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Unser Bild des Mittelalters ist bis heute stark geprägt von der traditionellen Befreiungsgeschichte mit Tell, Rütlischwur und Burgenbruch sowie der Erbfeindschaft zu den Habsburgern. Die Geschichtsforschung hat in den letzten 50 Jahren diese Begriffe in ihrer Bedeutung hinterfragt, relativiert und neu eingeordnet. Sie hat Mythen von Geschichte getrennt und ihre je eigene Bedeutung herausgearbeitet.Der kurz gefasste Überblick zur Entstehung der Eidgenossenschaft fehlt aber. Nach seinem Aussenblick auf die Eidgenossenschaft über die habsburgische Geschichte der Schweiz (2008) breitet der Autor diesmal das aktuelle Wissen zur Entstehung der Eidgenossenschaft im Spätmittelalter von innen aus. Dies vor dem Hintergrund der traditionellen Erzählung. Referenz dabei sind die Schweizer Chroniken von Aegidius Tschudi und Johannes Stumpf aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, die das traditionelle Bild der Schweizer Geschichte bis weit ins 20. Jahrhundert geprägt haben. Dabei entsteht nicht eine neue Erzählung, aber eine Übersicht über die entscheidenden Faktoren, die zur Bildung und Weiterentwicklung der Eidgenossenschaft geführt haben.
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Seitenzahl: 311
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Vorwort
Prolog: Eine neue Verbindlichkeit – die Beschwörung der Bündnisse nach dem Alten Zürichkrieg
1
Die Legende von der alten Freiheit – Mittelland und Alpenraum im frühen 13. Jahrhundert
2
Königsdienst und Reichsfreiheit – die Waldstätte im 13. Jahrhundert
3
1291 – ein Wendepunkt?
4
Landleute und Täler – die Reichsvogtei Waldstätte 1308/09
5
«Hütet euch am Morgarten» – Könige, Adel, Klöster und Länder im Widerstreit
6
Ein Brudermord mit Folgen – Bern zwischen Habsburg, den Waldstätten und Savoyen
7
Ein Wechsel auf Zeit? Zürich zwischen den Waldstätten und Habsburg-Österreich
8
Viehzüchter und Händler als neue Herren – der Adel auf dem Rückzug
9
Eine Wende bei Sempach? Städte und Länder im Vorwärtsdrang
10
Chaos am Bodensee – die habsburgische Landesherrschaft in Auflösung
11
Untertanen statt Landleute – die ersten Gemeinen Herrschaften
12
Ein schwieriges Erbe bringt Streit – Zürich, Habsburg und Schwyz im Dreieck
13
Ein Friede auf ewig – die «Ewige Richtung» als Versuch eines definitiven Friedensschlusses
14
Viel Konfliktpotenzial im Innern – Stanser Verkommnis, Freiburg und Solothurn
15
Bereinigungen an Hoch- und Alpenrhein – Schwabenkrieg, Basel und Schaffhausen
16
Zwischen Marignano und der Reformation – Soldverträge als Aussenpolitik
Epilog: Eine gemeinsame Geschichte – die Befreiungstradition im Spiegel der Geschichtsschreibung
Nachwort
Anhang
Glossar
Zeittafel
Anmerkungen
Ausgewählte Quellen und Literatur
Orts- und Personenregister
Freiheit, Unabhängigkeit, Volksherrschaft und Neutralität sind Begriffe, die das Schweiz-Bild von innen und aussen bis heute stark prägen und im politischen Diskurs eine hohe Bedeutung haben. Diese Begriffe sind im schweizerischen Geschichtsverständnis nach wie vor mit der älteren Geschichte verbunden, mit der Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft, obwohl sie in ihrer realen Bedeutung viel mehr mit der Entwicklung zum Bundesstaat im 19. Jahrhundert zu tun haben. Die Geschichtsforschung hat in den letzten 50 Jahren diese Begriffe in ihrer Bedeutung hinterfragt, relativiert und neu eingeordnet. Sie hat Mythen von Geschichte getrennt und ihre je eigene Bedeutung herausgearbeitet. Die Mythenzerstörer der 1970er-Jahre sind heute bereits im Pensionsalter oder verstorben. Und trotzdem ist dieses alte Geschichtsbild von den freiheitsdurstigen Innerschweizern, die sich ihre Unabhängigkeit gegen die bösen Vögte erkämpft und den Grundstein für die heutige Schweiz gelegt haben sollen, nach wie vor stark in der Öffentlichkeit präsent.
