Von der Wiederkehr der Liebe - Willard Gaylin - E-Book

Von der Wiederkehr der Liebe E-Book

Willard Gaylin

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Beschreibung

Der moderne Mensch, gewohnt, seine Bedürfnisse sofort und ohne Anstrengung zu befriedigen, versteht unter "Liebe" heute hauptsächlich "Geliebtwerden". Er läßt seine Fähigkeit zu lieben brachliegen und erwartet egozentrisch, etwas zu erhalten, für das er keinen aktiven Einsatz mehr zu liefern braucht. "Von der Wiederkehr der Liebe" ist ein Überlebensbuch für die Gefühle, das uns die Grundlagen zu einer Neubewertung des größten und schönsten Gefühls liefert, das der Mensch kennt: von tiefem Gefühl getragene Liebe. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 384

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Willard Gaylin

Von der Wiederkehr der Liebe

Was in der heutigen Zeit Liebe für unser Fühlen, Denken und Handeln bedeutet

Aus dem Amerikanischen von Elke vom Scheidt

FISCHER Digital

Inhalt

Für Betty,Einleitung1. Die Wiederentdeckung der romantischen Liebe2. Das Bedürfnis nach Liebe3. Die Natur der Lust4. Die Natur der Liebe5. Die Erfahrung der Liebe6. Der Verlust der Liebe7. Die Liebesfähigkeit8. Plädoyer für die Liebe: Jenseits der LustAusgewählte BibliographiePsychoanalyse, Psychologie und SoziologieBiologie und menschliche NaturPhilosophie und Theologie

Für Betty,

meine Partnerin, Gefährtin, Freundin und Frau.

Alle meine Bücher schrieb ich mit ihr.

Dieses schrieb ich für sie.

Einleitung

Liebe ist eine zentrale Bedingung menschlicher Existenz. Wir brauchen sie zum Überleben; wir streben nach ihr, um Lust zu gewinnen; wir brauchen sie, um dem gewöhnlichen Leben Sinn und Zweck zu geben. Wir erleiden ihren Verlust mit Trauer und oft mit Verzweiflung. Und doch wissen wir sehr wenig über die Natur der Liebe. Was ist romantische Liebe? Ist sie mit Kindesliebe verwandt? Mit Elternliebe? Haben diese gegensätzlichen Erfahrungen etwas gemeinsam? Und wenn ja, worin besteht diese Gemeinsamkeit, und wie können wir sie erkennen? Wie ist die Beziehung zwischen Liebesbedürfnis, Verliebtheit und Liebe?

Da die romantische Liebe das Hauptthema dieses Buches ist, muß man die Liebe irgendwie mit der Natur der Sexualität in Verbindung bringen, die selbst ein komplizierter und verwirrender Aspekt menschlichen Erlebens ist. Gibt es einen Unterschied zwischen sexuellem Appetit und anderen Arten von Appetit? Ist Sex ein reiner Trieb, den wir mit einer Unzahl niedrigerer Formen animalischen Lebens gemeinsam haben? Was ist die Natur menschlicher Leidenschaft? Ist Bindung oder Verpflichtung das Gegenteil von Leidenschaft? Können dauerhafte Bindungen in einem Zeitalter überleben, das Lust und persönliche Erfüllung höher stellt als Pflicht und Verantwortung? Was ist Lust überhaupt? Und was meinen wir eigentlich mit Bindung oder Verpflichtung?

Das sind nur einige Fragen, mit denen ich in meinem beruflichen Leben als Psychoanalytiker täglich konfrontiert werde. Liebe und Beziehung, Liebe und Liebesverlust, Freude und Qual der Liebe sind der Stoff der psychoanalytischen Erfahrung. Man könnte meinen, die Liebe müßte in der psychoanalytischen Literatur eine Hauptrolle spielen. Sie tut es nicht. Ein großer Teil der heutigen Verwirrung in bezug auf die Liebe ist, wie ich noch erklären möchte, das Resultat widersprüchlicher Einstellungen, die die Psychoanalyse eingeführt hat, ohne es zu merken; daher muß die Aufgabe, diese Konflikte zu klären und diese Fragen zu beantworten, mit psychoanalytischer Sensibilität angegangen werden. Dieses Buch ist mein Versuch, genau das zu tun.

Wie untersucht man einen Gegenstand wie die Liebe aus psychoanalytischer Sicht? Die meisten psychologischen und soziologischen Forschungsarbeiten beginnen mit einer erschöpfenden Durchsicht der Literatur. Man greift also nach den wissenschaftlichen Publikationen seines Fachgebietes, um aus der Weisheit seiner Vorgänger zu schöpfen und tunlichst nicht noch einmal das Rad zu erfinden. Wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie jedoch feststellen, daß ich häufiger aus literarischen Werken zitiere als aus Fachliteratur. Diese Tatsache bedarf einer Erklärung.

Die modernen Untersuchungen der Humanpsychologie verteilen sich auf eine Vielfalt von Gebieten: Psychoanalyse, Kinder- und Erwachsenenpsychiatrie, klinische, soziale und Laborpsychologie, Pädiatrie, Soziologie, Kulturanthropologie – und so weiter und so weiter. Die meisten dieser Spezialgebiete streben nach wissenschaftlicher Anerkennung, und in der Wissenschaft herrscht eindeutig eine Vorliebe für Beweise durch objektive Daten, Messung, Wiederholbarkeit und dergleichen. Das Gefühl und die Erfahrung einer so komplizierten Emotion wie der Liebe (und sie ist mehr als eine Emotion) widersetzen sich dieser Art von Forschung.

Die Psychologen bedienten sich gern empirischer Methoden, um einfachere Verhaltensweisen einfacherer Geschöpfe zu untersuchen. So haben wir etwa die schönen Beobachtungen von B.F. Skinner auf der Grundlage seiner Arbeit mit Tauben und Konrad Lorenz’ Studien über die Gans. Aus solchen Untersuchungen können wir eine Menge über Bindungsverhalten, die Natur des Lernens und die einfachen Notreaktionen Angst und Wut lernen. All das teilen wir mit niedrigeren Lebewesen, aber die Art und Weise, auf die unsere Intelligenz und unsere Vorstellungskraft Erfahrungen verändern können, machen Schlüsse vom Tier auf den Menschen extrem gefährlich. Dennoch sind Tieruntersuchungen für den Psychiater eine große Hilfe zum Verständnis menschlichen Verhaltens. Weniger hilfreich sind sie leider in den ausschließlich menschlichen Bereichen. Liebe, wie wir sie kennen, hat nichts mit dem zu tun, was diese niedrigeren Geschöpfe wahrnehmen, wenn sie auch gewissen Phänomenen bei höheren Primaten zumindest analog sein könnte.

Die Forschungsmethoden der Tierpsychologie sind empirisch und häufig sehr präzise. Doch hier bringt uns Präzision nicht weiter. Elegante, hochtechnologische akustische Instrumente helfen uns wenig zum Verständnis der Ästhetik von Musik. Noch immer sind Hören und Analysieren, Fühlen und Reagieren die Methoden der Musikkritik. Forscher kennen den Wert und die Grenzen ihrer Methoden. Die feineren menschlichen Emotionen wie die Liebe und ihre (subjektiven) Gefühlsaspekte sind daher nicht gründlich mit empirischen Methoden untersucht worden. Und wenn es doch einmal geschah, dann waren die Resultate im allgemeinen nicht sonderlich inspirierend.

