B. An dem Tag, an dem ich auf C-Schalen umsteigen musste, würde ich mir eine Kugel in den Kopf schießen. Aber trotz Sport-BH schwabbelte und wabbelte es beim Laufen wie bei einem Erdbeben Stärke fünf. Ich hasste Tanja noch mehr, weil sie so schlank war, vorne rum fast wie ein Junge. Die würde nie einen BH brauchen.
Ich musste abnehmen, unbedingt! Mindestens acht Kilo. Ich wollte fünfzig Kilo wiegen wie vor zwei Jahren, kein Gramm mehr.
Automatisch fiel mir Mama ein. Die und ihre Diäten! Sie behauptete, dass keine Abmagerungskur bei ihr anschlug. Dabei gab sie nach spätestens drei Tagen auf. Kein Wunder, sie holte sich immer ekelhafte Pülverchen aus der Apotheke, mischte sie an und trank das grauenhafte Zeug als Ersatzmahlzeit. Angeblich waren in dem Getränk alle Mineralstoffe und Vitamine drin, die der Körper so braucht. Es schmeckte absolut widerlich, ich hatte gekostet. Ich hätte die Pampe kein zweites Mal runtergebracht. Lieber nichts essen als eine Woche lang lauter Chemie futtern! Und Kalorien hatte der Mist obendrein.
Ich saugte die Wangen ein und beobachtete dabei mein Spiegelbild. Viel besser. Mein Gesicht war schmaler und hatte mehr Ausdruck. Ich zog den Bauch ein, presste meinen Busen flach und betrachtete mich von der Seite. Mit fünfzig Kilo würde ich meine Wunschfigur haben.
Ich drehte schnell den Wasserhahn an, weil Angela hereinstürzte.
„Alles in Ordnung?“
Vermutlich hatte die Bliesel sie beauftragt nach mir zu schauen.
„Mir ist schlecht“, log ich. „Meine Schwester hat ’ne Magen-und-Darm-Grippe, da hab ich mich vielleicht angesteckt.“
Angela zuckte sichtlich zurück.
Ich verschwieg ihr, dass Jennys Krankheit schon ein Vierteljahr her war.
„Na ja, dann“, meinte Angela. „Wir spielen jetzt Handball. Brauchst ja nicht mitmachen, wenn’s dir nicht gut geht.“
Ich folgte ihr in die Turnhalle. Der Barren und die Matten wurden gerade in den Geräteraum geschafft. Ich hockte mich neben Silke auf das Bänkchen vor der Sprossenwand. Silke turnte so gut wie nie mit, keine Ahnung, warum. So oft konnte sie ihre Tage gar nicht haben. Ich mochte auch nicht fragen. Wenn sie nicht freiwillig darüber redete, dann hatte sie sicher ihren Grund.
„Magst du?“ Silke hielt mir ein Stange mit kleinen Täfelchen Traubenzucker hin. „Schmeckt echt gut.“
„Danke.“ Ich ließ den Traubenzucker genüsslich auf der Zunge zergehen. Wirklich lecker, eine Mischung aus Zitronen- und Orangengeschmack. Erst hinterher fiel mir ein, dass auch darin Kalorien waren. Ich ärgerte mich. Wenn ich wirklich abnehmen wollte, dann musste ich besser aufpassen. Das fing schon bei solchen Kleinigkeiten an.
Zum Glück ließ mich die Bliesel in Ruhe. Irgendjemand hatte ihr wohl die Geschichte mit der Magenverstimmung erzählt, denn sie fragte mich erst gar nicht, ob ich Handball mitspielen wollte.
Ich sah zu, wie die anderen Mannschaften bildeten. Tanja führte natürlich wieder das große Wort, dabei war sie eine schlechtere Ballwerferin als ich. Meine Bälle waren ziemlich gefürchtet. Wenn ich richtig mit Kraft warf, dann waren sie unhaltbar. Bei Gelegenheit würde ich Tanja mitten ins Gesicht treffen, natürlich ganz aus Versehen. Irgendwie musste ich mich für die Blamage am Stufenbarren rächen.