Auf den folgenden Seiten soll dieses traditionelle Geschichtsbild einer kritischen Befragung nach dem Stand des heutigen Wissens unterzogen werden. Ein Geschichtsbild, das geprägt ist von der erstmaligen Niederschrift der Befreiungsgeschichte im Weissen Buch von Sarnen um 1470, das vom Glarner Politiker und Humanisten Aegidius Tschudi (1505–1572) Mitte des 16. Jahrhunderts in seine endgültige Form gebracht wurde. Tschudi hatte schon früh eine politische Karriere in Glarus und auf eidgenössischer Ebene eingeschlagen. Parallel zu seiner politischen Tätigkeit betrieb er ausgedehnte historische Studien, die schliesslich in der 1572 abgeschlossenen Reinschrift des Chronicon Helveticum mündeten, das aber erst im 18. Jahrhundert publiziert und einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde. Und sein Wissen floss in die 1548 gedruckte Chronik seines Zeitgenossen Johannes Stumpf ein. Tschudis Geschichtsbild bereitete der Schaffhauser Geschichtsschreiber Johannes von Müller (1752–1809) Ende des 18. Jahrhunderts für eine breite Leserschaft auf. Es wurde vom Dichter Friedrich Schiller (1759–1805) im Jahr 1804 dramatisiert und vom Komponisten Gioachino Rossini (1792–1868) im Jahr 1829 vertont und popularisiert. Die neu entstehende wissenschaftliche Geschichtsforschung des 19. Jahrhunderts, die die urkundliche Überlieferung in den Vordergrund stellte, hat das Bild von der Befreiungsgeschichte mit Tell, Rütlischwur und Burgenbruch in Frage gestellt. Der Historiker Wilhelm Oechsli (1851–1919) formulierte auf dieser Grundlage im Jahr 1891 in offiziellem Auftrag des Bundes die Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft neu und legte damit die Basis zum heutigen Bundesfeiertag. Sein Fachkollege Karl Meyer (1885–1950) fügte dieses Bild schliesslich vor dem Hintergrund der äusseren Bedrohungen im 20. Jahrhunderts wieder mit der traditionellen Befreiungsgeschichte zusammen.1
Die Geschichtsforschung der letzten Jahrzehnte hat zu Recht betont, dass die heutige Schweiz auf der Basis des Bundesstaats von 1848 steht und dieser in den Jahrzehnten zuvor und nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Ideen der Aufklärung und der französischen Revolution entstanden ist. Dies ist zweifellos richtig. Und dennoch gibt es die ältere eidgenössische Geschichte, die sowohl für die Revolutionäre der Helvetik 1798, die Bundesstaatsgründer von 1848 wie auch für ihre Nachfolger als identitätsstiftende Vergangenheit von grosser Bedeutung war. Und ältere eidgenössische Geschichte bleibt trotz allem ein Abarbeiten am Kern, an der Entstehungsgeschichte der Waldstätte, ein wichtiger, wenn auch nicht der einzige Ursprung der späteren Eidgenossenschaft. Dabei darf nicht eine Geschichtsbetrachtung Pate stehen, die aus den Anfängen eine Vorherbestimmung der künftigen Entwicklung macht. Der «Erfolg» der Eidgenossenschaft stand immer wieder, bis ins 18. Jahrhundert, auf der Kippe. Die Geschichte der Entstehung der Eidgenossenschaft ist auch keine Geschichte der Schweiz in ihrem heutigen Raum, sondern eine Geschichte der von kommunalen Eliten und Körperschaften – Ländern und Städten – getragenen Bündnissysteme, die sich im Lauf des 15. Jahrhunderts zu einer auch von aussen wahrgenommenen Eidgenossenschaft verdichteten.
Das Buch orientiert sich, chronologisch aufgebaut, an den traditionellen Daten und Ereignissen, die einer breiten Leserschaft bekannt sind, quasi dem eidgenössischen Festkalender. Chronologie ist nach wie vor ein roter Faden, der Orientierung stiftet und hilft, eine Entwicklung in ihren Zusammenhängen sichtbar zu machen. Einige wenige thematische Abschnitte ergänzen die Chronologie. Die Darstellung hat nicht den Anspruch, eine neue Erzählung zu formulieren, sondern lediglich den heutigen Stand des Wissens zu reflektieren.
Als Kronzeuge und Stichwortgeber dient dabei die Schweizer Chronik von Aegidius Tschudi. Tschudi hat die Erzählung über die Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft über Jahrhunderte geprägt und seine Geschichtskonzeption ist bis heute in breiten Bevölkerungsteilen verankert. Deshalb wird den einzelnen Kapiteln ein kurzes Originalzitat aus dem Chronicon Helveticum vorangestellt, anschliessend kommentiert und in den Zusammenhang des heutigen Wissens gestellt. Tschudis Chronik endet 1470. Für die Zeit danach dient das Werk des Zürcher Geschichtsschreibers Johannes Stumpf, Informant und Nutzniesser von Tschudis Arbeiten, als roter Faden. Stumpfs Chronik hatte in der gedruckten Form eine weitere Verbreitung als diejenige von Tschudi und eine grosse Bedeutung für die Verankerung dieser Erzählung.2
Das Buch ist den Forschungen der letzten 50 Jahre verpflichtet, insbesondere den Arbeiten von Marcel Beck, Hans Conrad Peyer, Peter Blickle und Guy Marchal und deren Schülerinnen und Schülern. Eine eigentliche, weit unterschätzte Schweizer Geschichte des Mittelalters hat Bernhard Stettler in seinen Einleitungen zur Tschudi-Edition und in seinem Buch zur Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert vorgelegt. Seine Basis und die neuesten Forschungen von Roger Sablonier und seinem Umfeld insbesondere zur Überlieferungsgeschichte ermöglichen es, einen aktuellen, kurz gefassten Abriss der Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft neu zu schreiben. Und als Echoraum dient das Historische Lexikon der Schweiz, das als Nachschlagewerk unentbehrlich ist.
