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Studienarbeit aus dem Jahr 2013 im Fachbereich Medien / Kommunikation - Mediengeschichte, Note: 2,0, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Sprache: Deutsch, Abstract: Die Entstehung eines globalen Netzwerkes, das nicht zuletzt in der Entwicklung des Internets mündete, datiert weit vor den Aufbau internationaler Serverzentren seit dem ausklingenden 20. Jahrhundert. Verglichen mit den immer kürzeren Abständen medientechnischer Entwicklungen in den vergangenen 100 Jahren, welche durch die Erfindungen von Radio, Fernsehen und Internet geprägt wurden, bewegte sich die Entwicklung der Telegrafie über einen relativ langen Zeitraum. So unbedeutend Telegrafie heute scheinen mag, so bedeutend und irreversibel veränderte sie die globale Kommunikation. Nachrichtenübermittlung war bis zum Aufkommen der Telegrafie entweder an ein physisches Medium oder die mündliche Überbringung gebunden. Durch die entmaterialisierte Überwindung von Raum konnte eine nie dagewesene Übermittlungsgeschwindigkeit erreicht werden. Bis ein kontinentübergreifendes Netzwerk an telegrafischen Verbindungen existierte, waren viele kleinere und größere Erfindungen vonnöten, die aufeinander aufbauten. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit den Anfängen der Telekommunikation um 1790, beginnend mit der Erfindung des Flügeltelegrafen durch Claude Chappe (1763-1805). Sie zeichnet ferner die Weiterentwicklung innerhalb eines halben Jahrhunderts bis hin zum Siegeszug des elektromagnetischen Telegrafen nach, dessen weltumspannendes Netzwerk als eine Art Ur-Internet bezeichnet werden kann. Die Nachzeichnung der mediengeschichtlichen Entwicklung beschränkt sich einerseits auf wegweisende Etappen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Andererseits soll, um dem mediengeschichtlichen Charakter der Arbeit gerecht zu werden, versucht werden, die historischen Abläufe nachvollziehbar zu skizzieren. Der Arbeit liegt die Annahme zugrunde, dass Telegrafie die Entwicklung einer modernen globalisierten Welt in entscheidender Weise vorangetrieben hat. Dem medienhistorischen Teil folgt eine Untersuchung des Telegrafen als Werkzeug telekommunikationstechnischer Globalisierung. Mit einer Analyse der frühen Hauptanwendungsbereiche der Telegrafie in Politik, Militär, Medien, Wirtschaft und Gesellschaft wird der weltumspannende Einfluss der neuen Kommunikationsmethode untersucht. Dies geschieht beispielhaft anhand repräsentativer Anwendungsfindungen früher Telegrafie in genannten Bereichen.
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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Historischer Abriss
2.1 Optische Telegrafie
2.2 Elektrische Telegrafie
2.2.1 Elektrochemische und elektrostatische Telegrafie
2.2.2 Elektromagnetische Telegrafie
3 Der Telegraf als globalisierendes Element
3.1 Erwartungen an das friedenstiftende Potential der Telekommunikation
3.2 Nutzung und Nutzen des Telegrafen
3.2.1 Militärische und imperialistische Anwendung der Telegrafie
3.2.2 Mediale Anwendung der Telegrafie
3.2.3 Kommerzielle Anwendung der Telegrafie
3.2.4 Private Anwendungsbereiche der Telegrafie
4 Zusammenfassung
5 Literaturverzeichnis
Die Entstehung eines globalen Netzwerkes, das nicht zuletzt in der Entwicklung des Internets, wie wir es heute kennen mündete, datiert weit vor den Aufbau internationaler Serverzentren seit dem ausklingenden 20. Jahrhundert. Verglichen mit den immer kürzeren Abständen medientechnischer Entwicklungen in den vergangenen 100 Jahren, welche durch die Erfindungen von Radio, Fernsehen und Internet geprägt wurden, bewegte sich die Entwicklung der Telegrafie über einen relativ langen Zeitraum. So unbedeutend Telegrafie heute scheinen mag, so bedeutend und irreversibel veränderte sie die globale Kommunikation.
„Die Geschichte der Telegraphie seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ist nicht nur die Historie einer neuen Nachrichtenübermittlungstechnik, sondern zugleich auch die Inauguration eines neuen historischen Apriori, des telekommunikativen.“ (Haase 1990, S. 43)
Nachrichtenübermittlung war bis zum Aufkommen der Telegrafie entweder an ein physisches Medium oder die mündliche Überbringung gebunden. Durch die entmaterialisierte Überwindung von Raum konnte eine nie dagewesene Übermittlungsgeschwindigkeit erreicht werden(vgl. ebd.). Bis ein kontinentübergreifendes Netzwerk an telegrafischen Verbindungen existierte, waren viele kleinere und größere Erfindungen vonnöten, die aufeinander aufbauten.
„Die Telegrafie ist […] weit mehr noch als die vorangegangenen Formen der Tele-Kommunikation ein Produkt verschiedenster wissenschaftlicher Entdeckungen und technischer Erfindungen.“[1](Schmidli/Löffler 1997, S. 85)
Auf sie alle einzugehen, würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen.