Der Psychoanalytiker geht weniger «wissenschaftlich» vor als der Tierpsychologe. Er studiert das entsprechende Subjekt, das menschliche Wesen, aber zwangsläufig in einer geringeren Anzahl von Fällen, und hofft, aus seiner eingestandenermaßen gefährlich kleinen Stichprobe allgemein gültige Informationen zu beziehen. Dennoch hat der englische Anatom William Harvey nur einen einzigen Daumen auf eine einzige Gruppe von Venen gedrückt (seine eigenen) und so das Grundprinzip des Blutkreislaufs unserer ganzen Spezies entdeckt. Doch die Psychoanalytiker haben andere Probleme, wenn sie mit der Liebe konfrontiert sind. Sie haben sich immer in erster Linie für Psychopathologie interessiert. Dasselbe gilt für die Psychiater. Beider Aufgabe ist die Heilung von Krankheitszuständen, und daher untersuchen sie eher die Unfähigkeit zur Liebe oder die Folgen von Liebesmangel. Alle diese Untersuchungen sind hilfreich, wenn man die Erfahrung der Liebe begreifen will, allerdings nur auf indirekte Weise.

Und so ist es bei allen wissenschaftlichen Disziplinen. Die meisten modernen Sozialwissenschaftler würden die menschliche Liebe kaum in den Mittelpunkt ihrer Forschungsinteressen stellen. Sie erkennen die Grenzen der gegenwärtigen empirischen Werkzeuge ihrer Disziplin beim Umgang mit der Liebe, aber aus irgendeinem Grund widerstrebt es ihnen, auf die intuitiven und analytischen Methoden ihrer großen Vorgänger im neunzehnten Jahrhundert zurückzugreifen.

Die Welt der Philosophie und Theologie hat keine Probleme mit dem analytischen Denken. Hier gibt es eine erschöpfende Literatur über die Liebe. Doch ein großer Teil der modernen Philosophie hat sich von Erörterungen über die Liebe abgewandt. Die Philosophen, die sich mit der Liebe beschäftigt haben, sind selten Zeitgenossen und hatten daher keine Gelegenheit, ein philosophisches Denken anzuwenden, das die heute vorherrschende freudianische Auffassung vom menschlichen Verhalten berücksichtigt. Dennoch liefern sie einen über Jahrhunderte entstandenen Fundus von Erörterungen über die Liebe, die ein unerläßlicher Leitfaden zum Verständnis der Liebeserfahrung sind.

Einige Autoren meinen, daß keine rationale Analyse, also auch nicht die wissenschaftliche Methodik, den mystischen Elementen gerecht wird, die für die Liebeserfahrung wesentlich sind. M.C. D’Arcy warnt in seinem feinfühligen Buch The Mind and Heart of Love (Kopf und Herz der Liebe) vor der «Sünde des Animus» oder der Vernunft, wenn man sich mit menschlicher Erfahrung befaßt:

«Der Verstand ist besitzergreifend und besteht darauf, sich alles anzueignen, was er in der Erfahrung antrifft. Wie jedoch der Durchschnittsmensch, der Dichter und der Heilige übereinstimmend gesagt haben, hat das Leben von Wissenschaft und Philosophie etwas sehr Unvollständiges an sich. Der Wissenschaftler und der Philosoph sitzen einer toten Welt vor; sie lassen die Welt außer acht, die wir alle lieben, die Welt von Farbe, Bewegung und intimem, persönlichem Verkehr. Ihre Welt ist die Welt der Dinge, und selbst Personen werden mit diesem Stigma gezeichnet. Sie leben, um aus dem Leiden anderer für die Vernunft Kapital zu schlagen; im besten Falle beglücken sie die Vernunft. Animus ist ein egoistischer Herr; er nimmt mehr, als er gibt.»[1]

Um über ein so subjektives, amorphes, unquantifizierbares und paradoxerweise gleichzeitig so weites und intimes Gebiet wie die Liebe zu schreiben, muß selbst ein Psychoanalytiker (falls er den Mut dazu hat) Erfahrungsdaten aus seinem beruflichen und persönlichen Leben benutzen. Liebe steht im Mittelpunkt sowohl meines privaten wie meines beruflichen Lebens. Sinn, Wert und Zweck meines Lebens sind durch meine menschlichen Beziehungen und meine Arbeit definiert.

Dennoch fällt es einem Psychoanalytiker schwer, sich selbst preiszugeben, seine Gefühle und die Daten seiner persönlichen Vergangenheit und Gegenwart in einem öffentlichen Druckerzeugnis auch nur andeutungsweise zu enthüllen. Einige meiner orthodoxeren Kollegen würden dies als «unprofessionell» ablehnen. Als Zweig der psychiatrischen Medizin und Behandlungsform für seelische Krankheiten erfordert die Psychoanalyse äußerste Disziplin zum Schutz des Patienten vor den persönlichen Emotionen des Analytikers und der Belastung, die die Kenntnis von Fakten aus dem Alltagsleben des Analytikers für den Patienten sein könnte.

Der schwierigste Aspekt bei der beruflichen Ausbildung eines jungen Psychoanalytikers ist nicht die Beherrschung der Theorie, sondern die Beherrschung seiner selbst, die Kontrolle sogar seiner beschützenden Emotionen wie Liebe, Identifizierung, Zärtlichkeit, Einfühlung und Mitgefühl. Er soll nicht richten, aber er soll auch nicht trösten. Für Mitleid ist genausowenig Platz wie für Wut in einem Prozeß, bei dem alles zu wissen bedeutet, alles dynamisch zu verstehen – wenn nicht zu verzeihen. Verzeihen und Verstehen sind vielleicht nur andere Begriffe aus anderen Philosophien, die zum gleichen Freispruch von Schuld und Verantwortung gelangen.

Wenn man für die breite Öffentlichkeit über irgendein Thema schreibt, und sei es dem eigenen Leben und der eigenen Erfahrung noch so fern, so bedeutet das natürlich immer, daß man etwas von sich selbst preisgibt. Niemand weiß das besser als der Psychoanalytiker, der in allen Phantasien und allen Schöpfungen Hand und Herz des Schöpfers sieht. Aus diesem Grunde verzichten manche meiner Berufskollegen auf alle schriftlichen Äußerungen außerhalb von Fachzeitschriften.

Freud hat oft einfach, direkt und ehrlich für eine allgemeine Leserschaft geschrieben und, ohne sich darüber klar zu sein, die intimsten Details seines persönlichen Lebens und seiner Phantasien benutzt, um seine Theorien darzulegen. Andererseits hatte Freud auf seinem Gebiet keine wirklichen Kollegen, sondern nur Schüler. Es gab den Beruf der Psychoanalyse nicht, es gab keine Orthodoxie und auch keine «Kirche».

Die Professionalisierung bringt Regeln mit sich, und Regeln sind nicht bloß willkürliche Beschränkungen, sondern Grenzen, die im allgemeinen auf Erfahrung und gesundem Menschenverstand beruhen. Dennoch müssen bestimmte Bereiche nicht nur erfahren, sondern auch analysiert werden, damit man sie verstehen kann; Gefühle sind hierfür ein Paradebeispiel. Da menschliche Emotionen sich quantifizierenden Untersuchungsmethoden entziehen, erfordern sie die Art von subjektiver Analyse, die unweigerlich die Wertvorstellungen und Vorlieben des Beobachters ins Spiel bringt. Die Wertsysteme eines Autors, der über die Erfahrung der Liebe schreibt, gehören zur Sache, und sie zu kennen bietet einen gewissen Schutz gegen mögliche Idiosynkrasien seines Erlebens.

Allein dadurch, daß ich mich als Psychoanalytiker ausweise, gebe ich eine Reihe von Annahmen zu erkennen, die einen Einfluß darauf haben, wie Sie meine Behauptungen auffassen. Die meisten Menschen verstehen heutzutage die Grundannahmen der Psychoanalyse. Wir glauben an das Unbewußte. Wir behaupten, daß Verhalten dynamisch ist, ein Ergebnis von Kräften und Gegenkräften. Wir neigen dazu, Entwicklungslinien zu sehen, die die Vergangenheit untrennbar mit der Gegenwart verbinden, und wir betrachten diese ganz anders als etwa ein Behaviorist. Zu wissen, daß ich Psychoanalytiker, Psychiater und Arzt bin, trägt zu Ihrem Verständnis gewisser professioneller Annahmen bei, die ich wahrscheinlich vortragen werde.

