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Der Autor berichtet im dritten Teil seiner Rückblicke über fünf Jahre harte Schule im Rauhen Haus in Hamburg-Horn während seiner Ausbildung zum Diakon und Wohlfahrtspfleger – Er greift dabei auf Tagebuchnotizen zurück, die er als junger Mann machte. – Er reflektiert die Zeit der 1950er aus der Sicht eines alten Mannes. Rezension zur gelben Buchreihe: Ich bin immer wieder begeistert von der "Gelben Buchreihe". Die Bände reißen einen einfach mit. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. Oder: Sämtliche von Jürgen Ruszkowski aus Hamburg herausgegebene Bücher sind absolute Highlights der Seefahrts-Literatur. Dieser Band macht da keine Ausnahme. Sehr interessante und abwechselungsreiche Themen aus verschiedenen Zeitepochen, die mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt haben! Man kann nur staunen, was der Mann in seinem Ruhestand schon veröffentlich hat. Alle Achtung!
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Seitenzahl: 212
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Jürgen Ruszkowski
Vom Werden eines Diakons - Rückblicke - Teil 3
Band 10-3 in der gelben Reihe bei Jürgen Ruszkowski
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
Widmung
Arbeitsplatz
Bewerbung um Diakonenausbildung im Rauhen Haus
Start der Diakonenausbildung im Rauhen Haus in Hamburg
Auf dem Rüttelrost – das erste Jahr im Rauhen Haus
Am Grundbergsee
Alltag im Rauhen Haus
Urlaub in Grevesmühlen
Büro und Krankenstube
Erziehungsdienst
Unterricht im Rauhen Haus
Vorbereitung auf das Wohlfahrtspflegerexamen
Fahrradtour mit Oskar Wollner nach Mecklenburg
Zurück im Rauhen Haus
Behördenpraktika
Das letzte Ausbildungsjahr im Rauhen Haus
Reflexion meiner Diakonenausbildung
Maritime gelbe Buchreihe „Zeitzeugen des Alltags“
Weitere Informationen
Impressum neobooks
Zu den von mir bevorzugt gelesenen Büchern gehören Auseinandersetzungen mit der Zeitgeschichte und Biographien. Menschen und ihre Geschichte sind immer interessant.
Ich weiß, dass mein Leben und meine Reflexion darüber nur wenige Mitmenschen interessiert. Warum dann diese Autobiographie? Im Jahre 1987 erhielt ich einen empörten Brief in Kinderschrift von Marelina Lüneburg, einer Urenkelin des Diakons Friedrich Wilhelm Koch, des ersten Hausvaters im Hamburger Seemannsheim, in dem diese sich bitter darüber beklagte, dass die diversen Seemannspastoren in einer 1966 erschienenen Jubiläumsschrift der Seemannsmission ausgiebig gewürdigt worden waren, ihr Urgroßvater jedoch kaum Erwähnung gefunden hatte, obwohl er von 1906 bis 1933 – wie ich 27 Jahre lang – die Verantwortung der Heimleitung in schwierigen Zeiten getragen hatte. Für eine Schulprojekt-Aufgabe, in der sie über ihren Urgroßvater berichten sollte, hatte sie Informationen über den Urahn mühevoll sammeln müssen. So soll es meinen Enkelinnen Stella und Lara und eventuellen Urenkeln nicht ergehen.
Ich wollte mit diesen Rückblicken keinen spannenden Lebensbericht schreiben, sondern möglichst detailgenau mein individuelles Erleben in den zeitgeschichtlichen Zusammenhängen deutlich machen und für Nachfahren festhalten. Anstoß zu dieser Lebensreflexion gab mir ein Vortrag von Professor Wolfgang Braun anlässlich des 25jährigen Bestehens der Fachhochschule für Diakonie und Sozialarbeit des Rauhen Hauses und der darauf folgenden kontroversen Leserreaktionen von Diakonen-Kollegen. Ich erinnerte mich an alte Tagebuchnotizen aus den 1950er Jahren und blätterte darin, um mir die Situation meiner eigenen Diakonenausbildung besser vergegenwärtigen zu können. Die Erlebnisse der Jugendjahre erwachten zu intensiver Erinnerung und ich beschloss, sie in Reinschrift zu bringen, damit mein erstes Enkelkind, das zu dieser Zeit auf die Welt kommen sollte, einmal würde nachlesen können, was den Opa in jungen Jahren bewegt hat. Aus dieser Tagebuchreinschrift entwickelte sich diese Autobiographie zu einer Lebensreflexion für mich. Meine hier zitierten Tagebuchaufzeichnungen sind in der Sprache des 15- bis 22jährigen Jünglings in der seinerzeitigen Gedanken- und Erlebniswelt verfasst. Ich habe sie mit nur geringfügigen redaktionellen Änderungen wiedergegeben, weil sie große Aussagekraft über mein damaliges Befinden und Erleben haben. Manche Abschnitte werden daher für den an diesen Vorgängen nicht direkt beteiligten Leser sicherlich langweilig sein. Diese Zitate, Tagebuchnotizen und für den Leser nebensächliche Abschnitte mag man dann gerne überfliegen.