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit den Anfängen der Telekommunikation um 1790, beginnend mit der Erfindung des Flügeltelegrafen durch Claude Chappe (1763-1805). Sie zeichnet ferner die Weiterentwicklung innerhalb eines halben Jahrhunderts bis hin zum Siegeszug des elektromagnetischen Telegrafen nach, dessen weltumspannendes Netzwerk als eine Art Ur-Internet bezeichnet werden kann. Dabei kann nicht auf alle technischen Voraussetzungen eingegangen werden, die das Funktionieren des elektrischen Telegrafen erst möglich machten. Die Nachzeichnung der mediengeschichtlichen Entwicklung beschränkt sich daher einerseits auf wegweisende Etappen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.[2] Andererseits soll, um dem mediengeschichtlichen Charakter der Arbeit gerecht zu werden, versucht werden, die historischen Abläufe nachvollziehbar zu skizzieren.
Der Arbeit liegt die Annahme zugrunde, dass Telegrafie die Entwicklung einer modernen globalisierten Welt in entscheidender Weise vorangetrieben hat. Dem medienhistorischen Teil folgt eine Untersuchung des Telegrafen als Werkzeug telekommunikationstechnischer Globalisierung.[3] Zu Beginn wird auf die utopische Erwartung der internationalen Konfliktlösung eingegangen, mit denen die Menschen auf die neue Technologie reagiert haben. Dies soll der globalisierenden Wirkung auf das Individuum Rücksicht tragen und gleichzeitig unterstreichen, wie weitreichend die Konsequenzen der neuen Technologie tatsächlich waren. Mit einer Analyse der frühen Hauptanwendungsbereiche der Telegrafie in Politik, Militär, Medien, Wirtschaft und Gesellschaft wird der weltumspannende Einfluss der neuen Kommunikationsmethode untersucht. Dies geschieht beispielhaft anhand repräsentativer Anwendungsfindungen früher Telegrafie in genannten Bereichen.
„The evolution of telegraphy may be traced from the signaling methods and codes of the ancient and primitive peoples to the visual system of Claude Chappe and thence with the growth of scientific knowledge to the first commercial application of electricity and magnetism to the ‚electric telegraph.‘“ (Marshall/Wheeler 1963, S. 882)
Lange vor der Erfindung eines funktionierenden Telegrafensystems gab es Bemühungen und Versuche, mit Hilfe von Signalen Nachrichten zu übermitteln und dadurch geographischen Raum auf schnellere Weise zu überwinden.[4] Keiner dieser frühen Versuche war zwar praktikabel genug, sich durchzusetzen, sie zeugen jedoch von dem jahrtausendealten Streben des Menschen, physische Hürden zu überwinden. Ist es in Anbetracht dessen überhaupt möglich, der Erfindung der Telegrafie einen Zeitpunkt und ihrem Erfinder, gesetzt den Fall, es gäbe einen solchen, einen Namen zuzuweisen? Würde man diese Frage mit Hilfe des Publikumsjokers in Günther Jauchs Fernsehshow Wer wird Millionär? zu beantworten versuchen, die breite Mehrheit stimmte sicherlich zu und tippte auf Samuel F. B. Morse (1791-1872) in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Seinem berühmten Signalcode hat Morse zu verdanken, dass sein Name universell mit der Telegrafie in Verbindung gebracht wird. „Morsen“ hatte sich sogar zu einem Begriff etabliert, der wie das Verb „googeln“ Einzug in den deutschen Wortschatz gefunden hat. Die oben gestellte Frage mit einem ‚Ja, aber…‘, gefolgt von einer Aufzählung dutzender Zeitangaben und Namen zu beantworten, käme den geschichtlichen Tatsachen allerdings näher als die Nennung eines einzelnen Namens.
Die Welle an zeitlich gedrängten Erfindungen, welche schließlich in oben genanntem Netzwerk gipfelten, wurde durch den Franzosen Claude Chappe losgetreten. Bevor er allerdings der Idee eines semaphorischen Systems nachging, ersann er gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine recht skurrile Methode, durch Erzeugung von Schallwellen Botschaften zu übertragen.[5] Dessen Nachteile, von welchen Lärmbelästigung wohl das kleinste Problem darstellte, überwogen jedoch und führten Chappe schließlich dazu, eine andere Richtung einzuschlagen.
Abb. 1: Chappes Flügeltelegraf.
In einem ersten mit seinem Bruder durchgeführten Versuch gelang es dem Erfinder am 2. März 1791, einen Satz innerhalb von vier Minuten unter Verwendung einer schwenkbaren Holztafel über eine Entfernung von ca. 17km erfolgreich zu übertragen.[6]Chappe wollte seiner neuen Erfindung die griechische Bezeichnung Tachygraf zukommen lassen, was übersetzt Schnellschreiber bedeutet. Letztlich konnte sein Freund Miot de Mélito (1762-1841), ein Regierungsbeamter und Gelehrter, ihn davon überzeugen, das Gerät Télégraphe (griech. tele, „fern“; graphein, „schreiben“) zu nennen(vgl. Standage 1999, S. 10).