Silke hatte keine Ahnung, welch finstere Gedanken ich gerade hegte. Sie lächelte mir zu, und automatisch lächelte ich zurück. Silke war lieb, nett und hilfsbereit, aber doch irgendwie komisch. Sie war in keiner Clique, und eine richtige Freundin hatte sie auch nicht. Sie gehörte zu den Menschen, die einfach nicht auffielen. Obwohl wir schon jahrelang in die gleiche Klasse gingen, wusste ich so gut wie nichts über sie. Auch jetzt hatte ich keinen Schimmer, was ich mit Silke reden sollte. Ich hatte absolut keinen Draht zu ihr. Silke bot mir noch einen Traubenzucker an. Diesmal lehnte ich ab.
„Danke, iss mal lieber selber. Du kannst es besser brauchen als ich.“
Das war nur so dahergeredet, aber ich merkte sofort, dass ich was falsch gemacht hatte. Ich brauchte nur Silkes Gesicht anzuschauen. Das wurde richtig zu Marmor. Meine Güte, die war vielleicht empfindlich! Was hatte ich denn schon Schlimmes gesagt? Ich kriegte natürlich sofort ein schlechtes Gewissen.
„Ich meine“, ich klopfte auf meinen Bauch, „ich bin sowieso schon viel zu dick.“
So war es immer. Ich musste mich einfach entschuldigen und tausend Erklärungen finden, wenn etwas schieflief. Bloß nirgends anecken oder jemanden verletzen! Darin ähnelte ich Mama. Die war genauso harmoniesüchtig wie ich. Ärger runterschlucken, einlenken, lächeln. Nur mit meiner Schwester Jenny hatte ich ständig Zoff, aber irgendwie musste man schließlich sein Revier abstecken. Und die Kleine durfte mit ihren zehn Jahren schon viel mehr als ich damals.
Silke ging nicht auf mich ein. Sie tat, als ob es nichts Interessanteres gäbe als das dämliche Handballspiel. Na gut, ich drängte mich ihr bestimmt nicht auf.
Tanjas Mannschaft gewann. Küsschen hier, Küsschen dort, wie furchtbar. Eine richtige Showtante, ich hatte es ja
gewusst. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie Autogramme verteilen würde!
Endlich gongte es zur Pause. Mein Magen reagierte prompt.
Nix da, Alter, diesmal muss ich dich enttäuschen, jetzt wird gefastet! Schließlich will ich nicht so aussehen wie Mama oder Oma!
Trotzdem schaute ich nach, was ich dabeihatte. Mama hatte mir eine doppelte Mischbrotscheibe mitgegeben, bestrichen mit feiner Leberwurst. Sie sorgte sich immer, dass Jenny und ich in der Pause etwas aßen – nach dem Motto: Nur wenn ihr was im Magen habt, könnt ihr euch richtig konzentrieren. Den Mengen nach hätte ich Klassenbeste sein müssen!
Ich guckte das Brot nur ganz kurz an, und schon bekam ich einen Riesenappetit. Ein Reflex – genau wie bei den Experimenten, von denen wir neulich in Bio gehört hatten. Ein Hund kriegt immer Futter, sobald die Klingel läutet. Nach einiger Zeit fängt er schon an zu seibern, wenn es nur klingelt – ganz ohne Futter. Bei mir war’s ganz ähnlich. Pausengong, Tütenrascheln, und das Wasser lief mir im Mund zusammen. Richtig tierisch.
Ich wickelte das Brot wieder ein und steckte es in die Tasche zurück. Eigentlich fiel es mir gar nicht schwer, und ich war stolz darauf, dass ich so leicht verzichten konnte. Unglaublich, wie oft ich solche Brote gedankenlos in mich hineingestopft hatte, ohne hungrig gewesen zu sein! Wie viele Kalorien das gewesen waren! Ich kam genauso gut ohne Pausenbrot aus.
