Von hinten - Beatrice Cuoni - E-Book

Von hinten E-Book

Beatrice Cuoni

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Beschreibung

Die Autorin orientierte sich schon immer gerne an der Weisheit von Erfahrenen. Sie war „anfällig für Ratschläge von alten Füchsen“. In ihrem zweiten Buch berichtet sie über eigene Erfahrungen in ihrer Lehrtätigkeit, über jugendlichen Leichtsinn und stellt sich auch dem Thema Endlichkeit. Dabei hält sie Rückschau auf Menschen, deren Fussstapfen wegweisend für sie waren oder sind. Mit ihren Portraits erschuf sie ein Welttheater im Taschenformat. Es gibt darin Platz für Nachdenkliches, Schräges, Poetisches. Menschliche Stärken und Schwächen bekommen ihren Auftritt. Sprachwitz sorgt dafür, dass das Schmunzeln nicht zu kurz kommt.

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Sitz im Zug. Fahre rückwärts der Zukunft entgegen. Seh laufend entschwinden das Hier und das Jetzt.

Inhalt

Wegweiser

La verità

Am Gartentor

Bewährung

Durchs hohe Gras

Hochwasser

Yilmaz

Entladung

Abkaufen

Jedes Mal

Ehrlich

Aus den Augen

Verschwunden

Inkognito

Der Kniefall

Telephobie

Unverbindlich

Die letzte Würde

Amänd

Notre Dame

Der Weihnachtskaktus

In dulci dubio

Schonzeit

Von hinten

Wegweiser

Fragte man mich zu gegebener Zeit, was ich denn gerne werden möchte, zeigte ich mich unentschlossen. Nur, was ich nicht werden wollte, konnte ich mit Bestimmtheit sagen: Lehrerin. Nicht, dass ich vorwiegend schlechte Erinnerungen an meine Schulzeit gehabt hätte, bewahre! Das Gros meiner Lehrpersonen war in Ordnung. Für einige von ihnen hatte ich sogar richtiggehend geschwärmt. Zwei davon können von Glück reden, dass ich mich an dieser Stelle nicht über sie auslasse. Ein Durchschnittsprofil also, wie es wohl die meisten für sich beanspruchen können.

Dass ich das schulmeisterliche Berufsfeld nicht in die engere Wahl miteinbeziehen wollte, hatte einen anderen Grund. Im Jungmädchenbuch, das ich zu Weihnachten bekommen hatte, gab es einen Beitrag mit dem Titel Lehrerin, um Himmels willen! Darin schilderte eine deutlich Gebrandmarkte ihre prägenden Erlebnisse. Obwohl man den Ausführungen einen gewissen Humor nicht absprechen konnte, zementierten sich in meinem Kopf Vorurteile. Es schien mir angezeigt, einen grossen Bogen um diese Option zu machen.

Nachdem ich mir künstlerische Ausrichtungen wie Schauspielerin, Silberschmiedin etc. aus dem Kopf schlagen musste – alles Hungerberufe, also nichts für mich, befanden meine Eltern – landete ich beim Berufsberater. Dieser fühlte sich ausserstande, meine Fähigkeiten zu erkennen, geschweige denn, sie zuzuordnen. Auf meine Bemerkung hin, dass ich gerne weiterhin die Schulbank drücken würde, gab er mir am Ende seines Lateins den Tipp von der Töchterschule. Gedacht war diese als Vorbildung für angehende Kindergärtnerinnen, Hauswirtschaftslehrerinnen, Sozialarbeiterinnen und was der betont weiblichen Berufsgattungen mehr waren. Entschlossen oder vielmehr unentschlossen meldete ich mich dort an und schaffte die Eintrittsprüfung.

In der allerletzten Religionsstunde des letzten Schuljahres wollte der Pfarrer wissen, wie es mit uns weitergehen solle. Statt mir zu meinem Prüfungserfolg zu gratulieren, wie er es bei andern schliesslich auch tat, zeigte er sich irritiert und bat mich am Ende der Stunde zu sich. Sobald meine Mitschüler ausser Sichtweite waren, polterte er los: Das, was ich da vorhätte, sei nichts für mich. Eine Warteschlaufe für Töchter von vermögenden Eltern sei das. Ins Seminar gehöre ich. Lehrerin müsse ich werden. Ganz klar für ihn! - Für mich durchaus nicht, hätte ich noch anfügen wollen, liess es aber bleiben und machte mich mit dem Verdikt auf den Heimweg.