Chappes Erfindung fand durchaus Beachtung, sodass er sich ihrer Weiterentwicklung widmete. Mit Unterstützung der französischen Behörden entwickelte Chappe einen Flügeltelegrafen, welcher aus einer Station bestand, auf der ein fünf Meter hoher Masten angebracht war. Die Mastenspitze trug einen beweglichen, viereinhalb Meter langen Querbalken, welcher Regulator genannt wurde. Er konnte vier verschiedene Positionen einnehmen. An dessen beiden Enden wiederum war jeweils ein zwei Meter langer Arm angebracht, die Indikatoren. Sie konnten durch 45°-Intervalle in sieben unterschiedliche Richtungen zeigen.[7] Chappe kam schon sehr früh auf die Idee, den Signal-
positionen seines Telegrafen nicht einfach Buchstaben und Zahlen zuzuweisen. Er veröffentlichte 1795 ein Codebuch, in dem 8464 Buchstaben, Zahlen, Worte und Phrasen aufgelistet waren, welche durch je ein Paar an optischen Signalen wiedergegeben werden konnten (vgl. Beauchamp 2001, S. 6). Da Botschaften so nicht Buchstabe für Buchstabe übermittelt werden mussten, beschleunigte sich die Übertragungsgeschwindigkeit erheblich.
Chappes optischer Telegraf entwickelte sich für Frankreich schon bald zum Stolz der Nation. Fünf Jahre nach Inbetriebnahme der ersten staatstelegrafischen Verbindung zwischen Paris und Lille kam 1799 Napoleon Bonaparte (1769-1821) an die Macht und erkannte die Bedeutung der Semaphore vor allem für das Militär. Dies lag wortwörtlich nicht ‚im Sinne des Erfinders‘, welcher vom möglichen ökonomischen Nutzen seiner Telegrafen zu überzeugen versuchte.[8] Napoleon ließ das Netzwerk jedoch für seine Zwecke weiter ausbauen, sodass es die französische Hauptstadt alsbald mit Mailand verband. Vor allem seine Invasionspläne waren ausschlaggebend für die zügige Errichtung neuer Telegrafenlinien (vgl. Standage 1999, S. 15–17). Er überließ dem zum Ingénieur Télégraphe ernannten Claude Chappe die Umsetzung eines umfassenden Telegrafennetzes, welches Paris mit 29 der größten Städte Frankreichs sowie zahlreichen Städten in Italien, der Schweiz, Deutschland, Luxemburg, Belgien, England und Spanien verband. Es bedurfte einer ganzen Armee von Operatoren, das 1852 über 4000km lange Netz zu bedienen, allein in Frankreich waren mehr als 550 Stationen installiert(vgl. Beauchamp 2001, S. 7f.).
Das Betreiben einer optischen Telegrafenlinie war sehr kostspielig und aufwendig. Die Stationen wurden in einem Abstand von neun bis zwölf Kilometern installiert. Jede Station wurde von mindestens fünf Personen betrieben: Zwei betreuten die Seile oder Winde, um die Signalarme zu positionieren; zwei waren für die teleskopische Beobachtung der beiden Nachbarstationen zuständig und ein Fünfter bewahrte den Überblick und die Beaufsichtigung.Durch die Masse an benötigten Operatoren konnten einerseits viele Beschäftigungsverhältnisse geschaffen werden. Andererseits führte die spätere Umstellung auf das elektrische System zwangsläufig zu Massenentlassungen(vgl. ebd., S. 17).
Andere europäische Länder waren nicht müde, die semaphorische Technik schnellstmöglich zu kopieren und zu modellieren, sodass bald in ganz Europa optische Telegrafen jeglicher Art aus dem Boden gestampft wurden. Wie auch schon Chappe, versuchten zeitgleich viele andere, einen Telegrafen zu bauen, welcher mit elektrischen Impulsen funktionieren sollte. Jedoch gelang es dem Einzelnen durchweg entweder nicht, einen funktionierenden Prototypen zu bauen, oder wie im Falle des Engländers Francis Ronalds (1788-1873) im Jahre 1816, seine Regierung von dem Mehrnutzen seiner neuen Erfindung gegenüber den funktionierenden optischen Telegrafen zu überzeugen. Dabei lagen die Nachteile des etablierten Systems auf der Hand. Neben dem bereits erwähnten hohen Kostenaufwand war die Nutzung stark von äußeren Einflüssen abhängig. Nicht nur die nächtliche Dunkelheit verhinderte die Übertragung von Nachrichten, sondern auch trübes und nebliges Wetter, weshalb die Telegrafenlinien Gegenden mit erhöhtem Risiko wetterbedingter Sichteinschränkungen meiden mussten. Die Idee eines elektrischen Telegrafen, der unabhängig von Tageszeit, Wetter und Geografie funktionierte, war deshalb schon früh geboren, wenngleich sie lange Zeit als unerfüllbarer Traum schien (vgl. Standage 1999, S. 17–24).
Rückblickend kann die Entwicklung der elektrischen Telegrafie technisch und chronologisch in drei Hauptgruppen gegliedert werden: Telegrafie mit Hilfe statischer oder Reibungselektrizität; galvanischer (d.h. elektrochemischer) oder Berührungselektrizität sowie Telegrafie unter Anwendung des Elektromagnetismus. Erstere beiden Hauptgruppen werden nachfolgend exemplarisch zusammengefasst dargestellt, da sie als Vorstufe zur elektromagnetischen Telegrafie anzusehen sind und mangels Praktikabilität nie zur Anwendung kamen.