Die Geschichte beginnt nicht mit dem Bundesbrief von 1291, sondern in der Mitte des 15. Jahrhunderts. Wieso dies so ist, wird bei näherer Auseinandersetzung mit eidgenössischer Geschichtsschreibung schnell klar: Es ist die Zeit, in der sich die eidgenössischen Bündnisse verfestigten und sich die Eidgenossenschaft eine eigene Vergangenheit zurechtlegte.
Lucern und Zug tatend den österrichischen vorbhalt uss den pünden und satztend das römisch rich an die statt.
[…] Also wurdent die selben püntzbrief [Bündnisbriefe] förderlich als umb so vil alle geendert, dann die selben ort durch redilich ursachen und kriegsrecht ze friden und richtungen etwa menig mal kommen, das si der herrschafft Österrich nichtz mer pflichtig noch angehörig sind. Man sol ouch nit meinen, das die selben ort muotwillig vorziten sich von ir herrschafft abgeworffen habind, dann si ire pündt anfangs allein gemacht vor gwalt und unbill sich ze retten, und ir herrschafft darinn heiter vorbehalten der selben alle pflicht und dienst ze leisten und ze tuonde. Wie aber nachmals die herrschafft und dero amptlüt durch übermütige zwäng nüwrungen und ufsätze an lib und guot si witer wellen beschwären und bekümmern dann von recht sin sölte und si ze tun schuldig werind, ist der span ze langwirigen kriegen geraten und darus ervolget wie obstat. Deshalb ein eidtgnosschafft mit guten eren entsprungen […]. (Aegidius Tschudi, Chronicon Helveticum, nach Stettler 13, 2000, 49)
Man könnte in guten Treuen die Jahre nach 1450 als Gründungszeit der Eidgenossenschaft bezeichnen. «Also wurdent die selben püntzbrief förderlich als umb so vil alle geendert, dann die selben ort […] der herrschafft Österrich nichtz mer pflichtig noch angehörig sind.» Aegidius Tschudi beschreibt den Vorgang von Anfang Januar 1454, als die Gesandten der Städte Luzern und Zug auf einem «Tag» zu Sarnen – erst später bürgerte sich der Begriff Tagsatzung für solche Treffen ein – beantragten, dass der Vorbehalt habsburgischer Ansprüche in ihren Bündnissen aus dem 14. Jahrhundert gestrichen und an deren Stelle das Heilige Römische Reich gesetzt werden sollte. Als Folge davon wurden der Luzerner Bund von 1332, der Zürcher Bund von 1351 und der Zuger Bund von 1352 neu ausgefertigt. Die darin enthaltenen Verpflichtungen gegenüber der Herrschaft – Luzern und Zug waren Mitte des 14. Jahrhunderts habsburgische Orte gewesen – wurden getilgt, die alten Briefe vernichtet. Für Glarus erfolgte die Neuausfertigung dann 1474. Nur gegenüber dem Heiligen Römischen Reich sollten die Orte inskünftig Rechenschaft schuldig sein. Die Orte hätten aber die österreichische Herrschaft nicht mutwillig und unrechtmässig abgeworfen, argumentiert Tschudi. Die Herrschaft selbst habe sie durch Zwänge und Neuerungen dazu gezwungen. Daraus seien langwierige Kriege entstanden. Deshalb sei die Eidgenossenschaft «mit guten eren entsprungen» und damit auch rechtmässig.3 Diese Urkunden von 1454 nehmen heute einen prominenten Platz im Bundesbriefmuseum in Schwyz ein.