Im Zusammenhang mit meinen Reflexionen über mein Berufsleben stieß ich auch auf Michael Häuslers Dissertation über die Emanzipation der Männlichen Diakonie zwischen 1913 und 1947, die 1995 unter dem Titel „Dienst an Kirche und Volk“ bei Kohlhammer als Buch (ISBN 3-17-013779-4) erschien. Diese Arbeit hat mich gerade wegen ihrer angenehm sachlichen Objektivität und Gründlichkeit stark beeindruckt. Die Emanzipation der Diakone von Pfarrgehilfen zu selbstverantwortlichen Mitarbeitern in Diakonie und Kirche war ein oft dornenvoller und interessanter Weg, den ich teilweise noch miterlebt habe. – Zwischen den 1930er und 90er Jahren haben sich im gesellschaftlichen, politischen, religiösen, kirchlichen und Alltagsleben so gewaltige Entwicklungen und Umwälzungen ergeben, dass es für nachfolgende Generationen nicht immer ganz einfach sein wird, vor Jahrzehnten Erlebtes und Empfundenes nachvollziehen zu können. Zu diesem Verständnis mitzuhelfen, mögen meine Rückblicke beitragen.
Wegen der vielen Bilder und sich daraus ergebenden Dateigröße muss ich das ebook aus technischen Gründen aufteilen. Hier in diesem dritten Teil finden Sie einen Bericht über meine Ausbildung zum Diakon und Diplom-Sozialpädagogen im Rauhen Haus in Hamburg. In zwei vorhergehenden Teilen hatte ich über meine Herkunft, Kindheit und Jugend berichtet. Im vierten Teil erzähle ich von meinen ersten Berufsjahren als Jugendfürsorger in Dortmund und Diakonie-Geschäftsführer in Soest in Westfalen. Im fünften Teil geht es um meine 27 Jahre als Leiter des Seemannsheimes am Krayenkamp in Hamburg, im sechsten ebook berichte ich über meinen kreativen Ruhestand und die Entstehung der maritimen gelben Buchreihe.
Hamburg, 2002 / 2005 / 2016 Jürgen Ruszkowski
für Stella-Simone und Lara Sophie
als Information über den Großvater
Mein Ruhestands-Arbeitsplatz
Von hier aus betreibe ich meinen Hobby-Verlag, verpacke und verschicke Bücher und gestalte meine Internet-Websites.
Von Stukenbrock aus hatte ich bereits Bethel besucht und mir die dortige Diakonenanstalt Nazareth angeschaut. Ich tendiere jedoch mehr nach Hannover und bewerbe mich von Westerland aus um die Aufnahme als Diakonenschüler beim Stephanstift, zu dessen Einzugsgebiet vor dem Kriege auch das lutherische Mecklenburg gehörte, werde aber auf Grund meiner gesundheitlichen Risiken abgelehnt. So resigniere ich und halte das Ziel, Diakon zu werden, für vorerst nicht realisierbar. Nach Abschluss der Kur in Westerland trete ich zurück nach Stukenbrock ins Flüchtlingslager an, ohne zu wissen, wie mein Leben nun weitergehen soll.