Die allererste öffentlich bekannt gewordene Idee eines Systems, welches mit Hilfe elektrischer Energie Signale von A nach B transportieren sollte, ist auf den 17. Februar 1753 und damit sogar lange vor der Etablierung eines mechanischen Systems datiert. Im Scot's Magazine wurde ein Brief veröffentlicht, welcher lediglich mit ‚C.M.‘ unterzeichnet wurde. Der Autor konnte allerdings nie identifiziert werden(vgl. Beauchamp 2001, S. 20). In dem Schreiben schlug er vor, für jeden Buchstaben des Alphabets einen isolierten Draht zu verwenden. An jedem Drahtende sollte eine Art Faserbällchen über einem mit dem jeweiligen Buchstaben markierten Stück Papier aufgehängt werden. Würde ein Draht elektrischer Spannung ausgesetzt, zöge das entsprechende statisch geladene Bällchen das Papier an, auf dem der Buchstabe abgelesen werden könne(vgl. Marshall/Wheeler 1963, S. 882).
Erste Experimente im frühen 19. Jahrhundert beschäftigten sich mit der Nutzung von elektrostatischen Generatoren zur Signalweiterleitung. Dabei wurde chemisch behandeltes Papier genutzt, um elektrische Impulse durch Verfärbung desselben sichtbar zu machen. Neuen Schwung in die Entwicklung brachte 1800 Alessandro Voltas (1745-1827) Erfindung der Voltaschen Säule, des Vorläufers der Batterie als Energiequelle. Vier Jahre später präsentierte Francisco Salvá Campillo (1751-1828) seinen elektrochemischen Telegrafen, der zwar kaum Beachtung fand, jedoch möglicherweise Samuel Thomas Sömmerring (1755-1830) als Vorlage diente. Angesichts Napoleons Erfolge, welche er zweifelsohne auch seiner telegrafischen Überlegenheit zu verdanken hatte, beauftragten die bayerischen Behörden Sömmerring 1809 mit der Entwicklung eines militärischen Telegrafensystems (vgl. Beauchamp 2001, S. 20–24). Sömmerring benötigte keine zwei Monate, den Mitgliedern der Münchner Akademie der Wissenschaften seinen elektrochemischen Telegraphen vorzustellen(vgl. Haase 1990, S. 48). Er nutzte Elektrolyse, um Signale zu visualisieren: Jeder Buchstabe und jede Zahl bekam einen eigenen Draht zugewiesen. Auf Empfängerseite führten die Drähte in einen mit Wasser gefüllten gläsernen Tank, wo sie mit markierten Goldpunkten am Boden verbunden waren. Wurde der Stromkreis eines Buchstaben mit Hilfe einer Voltbatterie geschlossen, reagierte der Goldpunkt mit dem Wasser, sodass Bläschen aufstiegen. Das System wie auch andere entwickelte elektrostatische oder -chemische Telegrafen erwies sich jedoch den bereits weiträumig installierten optischen Telegrafenlinien als unterlegen und konnte sich nicht durchsetzen (vgl. Beauchamp 2001, S. 20–24).
Ein Problem, welches in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts allen an einem elektrischen Telegrafen arbeitenden Erfindern Kopfzerbrechen bereitete, war folgendes Phänomen: Obwohl Elektrizität belegbar ohne bemerkbare Zeitverzögerung durch einen Draht geleitet werden konnte, nahm die Nachweisbarkeit mit zunehmender Länge des Drahtes ab. Möglicherweise hätte ein funktionierender elektrischer Telegraf bereits einige Jahre früher gebaut werden können, wäre die Entdeckung des amerikanischen Physikers Joseph Henry (1797-1878) in den Jahren 1829 und 1830 einem der Pioniere zu Ohren gekommen. Henry fand heraus, dass nicht die Größe der Batterie entscheidend für die Reichweite eines elektrischen Signals war. Viele kleine Batterien, welche hintereinander geschaltet waren, konnten in Verbindung mit einem Elektromagneten Signale viel weiter transportieren (vgl. Standage 1999, S. 34–37).
Abb. 2: Ursprünglicher Nadeltelegraf von Cooke und Wheatstone. (Standage 1999,
Elektromagnetische Telegrafenapparate wurden fast zeitgleich in den USA, England und Deutschland erfunden. Samuel Morse, dessen Konstruktion sich später durchsetzen sollte, war bei Weitem nicht der Einzige, der sich an der Umsetzung eines elektromagnetischen Telegrafen versuchte. Gemeinhin gelten die Engländer William Fothergill Cooke (1806-1879) und Charles Wheatstone (1802-1875), welche im Dezember 1837 ihren Fünf-Nadel-Telegrafen[9] patentieren ließen, als Gründer der elektromagnetischen Telegrafie. Sie kamen Morse in den USA vier Monate zuvor (vgl. Schneider 2001, S. 82). Nicht wissend, dass vor ihm bis dato schon viele andere erfolglos damit experimentiert hatten, Strom nachweislich durch Leitungen zu transportieren und am anderen Ende sichtbar zu machen, war dieser vom Gelingen seines Vorhabens überzeugt. Eigentlich als Maler tätig, wurde er eher zufällig auf den Gedanken gebracht, sich mit der Entwicklung eines bis dahin nie dagewesenen schnellen Nachrichtensystems zu befassen.[10]
Morse setzte sich zuallererst mit dem Problem auseinander, ein geeignetes Zeichensystem zur Übertragung zu finden. Anders als beim Flügeltelegrafen, bei dem allein durch Kombination eine hohe Zahl verschiedener Zeichenstellungen möglich war, konnte durch einen Draht geleiteter Strom nur entweder an- oder ausgeschaltet sein. Wenn also nicht für jeden Buchstaben des Alphabets ein eigener Draht verwendet werden sollte, kamen zur Zeichenübertragung lediglich diese beiden Zustände in Frage. Allerdings kam Morse auf den Gedanken, die Dauer des elektrischen Impulses mit in die Entwicklung eines Codes einzubeziehen, sodass mithilfe kurzer und langer Stromstöße eine Kodierung möglich wurde, die sich durchsetzen konnte und die wir heute noch als Morse-Code kennen. Der Elektromagnet war zu der Zeit schon erfunden und so tüftelte Morse zusammen mit dem auf dem Gebiet vertrauten Charles Jackson an einer Methode, elektrische Signale mit Hilfe eines Elektromagneten, der einen Stift lenken konnte, auf Papier zu bringen (vgl. Standage 1999, S. 30–33).