Es gibt auch Aspekte, in denen ich ein untypischer Repräsentant unserer Zeit bin und meine persönliche Erfahrung mich an den Rand der glockenförmigen Kurve für mein Geschlecht, meinen kulturellen Hintergrund und meine Generation stellt. Ich verliebte mich mit sechzehn (obwohl das Konzept von «Verliebtheit» mir damals nicht bekannt war und ich es auch nicht verstanden hätte), heiratete mit einundzwanzig meine Jugendliebe und lebe mit ihr seit mehr als fünfunddreißig Jahren in ehelicher Gemeinschaft. Außerdem bin ich sowohl Optimist als auch Romantiker; im Laufe dieses Buches wird zunehmend deutlicher werden, wie ich diese Begriffe verwende, doch auch ohne Definition kann man wohl annehmen, daß weder Optimismus noch Romantik im gegenwärtigen intellektuellen Leben einen hohen Stellenwert haben.

Ich mache mir keine Sorgen darüber, daß meine Urteile durch meine Erfahrung gefärbt sind. Hier halte ich es mit Freuds Annahme, daß eine solche Färbung ein wesentlicher Bestandteil jedes Urteils ist, daß jede Erfahrung vom Persönlichen beeinflußt ist und daß Selbsterkenntnis und Offenheit die einzigen Alternativen zu einer unerreichbaren «Objektivität» sind.

Im Verlauf des ganzen Buches werde ich mich auf meine Gefühle und die Gefühle anderer beziehen. Im Bereich der Gefühle ist das Anekdotische, das Erlebte – meines wie das anderer Menschen – achtbar. Wenn Sie und ich über unseren gemeinsamen Bekannten John Doe diskutieren könnten, dann würden wir unsere Reaktionen darauf, daß seine Frau ihn verlassen hat, mit unseren eigenen Gefühlen bei einer Zurückweisung verbinden und so zu einem mitfühlenden Verständnis für das gelangen, was er erlebt. Aber, wie C.S. Lewis gesagt hat: «Es treibt mich zu literarischen Beispielen, weil Sie, der Leser, und ich nicht in derselben Nachbarschaft leben; täten wir das, wäre es leider kein Problem, die literarischen Beispiele durch solche aus dem wirklichen Leben zu ersetzen.»[2]

Mich treibt es aus allen oben genannten Gründen zu literarischen Beispielen, aber auch aufgrund meines Respekts vor der wesentlichen Wahrheit, die anscheinend von der Fiktion am besten erfaßt wird. Der kreative Künstler ist ein Diener unserer Seelen. Begabt mit größerer Sensibilität als wir anderen und mit dem Talent ausgestattet, sein Verständnis durch Worte oder Malerei oder Musik mitzuteilen, bereichert er unser Leben, indem er das erhellt, was wir nur nebelhaft erkennen. Der große Schriftsteller ist ein Zauberer, der scheinbar in unserem Geist lesen kann, unsere Vergangenheit erlebt hat und unsere intimsten Empfindungen teilt. Es ist tröstlich zu wissen, daß jemand anderer weiß und versteht. Wir sind nicht allein mit unseren Schmerzen und Freuden. Der Künstler sagt uns, daß unser Erleben universal ist, und auch das ist tröstlich.

Ich nehme meine eigenen Worte nicht aus, wenn ich von den Grenzen der Vernunft beim Umgang mit Erfahrung spreche. Der Leser muß die von mir preisgegebenen Erfahrungen seinen eigenen gegenüberstellen. Man muß erleben, um Erlebtes zu verstehen.

Walt Whitman, der romantischste der amerikanischen Dichter, gab uns guten Rat:

«Als ich den gelehrten Astronomen hörte,

Als die Beweise, die Ziffern, in Kolonnen vor mir aufgereiht wurden,

Als mir die Karten und Diagramme gezeigt wurden, um sie zu addieren, zu teilen und zu messen,

Als ich dasaß und dem Astronomen zuhörte, wo er unter großem Applaus im Vorlesungsraum seinen Vortrag hielt,

Wie bald und unerklärlich wurde ich müde und elend,

Bis ich aufstand, hinausschlüpfte und allein

In die mystische, feuchte Nachtluft hinausging und von Zeit zu Zeit

In vollkommener Stille zu den Sternen aufsah.»[3]

Ich bitte den Leser, nicht in die Sterne zu blicken, sondern in sich selbst.

1. Die Wiederentdeckung der romantischen Liebe

Das Thema der Liebe ist so verehrungswürdig und ehrfurchtgebietend, die Literatur über die Liebe so umfangreich und eindrucksvoll, daß der Autor oder Forscher sich ihm unweigerlich mit Bangen nähert. Gibt es in diesen alten Minen noch irgendeine Ader von Wert, die nicht bereits von den Hunderten vor ihm entdeckt wurde, die jene tiefen Höhlen erforscht haben? Gibt es auch nur ein Körnchen von Wahrheit oder Einsicht, das unentdeckt geblieben ist? Ist es nicht arrogant, wenn man annimmt, man werde etwas Substantielles finden, das in diesem übermäßig ausgebeuteten Abgrund übersehen wurde? Schließlich hat sich die conditio humana und damit die menschliche Liebeserfahrung, die ein so fundamentaler Teil von ihr ist, in den letzten fünftausend Jahren oder mehr der aufgezeichneten Geschichte nicht wesentlich verändert. Kann es jenseits der alternativen Vorstellungen von der Liebe, die in Platons Symposion aufgezeigt werden, noch etwas geben? Läßt sich den Einsichten von Generationen mittelalterlicher und Renaissance-Philosophen, den Visionen romantischer Dichter und Romanautoren irgend etwas hinzufügen? Gibt es möglicherweise irgend etwas Neues zu sagen?

Das Konzept der Liebe muß beständig neu untersucht werden. Jede Generation sollte mit den Werkzeugen, der Sprache, der Philosophie und den Vorlieben ihrer Zeit die zentralen Bedingungen menschlicher Existenz neu erforschen. Liebe muß – genau wie Gerechtigkeit und Tugend – in unserer Zeit neu erörtert werden, wie sie es in jeder vorhergehenden Generation wurde, um Schlußfolgerungen zu ziehen, die für die speziellen Bedingungen, Wahrnehmungen, Bedürfnisse und Empfindungen unserer gegenwärtigen Existenz bedeutsam sind.

Wie ich schon sagte, steht die Liebe im Mittelpunkt meines Lebens und meiner Praxis. Die Menschen kommen nicht in die Psychoanalyse, um besser zu werden; sie kommen auch nicht, weil sie krank sind. Viele der Kränksten erkennen entweder diese Tatsache nicht an oder sehen ihre Verzweiflung nicht als Resultat ihres eigenen Handelns. Die Menschen kommen nur aus einem einzigen Grund zum Psychoanalytiker. Sie leiden und wünschen sich, daß dieses Leiden aufhört. Die Quellen ihrer Kümmernisse sind verschieden, aber immer lassen sie sich auf Fragen des Selbstvertrauens und Selbstwertgefühls zurückführen.

Liebe und Arbeit sind die Nährquellen, die Stolz und Selbstbehauptung erhalten. Trotz der Revolution der Geschlechter sind Probleme um Liebe und Einsamkeit noch immer die dominierenden Kräfte, die Frauen in die Behandlung treiben; männliche Patienten kommen häufiger aufgrund von Arbeitskonflikten. Arbeit und ihre Belohnungen sind großenteils Ersatz für Liebe und Beziehungen im Stützungssystem des männlichen Ego geworden.