Auf dieser Rückfahrt von Westerland nach Stukenbrock am 19. März 1954 unterbreche ich die Reise in Hamburg und besuche den mir bekannten Rauhhäusler Diakon Karl Fischer, der nach dem Kriege als Gemeindediakon in Grevesmühlen gewirkt hatte und nach seiner Rückkehr von Grevesmühlen nach Hamburg wieder als Fürsorger bei der Hamburger Jugendbehörde arbeitet. Mit seinem Motorrad war er jahrzehntelang engagiert in seinem Fürsorgebezirk in Hamburg-Osdorf unterwegs. Nachdem ich ihm meine Geschichte erzählt habe und die Auffassung vertrete, aus meinen Plänen, Diakon zu werden, werde aus gesundheitlichen Gründen wohl nichts mehr, ermuntert er mich, mich – sogleich im Rauhen Haus zu bewerben. Ich habe zwar keinerlei Hoffnung – aber schaden kann es wohl kaum?! Also fahre ich nach Horn und stelle mich vor.
Da die Entscheidung nicht am selben Tag gefällt werden kann, bietet mir Bruder Niemer (siehe Band 11 dieser Zeitzeugen-Buchreihe „Genossen der Barmherzigkeit“) an, im Rauhen Haus zu übernachten, aber nicht, bevor er mit einer Ärztin, Frau Dr. Krüger, (Ehefrau meines späteren Dozenten für Neues Testament und Literatur) abgeklärt hat, ob ich mit meiner Krankheit ein Infektionsrisiko für die Diakonenschüler darstellen könnte, mit denen ich zusammen in einem Raum schlafen soll. Diese Ärztin hält die Einquartierung bei den Brüdern für „...gänzlich unbedenklich, da die Drüsentuberkulose nicht ansteckbar und außerdem nicht überzubewerten sei. Im Allgemeinen heile sie völlig aus.“
Schon seit Wicherns Zeiten fühlten sich die Brüderhausleitungen in den Diakonenanstalten „zu einer strengen Auslese des Nachwuchses nach geistlichen und charakterlichen Kriterien“ verpflichtet.
„Die viel beschworenen „preußischen“ Sekundärtugenden Treue, Opferbereitschaft, Fleiß, Pünktlichkeit, Gehorsam und Bescheidenheit, ergänzt um die „christlichen“ Tugenden der Demut, Züchtigkeit und Mäßigung – das waren bis in die Zeit nach dem 2. Weltkrieg die Hauptanforderungen an die Persönlichkeit eines Diakons.“ (Michael Häusler: Dienst an Kirche und Volk / E. Bunke, „Berufskunde“).
So werde auch ich gründlich unter die Lupe genommen. Ich habe einen Lebenslauf zu schreiben. Man gibt mir einen Zeitungsausschnitt, einen Artikel aus dem Feuilleton von einem gewissen Anatol France, den ich mir durchlesen und mir den Inhalt einprägen soll, um ihn dann als Test meiner Merk- und Ausdrucksfähigkeit mit eigenen Worten wiederzugeben.
Pastor Gotthold Donndorf – im Hintergrund Diakon August Füßinger
Ich werde von Pastor Donndorf, Diakon Füßinger (siehe Band 11 „Genossen der Barmherzigkeit“) und Diakon Niemer getrennt nacheinander jeweils in einem kurzen Gespräch in Augenschein genommen.
Diakon August Füßinger
Diakon Gerhard Niemer
Dann muss ich zu einem Arzt in der Nachbarschaft des Rauhen Hauses, zu Dr. med. Siegfried Spitzner, zu einer Untersuchung. Ich brauche meinen Oberkörper nicht freizumachen. Meine Hemdsärmel habe ich unter der Jacke aufgekrempelt. Genau dort tastet er nach meinen Bizeps. Im Fragebogen des Rauhen Hauses soll angekreuzt werden, ob ich ein leptosomer, pyknischer oder muskulöser Typ sei. Natürlich bin ich bei diesen Bizeps ein „muskulöser“. Ich traue meinen Ohren nicht, als man mir unterbreitet, ich sei als Bewerber akzeptiert und könne zum 1. April 1954 den Dienst als Diakonenschüler aufnehmen.
So reise ich hoch erfreut weiter ins Flüchtlingslager nach Stukenbrock, um am 27.03.1954 von dort aus meine offiziellen Bewerbungsunterlagen ins Rauhe Haus nachzusenden.
