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In Fritz Mauthners Werk 'Vom armen Franischko' taucht der Leser in eine Welt voller philosophischer Betrachtungen und literarischer Raffinesse ein. Das Buch erzählt die Geschichte des Protagonisten Franischko, der in seiner Armseligkeit zugleich eine existenzielle Tiefe und einen klugen Geist offenbart. Mauthner verwendet eine fesselnde Erzählweise, die den Leser dazu bringt, über die versteckten Nachrichten und subtilen Nuancen nachzudenken. Der Text reflektiert die Zeit des frühen 20. Jahrhunderts und Mauthners eigene philosophische Perspektiven, die sich durch das gesamte Werk ziehen. Fritz Mauthner, ein österreichischer Schriftsteller und Philosoph, war bekannt für seinen skeptischen Blick auf die Sprache und die Suche nach Wahrheit und Sinn. 'Vom armen Franischko' spiegelt deutlich Mauthners Reflexionen über die menschliche Existenz und die Rolle der Sprache in der Kommunikation wider. Seine detaillierte Untersuchung von Franischkos Gedanken und Gefühlen offenbart Mauthners tiefe Kenntnisse der menschlichen Psyche und seine Fähigkeit, komplexe Themen auf eine zugängliche Weise zu präsentieren. Dieses Buch ist für Leser geeignet, die sich für philosophische und literarische Werke interessieren, die zum Nachdenken anregen. Mauthners tiefsinnige Erzählung und sein kritischer Blick auf die Welt bieten eine reichhaltige Leseerfahrung, die den Leser dazu ermutigt, über die fundamentalen Fragen des Lebens und der Sprache nachzudenken.
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Seitenzahl: 118
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Books
Der erste Herbststurm jagte die Blätter der Buchenwälder über einen der Berge der Karpathen, von dessen westlichem Abhang die letzten Hütten eines armseligen Slowakendorfes niederblickten.
Vor einer kleinen, wie in die Erde versunkenen, strohbedeckten Lehmbude stand der alte Franio und streichelte den Kopf seines Buben, während er ihm mit dem Finger der anderen Hand den Lauf des glitzernden Flusses deutete.
»Und schon morgen werden wir auf die Reise gehen, Tatko (Vater)?« fragte der Knabe, indem er die stillen träumerischen Augen freudestrahlend zum Vater aufschlug.
»Ja, Franischko. Aber du mußt fleißig laufen und nicht müde werden; dafür werde ich dir alle Städte der Welt zeigen, wo die Leute in seidenen Kleidern schlafen gehen und in ihren Betten spazieren fahren.«
Der Knabe suchte mit seinen Blicken die Ferne zu durchdringen, ob sich ihm nirgends eines der Wunder offenbarte, aber er sah nichts als einen breiten grauen Strich, in welchem der abendliche Himmel und die Erde ineinander übergingen.
Jetzt nahte ein langsamer Schritt. Die Mutter kam von der Feldarbeit nach Hause. Noch einige hundert Fuß über der Hütte, hinter dem Wäldchen, besaß Franio einen Kartoffelacker, dessen Bestellung der Hausfrau oblag. Sie kam jetzt von schwerer Tagesarbeit nach Hause, den frühgealterten Körper gebeugt unter einem Sack voll Kartoffeln. Als Franischko die Mamka (Mutter) erblickte, eilte er jubelnd auf sie zu und teilte ihr mit geflügelten Rufen mit, daß der Tatko morgen wieder auf die Wanderschaft gehe und ihn, den Franischko, endlich mitnehmen wolle.
Tränen stürzten über das verkümmerte Gesicht der Frau, aber ohne sich aufzuhalten, ohne den Knaben anzusehen, wankte sie weiter; ohne den Gatten zu begrüßen, schritt sie, noch tiefer als bisher sich bückend, in ihre Wohnung. Hier lud sie den schweren Sack ab und ging ungesäumt daran, die Kartoffeln zum Abendmahl zu kochen. Wohl währte es diesmal etwas länger als gewöhnlich – das feuchte Holz hatte wohl lange nicht Feuer fangen wollen –, endlich aber konnte sie die beiden hineinrufen.
