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Cicero geht in seinem Werk »Vom höchsten Gut und vom höchsten Übel« der Frage nach, welches höchste Ziel Menschen in ihrem Leben anstreben sollten. Dazu stellt Cicero eine kritische Betrachtung unterschiedlicher philosophischer Denkrichtungen an. Einen besonderen Schwerpunkt setzt Cicero beim Stoizismus. Um die vorgestellten Lehren leichter verständlich zu machen, bedient sich Cicero eines Kunstgriffs. Er präsentiert die philosophischen Lehren in drei fiktiven Dialogen. Der Band enthält drei fiktive Gespräche, in denen Cicero teils sowohl selbst die philosophische Lehre präsentiert, als auch die Rolle des Zuhörers einnimmt.
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Seitenzahl: 301
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Kap. I. (§ 1.) Ich wusste wohl, mein Brutus, dass, als ich das, was die geistreichsten und gelehrtesten Philosophen in griechischer Sprache behandelt hatten, in lateinischer wiedergab, meine Arbeit mancherlei Tadel finden würde. Denn manchen und nicht gerade ungelehrten Männern gefällt das Philosophieren überhaupt nicht; andere wollen eine mäßige Tätigkeit hier wohl gestatten, aber meinen, dass man nicht so großen Fleiß und so viele Mühe darauf verwenden dürfe. Auch gibt es Männer, die, mit den Schriften der Griechen vertraut, die lateinischen verachten und sagen, dass sie ihre Mühe lieber auf jene verwenden mögen. Endlich werden auch Einige mich vermutlich an andere Wissenschaften verweisen, weil diese Art von Schriftstellerei, trotz des Scharfsinns, doch nach ihrer Meinung meiner Person und Würde nicht gezieme.
(§ 2.) Gegen alle Diese möchte ich hier Einiges sagen. Den Tadlern der Philosophie habe ich zwar schon hinlänglich in jener Schrift geantwortet, worin ich die von Hortensius angeklagte und getadelte Philosophie verteidigt und gelobt habe, und da diese Schrift sowohl von Dir wie von Allen, denen ich ein Urteil zutraue, gebilligt worden ist, so bin ich in diesen Arbeiten fortgefahren, damit es nicht scheine, als könnte ich das Interesse für diese Wissenschaft wohl erwecken, aber nicht dauernd erhalten. Wenn dagegen Manche, die dem wohl beistimmen, doch nur eine mäßigere Tätigkeit hier gestatten wollen, so fordern sie eine Mäßigung bei einem Gegenstande, wo sie schwer einzuhalten ist, und der, einmal aufgenommen, sich nicht in Schranken halten oder wieder bei Seite legen lässt. Vielmehr möchte ich dann eher Jenen beitreten, welche die Philosophie überhaupt nicht zulassen wollen, als Diesen, die eine Schranke für einen Gegenstand ziehen, der unerschöpflich ist und umso besser wird, je grösser er wird.
(§ 3.) Denn wenn man die Weisheit wirklich erreichen kann, so muss man sie nicht bloß erwerben, sondern auch genießen, und wenn ihre Erwerbung schwerfällt, so darf man doch der Erforschung der Wahrheit, bevor man sie erreicht hat, keine Schranke ziehen; auch bleibt die Ermüdung im Suchen da tadelnswert, wo der gesuchte Gegenstand der schönste ist. Wenn ich aber an meiner Arbeit mich ergötze, so kann doch nur der Neid mich davon abziehen wollen, und wenn ich mich dabei anstrenge, so darf doch ein Dritter fremdem Fleiße keine Grenze ziehen wollen. Wie der gutmütige Chremes bei Terenz nicht will, dass sein neuer Nachbar »grabe oder pflüge oder sonst so etwas tue« (womit er ihn nicht von der Arbeit, sondern nur von der gemeinen Körperarbeit abhalten will), so machen sich Manche übertriebene Sorge, wenn sie an einer Arbeit Anstoß nehmen, welche mir keineswegs unangenehm ist.
Kap. II. (§ 4.) Schwerer sind Die zufrieden zu stellen, welche die lateinischen Bücher verächtlich von sich weisen; nur wundert es mich bei diesen vor Allem, dass sie in den wichtigsten Dingen an ihrer Muttersprache keine Freude finden und doch die kleinen aus dem Griechischen wörtlich in das Lateinische übersetzten Geschichtchen nicht ungern lesen. Wer könnte wohl Allem, was den römischen Namen trägt, so feind sein, dass er des Ennius Medea und des Pacuvius Antiopa geringschätzte und zurückwiese, während er sich an denselben Stücken von Euripides geständlich ergötzt und nur die lateinischen Schriften hasst? Soll ich denn, höre ich ihn sagen, des Cäcilius Jugendgenossen und des Terenz Andria lesen und nicht lieber des Menander gleichnamige Stücke?
(§ 5.) Allein ich kann dem durchaus nicht beistimmen. Wenn auch Sophokles seine Electra noch so schön verfasst hat, so meine ich doch auch die schlechte Übersetzung des Attilius lesen zu sollen, den Licinius »einen Schriftsteller von Eisen, aber doch immer einen Schriftsteller« nennt, der also gelesen werden soll. Mit unseren Dichtern ganz unbekannt zu sein, ist das Zeichen großer Trägheit oder verzärtelter Vornehmtuerei, und ich kann Niemand für einen ganzen Gelehrten anerkennen, der unsre Schriften gar nicht kennt. Oder soll man zwar das lateinische Stück: »O! dass nicht im Haine....« lesen, obgleich es auch griechisch vorhanden ist, aber soll es nicht gestattet sein, des Plato Ausführungen über das gute und glückliche Leben lateinisch wiederzugeben?