Das Rauhe Haus gilt als „Brunnenstube der Inneren Mission“ und ist die Wiedergeburtsstätte der männlichen Diakonie nach über tausendjährigem Dornröschenschlaf in der Kirchengeschichte. Johann Hinrich Wichern hatte diese Anstalt 1833 als junger Kandidat der Theologie mit Hilfe einflussreicher Hamburger Bürger in dem Dorf Horn vor den Toren Hamburgs aus kleinsten Anfängen als „Rettungshaus“ für gefährdete Kinder und Jugendliche gegründet und aufgebaut (über Wichern und die Geschichte des Rauhen Hauses habe ich den Band 65 in meiner gelben Reihe herausgegeben bei amazon.de unter ISBN 978-1507725047 als ebook unter ISBN 978-3-8476-8155-7). Im Sommer 1834 zog ein Bäckergeselle, namens Josef Baumgärtner, zu Fuß von Basel nach Hamburg, um Wichern als erster Gehilfe für ein mageres Taschengeld von 100 Mark im Jahr bei freier Kost und Logis als Betreuer einer „Knabenfamilie“ zur Hand zu gehen. Nach drei Jahren übernahm Baumgärtner ein eigenes neu gegründetes Rettungshaus in Mitau im Kurland. Aus seinen „Gehilfen“, die Wichern aus ganz Deutschland rief und die ihn bei seiner Erziehungsarbeit im Rauhen Haus unterstützten und von den Jungen der Erziehungsfamilien „Brüder“ genannt wurden, baute er den hauptberuflichen Mitarbeiterstab der Inneren Mission auf, die „Berufsarbeiter“, die als Hausväter in „Rettungshäusern“, als Strafvollzugsbetreuer oder als „Stadtmissionare“ in ganz Deutschland und im Ausland bis hin nach Übersee tätig wurden.
Wicherns Wunsch: „Treue, gottesfürchtige Männer, so ernst als wahr, so klug als weise, in der Schrift bewandert, im Glauben gegründet, voll Liebe zum armen Volke, geschickt zu solch einem Umgang, der Menschen fürs Himmelreich gewinnt, wünschen wir in Scharen unter das Volk.“
Erst Jahrzehnte später wird man diese „Gehilfen“ entgegen Wicherns ursprünglichen Vorstellungen Diakone nennen.
Am 1. April 1954 kehre ich wieder zurück nach Hamburg. Vier Jahre habe ich auf diesen Tag des Eintritts in eine Diakonenanstalt gewartet. Nun ist es endlich soweit. Mit mir zusammen treten am 1. April noch zwei weitere Diakonenschüler den Dienst an: Johannes Gebauer und Walter Lorenz.
Johannes Gebauer – Walter Lorenz
Da ich den weitesten Weg habe, komme ich als letzter der drei, ich bin also der Dienstjüngste.
Die Anstaltshierarchie
Ja, das Dienstalter spielt 1954 und noch etliche weitere Jahre für die Hierarchie im Rauhen Hause eine entscheidende Rolle. Es herrschen klare Verhältnisse. Der jeweils dienstältere Bruder ist in der Rangordnung dem dienstjüngeren übergeordnet. Ich wage es als Neuling, einen dienstälteren „Bruder“ zu duzen und werde zusammengepfiffen, ob wir denn zusammen im Sandkasten gespielt hätten, er verlange gefälligst, dass ich ihn sieze. Es war Bruno Schulze. Als ich ihn viele Jahre später darauf anspreche, will er es nicht mehr wahrhaben, denn inzwischen unterrichtet er als Professor an der Fachhochschule des Rauhen Hauses im Kreise der von der 1968er-Bewegung geprägten Dozenten und dem Prinzip der Egalität verbundenen emanzipierten Studenten. Fünfzehn Jahre später wird man diese von mir vorgefundene und akzeptierte Hierarchie „feudalistisch“ nennen. Aus der Feudalzeit stammen tatsächlich einige gängige Begriffe, die sich aus der wichernschen Epoche herübergerettet haben.
Der leitende Pastor ist der „Direktor“, und er hat tatsächlich eine Position nach Gutsherrenart. Die Brüderhausvorsteher hatten im 19. Jahrhundert und weit bis ins 20. Jahrhundert hinein eine unangefochtene Patriarchenstellung. Diese galt in einigen Brüderhäusern, die nach dem „Mutterhausprinzip“ arbeiteten, etwa in Nazareth/Bethel, bis in die 1960er Jahre mit uneingeschränktem Sendungsprinzip als selbstverständlich, auch für gestandene Männer und bereits examinierte Diakone mit lebenslanger Unterordnung und Gehorsam bei ihrem beruflichen Einsatz. Das Rauhe Haus ist in punkto Sendungsprinzip und freie Stellenwahl Mitte der 1950er Jahre schon sehr liberal. Der fertige Diakon kann zwar die Hilfe des Brüderhauses bei Stellensuche und Erstellung des Dienstvertrages in Anspruch nehmen, sich seine Arbeitsstellen aber selbst wählen, soll jedoch laut Brüderordnung das Rauhe Haus über jeden Stellenwechsel informieren.