Am 24. August 1450 waren in Einsiedeln nach dem Friedensschluss im Alten Zürichkrieg die alten Bünde neu beschworen worden, nicht einfach als Bestätigung des Bisherigen, sondern als neuer Bündnisverbund. Der Schiedsspruch des Berner Schultheissen Heinrich von Bubenberg zugunsten der eidgenössischen Seite und gegen Zürich, das sein Bündnis mit Habsburg-Österreich aufgeben musste, hatte den Boden dazu geebnet. Damit bekam das eidgenössische Bündnissystem, das bisher nicht festgefügt war, aus oft unterschiedlichen Vertragsparteien bestand und grundsätzlich offen für Bündnisse gegen aussen war, eine Ausschliesslichkeit, die neu war. Zürich hatte sein Zusammengehen mit Habsburg-Österreich im Jahr 1442 noch damit begründet, dass es als Reichsstadt frei sei, mit dem König, der seit 1438 wieder ein Habsburger war, ein Bündnis einzugehen, ohne den Bund von 1351 mit den innerschweizerischen Orten zu entwerten. Das Land Schwyz hatte konträr argumentiert und auf der Ausschliesslichkeit der Bünde beharrt. Insbesondere hatte die Ansicht, dass Habsburg-Österreich seit alters der Feind der Eidgenossen sei, zumindest in der Innerschweiz bereits eine starke Tradition. Die Orte hätten sich in der Zeit nach 1300 gegen Habsburg-Österreich gewandt. Diese Lesart der Entstehung der Eidgenossenschaft war Mitte des 15. Jahrhunderts Allgemeingut der Eliten. Sie schöpften aus dem rechtmässigen Aufstand gegen die Vögte und der Reichsfreiheit der Länder die Legitimation ihres Handelns.4
Das blutige Ringen um die Vorherrschaft innerhalb des Bündnissystems hatte letztlich zur Folge, dass sich die Eidgenossenschaft auch gegen aussen konsolidierte. Sie wurde nicht nur innerhalb des Heiligen Römischen Reichs, sondern auch im übrigen europäischen Umfeld, insbesondere in Frankreich, als politisches Gebilde und Machtfaktor wahrgenommen. Die Auseinandersetzungen mit Habsburg-Österreich waren zwar noch nicht zum Abschluss gekommen, aber die Kontrahenten verhandelten schon seit Jahrzehnten über eine definitive Übereinkunft, einen «ewigen» Frieden. Es ist denn auch nicht erstaunlich, dass sich die Eidgenossenschaft in den folgenden Jahren eine eigene Entstehungsgeschichte zurechtlegte, vor allem auch als Legitimation gegenüber den von Habsburg-Österreich immer wieder vorgebrachten Forderungen nach Rückgabe von unrechtmässig angeeigneten Gebieten. Dabei ging es nicht nur um den Aargau, der 1415 nach Aufforderung von König Sigismund annektiert worden war, oder um Luzern, das sich Ende des 14. Jahrhunderts in einem unrechtmässigen Krieg vom Landesherr abgewandt hätte. Bis in die Mitte des
Jahrhunderts argumentierten die Habsburger mit der ursprünglichen Oberherrschaft ihrer Vorfahren insbesondere auch über Schwyz und Unterwalden. Die Entstehungsgeschichte, die sich die Eidgenossen massschneiderten, bald verbrämt mit Tell, Bundesschwur und Burgenbruch, sollte die Rechtmässigkeit der Geschehnisse untermauern. In der «Ewigen Richtung» im Jahr 1474 akzeptierte Herzog Sigmund von Tirol vor dem Hintergrund der politischen Lage gegen Burgund diese Situation. Sie wurde in einem letzten Gewaltausbruch im Schwabenkrieg 1499 noch einmal in Frage gestellt. In der europäischen Mächtekonstellation zu Beginn des 16. Jahrhunderts – dem Ringen zwischen dem habsburgischen Kaiser, dem König von Frankreich, dem Papst und den jeweils verbündeten Mächten um das Herzogtum Mailand – trat aber der alte Gegensatz in den Hintergrund. Bereits zu dieser Zeit standen sich eidgenössische Söldner auf den oberitalienischen Schlachtfeldern auf verschiedenen Seiten gegenüber. Und die Eliten orientierten sich stärker denn je an ihren alten und neuen Soldherren. Die Eidgenossenschaft als Ganzes entwickelte sich denn auch, vor allem nach der konfessionellen Spaltung in der Folge der Reformation, zu einem aussenpolitisch kaum mehr handlungsfähigen Gebilde. Die humanistisch geschulten Geschichtsschreiber, allen voran der Glarner Aegidius Tschudi, fügten aber in der ersten Hälfte des 16. Jahrhundert das Jahrzehnte zuvor entstandene Geschichtsbild zu einem gültigen Ganzen zusammen. Wie wirkungsmächtig dieses Geschichtsbild war und ist, muss nicht eigens betont werden.
Aber nun doch der Reihe nach. Welche Hintergründe und Zusammenhänge waren entscheidend, dass im Lauf des 13. und 14. Jahrhunderts im zentralen Alpenraum ein kommunal verfasstes Gebilde entstehen konnte, das sich im Lauf des Spätmittelalters erfolgreich innerhalb des Heiligen Römischen Reichs etablierte und das letztlich zu einem Land wurde, das wir heute als moderne Schweiz erkennen?
In den drijen waltstetten Uri, Switz und Underwalden hattend etlich herren und edelknecht etwas herrlicheit über sondre höf; aber die landtsherrlicheit und frijheit was der frijen landtlüten, edlen und unedlen landtsessen.