(§ 6.) Wenn ich nicht bloß den Dolmetscher mache, sondern das von Andern Gesagte, soweit ich es billige, verteidige, mein eigenes Urteil und meine Darstellungsweise dazu gebe, weshalb sollen da solche Arbeiten von guter Schreibart, die keine bloßen Übersetzungen aus dem Griechischen sind, dennoch den griechischen Schriften nachstehen? Wendet man ein, dass die Griechen dies schon Alles behandelt hätten, so darf man dann auch nicht so viel griechische Bücher lesen, als doch geschehen muss. Denn was hätte wohl Chrysipp bei den Stoikern übergangen? und trotzdem liest man den Diogenes, Antipater, Mnesarchus, Panätius und viele andere, insbesondere unsern Freund Posidonius. Und ergötzt etwa Theophrast weniger, weil er das behandelt, was schon Aristoteles vor ihm behandelt hat? Stehen etwa die Epikureer davon ab, in ihren Schriften Gegenstände, über die sowohl Epikur wie die Alten geschrieben haben, nach ihrem Gutdünken zu behandeln? Und wenn die Griechen von den Griechen gelesen werden, sobald sie dieselben Gegenstände in anderer Weise behandeln, weshalb sollten da meine Schriften nicht von den Unsrigen gelesen werden?
Kap. III. (§ 7.) Wenn ich auch den Plato oder Aristoteles nur einfach so übersetzte, wie unsre Dichter die Fabeln übersetzt haben, so würde ich mich um meine Mitbürger nicht wenig verdient machen, indem ich sie mit jenen göttlichen Männern bekannt machte. Ich habe es bis jetzt nicht getan, glaube aber wohl, dass auch dies mir gestattet sein wird. Einzelne Stellen werde ich allerdings, wenn es mir passend scheint, übersetzen; insbesondere bei jenen genannten Männern, wenn es sich trifft, dass es passend geschehen kann. Auch Ennius hat dies mit dem Homer, Afranius mit dem Menander so gemacht. Ich werde aber nicht, wie unser Lucilius, gewisse Leser zurückweisen. Lebte doch nur jener Persius noch und vor Allem Scipio und Rutilius, deren Urteil Lucilius scheute und der deshalb nur von den Tarentinern, Consentiern und Sicilianern gelesen sein wollte. Dies war ein zierlicher Ausspruch, wie wir deren auch anderwärts bei ihm finden; allein so gelehrt waren diese Leute, um deren Urteil er sich bemühte, damals noch nicht, und seine Schriften gehören zu den leichtern, die zwar durch große Feinheit, aber weniger durch Gelehrsamkeit sich auszeichnen.
(§ 8.) Welchen Leser sollte ich aber fürchten, da ich es wage, diese meine Schrift an Dich zu richten, der Du selbst den Griechen in der Philosophie nichts nachgibst? Allerdings hast Du mir den Anlass durch Dein mir so wertes Buch über die Tugend gegeben, was ich von Dir erhalten habe. Vielleicht haben auch Manche einen Widerwillen gegen lateinische Schriften bekommen, weil sie auf gemeine und widerwärtige Sachen geraten sind, die aus schlechtem Griechisch in noch schlechteres Latein übertragen worden sind; hier stimme ich ganz bei, sofern man nur auch griechische Schriften über dergleichen nicht lesen mag. Wer wollte dagegen nicht Schriften lesen, die über gute Gegenstände in gewählter Sprache ernst und schön abgefasst sind? Er müsste denn durchaus als Grieche gelten wollen, wie Albucius, der vom Prätor Scävola zu Athen so begrüßt wurde.
(§ 9.) Lucilius hat auch dies sehr schön und durchaus witzig dargestellt, indem er den Scävola vortrefflich sagen lässt: »Lieber ein Grieche willst Du, Albucius, heißen und nicht ein Römer oder Sabiner, oder ein Fahnenträger und Landsmann der Centurionen Pontius und Tritanus, jener wackeren und ausgezeichneten Männer? Also begrüße ich, der Prätor, Dich in Athen bei Deinem Nahen mit griechischen Worten, wie Du es wünschst. chaire! mein Titus! sage ich, und ihr, die Lictoren, die Kohorten und die Menge rufet: chaire Titus! – Seitdem hasst mich Albucius und ist mir feindlich gesinnt.«
(§ 10.) Aber Scävola hat Recht; ich kann nicht begreifen, woher diese übermütige Verachtung des Vaterländischen kommt? Allerdings ist hier nicht der Ort, dies weitläufig auszuführen, aber ich meine und habe es oft dargelegt, dass die lateinische Sprache keineswegs so arm ist, wie man immer sagt, sondern dass sie sogar reicher als die Griechische ist. Denn wann hat wohl je mir oder vielmehr den guten Rednern und Dichtern, wenigstens seit der Zeit, wo gute Muster zur Nachahmung vorhanden waren, irgendein Schmuck der Rede zu deren Fülle und Zierlichkeit gefehlt?
Kap. IV. Wenn ich nun in den gerichtlichen Verhandlungen, Mühen und Gefahren den Posten, auf den das römische Volk mich gestellt hatte, nicht glaube verlassen zu haben, so liegt mir fürwahr auch ob, nach Möglichkeit dahin zu wirken, dass meine Mitbürger durch meine Tätigkeit, Fleiß und Anstrengungen kenntnisreicher werden, und ich mag mich nicht mit Denen herumstreiten, welche griechische Bücher vorziehen – sofern sie sie nur wirklich lesen und es nicht bloß vorgeben – vielmehr lieber Denen beistehen, welche die Schriften aus beiden Sprachen benutzen wollen, oder die, wenn sie die Schriften in ihrer eigenen Sprache besitzen, die in der andern nicht sehr vermissen.
(§ 11.) Wenn man aber meint, ich sollte lieber über Anderes schreiben, so möge man billig bedenken, dass dies bereits vielfach geschehen ist, und zwar in größerem Maße, als von irgendeinem der Unsrigen, und dass, wenn ich am Leben bleibe, noch Mehreres nachfolgen wird. Auch wird jeder aufmerksame Leser meiner philosophischen Schriften finden, dass sie mehr als andere des Lesens wert sind. Denn was verdient wohl im Leben größere Anstrengung als die Philosophie im Allgemeinen und insbesondere die in dieser Schrift enthaltenen Untersuchungen über die höchsten und letzten Ziele, auf die alle Entschlüsse überglückliches Leben und rechtes Handeln zu beziehen sind, sowie über das Höchste, was die Natur unter dem Begehrenswerten verfolgt und unter dem Üblen flieht? Über diese Fragen herrscht unter den einsichtigsten Männern große Uneinigkeit; weshalb sollte es deshalb meiner, von Allen anerkannten Würde zuwider sein, wenn ich untersuche, was bei allen Aufgaben des Lebens das Beste und Richtigste ist?