Die hauptamtlich verantwortlichen Diakone im Rauhen Haus nennen sich „Inspektoren“, ähnlich wie die Verwalter auf einer landwirtschaftlichen Domäne, und sie haben in ihrem Verantwortungsbereich weitreichende Vollmachten. Der für den manuellen Arbeitseinsatz in der „Anstalt“ verantwortliche Bruder wird „Vogt“ genannt und handelt nach den Weisungen des Wirtschaftsinspektors und Konviktmeisters (das Amt des Konviktmeisters ist mit der heutigen Funktion nicht vergleichbar). Es werden also Bezeichnungen benutzt, wie sie in den Gutsverwaltungen bis in diese Zeit hinein üblich waren. Begriffe wie „Mitbestimmung“ sind Mitte der 1950er Jahre im internen Bereich des Rauhen Hauses und auch bei den anderen Brüderhäusern völlig unbekannt und undenkbar. Bis zum ersten Weltkrieg hatten auch die fertig ausgebildeten Diakone in den Brüderschaften keinerlei Mitbestimmungsrecht. Die am Ende des 19. Jahrhunderts von Johannes Wichern ausgestellten Zeugnisse für Brüder des Rauhen Hauses enthielten noch einen Passus, wonach die Gültigkeit des Zeugnisses erlischt, wenn der Bruder nicht mehr den Dienst wahrnimmt, in den ihn das Rauhe Haus entsandt hat. Alle Entscheidungen trafen die Vorsteher, es waren immer Theologen, selber. Erst nach dem Ende des 1. Weltkrieges und mit zunehmender beruflicher und fachlicher Professionalisierung in den 1920er und 30er Jahren emanzipierten sich die Diakone, besonders durch die „doppelte Qualifikation“ durch ein staatlich anerkanntes Examen als Wohlfahrts- oder Krankenpfleger von „Gehilfen“ der Pastoren zu einem eigenständigen Berufsstand mit eigenem fachlichen Aufgabenbereich und entsprechendem Standesbewusstsein. Noch Ende der 1950er Jahre versuchte ein Pastor in Hamburg-Rothenburgsort, „seinen“ Diakon als persönlichen Aktentaschenträger auf seinen Dienstgängen zu missbrauchen.
Am Tage des Eintritts erhalte ich einen „Laufzettel“, mit dem ich mich bei einigen wichtigen Persönlichkeiten der Anstalt melden muss: Bruder Friedrich Düwel, ein älterer Diakon, verwaltet das Diakonenbüro mit den Brüderakten. Er erzählt mir, dass er Anfang der 1920er Jahre zusammen mit Kurt Esmarch das Hamburger Hafenkonzert, die älteste deutsche Rundfunklivesendung, mitbegründet habe. Düwel war wohl früher selber mal zur See gefahren und weiß spannend Seemannsgarn zu erzählen. Außerdem spricht er in der Weise eines Franz von Assisi mit den Vögeln, die vor seinem Bürofenster von den dort rot prangenden Vogelbeeren fressen.
Als Nächstes führt mich mein Weg zu Pastor Gotthold Donndorf, dem Direktor des Rauhen Hauses, einem würdevollen, von liberaler Theologie geprägten Patriarchen, der seit 1939 in diesem Amt ist.
Gotthold und Juliane Donndorf
Auch „Frau Pastor“ Juliane Donndorf hat ein gewichtiges Wörtchen in der Hierarchie mitzureden. Sie wacht über sittsames und wohlanständiges Benehmen der jungen Brüder, die ja schließlich in der gutbürgerlichen Gesellschaft, von der der kirchliche Betrieb geprägt ist, nicht unangenehm auffallen dürfen. So mancher junge Bruder wird von ihr beiseite genommen und über falsches Verhalten bei Tisch oder anderen Lebenssituationen aufgeklärt.