[…] Si hattend aber kein oberkeit über die selben land und waltstett die für sich selbs frij warend, und muostend dise inländische herren und edelknecht under der gemeinen frijen landtlüten regierung gehorsamen und dem land hulden, warend ouch selbs mittlantlüt und mittregierer wie die andern frijen landtlüt, nit mer noch minder, als verr die landtzregierung antraff. Aber die libeignen lüt hattend kein gwalt im regiment, muostend den gemeinen frijen lantlüten mit reisen [Militärdienst], landtsatzungen, gebotten, verbotten und andern billichen dingen gehorsam und gewärtig sin, wann die frijen lantlüt warend selbs oberherren in irn landen, und hattend die herren und adel allein über etliche sonderbare höf etwas nidern gerichtzherrlicheit und rechtung als obstat. (Aegidius Tschudi, Chronicon Helveticum, nach Stettler 2, 194, 19f.)
In der Geschichtskonzeption von Aegidius Tschudi ist die alte Freiheit der drei Länder Uri, Schwyz und Unterwalden von zentraler Bedeutung. Sie sei nicht nur alt, sondern vor allem für alle drei Länder gleichwertig gewesen, bestätigt durch die staufischen Könige in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Tschudi beschreibt gleichzeitig eine geschichtete Gesellschaft, in der freie Landleute und Adlige, die «herren und edelknecht», gemeinsam die Täler regierten. Leibeigene Leute, zum Beispiel der Klöster, seien untergeordnet gewesen. Dies entspricht einer Gesellschaftsform, die Tschudi für seine eigene Zeit als richtig erachtete. Er selbst war Teil dieser regierenden «oberherren».
Die Konzeption der alten Freiheit – nicht der individuellen Freiheit, sondern der Freiheit von Zwischengewalten, das heisst von Adel oder Klöstern – ist nicht einfach Tschudis Konstruktion aus dem 16. Jahrhundert. Sie hat Wurzeln im frühen 14. Jahrhundert und kann direkt mit konkretem politischem Handeln der Länder in Verbindung gebracht werden.
Die Länder, insbesondere Unterwalden, das keine Privilegien des 13. Jahrhunderts vorweisen konnte, scheinen die unsichere Situation nach der Ermordung König Albrechts von Habsburg-Österreich 1308 und der Wahl des Luxemburgers Heinrich VII. zum König 1309, beziehungsweise der Doppelwahl des Habsburgers Friedrich des Schönen und Ludwigs des Bayern 1314, zu nutzen verstanden zu haben. Sie konnten insbesondere Ludwig den Bayern dazu bringen, ihnen gleichwertige Königsbriefe mit Bezugnahme auf das Schwyzer Reichsprivileg von 1240 auszustellen. Obwohl die Überlieferungsgeschichte dieser Dokumente äusserst wacklig ist – vielleicht sind einige davon erst in den 1320er-Jahren oder noch später nachhergestellt worden –, konnten sich Schwyz, Uri und Unterwalden Privilegien sichern, die sie in späteren Konflikten gegen die Habsburger einsetzten. Sie schufen sich damit eine gemeinsame, waldstättische Tradition.5 Auf die genauen Umstände der Entstehung dieser Privilegien wird weiter unten zurückzukommen sein. Vorab braucht es aber eine kurze Übersicht zur Geschichte des Raums, in dem die nachmalige Eidgenossenschaft entstanden ist.6
Der zentrale Alpenraum um den Gotthard war bis ins 12. Jahrhundert Peripherie. Die wichtigsten Alpenübergänge, die seit römischer Zeit begangen waren, lagen in den westlichen (Mont Cenis, Grosser St. Bernhard) oder östlichen Alpen (Brenner). Die Bündner Pässe Lukmanier und Septimer waren für den Übergang nach Italien und damit für die Reichspolitik von Bedeutung. Simplon und Gotthard waren sicher schon früh begangen, spielten aber für den Warenverkehr erst im Lauf des 13. Jahrhunderts eine Rolle. Das Mittelland zwischen Aare und Rhein lag am Schnittpunkt der alten Reichslandschaften Schwaben und Burgund. Das burgundische Königreich beidseits des Juras mit dem Aareraum und den Bistümern Genf, Lausanne und Sitten war seit dem frühen 11. Jahrhundert ins Heilige Römische Reich integriert. Dieser Raum wurde im 12. Jahrhundert von den schwäbischen Herzögen von Zähringen dominiert – Gründer der Städte Freiburg und Bern –, die auch im östlichen Mittelland eine starke Präsenz hatten. Im Osten gab es aber keine ähnliche Machtballung wie im Westen. Neben den Zähringern etablierten sich verschiedene Adelsdynastien wie die Grafen von Lenzburg, Kyburg und Habsburg, die Grafen von Rapperswil oder die Herren von Vaz und Sax-Misox. Im Rheintal und in Graubünden waren das Bistum von Chur und die Abtei Disentis von Bedeutung.
Für das zentrale Mittelland war die alte Reichspfalz Zürich wichtig, die bis zu deren Aussterben 1173 in den Händen der Grafen von Lenzburg war. Die Lenzburger besassen auch die Grafschaften im Aargau und Zürichgau, die bis in den Raum des Vierwaldstättersees reichten, zudem über die Zürcher Vogtei auch die Rechte des Fraumünsters im Tal Uri und die Reichsvogtei in den Südtälern Blenio und Leventina. Reichsvogtei bedeutete die stellvertretende Herrschaft des Königs, das Recht, für den König Steuern zu erheben oder Reichsdienste, zum Beispiel militärische Gefolgschaft, einzufordern. Vogtei bedeutete in diesem Sinn Oberherrschaft, aber nicht zwingend lokale Herrschaft vor Ort.