(§ 12.) Ob das Kind einer Sklavin zur Nutznießung gehöre, mag unter jenen angesehenen Staatsmännern, wie P. Scävola und Manius Manilius verhandelt werden, und M. Brutus mag hierbei anderer Ansicht sein; dergleichen sind scharfsinnige Untersuchungen, und sie haben ihren Nutzen für den bürgerlichen Verkehr; auch lese ich solche und ähnliche Schriften gern und werde sie auch ferner lesen; aber sollen deshalb die Fragen vernachlässigt werden, welche das ganze Leben befassen? Jene Schriften mögen beliebter sein, aber fruchtbringender sind sicherlich diese, wenn ich auch dem Urteil der Leser hierin nicht vorgreifen mag. Ich glaube wenigstens in dieser Schrift die Frage über das höchste Gut und Übel vollständig behandelt zu haben, und ich habe nach Möglichkeit darin nicht bloß meine eigenen Ansichten, sondern auch die Lehren der verschiedenen philosophischen Schulen dargelegt.
Kap. V. (§ 13.) Um mit dem Leichtesten zu beginnen, trage ich zunächst die Lehre des Epikur vor, die am bekanntesten ist. Du wirst finden, dass ich sie so sorgfältig dargestellt habe, wie es nur die Anhänger dieser Lehre selbst vermögen; denn ich trachte nach der Wahrheit und nicht bloß nach der Widerlegung meiner Gegner. Sehr sorgfältig wurden einmal früher des Epikurs Ansichten über die Lust von L. Torquatus, einem in allen Wissenschaften erfahrenen Manne, verteidigt. Ich selbst trat ihm damals entgegen, und C. Triarius, ein ernster und kenntnisreicher junger Mann, war bei der Erörterung zugegen.
(§ 14.) Beide hatten mich nämlich auf meinem Gute bei Cumä besucht. Zunächst wurde Einiges über die Wissenschaften, die von Beiden mit dem höchsten Eifer betrieben wurden, verhandelt; dann sagte Torquatus zu mir: Da wir Dich einmal frei von Geschäften angetroffen haben, so möchte ich gern wissen, was Du an unserm Epikur, wenn auch nicht hassest, wie es von seinen Gegnern geschieht, aber doch missbilligst. Ich meine, dass nur er allein die Wahrheit erfasst, die Gemüter der Menschen von den größten Irrtümern befreit und Alles gelehrt hat, was zu einem guten und glücklichen Leben gehört. Ich vermute, dass er Dir und unserm Triarius nur deshalb missfällt, weil er jenen Schmuck der Rede vernachlässigt hat, der sich bei Plato, Aristoteles und Theophrast findet; wenigstens kann ich kaum glauben, dass seine Lehre selbst Dir nicht für die wahre gelten sollte. –
(§ 15.) Da sieh, wie Du Dich irrst, Torquatus, erwiderte ich; sein Stil verletzt mich nicht, denn er drückt vollständig aus, was er sagen will und in verständlicher Weise. Wenn ich nun einen Philosophen, der die Beredsamkeit benutzt, nicht verachte, so tadle ich es doch auch nicht, wenn ein Anderer dies nicht tut. Aber Epikur befriedigt mich in der Sache selbst, und zwar bei vielen Punkten nicht. Indes kann ich mich täuschen, denn: So viele Köpfe, so viele Sinne, sagt das Sprichwort. – Weshalb genügt er Dir denn nicht? erwiderte Torquatus; denn ich halte Dich für einen billigen Richter, sofern Du nur seine Ansichten genau kennst. –
(§ 16.) Wenn nicht Phädrus und Zeno, antwortete ich, die ich Beide gehört habe, mich belegen haben, so dürfte ich wohl mit der ganzen Lehre Epikurs vertraut sein. Ich habe Beide mit unserm Freund Atticus fleißig gehört. Ihren emsigen Fleiß abgerechnet, hatten sie nicht meinen Beifall, aber Atticus bewunderte Beide und liebte den Phädrus; deshalb besprachen wir täglich das, was wir bei ihnen gehört hatten, und wenn ein Streit entstand, war es nicht, weil ich ihre Lehre nicht verstanden hätte, sondern weil ich sie nicht billigte. –
Kap. VI. (§17.) Was könnte dies sein? fragte Torquator; ich möchte wohl wissen, was Du nicht billigst. – Zunächst, sagte ich, ist er in seiner Physik, auf die er sich am meisten, einbildet, durchaus ohne eigene Ansichten; er folgt hier dem Demokrit und ändert nur wenig und dabei so, dass er das, was er verbessern will, mir zu verschlechtern scheint. Demokrit lehrt, dass die sogenannten Atome, d.h. die wegen ihrer Dichtheit unteilbaren Körper in dem unendlichen Leeren, in dem es weder ein Oberstes noch ein Unterstes, weder eine Mitte noch einen Anfang oder Ende gebe, sich so bewegen, dass sie bei ihrem Zusammentreffen aneinander hängen blieben, und dass sich daraus alle vorhandenen und sichtbaren Dinge gebildet haben; auch soll diese Bewegung der Atome keinen Anfang gehabt haben, sondern müsse als eine ewige angesehen werden.
(§ 18.) Epikur schwankt nun zwar da nicht, wo er dem Demokrit folgt; indes muss ich, abgesehen von vielen Punkten, wo ich ihnen nicht beitreten kann, insbesondere tadeln, dass sie, indem es sich bei der Erforschung der Natur doch um Zweierlei handelt, einmal, was der Stoff sei, aus dem alle Dinge gebildet sind, und zweitens, welche Kraft dies bewirke, über den Stoff sich wohl ausgelassen, aber die Kraft und wirkende Ursache übergangen haben. Dieser Fehler trifft sie Beide; Epikur hat aber noch seine eigenen Gebrechen; er meint, dass jene unteilbaren und dichten Körper durch ihr eigenes Gewicht sich in gerader Linie nach unten bewegen, und dass dies die natürliche Bewegung aller Körper sei.