Ferner muss ich zu Bruder Friedrich Jahnke, dem damaligen Brüderältesten, der dieses Amt neben seinem Job als Geschäftsführer des Evangelischen Hilfswerkes und der Inneren Mission in Hamburg (Amt für Gemeindedienst) ausübt, einem begabten und umsichtigen Mann und Hansdampf in allen diakonischen Gassen, dem die Diakonenschaft berufspolitisch viel zu verdanken hat und, der wesentlich an der Emanzipation der Diakone mitgewirkt hat.
Jahnke hält sich nur alle paar Tage mal für einige Stunden im Rauhen Hause auf.
Er ist Geburtsjahrgang 1903, Sohn eines Rauhhäusler Diakons, der im Alter von 48 Jahren „an Überarbeitung verstarb“. Daraufhin beschloss Friedrich: „Ich werde, was mein Vater war!“, brach seine Gymnasialausbildung ab und ging ins Rauhe Haus, wo er zeitgleich mit August Füßinger ausgebildet wurde. Friedrich Jahnke war schon zu Beginn der NS-Zeit Landeswart der Bezirksgruppe Hamburg des Deutschen Diakonenverbandes und Wortführer der gemäßigten deutschchristlichen Richtung der Brüderschaft des Rauhen Hauses und hatte auch die später viel gescholtene Ergebenheitsentschließung formuliert, die der Deutsche Diakonentag 1933 an die Reichsleitung der Deutschen Christen richtete:
„Die an der Geburtsstätte des erneuerten Diakonenamtes, dem Rauhen Hause, zum 9. Deutschen Diakonentage versammelten 1.000 deutschen Diakone versichern der Reichsleitung der „Deutschen Christen“ ihre Treue und stellen sich geschlossen und vorbehaltlos hinter ihre Führung. Sie erwarten, dass diejenigen Diakone, die sich dieser Bewegung noch nicht angeschlossen haben, ihren organisatorischen Beitritt unverzüglich erklären. – Wir begrüßen den nationalsozialistischen Aufbruch unseres Volkes als eine Gnade Gottes und nehmen mit unserem ganzen Sein, Denken, Fühlen und Wollen daran teil, hoffend, dass nun Volk und Kirche eine lebendige Gemeinschaft werde. Wir bieten der Kirche erneut, wie einst Wichern schon, unseren Dienst an, um im notwendigen Helferdienst am Leben mitzuwirken, dass endlich die deutsche evangelische Volkskirche des Dritten Reiches werde, in der alle evangelischen Deutschen Heimatrecht finden.“
(Siehe Martin Häusler: „Dienst an Kirche und Volk“, S. 246)
Deutscher Diakonentag 1933 – vor der alten Wichernschule
Nach dem Kriege ist Jahnke als aktives CDU-Mitglied in der Hamburger Kommunalpolitik stark engagiert. Sein kirchenpolitisches Engagement im Dritten Reich bringt ihm in den 1970er Jahren bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit erhebliche Vorwürfe ein.
Der für alle Ausbildungsbrüder wichtigste Mann ist danach an der Reihe: Bruder August Füßinger (siehe Band 11 „Genossen der Barmherzigkeit“).
Er verdient besondere ausführlichere Erwähnung, denn er bestimmt zwischen 1927 und 1966 als graue Eminenz, Konviktmeister und Erziehungsinspektor, später zeitweise auch als Brüderältester, das Leben im Rauhen Haus und das Schicksal jeden einzelnen Ausbildungsbruders in jener Zeit entscheidend mit. Nach Meinung des Vorstehers des Rauhen Hauses Mitte der 1930er Jahre, Pastor Wegeleben, war August Füßinger schon damals „der ungekrönte König des Rauhen Hauses“. „Fü“, wie wir ihn kurz nennen, wurde am 13.09.1900 in München als Sohn des Maschinenschlossers Otto Fühsinger geboren. Die katholische Familie zog 1904 von München nach Wesermünde-Lehe (heute Bremerhaven). 1914 konvertierte die Familie wegen unüberbrückbarer Streitigkeiten mit dem katholischen Geistlichen und Lehrer und einer nicht gerechtfertigten körperlichen Züchtigung von Sohn August durch diesen. Sie wurde Mitglied der evangelisch-reformierten Gemeinde in Lehe. Dementsprechend hat August Füßinger profunde Kenntnisse katholischer Dogmen, Riten und Denkungsart, was gelegentlich in Gesprächen angewendet wird und in seiner Denk- und Handlungsweise auch immer wieder durchbricht. Der Vater Otto Fühsinger war beim Norddeutschen Lloyd tätig und wurde bald Werkmeister. Seine fünf Söhne absolvierten beim Norddeutschen Lloyd eine Lehre. August Füßinger hatte den Beruf eines Elektromechanikers erlernt und darin fünf Jahre lang gearbeitet. In seiner Freizeit war er für den Christlichen Verein junger Männer (CVJM) tätig und wurde schließlich dessen zweiter Vorsitzender. Der erste Vorsitzende war Pastor Rosenboom, der ihm eine Ausbildung im Rauhen Haus empfahl und ihn auch zu seinem Antrittsbesuch nach Hamburg begleitete.