Angesichts der Tatsache, daß unsere tägliche Erfahrung mit Problemen der Liebe und des Liebens gesättigt ist, sollte man annehmen, das Konzept der Liebe stehe im Mittelpunkt der psychoanalytischen Theorie. Weit gefehlt. In einer nie dagewesenen Entwicklung schuf die psychoanalytische Theorie eine liebeleere Welt. Die Psychoanalyse machte den Sexualtrieb, die Libido, zum beherrschenden Faktor der menschlichen Aktivität. Der sexuelle Instinkt wurde zur zentralen Motivationskraft und ausschließlichen Energiequelle aller menschlichen Aktivität erklärt.

Im Verlauf der Aufwertung der Sexualität wurde die Liebe, jene zentrale Leidenschaft, die jahrhundertelang die Aufmerksamkeit von Erforschern der conditio humana auf sich gezogen hatte, zu einer abgeleiteten, relativ unwichtigen Begleiterscheinung reduziert. Unvorhersehbare Folge dieser eigenartigen Prioritätensetzung war nicht nur eine Abwertung der Liebe, sondern ironischerweise auch eine Trivialisierung der Sexualität. Sicherlich war dies das Gegenteil von dem, was Freud im Sinn hatte. Dennoch ist es auf bestimmte Komponenten der frühen Theorie Freuds zurückzuführen, die noch immer vorherrschen. Zwar kann man diese Verzerrung nicht Freud in die Schuhe schieben, doch die moderne Psychoanalyse muß eine gewisse Verantwortung dafür übernehmen.

Es ist ein psychoanalytisches Klischee, daß nur eine Sache schlimmer ist als eine frustrierte Phantasie, nämlich eine in Erfüllung gegangene Phantasie. Wir modernen Psychoanalytiker hatten das Pech, den Sieg unserer Philosophie zu überleben, und nun müssen wir die Demütigung erleiden, in dieser unschönen Welt zu leben, die, zumindest zu einem großen Teil, unsere eigene Schöpfung ist. Die endgültige Bewertung steht zwar noch aus, aber bislang sind die Ergebnisse der sogenannten «sexuellen Revolution» alles andere als tröstlich. Freuds Auffassung von menschlichem Verhalten legte das positive Fundament für die Befreiung der sexuellen Strebungen der Frau sowohl von einem bedrückenden persönlichen Schuldgefühl als auch von der Scham und Demütigung sozialer Stigmatisierung. Doch die einzigen empirischen Resultate jener illegitimen Tochter der Freudschen Philosophie, der sexuellen Revolution, scheinen die Ausbreitung zweier neuer, sexuell übertragener Krankheiten, nämlich Herpes genitalis und AIDS, ein außerordentlicher Anstieg der Fälle von Gebärmutterkrebs und eine verheerende Epidemie von Teenager-Schwangerschaften zu sein. Für das Aufgeben der Liebe trägt Freud eine gewisse Verantwortung; die Trivialisierung der Sexualität hingegen darf man ihm nicht zur Last legen.

D.H. Lawrence, der große englische Romantiker, der im zwanzigsten Jahrhundert ein Temperament aus dem neunzehnten Jahrhundert verkörperte, wurde in seinem Leben ebenfalls mißverstanden und falsch interpretiert. Wo Freud die Liebe zu einem Anhängsel des Sexualtriebs verkleinerte, erhob Lawrence die Sexualität auf die religiöse Ebene romantischer Liebe. Wenn er daher von Sex spricht, meint er die Leidenschaft, die in Verbindung mit der Liebe daherkommt:

«Wenn solche brillanten jungen Leute nun zu mir über Sex reden oder ihn verspotten, dann sage ich nichts. Da gibt es nichts zu sagen. Aber ich empfinde eine schreckliche Müdigkeit. Für sie bedeutet Sexualität schlicht und einfach die Unterwäsche einer Frau und das Herumfummeln daran. Sie haben die ganze Literatur über die Liebe gelesen, Anna Karenina und alles andere, und sie haben die Statuen und Bilder der Aphrodite betrachtet, die alle sehr lobenswert sind. Aber wenn es um die Gegenwart geht, um heute, dann steht Sex für sie für bedeutungslose junge Frauen und teure Unterwäsche …

Das ist alles, was Sexualität ihnen bedeutet: nur das Beiwerk.»[4]

Das liebende Paar war, wie Lawrence es ausdrückte, eine Repräsentation des Engelhaften. «Ein Engel muß mehr sein als ein menschliches Wesen. Also sage ich, ein Engel ist die Seele von Mann und Frau in einem; am Tag des Gerichts stehen sie vereint als eine einzige Seele auf.»[5]

Zur gleichen Zeit versuchte Freud verzweifelt, die menschliche Natur in den Kontext der aufkeimenden modernen Naturwissenschaft zu stellen, von der man erwartete, sie werde im Denken des zwanzigsten Jahrhunderts sowohl die Religion als auch die Romantik ersetzen. Freud selbst war allerdings ein zu komplexer und suchender Geist, um die menschlichen Beziehungen auf die allzu vereinfachenden Definitionen unserer Tage herabzustufen. Indem er das Biologische betonte, legte er jedoch das Fundament für die reduktionistische Betrachtung des Homo sapiens als bloße höhere Tierform, eine in einem Kontinuum. Daß der Mensch ein Tier ist, ist unbestreitbar. Daß er aber nur ein Tier in einer ununterbrochenen Reihe anderer Tiere sein soll, ist für jeden, der im Verstehen menschlichen Verhaltens geübt ist, absurd. Wir sind eine großartige Abweichung, so verschieden vom Rest der Tierwelt, wie Gott, wenn Er existiert, von uns verschieden ist.

Freud und der Freudianismus haben in gewissem Maße zur heutigen Verwirrung in bezug auf menschliche Beziehungen und Absichten beigetragen, aber nicht sie allein. Die Freudsche Psychodynamik war nicht nur ein Produkt von Freuds Intelligenz und Vorstellungskraft; sie war auch ein Abkömmling machtvoller kultureller Kräfte seiner Epoche, des späten neunzehnten Jahrhunderts, einer Zeit enormer Wandlungen. Diese intellektuellen Wellen setzten sich bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein fort, formten neben der Psychoanalyse noch andere Forschungsgebiete und beeinflußten neben Freud auch andere Denker. Daß jede ernsthafte Berücksichtigung der Liebe fehlt, ist eine Unterlassung, die nicht nur die psychoanalytische Disziplin betrifft. Die Liebe (oder Emotionen, Werte und sogar Moral) kam in der modernen Welt der Philosophie kaum noch vor; dabei war sie das Reich, in dem Theorien über die Liebe jahrhundertelang zu Hause gewesen waren.

 

Bezeichnend für die intellektuellen Kräfte um die Jahrhundertwende war eine heftige Abneigung gegen den Romantizismus des neunzehnten Jahrhunderts. Die machtvollste Stimme der akademischen Welt war nicht die Freuds; seine Zeit sollte erst noch kommen. Wenn man irgend jemanden als Hauptsprecher jener Epoche betrachten kann, dann ist es Schopenhauer, der große Exponent der Macht von Natur und Willen und ein unerbittlicher Antiromantiker.

Was Freud Schopenhauer schuldete, wurde erkannt, doch das Ausmaß, in dem Freud sowohl vom Stoff als auch vom Geist von Schopenhauers Werk zehrte, muß noch erschöpfend analysiert werden. Wo er die Sexualität als Kern aller Liebe ansah, sie als rein biologischen Trieb betrachtete, der ausschließlich im Dienst der Fortpflanzung stand, wo er die romantische Tradition verachtete, die versuchte, die Menschheit von den begrenzten Definitionen der Biologie zu befreien – in all diesen Punkten war Schopenhauer der Mitautor von Freuds Libidotheorie.