Zürich war sowohl topografisch wie herrschaftlich der Zugang zum zentralen Alpenraum. Die Reichsvogtei Zürich gelangte 1173 an die Herzöge von Zähringen, die damit ihre Macht ausbauen konnten. Kaiser Friedrich Barbarossa verlieh weitere Teile des Lenzburger Erbes an die Grafen von Kyburg, die im Thurgau eine starke Stellung besassen. Konkret erhielten sie den östlichen Teil des Zürichgaus, das rechte Zürichseeufer. Der westliche Teil des Zürichgaus am linken Ufer ging an die Habsburger, Grafen im oberen Elsass und Vögte des Klosters Murbach, mit Besitz im Raum Brugg und Bremgarten sowie Gründer und Vögte des Klosters Muri. Zu diesem Teil des Zürichgaus zählten Zug, Schwyz und Nidwalden. Die Habsburger konnten sich bald darauf auch als Grafen im Aargau etablieren. Zum Aargau zählten Luzern und Obwalden. Wie sich diese eher theoretischen Zuweisungen in der konkreten Ausübung von Herrschaft umsetzen liessen, wissen wir nicht. Die Inhaber der Vogtei waren für die Friedenssicherung verantwortlich und Gerichtsinstanz im Konfliktfall.
Das Aussterben der Herzöge von Zähringen im Jahr 1218 brachte die herrschaftliche Situation in Fluss. Grösste Profiteure waren die Grafen von Kyburg, die den zähringischen Besitz südlich des Rheins übernehmen konnten mit dem Schwerpunkt im Aareraum mit der Landgrafschaft Burgund und den Städten Freiburg, Burgdorf und Thun. Der staufische König Friedrich II. erhob Bern und Zürich zu Reichsstädten und unterstellte sie damit seiner direkten Herrschaft. Die adligen Stadtherren wurden damit ausgeschaltet. Bezeichnenderweise verschwindet die alte Reichsburg auf dem Lindenhof in Zürich im Lauf des 13. Jahrhunderts von der Bildfläche. Die Reichsvogtei in Uri scheint an die Habsburger gekommen zu sein. Die Entwicklung im Reich wird für die folgenden Jahrzehnte für den nachmals schweizerischen Raum von grösster Bedeutung sein.
Auf der Ebene der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung spielten die Klöster eine zentrale Rolle. Sie trugen die Hauptlast des Landesausbaus im Mittelland und in den Tälern der Alpen. Landesausbau hiess Besiedlung und Urbarmachen beziehungsweise Nutzung von Grund und Boden. Die wichtigsten Klöster waren die alten Benediktinerabteien St. Gallen in der heutigen Ostschweiz, Disentis im Vorderrheintal mit Besitz in Urseren und weit in den Süden, das Fraumünster in Zürich mit grossem Besitz in Uri, Einsiedeln im Raum Schwyz und am oberen Zürichsee und bis nach Vorarlberg sowie die elsässische Abtei Murbach mit ihrer Propstei Luzern, zu der grosser Besitz im Aargau und in Ob- und Nidwalden gehörte. Weiter von Bedeutung waren die Klöster Muri (Freie Ämter, Gersau, Zugersee), Beromünster (Luzern, Obwalden), das 1120 gegründete Kloster Engelberg sowie weitere kleine Klöster wie zum Beispiel die 1262 erstmals erwähnte Zisterzienserinnenabtei von Steinen in Schwyz. Grosse Bedeutung erlangten die Schenkungen der Grafen von Rapperswil an das von ihnen 1227 gegründete Zisterzienserkloster Wettingen in Uri. Allerdings hatten alle diese Klöster grosse Besitzschwerpunkte im Mittelland, der Alpenraum stand für sie nicht im Zentrum. Für die politische Entwicklung von Bedeutung waren die Inhaber der Klostervogteien, so die Habsburger für Murbach-Luzern und Muri, die Rapperswiler für Einsiedeln und Wettingen. St. Gallen, das Fraumünster und Disentis waren sogenannte Reichsabteien, Engelberg konnte sich längerfristig vogtfrei halten.7
Über die konkrete Ausgestaltung des Landesausbaus der Klöster in den inneren Alpentälern wissen wir wenig Bescheid. Die Form der klassischen Grundherrschaft mit zentralen Fron- und Dinghöfen unter der Führung von Meiern oder Ammännern, wie wir sie aus dem Mittelland kennen, wird sich im Alpenraum nur teilweise durchgesetzt haben. Die Wirtschaftsweise unterschied sich vom Mittelland. Der Ackerbau war zwar präsent, aber von geringerer Bedeutung. Die sogenannte Verzelgung des Landes, das heisst die Einführung der Dreizelgen-Brachwirtschaft mit Sommerfeld, Winterfeld und Brachfeld wird sich allenfalls an den Rändern zum Mittelland etabliert haben. Den klimatischen