Trotz ihrem Kummer hatte die Mutter außer Kartoffeln und Salz auch ein mächtiges Stück Speck auf den rohen Tisch bereitgelegt, und der alte Franio griff auch schnell danach, als ob er großen Hunger hätte. Aber es mußte ihn plötzlich ein heftiger Zahnschmerz ergriffen haben, denn er legte den Speck wieder hin, stemmte das Gesicht tief aufseufzend in die Hände und verließ nach einer Weile die Stube, ohne einen Bissen gegessen zu haben. Die Mamka folgte bald. Der kleine Franischko, der beim reichbesetzten Tisch allein zurückblieb, sah in den ungemessenen Genüssen der heutigen Abendmahlzeit einen köstlichen Vorgeschmack all der guten Dinge, die ihn von morgen ab in der großen Welt erwarteten.
Draußen standen die Gatten schon eine ganze Weile wortlos nebeneinander.
»Muß es sein?« fragte endlich die Frau.
»Frage dich selbst«, antwortete Franio, der unaufhörlich in die Ferne hinausstierte. »Der Bub ist zwölf Jahre alt. Seine Brüder waren alle nicht älter, als sie anfingen zu verdienen. Ich war seinerzeit auch nicht älter und bin doch noch lebendig.«
»Aber nach Weihnachten ließe sich ja mit Holzfällen etwas gewinnen. Da solltest du doch zu Hause sein. Ich könnte zwar auch das Beil führen. Aber sie haben mich ausgelacht im vorigen Winter, wie ich um Arbeit im Walde bat. Man nimmt nur euch Männer.«
»Ich bin zu Neujahr zu Hause. Franischko ist klug und folgsam. Bis dahin habe ich ihn längst abgerichtet.«
»Aber Franischko ist gar so klein!«
»Unser Acker ist auch klein«, rief rauh der Gatte. »Die Erdäpfel sind dieses Jahr schlecht geraten. Im Frühling und im Sommer gibt’s für uns alle etwas zu tun. Aber der Winter duldet kein unnützes Maul im Trenschiner Komitat.«
»Franischko wird satt werden, ich weiß zu hungern«, sagte die Mamka, indem sie bittend die Hand des Mannes erfaßte.
»Und wer soll Haus und Feld bestellen, wenn du verhungert bist, Bora«, antwortete Franio wild. »Schweig, es muß sein. Mir ist das Herz schwer genug, und wenn du mir’s noch schwerer machst, so werd’ ich bös. Du weißt!« Eine Pause folgte, während welcher die Frau leise vor sich hin weinte und der Mann gewaltsam das Gefühl bekämpfte, das ihn schütteln wollte. Dann faßte die Frau sich noch einmal ein Herz und sagte: »Ich werde den Franischko doch noch einmal zur Baba (Großmutter) bringen dürfen, sie hat ihn so lieb. Vielleicht schenkt sie ihm etwas.«
Franio antwortete nicht, doch die Frau war gewöhnt, das Schweigen als Zustimmung zu betrachten. Franischko durfte noch einmal die bunte Pelzmütze, den Schirak, aufsetzen und den breiten formlosen, schmutziggelben Tuchmantel, die Halena, umwerfen. Dann eilte die Mutter mit dem Knaben fort. Sie kam verstört bis zu der allerletzten Hütte am Saume des Waldes, wo ihre Großmutter, eine Greisin von mehr als hundert Jahren, seit unvordenklichen Zeiten wohnte.
Lange Zeit hörte die Baba kopfschüttelnd und kopfnickend zu, wie ihre Enkelin über ihr hartes Los jammerte und wie der kleine Urenkel von den Herrlichkeiten der Welt phantasierte. Als endlich beide müde geworden waren und erwartungsvoll in die klugen Augen der Alten schauten, da begann die Baba endlich zu reden.
»Als ich geboren wurde, reichte der Wald bis ins Tal hinunter, und mein Vater wohnte auf eigenem Grunde über dem Herrenwald. Heute besitze ich kaum noch soviel Acker, um mich auf eigenem Lande sterben legen zu können. Aber euer Dorf zieht sich jetzt ins Tal hinunter, und über mir wächst der junge Herrenwald empor. Ja, ja, Kinder, wenn man so eine Weile zuschaut, erfährt man es: bergauf, bergab, alles tanzt im Kreise herum.
Ja, alles tanzt im Kreise herum. Das Wasser von Wolke und Fluß ist bald da, bald dort, die reichen Ernten sind bald beim Nachbar, bald bei uns, und die Herrschaft der Welt gehört heute uns und morgen unseren Herrn. Sogar die Schwarzröcke kommen und gehen.