Ins Rauhe Haus trat er am 1.10.1923 ein. Das Diakonenexamen bestand er am 21.03.1927, wurde am 22.03.1927 Oberhelfer im Rauhen Haus, am 1.10.1927 Anstaltsinspektor und am 1.07.1928 der für die praktische Brüderausbildung verantwortliche Konviktmeister. Er wollte nach seiner Ausbildung nicht im Rauhen Hause tätig sein, da er das Kommen und Gehen seiner potentiellen Vorgänger beobachtet hatte und das Rauhe Haus zu diesem Zeitpunkt praktisch zahlungsunfähig war. Die Anstalt rettete sich durch Landverkäufe, z. B. gegenüber dem Horner Weg 170 - auch der Holstenhof wurde verkauft.
Das Rauhe Haus war auch eine Ausbildungsstätte für Hauswirtschaft, die unter dem Regiment von Frau Runge stand. Bruder Runge war zu der Zeit als Inspektor im Rauhen Hause tätig. Mädchen aus christlichen Familien wurden dort in allen hauswirtschaftlichen Fächern ausgebildet. Etliche Ehen mit Brüdern sind aus dieser Stätte entstanden, so fand auch August Füßinger hier seine Frau. Am 23.03.1928 heiratete er Elisabeth Holve aus Hemer in Westfalen, die ihm zwei Söhne gebar und ihm fleißig und aufopfernd als Wirtschafts- und Küchenleiterin beruflich zur Seite stand. Fü: „Die Westfalen haben eine hohe Wohnkultur und ihre Frauen verstehen die Kunst, mit wenig gut zu kochen. Ich hielt ja von Natur aus nicht viel von der Einrichtung Ehe, aber als ich 1922 zu einem Besuch in Westfalen war, stand für mich fest: Wenn ich eine Frau heirate, dann nur aus diesem Land.“ – „Man hat mir gesagt, mit der Wahl meiner Frau habe ich die größte Leistung meiner Menschenkenntnis erwiesen.“ – „Darüber, wie ich meine Frau kennen gelernt haben soll, erzählt man sich viele Geschichten. So soll ich meine Taschenuhr gezogen und zu ihr gesagt haben: ‚Wenn Sie meine Frau werden wollen, überlegen Sie sich das. Es ist jetzt 9 Uhr. Bis 12 Uhr sagen Sie mir Bescheid.’“
Nach Einführung der Wohlfahrtspflegerausbildung im Rauhen Haus bestand Füßinger das staatliche anerkannte Wohlfahrtspflegerexamen am 13.6.1930.
Das Rauhe Haus benötigte damals dringend einen Sanierer mit Härte und Konsequenz und war deshalb auch zu Zugeständnissen bereit. August Füßinger setzte als vermutlich erster Diakon einen unkündbaren Anstellungsvertrag nach Beamtenrecht durch, ein Musterfall für viele spätere Diakonen-Anstellungsverträge.