Bedingungen angepasst, war der Ackerbau im Alpenraum in einer Feld-Gras-Wirtschaft organisiert, das heisst in einer weniger geregelten Wechselwirtschaft von Acker- und Grasland. Allerdings betrieb man Ackerbau in weit höheren Regionen als wir uns das heute vorstellen. Extensive Viehwirtschaft wird schon früh eine wichtige Rolle gespielt haben, rund um die Gewässer auch die Fischerei; die Abgabenstrukturen der Klöster, die wir aus frühen Grundbesitzverzeichnissen kennen, deuten darauf hin. Zu den Abgaben gehörten unter anderem Milchprodukte (Käse, Ziger), Kleinvieh (Schafe, Ziegen) und je nach Ort Fische. Hinweise auf Grossvieh sind in der Zeit um 1200 selten. Die persönliche Bindung des Einzelnen an den Grundherrn im Rahmen der klösterlichen Genossenschaft wird zumindest teilweise bestanden haben. Den Gotteshausleuten, wie die klösterlichen Genossen genannt wurden, waren Heiratsverbote ausserhalb der Genossenschaft und Erbschaftssteuern (Fall oder Ehrschatz) auferlegt. Gerichtlich gehörten sie dem Personenverband des Klosters (oder auch eines Adligen als Vogt) und nicht einem kommunalen Verband an. Wie dieses theoretische System der Grundherrschaft im konkreten Fall ausgestaltet war, wissen wir aber kaum. Zugehörigkeit zu einer klösterlichen Genossenschaft bedeutete nicht Rechtlosigkeit. So stammten die führenden Familien der inneren Orte in der Regel aus der Gruppe der klösterlichen Ammänner. Typisches Beispiel dafür sind die Gotteshausleute des Fraumünsters in Uri, die nur mehr lose Bindungen nach Zürich hatten. Mit dem Verkauf des Besitzes des Klosters Wettingen an das Land Uri im Jahr 1359 erhielten die Wettinger Gotteshausleute den gleichen Status wie jene des Fraumünsters, waren mit anderen Worten weitgehend frei von personalen Bindungen.
Die mittelalterliche Feudalgesellschaft, vereinfacht gesagt die Differenzierung zwischen abhängigen Bauern und adligen Herren, scheint im Alpenraum wenig ausgeprägt gewesen zu sein. Dies mag damit zusammenhängen, dass die intensivere Besiedlung des Raums relativ spät erfolgt und vor allem durch die Klöster vorangetrieben worden war. Wie schon beschrieben, ist innerhalb der klösterlichen Organisation eine Führungsgruppe entstanden, die durchaus Berührungspunkte zum Adel haben konnte. Ländliche Potentaten, klösterliche Ammänner und Adlige sind oft schwer auseinanderzuhalten. Sie standen meist in verwandtschaftlichen Verbindungen untereinander und zum Adel im Mittelland und gehörten im weiteren Sinn zum Dienst- oder Ministerialadel («Milites»), der sich im Lauf des 13. Jahrhunderts im Umfeld grosser geistlicher und weltlicher Herrschaften entwickelte.
Die Angehörigen des alten Adels, das heisst die «Nobiles», die Hoch- oder Edelfreien, die sich direkt aus der Königsgefolgschaft rekrutierten, waren im Alpenraum schwach vertreten. Im mittelländischen Vorland gehörten zum Beispiel die Freiherren von Regensberg oder die Herren von Eschenbach, Vögte des Klosters Interlaken, dazu. Die Freiherren von Sellenbüren, Gründer des Klosters Engelberg, waren wahrscheinlich ebenfalls Teil dieser Adelsgruppe. Eine grosse, schwer durchschaubare Gruppe waren die Grafen von Rapperswil, die vor allem in Uri und Schwyz eine starke Stellung hatten und mit Adelsgeschlechtern im Bündner Gebiet, etwa den Herren von Vaz, verbunden waren.8 Die Hunwil in Luzern und später in Ob- und Nidwalden gehörten vielleicht auch dazu. In Obwalden präsent waren die Herren von Wolhusen. In Uri erreichten die Herren von Attinghausen-Schweinsberg, mit verwandtschaftlichen Verbindungen ins Emmental und den Aareraum, in der Zeit um 1300 eine grosse Bedeutung.
Tschudi schreibt in seiner Schweizer Chronik, dass dies «herren und edelknecht […] selbs mittlantlüt und mittregierer» waren. Das heisst, der Adel war Teil der kommunalen Körperschaft. Damit wird er nicht unrecht gehabt haben. Sie gehörten zur Führungsgruppe, die zu Beginn des 14. Jahrhunderts bei der Konstituierung der Waldstätte eine bedeutende Rolle spielte, vor allem auch weil sie ein grosses Interesse daran hatte, den Frieden nach innen und damit auch ihren Besitz zu schützen.