Doch als ich über den Schulhof lief, knurrte mir der Magen wie blöd. Dauernd musste ich dran denken, dass ich nichts essen wollte. Es wurde richtig zur fixen Idee. Und alle um mich herum mampften. Tanja schälte sich eine Mandarine. Der Duft ließ meine Knie weich werden. Ich liebte Mandarinen und konnte sie tonnenweise futtern. Iris biss herzhaft in einen grünen Apfel. Felix hatte eine Tüte mit Kartoffelchips und hielt sie mir entgegen. Ich schüttelte den Kopf. Felix zog die Augenbrauen hoch.
„Bist du krank?“
„Magenverstimmung“, murmelte ich. Wie praktisch so eine Ausrede sein konnte. Inzwischen glaubte ich fast selbst daran. Mir war richtig schlecht. Mein Magen hing bei den Knien. Hunger, Hunger, Hunger! meldeten die Zellen in meinem Hirn.
So was Albernes. Nur weil ich einmal kein Brot aß, reagierte mein Körper schon mit Panik. Ich musste versuchen an etwas anderes zu denken!
Ein Mädchen aus der Fünften kam vorbei und riss eine Rolle Schokokekse auf, die sie beim Hausmeister gekauft hatte.
Schokokekse! Herrlich knusprige Scheiben, gefüllt mit zarter Schokocreme, die nach Nüssen schmeckte.
Nüsse!
Schokolade!!
Kekse!!!
Schon stand ich vor dem Kiosk und zückte meinen Geldbeutel. Du blödes Aas! schalt ich mich in Gedanken. Gleich wirst du schwach!
Mein zweites Ich verteidigte sich sofort: Ich will ja bloß einen einzigen Keks essen, nicht die ganze Rolle.
Gab es etwas Köstlicheres als Schokokekse? Die leckere Nussfüllung … Und dann dieses unwiderstehliche Geräusch, wenn der Keks unter den Zähnen zerbröselt …
Ich stellte mir alles vor. Es lagen noch drei Rollen auf dem Regal, ich hatte sie entdeckt. Hoffentlich kauften die Jungen vor mir die Kekse nicht weg!
Aber nein, die beiden Kerlchen alberten bloß und entschieden sich dann für Limo. Sechste Klasse, schätzte ich. Der eine sah aus wie der Held in Kevin allein zu Hause. Der andere war klein und dunkelhaarig. Sie packten ihre Limoflaschen, stöpselten Strohhalme hinein, drehten sich um und Kevin, den Blick auf meinen Busen gerichtet, schrie: „Ey, Arno, sind die Titten da echt?“
Die Kerlchen kamen sich dabei ungeheuer großartig vor. Normalerweise wäre das Ganze an mir abgeprallt. Mir konnte es doch egal sein, was die Dummköpfe aus der Sechsten dachten! Aber heute war nicht mein Tag. Es war, als hätte mir jemand die Faust in den Magen gerammt. Es stank mir gewaltig. Jeder meckerte an mir herum.
Aber es stimmte ja, mein Busen war groß und auffällig. Ich war einfach zu dick!
Statt mir Kekse zu kaufen verschwand ich aufs Klo und heulte. Ab sofort würde ich hungern, bis ich nur noch fünfzig Kilo wog. Ich schwor es bei meinem Spiegelbild.
Nach der Pause hatten wir Englisch. Alle achten Klassen machten in diesem Jahr eine Klassenfahrt. Wir aus der 8c wollten nach London fahren. Frau Strang besprach das Programm mit uns. Die Überraschung sparte sie sich bis zuletzt auf.
„Außer mir wird wahrscheinlich noch Herr Wertlich als Begleitperson mitfahren“, ließ sie dann endlich die Bombe platzen.
„Wow, unser Bobby!“, quietschte Anja entzückt. Alle lachten und trommelten Beifall.