Die Überzeugung des Pfarrers setzte mir zu. So sehr, dass ich an meiner Entscheidung zu zweifeln begann. Vorsichtig bereitete ich meine Eltern auf eine mögliche Kursänderung vor. Ein Jahr lang würde ich also diese Diplommittelschule besuchen und mich zugleich auf die Aufnahmeprüfung ins Seminar vorbereiten. Ein Umweg, der für meine Eltern klar mit Mehrkosten verbunden war. Weil aber das Wort des Pfarrers auch für sie grosses Gewicht hatte, nahmen sie mir diesen Gesinnungswandel nicht in dem Masse übel, wie ich befürchtet hatte.

Erleichternd für mich war, dass wir von der Töchterschule im selben Gebäude wie die Seminaristinnen einquartiert waren und zum Teil die gleichen Lehrpersonen hatten. Das Wichtigste, um nicht zu sagen Zukunftsweisende aber wurde meine dortige Begegnung mit Lena. Unter diesem, ihrem Vornamen, war sie uns geläufig. Natürlich, ohne dass wir uns erdreistet hätten, sie damit anzusprechen. Rein schon ihr Doktortitel flösste uns die gebührende Ehrfurcht ein.

Lena war unsere Italienisch-Lehrerin. Diese Sprache war neu für mich wie alles an dieser Schule. Nach ein paar Jahren Latein hatte ich mich entschlossen, dem Idiom der modernen Römer den Vorzug zu geben. Ob diese schon etwas angejahrte Dame meine Begeisterung dafür zu wecken imstande wäre? Sie war – und wie! Nicht nur in der folgenden Lektion, die mir als Beispiel in lebhafter Erinnerung geblieben ist.

Beim Eintritt ins Klassenzimmer waren die Rollladen unten. Kunstlicht empfing uns. In einer Ecke hantierte Lena an einem Gegenstand herum, der unter einem Tuch verborgen war. Mit ihrem gewohnt schmelzenden „Buon giorno!“ wandte sie sich an uns. Eine Reise nach Venedig stehe heute an, verkündete sie. Ohne Rücksicht darauf, dass es früher Morgen war, verschoben wir unsere Ankunftszeit in der Lagunenstadt auf den Zeitpunkt der Dämmerung: weil es dann am romantischsten sei. Mit dem Ausmachen des Lichts liessen sich unsere Sinne auf die Dunkelheit ein. Wie von Zauberhand kam aus der Ecke, soweit das Kabel reichte, eine Gondel auf uns zu. Mit farbiger Lichterkette, darunter ein Liebespaar plus der unvermeidliche Gondoliere, so kitschig, dass wir anfangs mehr grinsten als sangen. Vieni sulla barchetta! Mit jeder Strophe tönte es inniger. Bilder von bekannten Sehenswürdigkeiten wurden herumgereicht, kommentiert. Je mehr Lena erzählte, desto stärker wuchs uns der Traum von dieser Stadt ans Herz. Und der poetische Höhepunkt, das Gedicht Venezia hat sich mir in diesem stimmigen Umfeld so tief eingeprägt, dass ich es jederzeit aus dem Stand vortragen könnte. Con moto – klar doch!

Ein Jahr später. Wechsel ins Seminar. Gleiches Gebäude. Gleiches Fach. Andere Lehrerin. Auch sie eine ältere Dame mit Doktorwürde, welche jede Lektion mit dunque begann. „Also …“. Unter dieser Einführung listete sie auf, was wir vorherige Woche gelernt hatten, machte womöglich ein paar Stichproben und hielt Ausschau auf die neuen Strukturen. Grammatik vom Trockensten. Der Geist erschlaffte, während die Seele auf der Strecke blieb. Ich legte meine Begeisterung ad acta und trauerte um Lena.

Etwas Gutes hatte die Gegenüberstellung doch. Als angehende Lehrerin wusste ich nun, welchem Ideal es nachzueifern galt. Jahrzehnte später ist folgendes Gedicht entstanden. Es gründet auf eine unscheinbare Begegnung in einer italienischen Stadt. Ich habe es Lena gewidmet, weil ich sicher bin, dass sie ihre helle Freude daran gehabt hätte.

La verità

Ha detto mia mamma

che mordono gli uomini,

soprattutto

di notte in città.

Fanciulla, ho pensato,

va fuori a provare

quanto vale

quella sua verità.