(§ 19.) Allein da, wenn Alles, wie er sagt, in gerader Richtung sich nach unten bewegt, man nicht einsieht, wie ein Atom jemals das andere berühren, könne, so stellt dieser scharfsinnige Mann als Verbesserung den Satz auf, dass die Atome ein wenig von der geraden Bewegung abweichen, und zwar so wenig wie möglich. Dadurch sollen die Vereinigungen, Verbindungen und Anhängungen der Atome untereinander entstanden sein, aus denen die Welt und alle Dinge in ihr hervorgegangen seien. Allein einmal ist dies Alles nur eine knabenhafte Erfindung, und dann leistet sie nicht einmal das, was sie soll. Denn jene Abweichung bleibt eine willkürliche Annahme, da sie ohne Ursache geschehen soll, obgleich einem Naturforscher doch nichts schlechter ansteht, als zu sagen, dass Etwas ohne Ursache geschehe; sodann nimmt er damit ohne Grund den Atomen jene von ihm selbst festgestellte natürliche Bewegung, vermöge deren alles Schwere nach unten fällt, ohne doch das, wozu ihm diese Erdichtung dienen soll, zu erreichen.
(§ 20.) Denn wenn alle Atome abweichen, so können sie niemals zusammentreffen; wenn aber nur ein Theil abweicht und die andern nach ihrer Schwere sich senkrecht bewegen, so weist er einmal den Atomen damit gleichsam Gebiete zu, wo sie sich entweder gerade oder schief bewegen sollen, und dann kann ein solches verworrenes Zusammentreffen der Atome die Schönheit dieser Welt nicht hervorbringen, ein Bedenken, was auch Demokrit mit trifft. Sodann darf kein Naturforscher lehren, dass es ein Kleinstes gebe; hätte Epikur lieber sich die Geometrie von seinem Freunde Polyänus lehren lassen, als sie ihn verlernen zu lassen, so würde er nie auf eine solche Meinung gekommen sein. Die Sonne hielt Demokrit für einen großen Körper, denn er war ein gelehrter und in der Geometrie bewanderter Mann; dagegen soll sie nach Epikur nur ungefähr einen Fuß groß sein, da er sie nur für so groß hielt, als sie erscheint, oder doch nur ein wenig grösser oder kleiner. –
(§ 21.) So verdirbt Epikur das, was er verändert, und was er beibehält, gehört ganz dem Demokrit an. Die Atome, das Leere, die Bilder, welche sie eidola nennen, durch deren Eindringen man nicht bloß sieht, sondern auch denkt, die Unendlichkeit selbst, die sie apeiria nennen, gehören ganz dem Demokrit an; ebenso die unzähligen Welten, welche täglich entstehen und vergehen. Obgleich ich dem keineswegs zustimmen mag, so kann ich es doch nicht billigen, wenn der von Allen gelobte Demokrit gerade von Epikur, der ihm lediglich gefolgt ist, getadelt wird.
Kap. VII. (§ 22.) Was nun den zweiten Theil der Philosophie anlangt, den man die Logik nennt und welcher das Untersuchen und Erörtern behandelt, so scheint mir Euer Philosoph darin sehr schwach und dürftig. Er beseitigt die Definitionen, sagt nichts über Einteilungen und Abschnitte und lehrt nicht, wie der Vernunftschluss gebildet wird und wirkt; er zeigt auch nicht, auf welchem Wege das Verfängliche gelöst und das Zweideutige beseitigt werden kann. Das Urteil über die Dinge verlegt er in die Sinne, und ist durch diese einmal Falsches für Wahres geboten worden, so hält er jedes Kennzeichen der Wahrheit und Unwahrheit für aufgehoben.
(§ 23.) Vorzüglich aber begründet er den Satz, dass die Natur selbst, wie er sagt, auswähle und billige, nämlich die Lust und den Schmerz; hierauf bezieht er Alles, was man vermeiden und dem man nachstreben solle. Allerdings ist auch Aristipp dieser Ansicht, und die Cyrenaiker haben sie besser und ungezwungener verteidigt; aber dennoch kann es nach meinem Urteil keine des Menschen unwürdigere geben; vielmehr hat die Natur, wie mir scheint, zu Größerem uns geschaffen und gebildet. Ich kann mich vielleicht irren; aber sicherlich hat doch jener Torquatus, der zuerst diesen Beinamen sich erwarb, die Halskette dem Feinde nicht deshalb entrissen, um damit sich irgendwie körperliche Lust zu verschaffen; noch hat er während seines dritten Konsulats mit den Lateinern an der Veseris der Lust wegen gekämpft. Als er aber seinen Sohn mit dem Beil hinrichten ließ, scheint er sogar sich vieler Freuden beraubt zu haben, indem er das Recht der Majestät und des Amtes höher als die Natur und die väterliche Liebe stellte.
(§ 24.) Und wie erklärt es sich denn, dass derjenige Torquatus, welcher mit Cn. Octavius Konsul war, so streng gegen seinen Sohn verfuhr? Er hatte ihn aus der väterlichen Gewalt entlassen, damit D. Silanus ihn an Kindesstatt annehmen konnte, und forderte ihn zur Verantwortung vor sich, als die makedonischen Gesandten ihn anklagten, er habe sich als Prätor in der Provinz bestechen lassen. Nach Anhörung beider Theil fällte er seinen Spruch dahin, dass sein Sohn sich in seinem Amte nicht so wie seine Vorfahren benommen habe, und er verbot ihm, wieder vor seine Augen zu kommen. Meinst Du, dass er dabei nur an sein Vergnügen gedacht habe? Ich übergehe die Gefahren, Anstrengungen und Schmerzen, welche die besten Männer für das Vaterland und die Ihrigen übernehmen, obgleich ihnen keine Lust dabei sich bietet. Sie gehen vielmehr Allem der Art vorbei und wollen lieber alle Schmerzen ertragen, als irgendeine ihrer Pflichten versäumen; ich wende mich vielmehr zu geringeren Dingen, welche dies nicht minder bestätigen.