Mir wurde heiß vor Freude. Herr Wertlich hatte im letzten Schuljahr Englisch unterrichtet. Fast alle Mädchen aus unserer Klasse hatten für ihn geschwärmt. Ich war keine Ausnahme. Ich hätte mein letztes Hemd für Bobby gegeben,und Englisch wurde zu meinem Lieblingsfach. Bei Bobby war das Lernen das pure Vergnügen. Er war der charmanteste Lehrer der Schule. Wenn er mich angelächelt hatte, dann hatte ich nächtelang von ihm geträumt. Er war meine heimliche Liebe gewesen. Leider bekamen wir in der achten Klasse Frau Strang in Englisch, und bei ihr war der Unterricht nicht halb so schön.
Aber jetzt würde Bobby mit nach London fahren, Mensch!
Ich kritzelte rasch etwas auf ein Stück Papier. Noch acht Wochen bis zur Fahrt. Bis dahin musste ich mein Traumgewicht haben. Ein Kilo weniger pro Woche. Pro Tag ungefähr 150 Gramm. Das klang lächerlich einfach! Es musste doch zu schaffen sein!
Ich hörte gar nicht, wie Frau Strang über den Tower und die Kronjuwelen redete, die wir besichtigen wollten. Bobby, Bobby, Bobby! klopfte mein Herz. Ursprünglich hatte uns Herr Schröder nach London begleiten wollen. Aber letztes Wochenende hatte er sich beim Fußballspielen einen Bänderriss am Knie geholt und musste demnächst operiert werden. Es würde drei Monate dauern, bis die Sache ganz ausgeheilt war. Und deswegen kam jetzt Bobby mit, yippi!
Den Schröder konnte keiner von uns leiden. Das war vielleicht ein Miesepeter! Ein richtiger Griesgram. Der hätte uns die Fahrt total vermiest. Mit welcher Leidensmiene der immer rumlief! Man erzählte, seine Frau hätte einen Liebhaber. Bestimmt war was an der Sache dran. Die Arme wollte bestimmt nur ein bisschen Freude im Leben. Mich wunderte,dass der Schröder in seiner Freizeit Fußball spielte. Das hatte ich ihm gar nicht zugetraut.
Dass er jetzt im Krankenhaus liegen musste, tat keinem aus unserer Klasse leid. Höchstens Michelle. Die bedauerte ja immer alle und jeden. Wir hatten ihr deswegen schon den Spitznamen Samariterin verpasst. Wirklich, Michelle übertrieb es mit ihrem Mitleid.
Sie schlug nach der Stunde vor, dass wir den Schröder im Krankenhaus besuchen sollten, mit Blumen und Pralinen.
„Abgelehnt“, meinte Anja. „Wenn der Schröder unbedingt Fußball spielen muss, dann ist das sein Problem. Jeder weiß, dass Fußball ein harter Sport ist. Davon kriegt man Knochenbrüche, Sehnenrisse und andere Nettigkeiten.“
„Sport ist Mord“, mischte sich Volkmar ein.
„Bei dir schon.“ Klar, das kam von Tanja. Diese Ätzstange mit ihrer spitzen Zunge!
„Ich steh zu meiner Figur“, erwiderte Volkmar und grinste. „Manche mögen’s rund. Es kann ja nicht jeder ein Spargeltarzan sein.“
Tanja hob die Augenbrauen. „Was wiegst du eigentlich? Das würde mich echt mal interessieren. Achtundfünfzig? Sechzig? Zweiundsechzig?“
Michelle fuhr dazwischen. „Lass ihn doch in Ruhe, verdammt noch mal!“
Ich war bei dem Wort achtundfünfzig zusammengezuckt. Was, der Fettkloß wog so viel wie ich? Ich fand ihn unglaublich dick! Jetzt guckte ich genau hin. Volkmar war einen halben Kopf kleiner als ich. Es sah einfach widerlich aus, wie sein Bauch über den Hosenbund quoll. Sein Megahintern spottete jeder Beschreibung. Sicher brauchte er Jeans in Sondergrößen. Meistens trug er weite, karierte Hemden, die seinen Umfang ein bisschen kaschierten.