Un uomo s’ avvicina.

A voce bassa

dice “Bella”,

allora se ne va.

Senz’ altro disparisce.

Rimane la parola

di farfalla

cioè felicità.

Mi ricordo sorridendo,

ho conservato la parola.

Ne ho bisogno

come miele per l’età.

Die Wahrheit

Meine Mutter hat gesagt,

dass Männer beissen,

besonders nachts

in der Stadt.

Mädel, hab ich gedacht,

geh und ergründe,

was sie taugt,

ihre Wahrheit.

Ein Mann nähert sich.

Mit tiefer Stimme

sagt er „Schöne“

und geht weiter.

Vorbei und weg ist er.

Mir bleibt das Wort

des Falters,

bedeutet Glück.

Besinne mich lächelnd,

hab’s aufgehoben

dieses Wort

als Honig für das Alter.

Am Gartentor

Dass ich spätabends aus dem Haus gegangen wäre, hätte meine Mutter nie erlaubt, der Vater natürlich auch nicht. Die Nonnen hingegen, unter deren Obhut ich während meiner Ausbildung stand, schon. Natürlich mit Mass und unter Einhaltung bestimmter Regeln, versteht sich. Eine dieser Abmachungen war, dass wir mindestens zu zweit unsere Schutzzone verlassen und uns in möglichst gleicher Formation zu vorgegebener Zeit wieder einfinden sollten. Nach einem Klassenfest nun reizte es meine Kollegin und mich, das System auf die Probe zu stellen.

Es war empfindlich nach Mitternacht, als das schmideiserne Gartentor unsere Rückkehr akustisch quittierte. Sinngemäss hätten wir jetzt mäuschenstill auf leisen Sohlen ins Haus schleichen sollen. Doch diesmal stach uns wie gesagt der Hafer. Wir blieben beim Gartentor stehen und begannen den Abschiedsdialog eines Liebespaares zu inszenieren. Während die Kollegin in ihrer gewohnten Stimmlage säuselte, versuchte ich mich als Bass. Wir kamen nicht weit über die Ouvertüre hinaus, als das Licht anging.

Noch heute frage ich mich, ob Klosterfrauen sich in ihrer vollen Tracht zu Bett begeben oder ob die Schwester Oberin aus Besorgnis unseretwegen Nachtwache geschoben hatte. Jedenfalls wunderten wir uns gebührend, dass sie es so kurzfristig geschafft hatte, in vollem Ornat aufzukreuzen. Wo denn unser Begleiter sei, der mit der tiefen Stimme, wollte sie wissen. Wir bemühten uns, so unschuldig wie möglich dreinzublicken. Heisse Wangen kriegte ich erst, als die geweihte Dame sich anerbot, mir eine Tasse Kräutertee zu machen. Irgendwie bekomme das Festen meiner Stimme nicht gut, meinte sie. So rau habe sie mich auf jeden Fall noch nie sprechen gehört. Eins zu null für die augenzwinkernde Nonne. Was das Überwachungssystem betraf, konnten unsere Eltern ruhig sein: Wir waren in guten Händen.

Das chunnt dervo, das chunnt dervo,

wenns Gartetürli giiret.

Es het scho mängem heimli so

der Ärmel ine g’liiret.

Dieser Kehrreim ist mir beim Niederschreiben der Episode in den Sinn gekommen. Er entstammt der Feder eines ehemaligen Lehrers von mir. Herr F. hat in seinem Gedicht vom Gartetürli die Tücke des Objekts für spät Heimkehrende humorvoll beleuchtet. Da er die meisten seiner Verse in Mundart verfasste, stand ihm für das Geräusch eines Scharniers, das seit längerem nicht mehr geölt worden ist, das treffende Wort zur Verfügung: es giiret. Wie so oft war ich ausserstande, im Hochdeutschen eine überzeugende Entsprechung zu finden.

Natürlich hat auch dieser Lehrer einen Ehrenplatz in der Galerie meiner Vorbilder bekommen. Zwar war er streng und geizte nicht mit Strafaufgaben, doch er wusste viel und konnte Sachverhalte auf spannende Weise vermitteln. Nicht wenige seiner Lektionen fanden im Freien statt, wo er uns die Natur und Geschichte unserer Heimat anschaulich erfahren liess. Und eben seine Freude am Verseschmieden. Damit traf er bei mir eine gleichlaufende Ader.