Erst die Zusammenarbeit mit Morses Kollegen Professor Leonard Gale, welcher mit Joseph Henrys Experimenten einer effizienten Konstruktion von Elektromagneten vertraut war, ermöglichte Morse Fortschritte in der Entwicklung. Bis es zum Bau eines funktionierenden Prototypen kam, verlor Morse viel Zeit durch die erfolglose Beschäftigung mit komplizierteren Konstruktionen. An der New Yorker Universität, an der er eine Lehrstelle innehatte, führte er sein geschaffenes Instrument erstmals einer Öffentlichkeit vor. Hierdurch konnte er einen weiteren dringend benötigten Mitstreiter für sein Projekt gewinnen: Alfred Vail (1807-1859). Er vereinte in sich zwei Morse noch fehlende essentielle Komponenten: Erfahrung in praktischer Gestaltung sowie finanzielle Unterstützung für die Fertigung weiterer Geräte, zumal sein Vater über ein Eisenwerk in New Jersey verfügte. Einzigartig an Morses Konstrukt war dessen simple Konstruktion[11] sowie die Fähigkeit, telegrafische Nachrichten zu konservieren(vgl. Beauchamp 2001, S. 51–55). Auch die Bedienung war mit Hilfe des Morse-Codes ungleich weniger kompliziert, als die eines Nadeltelegrafen. Diesen Eigenschaften, die erst durch die Erfindung des Telefons überboten werden konnten, ist die rapide globale und langandauernde Verbreitung der elektromagnetischen Telegrafie zu schulden.
Abb. 3: Morsesches Sendegerät (Figuier 1867, S. 138)
Abb. 4: Morsesches Signal-Empfängergerät mit Papierabrollsystem. (ebd., S. 137)
Schon vor der erfolgreichen Verlegung transatlantischer Seekabel trieb die internationale Binnenvernetzung vor allem in Europa die telekommunikationstechnische Globalisierung in großen Schritten voran. Zu Beginn der 1850er Jahre gelang es bereits, kürzere Distanzen wie den Ärmelkanal durch Seekabel zu überwinden. Die internationale Verkabelung war ein teures und risikoreiches Unterfangen und wurde vor allem von Privatunternehmen vorangetrieben. Ausschlaggebend für die Reihenfolge der Kabelverlegungen war zumeist die Wirtschaftlichkeit der Routen. Britische Firmen hielten um die Jahrhundertwende mit zwei Dritteln den größten Anteil an den global verlegten Kabeln(vgl. Wobring 2005, S. 179–182).
Der Einfluss eines so vernetzenden Instrumentes wie dem Telegrafen[12] auf eine Welt, die seit tausenden Jahren davon träumte, sich die Vorteile schneller Informationsübertragung anzueignen, kann kaum groß genug eingeschätzt werden. Das Telegrafenzeitalter brachte für die damaligen Gesellschaften eine weitreichendere Veränderung mit sich, als es die Etablierung des Internets im späten 20. Jahrhundert vermochte[13] – es war die Geburtsstunde der Telekommunikation. Endlich gelang es mit einer nie dagewesenen Effizienz, die Nachrichtenübertragung von menschlichem, tierischem oder sonstigem materiellen Transport zu befreien und die Einschränkungen stofflicher Bewegung zu überwinden(vgl. Wenzlhuemer 2013, S. 30). Dies brachte mit sich, dass an den Telegrafen fernab jeder Realität hohe Erwartungen gestellt wurden. Tom Standage schrieb in seinem Buch Das viktorianische Internet, in dem er die Geschichte der Telegrafie dem Laienpublikum auf unterhaltsame Weise zugänglich macht, über dieses Phänomen:
„Das Potential neuer Technologien, die Dinge zum Besseren zu wenden, wird notorisch überschätzt, während ihr Potential, Schaden zu stiften, meist übersehen wird.“ (Standage 1999, S. 115)
Nicht wenige nahmen an, durch die besseren Kommunikationsmöglichkeiten dem Weltfrieden ein großes Stück näher gekommen zu sein. Spätestens der Ausbruch des ersten Weltkrieges während der Blütezeit der Telegrafie dürfte diese Hoffnungen zerschlagen haben. Im Grunde genommen war eine direkte Kommunikation auch ausschließlich zwischen Telegrafisten möglich. Nichtsdestotrotz schuf die revolutionäre Technologie einen Weg, zwischenstaatliche Dispute, die ansonsten wochen- bis monatelang anhielten, innerhalb von Stunden zu lösen(vgl. Nickles 2003, S. 193). Die neue Technologie krempelte alle Bereiche um: Politik, Wirtschaft, Medien, Gesellschaft, auch das Militär. Im Folgenden soll schemenhaft anhand von Beispielen der globalisierende Einfluss der Telegrafie auf diese Bereiche aufgezeigt werden. Politik und Militär können dabei zusammengefasst untersucht werden, da sie unmittelbar zusammenhängen.