(§ 25.) Welche Lust hast Du, mein Torquatus, und Du, unser Triarius, nicht von den Wissenschaften, von der Geschichte und der Kenntnis der Dinge und dem Auswendiglernen so vieler Verse? Sage mir nicht: »Dies Alles an sich macht mir Vergnügen, wie Jenes es den Torquatern gemacht hat.« Nirgends verteidigt Epikur dies so, und auch Du nicht und Niemand, der Verstand hat oder seine Lehre kennt. Wenn man sich aber über die große Zahl der Epikureer wundert, so gibt es mancherlei Ursachen dafür; hauptsächlich wird die Menge davon angelockt, weil sie meint, das Gerechte und Sittliche gewähre nach dessen Ausspruche, als solches, durch sich Freude und damit Lust. Die guten Leute sehen nicht ein, dass sein ganzes Lehrgebäude umstürzen würde, wenn es sich so verhielte. Denn wenn Epikur zugestände, dass jene Dinge, auch wenn sie zur sinnlichen Lust nichts beitragen, doch um ihrer willen an sich selbst angenehm seien, so müsste auch die Tugend und das Wissen um ihrer selbst willen erstrebt werden, was er keineswegs will.
(§ 26.) Diese Lehren Epikurs billige ich also, wie gesagt, nicht; im Übrigen hätte ich gewünscht, er wäre unterrichteter in den Wissenschaften gewesen; denn er ist, wie ja auch Du anerkennen musst, in jenen Wissenschaften und Künsten wenig bewandert, in deren Besitz man zu den Gelehrten gerechnet wird; wenigstens hätte er Andere nicht von der Beschäftigung mit den Wissenschaften abschrecken sollen, obwohl ich sehe, dass Du Dich keineswegs davon hast abschrecken lassen.
Kap. VIII. Ich hatte dies mehr gesagt, um den Torquatus zu reizen, als um selbst das Wort zu führen. Da sprach Triarius lächelnd: Du hast ja den Epikur beinahe ganz aus dem Philosophen-Chor vertrieben; nichts hast Du ihm belassen, als dass Du, wie er auch sprechen mag, verstehst, was er sagt. In der Physik soll er nur die Lehre Anderer vorgetragen haben und selbst diese nicht so, dass Du es billigen kannst; wenn er etwas darin verbessern gewollt, so soll er es verschlechtert haben; die Kunst der Erörterung soll ihm gefehlt haben, und wenn er die Lust für das höchste Gut erklärt, so soll er erstens dies selbst nicht recht eingesehen haben und zweitens es ebenfalls Andern entlehnt haben. Denn schon vor ihm habe Aristipp dasselbe und besser gelehrt; zuletzt hast Du ihn sogar für keinen Gelehrten erklärt. –
(§ 27.) Darauf erwiderte ich: Es ist unmöglich, Triarius, dass man seine Missbilligung nicht da aussprechen soll, wo man anderer Ansicht ist. Was könnte mich hindern, ein Epikureer zu werden, wenn ich seine Lehre billigte? zumal da man sie spielend erlernen kann. Wenn sich deshalb Männer verschiedener Ansicht tadeln, so verdient dies noch keine Rüge; nur Schimpfreden, Verleumdungen, Zorn, Zank, und hartnäckigen Eigensinn bei den Besprechungen halte ich eines Philosophen nicht würdig. –
(§ 28.) Da sagte Torquatus: Ich bin ganz Deiner Meinung; man kann sich nicht streiten, ohne zu tadeln, und ebenso wenig kann man im Zorne oder Eigensinn gründlich erörtern. Aber in der Sache selbst könnte ich wohl antworten, wenn es Euch nicht belästigt. – Glaubst Du, erwiderte ich, dass ich so gesprochen haben würde, wenn ich Dich nicht gern hätte hören wollen ? – Soll ich also, sagte er, die ganze Lehre Epikurs durchgehen oder nur seine Lehre über die Lust untersuchen, auf die ja aller Streit hinausgeht? – Mache es ganz, sagte ich, wie es Dir angemessen scheint. – Nun gut, erwiderte er, so mag es so sein; ich werde nur einen Gegenstand, aber den wichtigsten erläutern. Über die Physik will ich ein andermal sprechen und hoffe Dir dann sowohl jene Abweichung der Atome wie die Größe der Sonne zu beweisen, auch dass Epikur viele Irrtümer Demokrits aufgedeckt und verbessert hat. Ich beschränke mich also jetzt auf die Frage über die Lust und werde dabei zwar nichts Neues beibringen, aber vertraue, dass auch Du das, was ich sage, billigen wirst. – Gewiss, antwortete ich, werde ich nicht eigensinnig sein, sondern Dir in Allem, was Du mir beweisen wirst, gern beistimmen. –
(§ 29.) Dies wird geschehen, wenn Du so billig bist, wie Du sagst. Ich werde indes dabei im Zusammenhange und fortgehend sprechen, ohne zu fragen oder mich fragen zu lassen. – Wie es Dir beliebt, sagte ich.
Kap. IX. Er begann hierauf folgendermaßen: Zunächst will ich so verfahren, wie es der Stifter dieser Lehre verlangt, und feststellen, was und welcher Art der Gegenstand unserer Untersuchung ist; nicht, weil ich meinte, es sei dies Euch unbekannt, sondern damit meine Darstellung begründet und geradeaus vorschreite. Wir suchen also das höchste und äußerste Gut, was nach aller Philosophen Ansicht so beschaffen sein muss, dass alles Andere auf es zu beziehen ist, während es selbst durch nichts bedingt ist. Epikur setzt dasselbe in die Lust; er erklärt sie für das höchste Gut und den Schmerz für das höchste Übel.