Die Sanierungsmaßnahmen bezogen sich sowohl auf die Kosten- als auch auf die Einnahmeseite. Beispielsweise wurden alle Gehälter um 10% gekürzt. Mit der Stadt Berlin wurde ein Vertrag zur Aufnahme von Fürsorgezöglingen abgeschlossen, die dann in der Fischerhütte untergebracht wurden. Beispielsweise war im großen Speisesaal des Wirtschaftsgebäudes (heute steht dort die Mitte der Wichernschule) nicht genügend Geschirr und Bestecks für alle Essenden vorhanden. Das sofortige Abräumen nach dem Essen war nicht Ausdruck übertriebener Ordnungsliebe, sondern aus der Not geboren. Nach sofortigem Spülen kamen Geschirr und Bestecke sogleich wieder zum Einsatz. Aus dieser Zeit stammt August's extreme Sparsamkeit, die Angst vor Liquiditätsproblemen und vor Zinslasten. Nach seinen Erfahrungen war eine Anstalt wie das Rauhe Haus mit ihrem sehr langsamen Kapitalumschlag nicht in der Lage, Zinsen mit normalen Zinssätzen zu erwirtschaften. Die Notwendigkeit eisernen Sparens blieb bis weit nach dem 2. Weltkrieg zwingendes Gebot, zumal die Anstalt nach den Bombenschäden fast gänzlich wieder aufgebaut werden musste. Da das Rauhe Haus nach Wicherns Konzeption ein offenes Gelände ohne Einzäunung sein sollte, sich aber langsam Gewohnheitsrechte regen Durchgangsverkehrs zu entwickeln drohten, wurde unter Füßingers Einfluss ein stabiler Eisenzaun rund um das Anstaltsgelände herum gezogen. Sonst ging der weitere Aufbau im Vergleich zu anderen Anstalten (z.B. Alsterdorf) wegen Füßingers Bedenken gegen Kredite und Zinsen sehr langsam voran. Pastor Donndorf war ein begnadeter Spendenwerber, der nach dem Vorsteherwechsel schnell die notwendige Liquidität schaffte. Bezüglich der Kosten war jedoch weiterhin äußerste Sparsamkeit angesagt. Die Arbeitsleistung der Ausbildungsbrüder trug wesentlich dazu bei. Aber auch das von Füßinger und seiner Frau aufgebaute Beziehungsnetz zur Veiling, Gemüsegroßmarkt, Lebensmittelverarbeitern ect. ermöglichte kostengünstigen Einkauf oder kostenfreie Abholung von nicht absetzbarem Obst, Gemüse und anderen Lebensmitteln. Die sofort erforderliche Verarbeitung machte eine große Flexibilität des Speiseplanes wichtig, was öfter zu Differenzen mit Frau Donndorf führte. Eine größere Käsespende aus den USA konnte trotz guter Qualität wegen geschmacklicher Schärfe der Ware nicht in der eigenen Küche verbraucht werden. So wurde sie einer Käsefabrik im Austausch gegen Streichkäse angeboten. Auch bei Personalkosten in Küche und Gartenpflege wurde gespart. Neben Ausbildungsbrüdern wurden behinderte Frauen und Männer durch Vermittlung des beim Arbeitsamt tätigen Bruders Mielenz eingesetzt, gleichzeitig eine sinnvolle Arbeitstherapie für die sonst schwer vermittelbaren Behinderten. Sowohl die Mitarbeiterführung als auch der sparsame Einkauf erforderten vom Ehepaar Füßinger außergewöhnlichen Einsatz.
Füßinger wurde 1933 auf Wunsch des damaligen Vorstehers des Rauhen Hauses, Pastor Fritz Engelke, Parteigenosse der NSDAP: „In der Hauskonferenz wurde vereinbart, dass der Vorsteher und der Brüderälteste nicht eintreten, während der Oberstudiendirektor, der Büroleiter und ich der Partei beitreten würden.“ Damit wollte die Leitung des Rauhen Hauses verhindern, dass die Anstalt von einem NS-Staatskommissar übernommen werden würde. Später übernahm Füßinger das Amt des Kreisamtsleiters der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV). Von diesem Ehrenamt trat er 1935 zurück, als es hauptamtlich wurde. Er sah seine Aufgabe im Rauhen Haus. Der Rang „Kreisamtsleiter“ konnte ihm jedoch nicht genommen werden, was sich im 3. Reich noch als hilfreich, nach dem Kriege jedoch als nachteilig erwies. Der „Reichsführer“ der Diakone, Fritz Weigt, berief Füßinger 1933 in den „Führerrat“ der Deutschen Diakonenschaft. Michael Häusler kennzeichnet Fü in seiner Studie „Dienst an Kirche und Volk“ als „...einen mit der Kirche verbundenen, aber theologisch indifferenten Pragmatiker, der in der Diakonenschaft wie auch im eigenen Brüderhaus stets auf weitgehende politische Loyalität gegenüber dem nationalsozialistischen Staat drängte...
Diakon August Füßinger – von mir gezeichnet