Der Tod der romantischen Tradition, in der die Liebe blühte, wurde durch die Explosion naturwissenschaftlicher Kenntnisse beschleunigt. Die moderne Naturwissenschaft (organische Chemie, moderne Physik, Humanphysiologie und so weiter) wurde in der deutschsprachigen Welt des späten neunzehnten Jahrhunderts geboren. Wenn auch die Philosophie düster war, die Wissenschaft war es nicht. Es war die hohe Zeit des wissenschaftlichen Optimismus. Die Kultur der Wissenschaft rechnete mit technologischen Lösungen für alles menschliche Elend und all unsere weltlichen Probleme. Wenn nicht heute, so würden sie morgen gefunden werden. Für die Romantik würde es keinen Platz geben, da an Geheimnissen kein Bedarf bestand. Die Anwendung des durch wissenschaftliche Methoden gewonnenen Wissens würde nicht nur mit den Geheimnissen einer früheren Zeit aufräumen, sondern auch mit dem Aberglauben, der aufgrund solcher Ignoranz gedieh. Religion war eine Illusion, der größere Gelehrsamkeit und größeres Verständnis die Zukunft raubten. So legte das neunzehnte Jahrhundert das Fundament für den Tod Gottes und den Tod der Romantik im zwanzigsten Jahrhundert, und mit seinem besonderen, den Menschen in den Mittelpunkt stellenden Optimismus bereitete es den Boden für unsere gegenwärtige paradoxe Zeit spirituellen Hungers bei nie dagewesenem materiellem Komfort.

In Amerika und den westlichen Demokratien Europas sollten die gesteigerte Achtung und die geradezu übertriebende Begeisterung hinsichtlich des Individuums zu einer Gesellschaft führen, die trotz all ihrer Ungerechtigkeiten humaner und vermutlich gerechter war als all ihre Vorgänger. Doch hier begann auch eine Überbewertung des Individuums – eines aus seinen Bindungen gelösten und vom Band der Liebe befreiten Individuums –, die schließlich dazu führen sollte, daß der Individualismus zu Narzißmus verkam. Außerdem setzte eine gefährliche Abwertung der Gemeinschaft ein, die schließlich zu deren Wiederentdeckung führte, die gegenwärtig in Gang ist.

Das angebetete und verhätschelte Individuum kümmerte sich mehr darum, geliebt zu werden, als selbst zu lieben; mehr darum, etwas zu bekommen, als etwas zu geben. Die Lust wurde zu Spaß herabgewürdigt und Sex mit Appetit gleichgesetzt. Das Vokabular der Rechte ersetzte das der Pflichten und Verantwortlichkeiten als Grundsprache der Moralphilosophie; gleichzeitig interessierte die Philosophie sich insgesamt weniger für Moral. Die Elemente einer Psychologie, Philosophie und Kultur des Individualismus waren gegeben.

Der Durchschnittsmensch liest kaum philosophische Werke, und ihm ist nicht bewußt, daß er sich in irgendeiner Art von Revolution befindet. Die Moden wechseln, Lebensstile verändern sich, Wachstum und Altern werden innerhalb der eigenen Lebensspanne schließlich erkannt; doch nur wenige Menschen sind sich der starken kulturellen Wellen bewußt, die das Land, in dem sie leben, überspülen und verändern. Die Viktorianer sagten gern, das, was ein Fisch wahrscheinlich zuletzt entdecke, sei das Wasser.

Was ist dem heutigen Durchschnittsmenschen bewußt? Ein schmerzliches Gefühl unerfüllter Versprechen. Eine Verwirrung, weil die richtigen Formen da sind, aber Stoff und Substanz zu fehlen scheinen. Wir haben eine Befreiung (der meisten von uns) von den spezifischen Ängsten schwerer Armut erlebt, aber unsere Existenz ist eigenartig leer und freudlos geworden. Die technologische Welt hat sich als kalter, abweisender Ort erwiesen. Arbeit ist auf ihre Elemente reduziert worden. Niemand fängt etwas an oder bringt etwas zu Ende. Unterhaltung ist zwar universal und jederzeit verfügbar, wirkt aber glatt und oberflächlich. Sie kommt zu uns; wir brauchen nicht zu ihr zu gehen. Das wirkte zuerst wie eine Verbesserung, doch irgendwie, ohne daß wir den Grund kennen, verringerte es unser Vergnügen an der Sache. Es machte mehr Spaß, Baseball zu spielen, als dabei zuzusehen. Auf der Suche nach dem schnellen Vergnügen vergaßen wir, daß Geduld und Mühe oft wesentliche Komponenten tiefer Lust sind. Zu diesem Verfall des Lustbegriffs kam auch noch der Verlust der Freude an Pflicht, Verpflichtung und Bindung. Zu nehmen, ohne zu geben, macht wirklich nicht viel Spaß.

Das Individuum auf der Suche nach seinem Individualismus wirkte nicht größer, sondern kleiner. Wir hatten die Berührung mit dem größeren Begriff von Gemeinschaft verloren. Aus mancherlei Gründen wurden Identifizierungen mit einer Volksgruppe, Kirche, Partei, Ideologie, Religion oder Vereinigung allesamt schwächer.

Ein Ergebnis dieses verstärkten Individualismus war, daß wir die Bedeutung von Beziehungen im allgemeinen weniger beachteten. Die Ziele des Lebens wurden zunehmend in Begriffen individueller Erwartungen statt sozialer Rollen gefaßt, in Begriffen dessen, was wir bekommen würden, statt dessen, was wir geben würden. Selbstverwirklichung, Selbsterfüllung, Verfolgung der eigenen Ziele, Freisetzung der eigenen Gefühle wurden die Losungsworte.

Warum haben unsere Psychologen und Soziologen uns nicht davor bewahrt, auf diese Weise in einen freudlosen Narzißmus zu geraten? Warum hat uns die Philosophie nicht an die Grundwahrheiten von Liebe und Gemeinschaft erinnert? Die Antwort lautet, daß Sozialwissenschaften und Philosophie den gleichen kulturellen Kräften ausgesetzt waren und von den gleichen Täuschungen korrumpiert wurden.

Die wissenschaftliche Verachtung für das Subjektive griff schließlich die Bedeutung von Soziologie und Psychologie an. Da menschliche Vorstellungskraft und menschliches Streben mit rein empirischen Methoden nicht zu erfassen sind, wurden die Psychologen dazu getrieben, tierisches Verhalten zu studieren, und die Soziologen vergaßen in dem Bemühen um Quantifizierung und Messung den Wert intuitiver Einsichten von Vorgängern wie Max Scheler, Max Weber und Emile Durkheim. Die Verachtung des Intuitiven führte zu einer Überbewertung dessen, was man messen konnte.

Wenn die Liebe in einen Behälter gepackt werden könnte, darin aber nicht meß- oder quantifizierbar wäre, dann müßten wir den Behälter studieren. Seine Maße könnte man aufzeichnen. Wir alle – Philosophen, Künstler, Dichter, Musiker und Sozialwissenschaftler – wurden so zu klugen Verpackern. Da einzig Quantifizierung, Messung und Objektivität zählten, wurden nur die Dinge untersucht, die innerhalb dieser Dimensionen zu erklären waren. Es war, als hätten wir zuerst die Werkzeuge entworfen und uns dann die Aufgaben gesucht, für die die Werkzeuge brauchbar sein könnten.