(§ 30.) Er zeigt dies in der Weise, dass jedes lebende Wesen von seiner Geburt ab nach der Lust verlange und sich ihrer als des höchsten Gutes erfreue, während es den Schmerz, als das höchste Übel, abweise und möglichst von sich zurückstoße. Dies geschehe von demselben, noch ehe es verdorben worden, lediglich nach dem reinen und unverfälschten Antriebe seiner Natur. Es bedürfe deshalb keiner Gründe und Beweise dafür, weshalb die Lust zu erstreben und der Schmerz zu fliehen sei; dies lehre schon das Gefühl, so wie man wahrnehme, dass das Feuer wärme, der Schneeweiß, der Honig süß sei; für den Beweis dessen bedürfe es keiner besonders ausgewählten Gründe, es genüge, darauf aufmerksam zu machen. Denn die Beweisführung und Schlussfolgerung unterscheide sich von der einfachen Wahrnehmung und Beachtung; jene eröffne das Verborgene und gleichsam Eingewickelte, diese urteile über das sofort Erfassbare und offen zu Tage Liegende. Nehme man dem Menschen seine Sinne, so verbleibe ihm Nichts; deshalb müsse die Natur selbst beurteilen, was ihr angenehm oder zuwider sei, und diese bemerke und erkenne als Ursache des Begehrens und Verabscheuens nur die Lust und den Schmerz.
(§ 31.) Doch möchten Manche der Unsrigen dies noch scharfsinniger begründen; sie bestreiten deshalb, dass es genüge, bloß nach dem Gefühl zu bestimmen, was ein Gut und was ein Übel sei; vielmehr könne man auch geistig und durch die Vernunft einsehen, dass die Lust um ihrer selbst willen zu suchen und der Schmerz um seiner selbst willen zu fliehen sei. Nach ihnen ist in der Seele des Menschen die natürliche und angeborene Vorstellung enthalten, dass das Eine zu suchen und das Andere zu fliehen sei. Andere dagegen, denen ich beistimme, meinen, dass man hier seiner Sache nicht zu sehr vertrauen dürfe, da von verschiedenen Philosophen Vieles angeführt sei, weshalb die Lust nicht zu den Gütern und der Schmerz nicht zu den Übeln zu rechnen sei; deshalb müsse diese Frage über die Lust und den Schmerz mit Gründen in genaueren Erörterungen und reiflicheren Erwägungen behandelt werden.
Kap. X. (§ 32.) Damit Ihr indes erkennt, woher dieser ganze Irrtum gekommen ist, und weshalb man die Lust anklagt und den Schmerz lobet, so will ich Euch Alles eröffnen und auseinandersetzen, was jener Begründer der Wahrheit und gleichsam Baumeister des glücklichen Lebens selbst darüber gesagt hat. Niemand, sagt er, verschmähe, oder hasse, oder fliehe die Lust als solche, sondern weil große Schmerzen ihr folgen, wenn man nicht mit Vernunft ihr nachzugehen verstehe. Ebenso werde der Schmerz als solcher von Niemand geliebt, gesucht und verlangt, sondern weil mitunter solche Zeiten eintreten, dass man mittelst Arbeiten und Schmerzen eine große Lust sich zu verschaffen suchen müsse. Um hier gleich bei dem Einfachsten stehen zu bleiben, so würde Niemand von uns anstrengende körperliche Übungen vornehmen, wenn er nicht einen Vorteil davon erwartete. Wer dürfte aber wohl Den tadeln, der nach einer Lust verlangt, welcher keine Unannehmlichkeit folgt, oder der einem Schmerze ausweicht, aus dem keine Lust hervorgeht?
(§ 33.) Dagegen tadelt und hasst man mit Recht Den, welcher sich durch die Lockungen einer gegenwärtigen Lust erweichen und verführen lässt, ohne in seiner blinden Begierde zu sehen, welche Schmerzen und Unannehmlichkeiten seiner deshalb warten. Gleiche Schuld treffe Die, welche aus geistiger Schwäche, d.h. um der Arbeit und dem Schmerze zu entgehen, ihre Pflichten verabsäumen. Man kann hier leicht und schnell den richtigen Unterschied treffen; zu einer ruhigen Zeit, wo die Wahl der Entscheidung völlig frei ist und nichts hindert, das zu tun, was den Meisten gefällt, hat man jede Lust zu erfassen und jeden Schmerz abzuhalten; aber zu Zeiten trifft es sich in Folge von schuldigen Pflichten oder von sachlicher Not, dass man die Lust zurückweisen und Beschwerden nicht von sich weisen darf. Deshalb trifft der Weise dann eine Auswahl, damit er durch Zurückweisung einer Lust dafür eine größere erlange oder durch Übernahme gewisser Schmerzen sich größere erspare.
(§ 34.) Wenn ich an diese Lehre mich halte, weshalb sollte ich da fürchten, sie mit dem Benehmen unserer Torquater nicht in Übereinstimmung bringen zu können? Du hast ihrer eben in treuer Erinnerung und in freundschaftlicher und wohlwollender Gesinnung gedacht, aber ich werde mich durch dies Lob meiner Vorfahren nicht verführen, noch in meinen Antworten bedenklich machen lassen. Ich bitte, in welcher Weise willst Du ihre Taten erklären? Sollten sie nach Deiner Meinung bei ihrem Anstürmen gegen die bewaffneten Feinde oder bei ihrer Härte gegen ihre Kinder und ihr Blut nicht auf ihren Nutzen, nicht an ihren Vorteil gedacht haben? Aber nicht einmal die wilden Tiere handeln so; selbst diese stürzen und stürmen nicht so, dass man nicht einsehen könnte, wohin ihre Bewegungen und Sprünge abzielen.
(§ 35.) Sollten da solch ausgezeichnete Männer so große Taten ohne Grund verrichtet haben? Welcher Grund hier gewirkt hat, werden wir bald sehen; vorläufig halte ich fest, dass, wenn sie wegen irgendeines Grundes dergleichen unzweifelhaft herrliche Taten verrichtet haben, jedenfalls dann die Tugend an sich für sie nicht der Grund gewesen sein kann. Du sagst: Er hat dem Feind die Halskette entrissen! – Aber er deckte sich auch, um nicht umzukommen. – Allein er hat sich doch einer großen Gefahr ausgesetzt. – Ja, aber im Angesicht seines Heeres. – Aber was hätte er damit erreicht? – Lob und Liebe, die sichersten Schutzmittel, um das Leben ohne Furcht zuzubringen. – Er hat seinen Sohn mit dem Tode bestraft. – Hätte er es ohne Grund getan, so möchte ich nicht der Nachkomme eines so schroffen und grausamen Mannes sein; tat er es, um durch seinen Schmerz den Gehorsam und die Achtung vor seinem Feldherrnamt zu stärken und das Heer in einem der schwersten Kriege durch die Furcht vor Strafe in Zucht zu erhalten, so hat er für das Wohl der Bürger gesorgt, in dem, wie er wusste, auch das seinige enthalten war.