Das Aufkommen der Telegrafie stellte lediglich in seinen Anfängen unter Napoleon, welcher den ausschließlich staatlichen Betrieb der ersten optischen Linien gestattete, ein für die breite Gesellschaft irrelevantes Randphänomen dar. Mit zunehmender Vernetzung der elektrischen Nachfolgeversionen sowie deren großflächiger Privatisierung war eine Ausweitung auf außerstaatliche Bereiche vorprogrammiert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich das telegrafische Netz in Nordamerika bereits so sehr etabliert, dass es nicht mehr wegzudenken war. Zeitungen nutzten die schnelle Informationsweitergabe, Finanzmärkte begannen aufzublühen und die Eisenbahn konnte Fahrplanänderungen und Verspätungen rasch übermitteln. Eine Abhängigkeit, ähnlich der heutigen zum Internet, entstand. Ein Stillstand der Telegrafenlinien um 1880 hätte das wirtschaftliche und soziale Leben Amerikas zum Stillstand gebracht(vgl. Cowan 1997, S. 152f.).
Der erste Anwendungsbereich von optischer Telegrafie zeugt davon, dass Regierungen darin primär ein machtvolles Mittel sahen, militärische Operationen zu unterstützen. Der Vorteil, den Napoleon sich durch den Gebrauch semaphorischer Telegrafenlinien verschaffen konnte, wurde in erster Linie den umliegenden Staaten, in die er einmarschierte, schmerzlich bewusst. Wie keine andere Nation zu dieser Zeit konnte er bei Bedarf Truppenbewegungen innerhalb von kürzester Zeit koordinieren und auf veränderte Bedingungen reagieren.
Die optischen Telegrafenlinien Frankreichs wurden sternförmig von Paris aus konstruiert. Zwischen den Linien bestanden keine Verbindungen, sodass die Hauptstadt als Machtzentrum Sender oder Empfänger aller Nachrichten war. Napoleon nutzte die Technik ausschließlich militärisch und untersagte jeglichen anderen Gebrauch. Der Telegrafencode wurde bestens gehütet, die Dechiffrierung war nur in Paris und den jeweiligen Endstationen möglich(vgl. Haase 1990, S. 45f.). Für die britische Vormachtstellung in der Welt stellte dies eine ernstzunehmende Bedrohung dar. Großbritannien selbst, das ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts damit begann, mit einem Netz von Telegrafenkabeln alle Kolonien seines Empire zu verbinden, verhalf die Telekommunikation zu einfacherer Kontrolle und Verteidigung der besetzten Gebiete.[14] Beide Fälle verdeutlichen, dass Telegrafie für ein Großreich ein wichtiges Werkzeug zur Machterhaltung und -erweiterung war.
Seinen ersten Kriegseinsatz erfuhr der elektrische Telegraf während des Krimkrieges in den 1850er Jahren. Der Konflikt markierte auch den fließenden Übergang von der optischen zur elektrischen Telegrafie und die Einführung einer völlig neuen Kriegsführung. Nicht mehr die Befehlshaber vor Ort trafen taktische Entscheidungen, sondern die Hauptquartiere in London und Paris. Die Truppen wurden mit einem erstmals erprobten Feldtelegrafen ausgestattet. Die Kabelverlegung erfolgte nach Möglichkeit mit Hilfe eines Pflugwagens unterirdisch und erforderte eine dicke Isolierung. Da der Boden in der Krim sehr hart war, musste die Kabelfurche häufig manuell gegraben werden und war nicht sehr tief, was in regelmäßigen Kontaktabbrüchen durch Beschädigung der Kabel resultierte(vgl. Beauchamp 2001, S. 105f.). Als neue Herausforderung vor allem in Kriegszeiten mussten Maßnahmen gegen die Möglichkeit feindlicher Spionage durch Mitlesen der Telegramme ergriffen werden, weshalb Chiffrierungen eingeführt wurden.
Der im Abschnitt 3.2.1 erwähnte Krimkrieg stellt auch aus mediengeschichtlicher Sicht eine Premiere dar. Presse-Berichterstatter und Fotografen konnten ihre Reportagen mit nur unmerklicher Zeitverzögerung zurück an das Heimatpublikum senden, das nicht erst Wochen später über den Kriegsverlauf aufgeklärt wurde. Wegen dieser simultanen Berichterstattung kann der Krimkrieg als erster Medienkrieg der Geschichte bezeichnet werden(vgl. Keller 2013, S. 1). Die kommunikationstechnische Globalisierung der Medien nahm mit den durch den Telegrafen aufkommenden neuen Möglichkeiten der Presse-Berichterstattung ihren Anfang. Der konstante Kommunikationsfluss über Ländergrenzen hinweg generierte einen neuen Markt an Informationshunger, den die Zeitungen bedienen konnten. Pressetelegramme wurden preislich begünstigt und ein Konkurrenzkampf der Tagesblätter im Kampf um die schnellsten Nachrichten aus aller Welt zeichnete sich ab.