Mit der Entdeckung der Technologie gaben wir das Geheimnis auf. Indem wir das Leben auf das Rationale reduzierten, leugneten wir das Wunderbare, das unserer Spezies innewohnt. Romantik wurde an die Jungen, an die sehr Jungen verwiesen. Und wir alle begannen uns sehr alt zu fühlen. Wir hatten die jugendliche Leidenschaft verloren, die bei einem suchenden Menschen bis zum Tod erhalten bleiben sollte. Wir hatten sie irgendwo in der späten Adoleszenz verloren. Wie hätte man vorhersehen können, daß die materielle Welt so freudlos sein würde? Der Schrei des Dichters in Faust scheint heute besonders und schmerzhaft zeitgemäß:

«So gib mir auch die Zeiten wieder,

Da ich noch selbst im Werden war,

Da sich ein Quell gedrängter Lieder

Ununterbrochen neu gebar,

Da Nebel mir die Welt verhüllten,

Die Knospe Wunder noch versprach,

Da ich die tausend Blumen brach,

Die alle Täler reichlich füllten.

Ich hatte nichts und doch genug:

Den Drang nach Wahrheit und die Lust am Trug.

Gib ungebändigt jene Triebe,

Das tiefe, schmerzenvolle Glück,

Des Hasses Kraft, die Macht der Liebe,

Gib meine Jugend mir zurück!»[6]

Die sexuelle Revolution hat nicht nur zu jenen Trends beigetragen, die die Leidenschaft zum Appetit verringerten und die Romantik in Vernunft auflösten, sondern war selbst ein Produkt der machtvollen Verhaltensregeln, die im zwanzigsten Jahrhundert auftauchten. Eine technologische Revolution war im Gange. Sie sollte der menschlichen Spezies neue Kräfte garantieren. Dieselben Kräfte, die darauf gerichtet waren, die Geheimnisse des Universums zu beseitigen, schienen auch zu verlangen, daß wir uns selbst entmystifizieren. Die Religion erhob uns über die niedrigeren Kreaturen dieser Erde, während Biologie und Sozialwissenschaften unsere Verwandtschaft mit ihnen aufzeigten. Auf eigenartige Weise aber verringerten wir uns in unseren Erwartungen. Die sexuelle Revolution bescherte uns etwas, das man als «Wurmneid» bezeichnen könnte. Wem die exotischen und köstlichen Möglichkeiten im Sexualleben der Regenwürmer nicht vertraut sind, möchte ich das erklären.

Ein Regenwurm ist so gebaut, daß ein Ende männlich und das andere weiblich ist. Es ist dem männlichen Ende möglich, sich mit dem weiblichen Ende eines anderen Regenwurms zu paaren. Ebenso kann sich das weibliche Ende des Regenwurms mit dem männlichen Ende des anderen Regenwurms paaren. Wenn der Regenwurm aber allein ist, hindert ihn nichts daran, sich mit sich selbst zu paaren, und das tut er auch.

Wenn menschliche Lust und Sexualität auf tierisches Niveau herabgedrückt werden sollen, warum dann nicht auf das Niveau des Regenwurms? Wenn menschliche Sexualität nichts als die Befriedigung eines animalischen Triebes ist, dann ist es doch nur von Vorteil, die vielfachen Möglichkeiten jener schleimigen Kreatur zu besitzen, deren Zwitterhaftigkeit weit über unsere schwachen Versuche mittels Mode und Frisuren hinausgeht.

Aber selbstverständlich kann und darf man die menschliche Sexualität nicht auf einen tierischen Instinkt reduzieren. Menschliche Leidenschaft ist mehr als bloß animalische Wollust. Was sie ist und inwiefern sie mehr ist, muß man verstehen und beachten. Liebe in all ihren Aspekten, sogar auf dem «animalischsten» Niveau schierer Wollust, ist immer von jenem Außerordentlichen beeinflußt, das als menschliche Vorstellungskraft bekannt ist. Sie ist die Sensibilität, die menschliche Liebe in etwas verwandelt, das über Paarung oder mütterliche Fürsorge hinausgeht, etwas Magisches und einzigartig Menschliches.

 

Romantische Liebe ist sexuell beeinflußt, doch sie wird durch die menschliche Phantasie in etwas verwandelt, das die Möglichkeiten höherer Primaten übersteigt, von den Regenwürmern ganz zu schweigen. Am extremsten wird das in der kostbaren Erfahrung der ersten Liebe empfunden, die Turgenjew mit einer Revolution vergleicht:

«Sanin und Gemma waren zum ersten Mal verliebt, und alle Wunder der ersten Liebe geschahen für sie. Die erste Liebe ist genau wie eine Revolution: Die regelmäßige und etablierte Ordnung des Lebens wird in einem Augenblick in Stücke geschlagen; die Jugend steht auf der Barrikade, ihr helles Banner hoch in die Luft erhoben, und sendet ihre ekstatischen Grüße an die Zukunft, was immer sie auch bereithalten mag – Tod oder ein neues Leben, ganz gleich.»[7]

Was hat all das mit sexuellem Appetit zu tun? Natürlich wird die romantische Liebe durch diesen Appetit ausgelöst, aber wir wagen nicht, Liebe auf den Trieb oder animalischen Appetit zu reduzieren. Betrachten Sie die folgende Szene und versuchen Sie, sich etwas vorzustellen, das bei irgendeinem anderen Geschöpf dieser Erfahrung auch nur nahekäme. In Mark Helprins Roman Winter’s Tale (Wintererzählung) liegt Beverly Penn im Sterben. Sie wird von einer Leidenschaft verzehrt, die sie für sexuellen Appetit hält. Peter Lake ist in ihr Haus eingebrochen, um ihr ihre Reichtümer zu rauben. Er sieht erstaunt zu, wie sie, statt sich zu wehren, «die Spange von dem Handtuch löste, in das sie eingewickelt war, und sich, während sie sich in die Kissen zurücklehnte, als müsse sie sich einer medizinischen Untersuchung unterziehen, selbst entblößte. Sie atmete schwer – ein fiebriges Atmen – und starrte geradeaus vor sich hin.» Sie weist ihn an, mit ihr zu schlafen.

«‹Wenn du nicht mit mir schläfst›, sagte sie, ‹dann wird es wohl nie jemand tun. Ich bin achtzehn. Ich bin noch nie auf den Mund geküßt worden. Ich kenne niemanden, weißt du. Es tut mir leid. Aber ich habe nur noch ein Jahr.› Sie schloß die Augen …

Er zog sie herüber, drehte sie um und begann, ihre Stirn und ihr Haar zu küssen. Zuerst war sie so schlaff und schockiert wie jemand, der aus großer Höhe zu fallen beginnt. Es war, als sei ihr Herz stehengeblieben.

Mit Zuneigung hatte sie nicht gerechnet. Das verblüffte sie. Er küßte ihre Schläfen, ihre Wangen und ihr Haar und streichelte ihre Schultern so zärtlich, als sei sie eine Katze. Sie schloß die Augen und weinte, sehr zufrieden mit den Tränen, die sich ihren Weg durch einen dunklen Vorhang bahnten und über ihr Gesicht liefen …

Er sprach stundenlang zu ihr. Er verausgabte sich mit Sprechen. Sie lehnte sich in die Kissen zurück, erfreut, in seiner Gegenwart nackt zu sein, entspannt, ruhig, lächelnd. Er sprach über Hügel. Er sprach über Gärten. Was er sagte, war so freundlich, so stark, so voller Kontrapunkte und Rhythmen, daß er nicht ganz sicher war, ob er nicht vielleicht sang. Und lange ehe er leer geredet und erschöpft war, hatte sie sich in ihn verliebt.»[8]

Beverly hatte sich verliebt, ohne daß er je mit ihr geschlafen hätte. Sie war durch Zuneigung verführt worden, die sanfteste Komponente des Amalgams namens Liebe, eines Amalgams, das ebenso einzigartig menschlich ist wie Sprache und Literatur. Diese Szene macht mehr als eine bloße Beschreibung deutlich, wie trügerisch es ist, menschliche Liebe mit einem Instinkt oder Trieb gleichzusetzen.