(§ 36.) Und diese Gründe reichen weit. Alles, was Eure Reden Rühmenswertes beigebracht haben, und was insbesondere Du mit Eifer aus den alten Zeiten herbeigeholt hast, wo berühmte und tapfere Männer ihre Taten nicht um eines Vorteils willen, sondern im Glanze der Rechtschaffenheit vollbracht haben sollen, dies Alles fällt zusammen, wenn, wie ich gesagt, jene Auswahl unter den Dingen statthat und entweder eine Lust aufgegeben wird, um eine desto größere dadurch zu erlangen, oder wenn ein Schmerz übernommen wird, um größeren Schmerzen dadurch zu entgehen.
Kap. XI. (§ 37.) Damit dürfte über die glänzenden und ruhmvollen Taten großer Männer hier genug gesagt sein, und ich werde bald eine passendere Gelegenheit haben, um die Richtung aller Tugenden nach der Lust hin darzulegen. Jetzt will ich erklären, was und welcher Art die Lust selbst ist, um die irrigen Meinungen Unerfahrener zu beseitigen und zu zeigen, wie ernst, entschlossen und streng jene Lehre ist, die man für wollüstig, verzärtelt und verweichlicht zu halten pflegt. Denn wir suchen nicht bloß jene Lust, die durch ihre Süßigkeit die Natur von selbst erregt und von den Sinnen angenehm empfunden wird, sondern vor Allem die Lust, welche man durch die Entfernung allen Schmerzes empfindet. Denn wenn man vom Schmerz erlöst wird, so erfreut man sich gerade an dieser Befreiung und Leere von aller Unannehmlichkeit; Alles aber, dessen man sich erfreut, ist eine Lust, so wie Alles, was uns verletzt, ein Schmerz ist. Deshalb kann die Befreiung von allem Schmerz mit Recht eine Lust genannt werden. So wie der durch Speise und Trank gestillte Hunger und Durst lediglich mittelst der Beseitigung des Unangenehmen die Lust zur Folge hat, so bewirkt überall die Beseitigung des Schmerzes als Folge die Lust.
(§ 38.) Deshalb nahm Epikur kein Mittleres zwischen Schmerz und Lust an, weil gerade jener Zustand, wo man von allen Schmerzen frei ist und welcher Manchem als das Mittlere erscheint, nicht bloß eine Lust, sondern sogar die höchste Lust ist. Jedweder, der sich erregt fühlt, muss entweder in Lust oder in Schmerz sich befinden. Mit der Beseitigung aller Schmerzen ist aber nach Epikur die höchste Lust erreicht; man kann dann wohl die Art der Lust noch wechseln und unterscheiden, aber sie nicht mehr Vergrößern und erweitern.
(§ 39.) In Athen befindet sich, wie ich von meinem Vater gehört habe, der damit die Stoiker witzig und fein verspottete, auf dem Topfmarkte eine Bildsäule des Chrysipp mit vorgestreckter Hand, welche zeigen soll, wie er sich an folgendem kurzen Schluss ergötzt habe: »Begehret Deine so ausgestreckte Hand, wie sie es jetzt ist, etwas? – Durchaus nichts. – Aber wenn die Lust ein Gut ist, so würde sie es begehren? – Ich glaube ja. – Also ist die Lust kein Gut.« Nicht einmal die Bildsäule, meinte mein Vater, würde, wenn sie reden könnte, so sprechen; denn dieser Schluss treffe wohl die Cyrenaiker richtig, aber nicht den Epikur. Wenn nur dasjenige Lust wäre, was die Sinne so zu sagen kitzelt und mit Süßigkeit ihnen zufließt und in sie eindringt, so könnte weder die Hand, noch irgend ein anderer Theil mit der bloßen Schmerzlosigkeit ohne ein angenehmes Gefühl der Lust zufrieden sein; wenn aber die höchste Lust nach Epikur in der Schmerzlosigkeit bestehe, so sei dem Chrysipp das Erste wohl richtig eingeräumt worden, dass die Hand in solcher Haltung nichts begehre; aber man könne ihm nicht auch das Zweite zugestehen, dass sie die Lustbegehren würde, wenn sie ein Gut sei; vielmehr geschehe dies von ihr nicht, weil Alles, was von Schmerzen frei sei, sich schon in der Lust befinde.
Kap. XII. (§ 40.) Dass nun die Lust das höchste Gut ist, lässt sich leicht daraus abnehmen, dass, wenn man sich einen Menschen vorstellt, der alle Lust der Seele und des Körpers in hohem Maße, in großer Menge und ohne Unterlass genießt, dabei weder durch Schmerzen gedrückt, noch davon bedroht wird, man sich keinen bessern und wünschenswerteren Zustand wie diesen denken kann. Ein Mensch in diesem Zustande muss eine Festigkeit der Seele besitzen, die weder den Tod noch die Schmerzen fürchtet; denn im Tode hat man keine Empfindung mehr, und der Schmerz wird durch seine Länge leichter, und ist er schwer, so pflegt er nur kurze Zeit zu währen, so dass über dessen Schwere sein rasches Vorübergehen und über seine Dauer seine Leichtigkeit tröstet.
(§ 41.) Dazu kommt, dass in solchem Zustande den Menschen kein göttliches Wesen ängstigt und die vergangene Lust ihm nicht entschwindet; vielmehr freut er sich ihrer in steter Erinnerung. Wie könnte da noch irgendetwas Besseres zu solchem Zustande hinzutreten? Nimm dagegen Jemand, der von so großen körperlichen und geistigen Schmerzen gebeugt wird, wie sie einen Menschen nur treffen können, der dabei keine Aussicht hat, dass sie sich lindern werden, und der weder jetzt eine Lust fühlt noch eine solche erwartet, kann man da einen noch elenderen Zustand nennen oder sich vorstellen? Wenn ein von Schmerzen erfülltes Leben am meisten zu fürchten ist, so ist offenbar ein Leben in Schmerzen das höchste Übel, und dem entspricht, dass ein Leben in Lust das höchste ist. Denn unsre Seele hat sonst Nichts, was ihr als Endziel gelten könnte; alle Furcht und alle Krankheit wird auf den Schmerz zurückgeführt, und es gibt außerdem Nichts, was seiner Natur nach Sorge oder Angst erwecken könnte.