Was ich dir jetzt berichte, Franischko, das habe ich freilich nicht selbst gesehen, aber ehrliche Leute haben es mir erzählt. Weißt du, in welchem Lande wir leben? Weißt du, von welchem Volke du bist? Weißt du, wie unser Kaiser heißt?«
Der Knabe schüttelte zu all diesen Fragen verwundert den Kopf. Die Baba schaute mißbilligend auf des Kindes Mutter. »Das ist nicht recht, Bora«, sagte sie. »Du brauchst den Knaben nicht in die Schule gehen zu lassen, aber von seinen Vorfahren solltest du ihm einmal erzählen und von den Schicksalen unseres Reichs. Auch deine Kinder sollen nie vergessen, daß unsere Familie mit den alten Königen verwandt ist.«
Bora küßte demütig den Ärmel der Großmutter. »Die Erdäpfel sind so schlecht geraten«, sagte sie wimmernd, »da vergißt man mancherlei.«
»Die Sommer sind gut und schlecht, Bora, das tanzt alles im Kreise herum. Aber unsere Familie – ach, Jammer und Elend! Unsere Familie besteht aus Bettlern und einem alten Weibe!
Aber du, Franischko, mein Seelenbübchen, du sollst nicht ganz vergessen die einstige Größe deiner Vorfahren. Du mußt nämlich wissen, Franischko, daß vor vielen, vielen hundert Jahren die Könige dieser Berge die Herren der Welt waren. Drüben in Trenschin saß unser König auf einem goldenen Thron, und von allen Gegenden kamen die Fürsten und drückten vor ihm die Stirn in den Staub. Und der König hatte alle Eisendrähte des Landes angekauft und lange Glockenzüge hergestellt von den fernsten Türmen der Erde bis in seinen Thronsaal. Und wenn irgendwo im Norden oder im Süden Empörung ausbrach, so zog der Türmer an der Glocke und der große König ritt fort mit seinen kleinen Pferden und kam nicht wieder, bevor nicht die Köpfe der Schuldigen über die Erde kollerten. Aber unsere Könige glaubten, daß es etwas Unveränderliches gäbe unter dem Monde, und so sündigten sie lustig drauf los, bis es endlich zuviel wurde. Und es schien, als ob die Gnade des Himmels ihrem Treiben zulächelte. Es war aber nur ein trügerisches Geschenk der Hölle, als eines Tages hier und dort, in Teplice, in Pöschtian und in Warlawa heiße Quellen aus dem Boden brachen, so gut und heilkräftig, daß alle Kranken Genesung finden konnten. Es war aber nur ein Netz, welches der schwarze Gott den Mächtigen des Landes gestellt hatte. Und sie ließen sich umgarnen! Der König hatte in fremden Ländern fremde Ritter und fremde Frauen lieben gelernt, er verachtete selbst das arme Slowakenvolk, das ihn so hoch gehoben hatte. Und es kam ein Gesetz, daß in der heißen Quelle zuerst nur der König und dessen Verwandte baden sollten, dann durfte die hohe Geistlichkeit die Gebreste zurücklassen, die sie sich durch ihr gutes Leben geholt hatte. Dann kamen die fremden Ritter, die Ungarn und die Deutschen, an die Reihe, dann die vielen Tausend Kaufleute und Handwerker, die aus allen Städten herbeifuhren, um sich für ihr gutes Geld Gesundheit zu kaufen. Und jetzt erst, zuallerletzt, wurde auch das arme Slowakenvolk zugelassen, ein jeder, den die Krankheit bedrückte. Als der Slowake endlich herankam, war aber das Wasser arm geworden und hatte seine Heilkraft an den vielen Fremden eingebüßt.
Da kam die Strafe des Himmels über unsere Könige. Hungersnot brach herein, daß die Leute ihre Suppen aus Baumrinde kochten und hinstarben wie die Schmetterlinge im Herbst. Und als der König selbst am Ende war mit seinen Schätzen und den letzten Hafer seines Marstalls aufgegessen hatte, da ging er hin und verkaufte sein Volk und verkaufte all seine Kronen an den großen römischen Kaiser und durfte dafür bis an sein Lebensende Fogosch essen und Schomlauer trinken, soviel er wollte. Aber die Hungersnot blieb bei uns im Lande. Unsere Wälder und unsere Felder gehörten nicht mehr uns, und wo der Weizen reifte, wo die Traube blühte, wo der Hirsch wechselte, da waren die fremden Herren bereit, die Hände danach auszustrecken, und der Slowake kam immer zu spät, immer zu spät.