Für all jene, die Freud vielleicht für den Begründer eines Kultes um die Liebe halten, ist es wohl eine überraschende Entdeckung, daß Liebe als Konzept in der psychoanalytischen Theorie kaum vorkommt; das Wort «Liebe» wird selten benutzt. Wenn Beziehungen zwischen Menschen wissenschaftlich untersucht werden – was nicht oft geschieht, da die modernen Freudianer sich mehr um intrapsychische Phänomene kümmern als um zwischenmenschliche –, ist die Rede von «Verbindungen». Indem sie ein Wort wie «Verbindungen» benutzen, erhalten die Psychoanalytiker wissentlich oder unwissentlich eine Getrenntheit aufrecht, die der Definition widerspricht, welche ich von der Liebe geben will. Kletten verbinden sich. Menschen tun mehr als das.

«Zwischen zwei Menschen ist die Liebe selbst das Wichtige, und das ist weder er noch du. Es ist ein Drittes, das du schaffen mußt», schrieb D.H. Lawrence.[9] Mein Argument ist, daß die Liebe dieses «Dritte» schafft. Die Verschmelzung zweier Liebender, mit der Zeit intensiviert, reißt die Schranken des Ego ein und verbindet zwei getrennte Selbstgefühle zu einer gemeinsamen Identität.

Die alten Christen kamen der Entdeckung und Benennung des Phänomens der Verschmelzung in der Liebe näher. Ihnen aber ging es um die Liebe des Menschen zu Gott. Da sie sich der Aufforderung des Augustinus bewußt waren, der eine klare Trennung zwischen der Natur Gottes und der Menschheit forderte, und fürchteten, der Häresie beschuldigt zu werden, fanden sie eine Lösung, indem sie sich auf den «Klebstoff der Liebe» bezogen. Beim heiligen Bernhard von Clairvaux heißt es:

«Die Vereinigung zwischen Gott und Mensch erfolgt nicht durch die Vermischung der Naturen, sondern durch Übereinstimmung des Wollens. Mensch und Gott können, weil sie nicht von der gleichen Substanz oder Natur sind, nicht als ‹eins› bezeichnet werden; aber man nennt sie vollkommen zutreffend einen Geist, wenn sie mit dem Klebstoff der Liebe aneinander hängen. Diese Einheit wird jedoch nicht durch Übereinstimmung des Wesens bewirkt, sondern durch das Zusammenfließen des Wollens. Weil Gott und Mensch existieren und getrennt sind, ihren eigenen Willen und ihre eigene Substanz haben, wohnen sie ineinander, nicht in der Substanz vermischt, sondern übereinstimmend im Wollen.»[10]

Mann und Frau jedoch sind nicht von verschiedener Natur und verschiedenem Wesen, und vielleicht sollten wir heute die romantische Liebe neu betrachten in den Begriffen der Verschmelzung, die in der religiösen Liebe ihrer christlichen Vorgänger verleugnet wurde. In der menschlichen Liebe gibt es eine «Übereinstimmung des Wesens»; wir sind «in der Substanz vermischt».

Irving Singer erörtert in seinem unschätzbar wertvollen Buch The Nature of Love (Die Natur der Liebe) die Möglichkeit der Verschmelzung zwischen Menschen und weist den Gedanken zurück:

«Die Vorstellung, Menschen könnten miteinander verschmelzen, ist jedoch eine seltsame Idee, trügerisch und verwirrend. Im Alltagsleben erkennen wir, daß die Erfahrung einer Person etwas mit der einer anderen gemeinsam haben kann … Aber wir würden normalerweise nicht von Verschmelzung unserer Persönlichkeiten sprechen, davon, eins zu werden. Wir sind deutlich getrennte Individuen, jedes lebt sein eigenes Leben, jedes ist für das verantwortlich, was es tut …

Nehmen wir an, das Konzept der Verschmelzung sei sinnvoll. Wie jedoch könnte Verschmelzung zustande kommen in der Welt, die wir kennen? Durch magische Mittel.»[11]

In der biologischen und psychologischen Welt, die mein Ausgangspunkt ist, gibt es keine Kreatur wie das «deutlich getrennte Individuum»; menschliche Wesen sind kollektive Geschöpfe, und die Verschmelzung oder Fusion, wie ich lieber sage, ist möglich durch die «Magie», die dem psychoanalytischen Begriff der Identifikation innewohnt. Später werde ich beschreiben, warum die Liebe durch den Reduktionismus von Freuds früher Libidotheorie ihrer romantischen Elemente entkleidet wurde und wie wir heute der Romantik den ihr zustehenden Platz in der Liebe wiedergeben können, ohne auf wesentliche psychoanalytische Annahmen zu verzichten. Dies ist möglich, wenn man von ausgefeilteren zeitgenössischen psychoanalytischen Konzepten der Identifikation ausgeht. Die Idee einer nicht magischen und nicht psychotischen Fähigkeit zur Verschmelzung unserer Identität mit der eines geliebten anderen wird ein zentraler Gedanke dieser Erörterung sein.

Das romantische Element muß dem modernen Leben zurückgegeben werden. Unsere Beziehungen brauchen es, damit die menschliche Liebe ihre zentrale Stellung in der menschlichen Erfahrung zurückgewinnt. Außerdem muß unsere Zeit die Romantik wiederentdecken, um das wachsende Gefühl von Isolation, Ziellosigkeit und Langeweile zu überwinden. Wir brauchen etwas, um der Alltagsexistenz einen Sinn zu geben, den sie heute offenbar nicht mehr hat, seit sie ihre fundamentalistische religiöse Rolle als Übergang in ein besseres Leben nach dem Tode eingebüßt hat. Wir haben unsere Hoffnungen auf den Himmel verloren. Wir brauchen heute eine gute neue Geschichte, einen Sinn im Alltag – besonders in einem Alltag, der für die meisten von uns mit großem Zeitaufwand für routinemäßige und mechanische Dinge verbunden ist. Wir brauchen ein neues Evangelium für das Hier und Jetzt. Wir haben versucht, es in uns selbst zu finden. Doch das individuelle Selbst ist ein enger und einsamer Ort. Wir müssen es vereint mit anderen finden. Ich bin überzeugt, daß es durch Liebe und Verpflichtung zu entdecken ist.

In Androklus und der Löwe stehen Shaws tiefste Aussagen über Glauben und Verpflichtung. Lavinia, die christliche Märtyrerin, ist entschlossen zu sterben. Der Hauptmann, der in sie verliebt ist, tut sein möglichstes, um sie zu überreden, die vom römischen Staat geforderte Bekehrung zum Schein zu vollziehen. Er sagt ihr, es sei nicht nötig, daß sie wirklich glaube, sie brauche es nur zu behaupten, denn schließlich glaube auch er in Wirklichkeit «nicht an Jupiter und Diana, genausowenig wie der Kaiser oder irgendein gebildeter Mensch in Rom».

Sie antwortet dem Hauptmann, das, was man als ihren Glauben hätte bezeichnen können, sei «Minute um Minute dahingeschwunden, während ich hier saß und der Tod näher und näher kam, die Wirklichkeit wirklicher und wirklicher wurde und die Geschichten und Träume sich in nichts auflösten».