Bis zum Aufkommen der Telegrafie waren die Zeitungen geprägt von lokalen Meldungen und konnten wenn überhaupt, dann viele Wochen später, über Ereignisse aus anderen Teilen der Welt berichten, sofern überhaupt ein Auslandskorrespondent zur Verfügung stand. Bei üppiger Nachrichtenlage wurde rationiert, damit in darauffolgenden Tagen kein Mangel entstand. Oftmals wurde noch Tage später aus anderen Zeitungen abgeschrieben. Die neue Technologie hingegen füllte die Tagesblätter mit Nachrichten aus aller Welt, was eine veränderte Weltsicht der Leser zur Folge hatte. Für die Zeitungen bedeutete dies das Aufkommen von Konkurrenzkämpfen, wer eine Nachricht zuerst auf den Markt brachte(vgl. Standage 1999, S. 160–163).
Ein völlig neuer Bedarf an Nachrichtenübermittlern entstand, der in der Gründung von Nachrichtenagenturen wie Reuters in England und der Associated Press in den Vereinigten Staaten mündete. Anfangs übertrugen die Agenturen Börsenpreise und Ergebnisse von Rennen. Paul Julius Reuter (1816-1899) erkannte jedoch auch das ökonomische Potential hinter der steigenden Nachfrage nach Neuigkeiten aus dem Ausland und gründete, dem Kabel folgend, ein Netz an weltweiten Korrespondenten und Auslandsbüros. Die Tatsache, dass England im Besitz der meisten internationalen Telegrafenlinien war, machte Reuters zum Platzhirsch der Nachrichtenagenturen. Die schnelle Nachrichtenübermittlung war vollkommen vom Netz der Telegrafen abhängig, was bedeutete, dass wichtige Nachrichten auch nur dort gesendet und empfangen werden konnten, wo diese Linien bestanden (vgl. Wenzlhuemer 2013, S. 90f.).
Kritisch betrachtet markiert die globale Kommunikation und Berichterstattung seit Erfindung des Telegrafen auch den Beginn der Informationsüberflutung, die eine Veränderung der gesamten Rezeption von Nachrichten und neue Anforderungen an die Geschäftswelt stellen.
Neben der militärischen und noch vor der medialen Verwendung der Telegrafie drängte die Wirtschaft als erste zivile Anwendungsform in die Nutzung der neuen Kommunikationsform. „‚Welch ein Vorteil für Handel, Gewerb' und bürgerliches Leben!‘“ (Buschendorf 1794, S. 483; zit. n. Wobring 2005, S. 45) Der Leipziger Ökonom Carl Friedrich Buschendorf erkannte schon vor der Erfindung der elektrischen Telegrafie die Bedeutung der Telekommunikation für internationale Wirtschaftstransaktionen.[15] Neben dem Potential, die Bevölkerungsversorgung durch eine effizientere Handlungsstruktur zu verbessern, wird die telekommunikationstechnische Globalisierung der Ökonomie vor allem durch ihren Einfluss auf den weltweiten Handel an der Börse ersichtlich.
Kaum ein anderer Wirtschaftsbereich hat ein derart hohes Interesse an Kommunikationsbeschleunigung wie das Börsengeschäft. Bereits zu Beginn der Errichtung eines globalen Netzwerkes waren die Börsenplätze in aller Regel mit den modernsten verfügbaren Telekommunikationsmitteln ausgestattet und gut mit den Haupttelegrafenämtern, die den zentralen Datenaustausch regelten, vernetzt. Die Preisübertragungen zwischen London und New York setzten mit dem Betrieb des ersten Unterseekabels ein und bestimmten den Hauptteil der transatlantischen Kommunikation. Als mehr Unterseekabel zur Verfügung standen, wurde während der Geschäftszeiten ein Kabel für den ausschließlichen Gebrauch der Börse reserviert. So konnten transkontinentale Arbitragegeschäfte abgewickelt werden, bei denen die Börsennotierungen von Waren und Wertpapieren verglichen und der handelsgünstigste Platz binnen Minuten ermittelt werden konnte. Konkurrierende Kabelgesellschaften lieferten sich einen Wettstreit um die Ausweitung der Kabelkapazitäten speziell für diese Geschäfte (vgl. Wobring 2005, S. 216f.). Der geografische Standort der Ware spielte für den Handel eine weit geringere Rolle, da plötzlich globale Preise verglichen werden konnten.
Während den der Zeitverschiebung geschuldeten wenigen Stunden gemeinsamer Öffnungszeiten der beiden wichtigsten Börsen in New York und London brachte der intensive Handel einen immensen Kommunikationsfluss mit sich. Die tagtägliche Anzahl übermittelter Telegramme rangierte 1907 im fünfstelligen Bereich. Um der Quantität an Nachrichten gerecht zu werden, besetzte man in den Stoßzeiten die Apparate mit je zwei Telegrafisten und komprimierte die Datenmenge mit Hilfe von Chiffrierungen, sodass Nachrichten gewöhnlich aus vier bis fünf Worten bestanden (vgl. ebd., S. 218–220).