(§ 42.) Überdies nimmt alles Begehren, alles Verabscheuen und alle Tätigkeit ihren Anfang von der Lust oder dem Schmerz, und wenn dies richtig ist, so erhellt, dass alles Rechte und Löbliche auf ein von Lust erfülltes Leben abzielt. Wenn nun Das als das höchste, oder letzte, oder äußerste Gut gelten muss (die Griechen nennen es telos), Was an sich selbst auf nichts Anderes bezogen wird, aber auf welches alles Andere bezogen wird, so muss man anerkennen, dass ein angenehmes Leben das höchste Gut ist.
Kap. XIII. Jene, welche dies höchste Gut nur allein in die Tugend setzen und, durch den Glanz des Wortes geblendet, nicht erkennen, was die Natur verlangt, würden von diesem großen Irrtume befreit werden, wenn sie den Epikur hören wollten. Denn wenn diese Eure vortrefflichen und schönen Tugenden zu keiner Lust führten, so würde sie Niemand für etwas Löbliches oder Begehrenswertes halten. So schätzt man die Kunst der Ärzte nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie die Gesundheit bewirkt, und die Kunst des Steuermannes wird nicht als solche, sondern wegen ihres Nutzens für die gute Schifffahrt gelobt, und so würde auch die Weisheit, die nur als die Lebenskunst anzusehen ist nicht begehrt werden, wenn sie nichts bewirkte; man verlangt nach ihr nur, weil sie gleichsam der Werkmeister ist, der die Lust beschafft und bereitet.
(§ 43.) Ihr seht also, was ich unter der Lust verstehe; deshalb lasst Euch durch ihren verhassten Namen meine Rede nicht abschwächen. Nur weil man die Güter und Übel nicht kennt, wird das Leben hauptsächlich beschwerlich; wegen dieses Irrtums büßt man oft die größten Freuden ein und wird von den härtesten Seelenschmerzen gepeinigt. Deshalb bedarf man der Weisheit, welche alle Strecken und Begierden beseitigt, alle dreisten, falschen Meinungen zerstört und sich damit als den sichersten Führer zur Lust bewährt. Denn nur die Weisheit allein vermag die Seele von der Traurigkeit zu befreien; nur sie lässt uns durch die Furcht nicht in Schrecken geraten; unter ihrer Führung kann man die Hitze aller Begierden kühlen und ein ruhiges Leben führen. Denn die Begierden sind unersättlich; nicht bloß Einzelne, sondern ganze Familien bringen sie in das Verderben, ja oft erschüttern sie selbst den Staat.
(§ 44.) Von den Begierden kommt der Hass, die Uneinigkeit, der Streit, der Aufruhr, der Krieg. Auch werfen sie sich nicht bloß nach Außen und stürzen in blindem Ungestüm nicht bloß auf Andere, sondern auch innerlich, in der Seele eingeschlossen, streiten und bekämpfen sie sich selbst und verbittern damit das Leben. Deshalb kann nur der Weise, der alle Eitelkeit und allen Irrtum von sich abgetan und beseitigt hat, zufrieden in den von der Natur gesetzten Schranken ohne Ärger und Furcht sein Leben verbringen.
(§ 45.) Denn welche Unterscheidung ist wohl nützlicher und für ein gutes Leben geeigneter, als die, welche Epikur gezogen hat? In die eine Klasse der Begierden stellte er die natürlichen und zugleich notwendigen, in die zweite die natürlichen, aber nicht notwendigen, und in die dritte die, welche weder natürlich noch notwendig sind. Ihr Verhältnis ist der Art, dass die notwendigen ohne viele Mühe und Kosten sich befriedigen lassen.
(§ 46.) Ebenso verlangen auch die natürlichen nicht viel, weil die Natur selbst die Güter, mit denen sie zufrieden ist, bereitet und abgrenzt; nur von den eitlen Begierden kann weder ein Maß noch ein Ende gefunden werden.
Kap. XIV. Wenn man sieht, wie der Irrtum und die Unwissenheit das ganze Leben in Verwirrung bringt, und wie nur die Weisheit uns vor dem Ungestüm der Lüste und den Schrecknissen der Furcht schützt; wie sie selbst das Unrecht des Schicksals uns mit Geduld ertragen lehrt und die Wege weist, welche zur Ruhe und zur Freiheit von Gemütsbewegungen führen, wie konnte man da zweifeln und nicht offen anerkennen, dass die Weisheit wegen Gewinnung der Lust zu erstreben und die Unwissenheit wegen des Ungemachs zu fliehen sei!
(§ 47.) Aus demselben Grunde wird, nach unsrer Lehre, auch die Mäßigkeit nicht um ihrer selbst willen gesucht, sondern weil sie der Seele den Frieden bringt und die Gemüter gleichsam durch eine gewisse Eintracht beruhigt und besänftigt. Denn die Mäßigkeit ist es, welche uns ermahnt, in dem Begehren und dem Fliehen der einzelnen Dinge der Vernunft zu folgen, da es nicht genügt, dass man richtig beurteile, was zu tun und zu unterlassen sei, sondern dass man auch an diesem Urteil festhalte. Die meisten Menschen können nicht bei dem, was sie selbst beschlossen haben, beharren und verbleiben, sondern lassen sich durch den entgegentretenden Reiz der Lust besiegen und verführen. Damit begeben sie sich in die Fesseln ihrer Lüste, sehen das Kommende nicht voraus und geraten deshalb um einer geringen Lust willen, die entweder vermeidlich war, oder die auf andere Weise erlangt werden konnte, oder die sie allenfalls auch ohne Schmerzen entbehren konnten, teils in schwere Krankheiten, teils in Schaden, teils in Schande, ja, oft verfallen sie auch den Strafen der Gerichte und Gesetze.