 

«HAUPTMANN:

‹Wirst du für nichts sterben?›

LAVINIA:

‹Ja, das ist das Wunderbare. Seit all die Träume und Geschichten verschwunden sind, habe ich jetzt keinen Zweifel mehr daran, daß ich für etwas sterben muß, das größer ist als Träume und Geschichten.›

HAUPTMANN:

‹Aber für was?›

LAVINIA:

‹Ich weiß es nicht. Wenn es etwas wäre, das klein genug ist, um gewußt zu werden, dann wäre es zu klein, um dafür zu sterben.›»[12]

 

Die tiefsten Aspekte des menschlichen Lebens widersetzen sich letztlich der absoluten Definition und werden nur durch jene Kombination aus Lernen und Erfahrung verstanden, die der amerikanische Philosoph und Psychologe William James als «Kenntnis von» und «Wissen um» bezeichnete. Wenn die Natur der Liebe in irgendeinem einzelnen Buch oder einer individuellen Philosophie erfaßt werden könnte, dann hätten wir nicht die vielen tausend Bücher, Gedichte, Romane, die Philosophien und Fiktionen, die die Literatur über die Liebe ausmachen. Doch weitere Bücher werden über die Natur und die Erfahrung der Liebe geschrieben werden. Das richtige «Wissen um die Liebe» ist entscheidend, um uns in die Lage zu versetzen, das Versprechen der Erfahrung einzulösen.

In der Psychoanalyse untersuchen wir, woher wir kommen, nicht nur, um zu erfahren, wohin wir gehen (in den Augen der Existentialisten gehen wir nirgends hin), sondern auch, um die Erfahrung der Gegenwart zu verstärken. Das, was uns bewußt ist, ist die Gegenwart mit ihren Befriedigungen oder Frustrationen, den Erwartungen und den Realitäten, dem eingelösten oder gebrochenen Versprechen. Das Gefühl der Lieblosigkeit, der Lustlosigkeit und der Sinnlosigkeit des modernen Lebens greift immer mehr um sich. Es besteht ein verzweifeltes Bedürfnis, die Erfahrung der Liebe neu zu untersuchen.

Wenn die Psychoanalyse teilweise zur Vernachlässigung des Gefühlslebens im allgemeinen, des Konzepts der Lust im besonderen und vor allem des Prinzips von Liebe und Verpflichtung beigetragen hat, dann ist es zwingend notwendig, daß wir Psychoanalytiker die Einsichten benutzen, die uns unwissentlich in diesen Zustand gebracht haben, um uns wieder aus der Dunkelheit herauszuführen. Es ist wichtig, auf psychoanalytische Weise über die Liebe nachzudenken – nicht über «Besetzungen», «Bindungen» oder «Objektbeziehungen», sondern über die Liebe. Dabei werden wir die Romantik wiederentdecken.

2. Das Bedürfnis nach Liebe

In den Prämissen der Psychoanalyse kommt der Zufall als bestimmender Faktor menschlichen Verhaltens kaum vor. Es ist kein «Zufall», daß ich mein Plädoyer für die Liebe mit der Suche nach ihren biologischen Wurzeln beginne. Die Biologie wird für diejenigen von uns, die in dieser Disziplin ausgebildet sind, oft zu einer Form von Religion, vor allem, wenn die betreffende Person an keine traditionelle Religion gebunden ist. In dieser Religion ist der Homo sapiens der geheimnisvolle und wunderbare Gott, in dessen Dienst wir uns abmühen und aus dessen Wundern wir Inspiration und Erregung beziehen. Die meisten der wesentlichen modernen Einflüsse auf mein Denken gingen von biologisch ausgebildeten Autoren aus.[13] Ich lasse hier für den Augenblick die indirekte, aber tiefe Beeinflussung durch die Literatur außer acht. Ich sehe die Wirkung der Biologie auf meine Gedanken, auf meine Werte und meine ungeprüften Annahmen, wie ich die Wirkung meiner natürlichen Eltern und meiner kulturellen Vorgänger sehe.

Außerdem formt die Ausbildung in moderner Medizin die jungen Ärzte in einer Weise, die ihr Denken unweigerlich von dem jener unterscheidet, die hauptsächlich in Philosophie, Soziologie oder Psychologie ausgebildet wurden. Im Verlauf des Medizinstudiums erfahren sie die Größe und die Zerbrechlichkeit unserer Spezies. Durch ihre Unwissenheit kann ihnen das Unheil zustoßen, daß ein Patient sein Leben verliert, und durch ihr Wissen können sie die transzendente Freude erfahren, ein Leben zu retten. Beides habe ich erlebt, und ich werde mich bis zu meinem Todestag an die Einzelheiten beider Geschehnisse erinnern. Mein Bezugsrahmen ist im wesentlichen medizinisch, und die allgemeinen Annahmen, die meine Argumentation prägen, sind von diesem Modell abgeleitet.

Von Anfang an ist es entscheidend zu begreifen, daß Liebe keine Verschönerung des Überlebens und auch keine Verfeinerung der conditio humana ist. Sie ist nicht der Zuckerguß auf dem Kuchen; sie ist der Kuchen – oder, um genauer zu sein, einer seiner wesentlichen Bestandteile. Liebe ist notwendig, um menschliches Leben zu erhalten, und darüber hinaus ist sie auch notwendig, um die spezifisch menschlichen Eigenschaften dessen zu sichern, das überlebt.

Um zu überleben, brauchen menschliche Wesen Wärme, Wasser, Sauerstoff, einen Brennstoff, der sie mit Energie versorgt (die Kalorienzufuhr durch die Nahrung), gewisse spezifische Grundelemente (Vitamine, Spurenelemente, Salze, Aminosäuren und dergleichen) – und Menschen. Und zwar nicht irgendwelche Menschen. Wie ich gleich ausführen werde, müssen es fürsorgliche oder liebende Menschen sein. Der menschliche Säugling muß ohne fürsorgliche Erwachsene sterben, und um die spezifisch menschliche Fähigkeit zu entwickeln, fürsorglich und liebevoll zu sein, muß das Baby in seinen ersten Lebensjahren ein Minimum dieser Eigenschaften erfahren haben.[14]

Um das Bedürfnis nach Liebe zu verstehen, muß man einige Merkmale unserer biologischen Natur betrachten, die uns von niedrigeren Lebewesen unterscheiden. Die meisten von uns haben wenig Gelegenheit, ihre Funktionen zu studieren, außer wenn diese zu arbeiten aufhören. Wir halten das Wunder, das der menschliche Körper ist, und den Zauber, der in seinen Möglichkeiten liegt, für selbstverständlich. Wenn ich eine so einfache Tätigkeit wie das Gehen beschreiben sollte, würde das sechs bis acht Seiten füllen. Die meisten von uns vollziehen den komplizierten Wechsel von Beugung und Streckung der Muskeln, Gelenke und Gliedmaßen, die Neuanpassung der Gleichgewichte, ohne darüber nachzudenken. Schließlich kann vom Krabbelalter an aufwärts «jeder» gehen. Die menschliche Fortbewegung wird als normal akzeptiert, da man nicht gewohnt ist, alltägliche und überall anzutreffende Fähigkeiten als wunderbar anzusehen. Wenn ein Mensch durch einen Schlaganfall oder eine Verletzung einen Schaden an seiner normalen Bewegungsfähigkeit erleidet und versucht, das Gehen neu zu «lernen», dann wird er sich der außerordentlichen und komplizierten Schritte bewußt, die gleichzeitig unternommen werden müssen.

Die Fortbewegung zählt kaum zu den höheren Funktionen und ist auch keine nur dem Menschen eigene Fähigkeit. Der aufrechte Gang hat eine besondere Bedeutung, da er unsere Hände für den Gebrauch von Werkzeugen und Waffen freimacht. Doch unsere Fortbewegung ist nicht komplizierter als die des Tümmlers oder des Ozelots. Es gibt jedoch Attribute, die so ausschließlich ein Produkt unserer Spezies und so besonders in ihren Anwendungen sind, daß sie die Menschen aus dem Kontinuum von der Amöbe bis zum Affen herausheben, das das Tierreich definiert. Der Mensch ist nicht der König der Tiere; er ist ein Wesen, das außerhalb und über dem Tierreich steht.

In einem naturwissenschaftlichen Zeitalter ist es eine natürliche Neigung, uns selbst nur als einen Teil der Welt der Lebewesen anzusehen.[15]