Und dennoch, alles tanzt im Kreise herum. Wie ich noch ein junges Mädchen war, da hörte ich’s erzählen, es ist die reine Wahrheit. Es kam das Reich auf den guten Kaiser Josef. Der ging zeitlebens in einer alten Halena umher und verschenkte seine goldenen Kleider an die Armen. Und er fand den Draht, der von seinem Turm bis nach Trenschin führte, und er fragte nach seiner Bedeutung, aber niemand wollte ihm Antwort geben. Da legte er selbst sein Ohr an den Draht und lauschte, und da hörte er alle Klagen Trenschins und hörte die Rufe des hungernden Slowakenvolks. Da geriet er in großen Zorn und ließ allen die Köpfe abschlagen, die ihm keine Antwort hatten geben wollen.
Dann aber ließ er sich nicht länger halten und befahl seinem Kutscher, sechs schnelle Pferde an den Wagen zu spannen und ihn so rasch wie möglich nach Trenschin zu bringen. Und hundert große Leiterwagen sollten in scharfem Trabe folgen, ein jeder beladen mit hundert Säcken Weizenmehl. Und viele Herden von Schafen, Schweinen und Ziegen sollten nachgetrieben werden. Wo er erschien, sollte die Hungersnot ein Ende haben, wie die Nacht beim Aufgang der Sonne.
Aber unseres Volkes Blutsauger waren auch nicht müßig. Sie hielten den guten Kaiser Josef auf mit Bittschriften und Klagen, bis es Abend wurde. Und als der Kaiser am nächsten Morgen aufbrechen wollte, da waren die beiden besten Rappen seines Wagens vergiftet. Der gute Kaiser Josef ließ sich davon nicht aufhalten. Er fuhr mit vier Pferden davon und schaute sich oft um, ob das Mehl und die Tiere nicht zurückblieben. Aber schon nach einer Stunde stürzte ein Pferd mit durchschnittener Sehne nieder. Der Kaiser fluchte und befahl weiterzufahren. Gegen Mittag stürzte das zweite Pferd, wenige Stunden später das dritte, als die Sonne unterging, das letzte. Niemand konnte sagen, wer der Missetäter gewesen.
Da weinte der Kaiser vor Schmerz, daß er die Slowaken so lange warten lassen mußte, und rief: ›Ich kann nicht stehen und rasten. Ich will zu Fuß laufen, bis ich den Slowaken Brot gebracht habe. Wer mich lieb hat, der tue wie ich.‹
Und der gute Kaiser nahm zwei große Säcke auf seine Schultern und lief des Weges weiter. Niemand folgte ihm. Als er aber zur Brücke kam, da war sie von unbekannter Hand in der Mitte entzweigesägt, und drüben standen die Blutsauger und lachten. Der Kaiser aber kam mit schnellen Schritten bis in die Mitte des Steges, dann brach alles zusammen und der Kaiser verschwand in den Wellen. Aber ertrunken ist er nicht und gestorben nicht bis heute.
Seitdem müssen alle Slowakenknaben weit, weit in der Welt herumziehen und den guten Kaiser Josef suchen. Wo einer von euch ein weißes Weizenbrot geschenkt bekommt, da ist eine Spur vom guten Kaiser gefunden, und wo einer von euch einen freundlichen Gruß bekommt, da ist der Kaiser Josef nicht mehr weit. Und wer ihn endlich selber sieht, der soll ihn herbringen nach Trenschin, auf daß die Hungersnot eine Ende nehme und des Slowakenreiches Herrschaft wieder währe, so weit die Sonne scheint. Kommen wird’s, kommen wird’s, denn die ganze Welt tanzt im Kreise herum.« –
Der Morgen graute noch kaum, als Franischko geweckt wurde. Er hatte so süß von Weizenbrot und seidenen Kleidern geträumt und von dem Haus des Kaisers, wo in allen Ecken Mausefallen aus Golddraht blinkten. Jetzt stand der Vater vor ihm und befahl ihm, sich fertig zu machen.
Eine große Ladung der Blech-und Drahtwaren, mit denen Franischko von nun an hausieren gehen sollte, lag vor der Tür. Der Vater lud den größten Teil auf seine eigenen Schultern, doch hatte der Knabe immer noch schwer genug zu tragen. Weinend trat die Mamka hinzu, prüfte aufjammernd das Gewicht der kleineren Last und schob heimlich einen weichen Tuchlappen zwischen den Tragriemen und die Schulter. Dann ging sie in die Hütte zurück, um sich dort in den Armen der Baba auszuschluchzen.
Ohne Abschied schritten die beiden Slowaken den Berg hinab und waren bald im Frühnebel verschwunden.