Wog Volkmar wirklich nicht mehr als achtundfünfzig Kilo? Dann sah ich vielleicht auch so schlimm aus wie er! Mir wurde ganz schlecht. Wie entsetzlich. Bobby würde mich kein einziges Mal anschauen.
Ich schluckte. Es gab nur einen Weg.
Keine Leberwurstbrote mehr, keine Schokolade oder andere Kalorienbomben! Ich würde aufpassen, was ich in mich hineinstopfte. Und ich würde zu rechnen anfangen. Tausend Kalorien am Tag, mehr würde ich ab sofort nicht essen!
Ich läutete dreimal. Lang, kurz, kurz – unser Familiensignal. Es summte und ich drückte die Tür auf.
„Ich bin’s!“, rief ich, schleuderte Rucksack und Sportbeutel in die Ecke und wusch mir auf dem Gästeklo die Hände.
„Hallo, Miriam“, rief Mama aus der Küche. „Essen steht schon auf dem Tisch!“
„Es gibt Pflaumenklöße!“ Das war Oma. Schon erschien sie in der Küchentür: grauer Kurzhaarschnitt, ein kugelrundes Gesicht, klein, stämmig und dann dieser unglaubliche Busen, der Familienfluch. Sie strahlte mich an, und ich brachte es nicht fertig, ihr zu sagen, dass ich keinen Hunger hatte. Seit Opa tot war, wohnte Oma bei uns, und Mama war froh, wenn Oma sie in der Küche ablöste. Oma kochte mit Leidenschaft. Sie kannte eine Menge leckere Gerichte. Omas Pflaumenklöße waren meine Leibspeise und ich fand es richtig gemein, dass es ausgerechnet heute solche Klöße gab. Ich wollte doch abnehmen!
Es roch verführerisch nach Pflaumen und süßer Butterschmelze. Als ich in die Küche kam, sah ich, dass schon ein Teller mit drei dampfenden Klößen an meinem Platz stand. Halbherzig versuchte ich zu protestieren.
„Eigentlich hab ich gar keinen Hunger.“
„Aber es gibt doch Pflaumenklöße!“, entrüstete sich Oma sofort. „Die kann man auch ohne Hunger essen. Jetzt setz dich erst mal!“
Mein Körper gehorchte und rums, hockte ich auf der Eckbank. Der Teller stand gefährlich nah vor mir. Meine Hände griffen automatisch nach Messer und Gabel. Ich musste die Klöße dauernd ansehen. Meine Speicheldrüsen arbeiteten auf Hochtouren. Konnte ich mir bei tausend Kalorien am Tag nicht einen Kloß erlauben? Ich hatte schon in der Pause nichts gegessen, jetzt war es zwei Uhr, und ich fiel fast um vor Hunger.
„Nun fang doch endlich an“, drängte Oma. „Deine Mutter und ich, wir haben schon gegessen.“
Sie hätte das Signal gar nicht mehr zu geben brauchen. Oh, wie war der Mensch doch schwach! Im Augenblick erschienen mir die Klöße viel verlockender als eine Modelfigur. Ich stopfte den ersten Bissen in den Mund. Kloß und Pflaumen zergingen auf der Zunge. Es war der Himmel auf Erden, Seligkeit pur.
Aber eine Million Kalorien, meldete mein Gewissen.
„Gut?“, fragte Oma gespannt.
Das gehörte einfach dazu. Oma wusste längst, dass sie die besten Plaumenklöße der Welt machte. Aber sie wollte jedes Mal gelobt werden. Ich kannte das Spiel und machte es mit.
„Fantastisch“, nuschelte ich mit vollem Mund. Das war nicht einmal gelogen, es schmeckte ja tatsächlich überirdisch gut.