Auch außerhalb der Börse etablierte sich die neue Informationstechnik zum Kommunikationsstandard in der Wirtschaft und untergrub die Konkurrenzfähigkeit jedes Unternehmens, das seine geschäftliche Kommunikation nicht darauf umstellte. Dies hatte eine nicht mehr zu bremsende Beschleunigung des Geschäftslebens zur Folge, deren Auswirkungen bis heute andauern und sich weiter verschärfen (vgl. Standage 1999, S. 181f.). Gleichzeitig ermöglichte die Telegrafie internationale Expansionen neuen Ausmaßes und erleichterte durch den raschen Informationsfluss Handel über große Distanzen hinweg. Eine interessante Beobachtung stellt Richard Du Boff an. Während Telegrafie wettbewerbsfördernd wirke und Marktfunktionen belebe, stärke es gleichzeitig monopolisierende Kräfte (vgl. Du Boff 1983, S. 253; zit. n. Wenzelhuemer 2013, S. 87).
Es ist davon auszugehen, dass länderübergreifende Privatkommunikation unter Anwendung der elektrischen Telegrafie, wenn überhaupt, dann äußerst selten stattfand.[16] Der telegrafische Einfluss auf die Privatgesellschaft im Hinblick auf eine kommunikationstechnische Globalisierung spielte in seinen Anfängen sicherlich eine weniger bedeutende Rolle. Telegramme von privat nach privat waren prinzipiell möglich, durch zeichengenaue Bezahlung für den Anwender jedoch teuer.
Welch ideenreiche Ausmaße die private Nutzung bisweilen annahm, beweist eine 1848 publizierte Geschichte innerhalb einer Sammlung von Anekdoten rund um den elektrischen Telegrafen. Darin wird beschrieben, wie die Tochter eines Bostoner Händlers sich in einen der Angestellten ihres Vaters verliebt hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Händler sie jedoch bereits einem Dritten zur Frau versprochen. Damit dieser Plan nicht durchkreuzt wurde, sandte er seinen Angestellten auf eine Geschäftsreise nach England. Das Schiff machte in New York halt, wohin die verzweifelte Tochter ein Telegramm schicken ließ mit der Nachricht, ihr Geliebter möge zu vereinbarter Stunde mit einem Standesbeamten das dortige Telegrafenamt aufsuchen. Nachdem sie sich über die Fernschreibeämter der beiden Städte virtuell trafen und das Eheversprechen im Morse-Code hin- und hergeschickt wurde, wurden sie rechtsgültig getraut(vgl. Bogue 1848, S. 49f.).
Auch wenn die Idee schneller Kommunikation über weite Strecken hinweg schon seit tausenden von Jahren die Menschheit umtrieb, machten erst die Erfindungen seit dem späten 18. Jahrhundert eine wirkliche Telekommunikation unabhängig von Brieftauben, Reitern und Eisenbahnen möglich. Gleichzeitig ist das Aufkommen der Telegrafie nicht auf einen einzigen Erfinder zurückzuführen. Insbesondere die Entwicklung eines elektrischen Fernschreibers wurde erst durch viele unabhängig voneinander gemachte Entdeckungen und Erfindungen möglich.
Die Annahme, Telegrafie hätte der Entstehung einer modernen, globalisierten Welt einen entscheidenden Schub verpasst, bestätigt sich nach dieser Untersuchung. Die Epoche der Telegrafie bedeutete nicht nur mediengeschichtlich einen Meilenstein, sondern veränderte Politik, Ökonomie, Medien und die Weltsicht des Einzelnen irreversibel:
In Friedenszeiten vermochte eine schnelle Kommunikation die diplomatischen Beziehungen einzelner Ländern positiv zu beeinflussen, während die Kriegsführung in Krisenzeiten insbesondere in entfernten Regionen besser koordiniert und aus der Distanz gelenkt zu werden vermochte. Unmittelbare Berichterstattung machte Kriege erstmals in den Häusern der Zivilbevölkerung nachvollziehbar und reichte den Regierungen ein neues Propagandainstrument in die Hand. Aus wirtschaftlicher Perspektive ermöglichten die Fernschreiber einen florierenden internationalen Handel, die Schaffung neuer Arbeitsplätze, entsprechendes Wachstum und globale Preisvergleiche wichtiger Güter. Gleichzeitig schuf der Telegraf eine Abhängigkeit und beschleunigte die Geschäftswelt unwiederbringlich. Obgleich internationale Berichterstattung bereits existierte, konnten ‚Neuigkeiten‘ aus aller Welt nur mit wochenlanger Verspätung in lokalen Zeitungen gedruckt werden, wodurch sie an Relevanz einbüßten. Das entstehende weltweite Telegrafennetz ließ Nachrichtenagenturen aus dem Boden sprießen und rückte weltweite Berichterstattung von ihrer Randposition in den Mittelpunkt. Allein das verfügbare neue Wissen über entfernte Umweltkatastrophen, Konflikte und Verbrechen zwang zu einer bis dato nie notwendigen Auseinandersetzung des Einzelnen mit dem Geschehen auf dem Planeten. Die individuelle Wahrnehmung der eigenen Gesellschaft und des eigenen Staates wurde erweitert durch den Eindruck, Teil eines globalen Dorfes zu sein. Andere Kontinente waren, wenngleich noch nicht innerhalb von Stunden physisch erreichbar, dann doch innerhalb von Minuten kommunikativ.
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