Oma strahlte. Wenn sie sich freute, dann ging in ihren Augen ein richtiges Licht an. In solchen Momenten sah sie gar nicht mehr alt aus, sondern eher wie Mamas ältere Schwester. Die Ähnlichkeit war auch sonst da: im Gesichtsausdruck, in der Form der Augen und des Mundes. Selbst die Kurzhaarfrisur war ähnlich, nur hatte Mama dunkelblondes Haar.
Ich war zwar größer, aber ich konnte mir gut vorstellen, wie ich in dreißig oder in sechzig Jahren aussehen würde.
„Wie war’s in der Schule?“, fragte Mama. Die Frage kam jeden Tag und wahrscheinlich erwartete Mama gar keine richtige Antwort. Im Augenblick kniete sie vor der Geschirrspülmaschine und mühte sich mit dem Sieb ab. Es war wieder mal verstopft, dabei hatten wir die Maschine erst vor zwei Monaten reparieren lassen. Ich wunderte mich immer wieder, dass Mama bei solchen Sachen nicht fuchsteufelswild wurde. Sie fluchte nur ganz selten, eigentlich so gut wie nie.
„Habt ihr eine Arbeit zurückgekriegt?“, erkundigte sich Oma. Sie belohnte Einser und Zweier immer mit Geld. Ich bekam für eine gute Note ein bisschen mehr als meine Schwester, aber das fand ich nur gerecht. Schließlich war ich auch fünf Jahre älter als Jenny.
Ich schüttelte den Kopf. Es stand momentan nur die Deutscharbeit aus. „Der Gabriel braucht natürlich wieder ewig zum Korrigieren.“ Ich überlegte, ob ich erzählen sollte, was mir in der Sportstunde passiert war, aber dann ließ ich es. Oma und Mama hätten mich vermutlich nur damit getröstet, dass sie im Turnen auch keine großen Leuchten gewesen waren. Dabei ließ sich das gar nicht vergleichen. Ich war ja in der fünften und sechsten Klasse noch ganz gut gewesen.
Ich war einfach zu dick!
„Übrigens will ich kein Pausenbrot mehr“, platzte ich heraus. „Lieber einen Apfel oder einen Pfirsich oder sonst was.“
Mama drehte sich um und sah mich ziemlich erstaunt an. „Ja, meinst du, du kommst damit aus? Das hält doch nicht lange vor!“
Im gleichen Augenblick fiel mir auf, dass ich schon den zweiten Kloß gegessen hatte, ganz automatisch.
Verdammt!
Tränen schossen mir in die Augen. Oma und Mama sabotierten mich richtig!
„Ich bin zu dick!“, schrie ich aufgebracht. „Schaut mich doch an. Ich bin unerträglich fett! Ich muss abnehmen.“
„Aber Kind, was redest du da?“, kam es von Oma, und Mama sagte zur gleichen Zeit: „Du bist doch überhaupt nicht dick!“
„Ja, noch nicht ganz so dick wie ihr“, heulte ich. „Aber ich bin auch erst fünfzehn!“
„Miriam!“ Oma schüttelte den Kopf. „Was soll denn auf einmal das Theater?“
„Wir sind auch nicht richtig dick“, protestierte Mama. „Oma und ich sind nur ein bisschen mollig. Wir sind eben gute Futterverwerter.“
Das war ihre Lieblingsausrede. Gute Futterverwerter waren Leute, die von der gleichen Essensmenge ein bisschen dicker wurden als andere. Genau genommen waren gute Futterverwerter von der Natur begünstigt, sie kamen besser über Notzeiten. Wie oft erzählte Oma von der Hungersnot nach dem Krieg. Dabei betonte sie immer, dass wir gar nicht wüssten, wie gut wir es jetzt hätten.
Ich ließ Mamas Ausrede nicht gelten.
„Futterverwerter, von wegen! Zähl doch mal nach, was du jeden Tag futterst! Da muss man ja dick und fett werden!“