Grundsätzlich ist aber davon auszugehen, dass der Alpenraum im Vergleich zum Mittelland oder anderen Reichslandschaften schwach feudalisiert war. Dies gilt nicht nur für die Innerschweiz, sondern für den Alpenbogen generell. Ein paralleles Beispiel sind die Südalpentäler in der französischen Dauphiné beidseits der heutigen französisch-italienischen Grenze, in der sich im Lauf des 13. und 14. Jahrhunderts mit den «Escartons de Briançon» ähnliche, kommunal verfasste Strukturen entwickelten. Die Landeshoheit verblieb aber mit dem Übergang der Dauphiné an Frankreich im Jahr 1349 beim französischen König.
Mit dem besseren Zugang zu den zentralen Alpenpässen und der wachsenden Bedeutung des Warenverkehrs von Nord nach Süd und umgekehrt geriet aber der Raum an Gotthard und Simplon verstärkt in den Fokus einerseits der Reichs- und Italienpolitik der Könige und ihrer Gefolgschaft, und wurde andererseits Teil des Wirtschaftsraums der den Handel dominierenden Städte, allen voran Mailand.
Der Hildesheimer Bischof Gotthard, 1038 gestorben und 1113 heiliggesprochen, war Schutzpatron einer 1230 vom Mailänder Erzbischof geweihten Kapelle auf dem Monte Tremolo am Südhang des Gotthards. Er wurde zum Namensgeber des Passübergangs, der in den Jahrzehnten zuvor mit der Öffnung der Schöllenenschlucht besser zugänglich und damit für den Warenverkehr nutzbar geworden war. Auch die Kirche von Simplon ist 1235 dem heiligen Gotthard geweiht worden, dem Schutzpatron für Passkirchen. Die religiöse Versorgung der Passrouten deutet darauf hin, dass diese stark an Bedeutung zugenommen hatten. Hinweise zum Umfang des Warenverkehrs kennen wir erst aus der Zeit um 1300 von der savoyischen Zollstelle in Saint-Maurice und der habsburgischen in Luzern. Das Warenaufkommen am Gotthard scheint etwa doppelt so hoch wie am Simplon gewesen zu sein, war allerdings Schwankungen unterworfen. So haben zum Beispiel die nach dem Tod König Rudolfs von Habsburg im Sommer 1291 ausgebrochenen Konflikte den Verkehr am Gotthard deutlich beeinträchtigt und für eine starke Zunahme am Simplon und am Grossen St. Bernhard gesorgt.9 Die wachsende Bedeutung der Alpenpässe ist ohne die Rolle der Städte nicht zu verstehen. Dabei ist nicht nur die weit entwickelte Wirtschaftskraft der lombardischen Städte, besonders Mailands, zu betonen. Auch nördlich der Alpen entwickelte sich die Städtelandschaft seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert rasant. Es ist wohl kein Zufall, wenn König Friedrich II. Bern und Zürich nach dem Aussterben der Zähringer 1218 zu Reichsstädten aufwertete. Die Impulse von Bevölkerungszunahme und wirtschaftlichem Wachstum im 12. und 13. Jahrhundert brachten im Raum zwischen Bodensee und Genfersee eine dichte Städtelandschaft hervor. Zu den alten, in spätrömischer Tradition stehenden Orten wie Genf, Lausanne, Sitten, Solothurn, Basel, Zürich, Konstanz und Chur, oft auch Bischofssitze, kamen Dutzende mehr oder weniger erfolgreiche Neugründungen hinzu. Grössere und kleinere Adelsgeschlechter versuchten damit, ihren Machtbereich zu konsolidieren und wirtschaftlich aufzuwerten. Die Zähringer Gründungen Freiburg und Bern sind frühe Beispiele dafür. Dabei ging es um regional ausgerichtete Wirtschaftszentren, wie die Kyburger Städte Winterthur oder Frauenfeld im Thurgau oder die Habsburger Städte Brugg oder Bremgarten im Aargau. Die Gründung von Liestal, Olten und Zofingen im späten 13. Jahrhundert durch die Grafen von Froburg ist hingegen nur vor dem Hintergrund der wachsenden Bedeutung der Strasse über den Hauenstein als Zugangsweg von Basel nach Luzern und zum Gotthard zu verstehen.
Nicht zu unterschätzen ist auch der verstärkte kulturelle Austausch dank dem besseren Zugang über Simplon und Gotthard nach dem Süden. Die adlige Gefolgschaft lernte auf den Italienzügen der staufischen Könige und in deren Auseinandersetzungen mit den lombardischen Städten die weit urbaner geprägte und wirtschaftlich weiter entwickelte Kultur Italiens kennen und wird diese auch zum Vorbild genommen haben. Baute der Adel noch in der Zeit um 1200 in grosser Zahl Burgen, konzentrierte er sich Ende des 13. Jahrhunderts weit stärker auf seine Städte, förderte sie und baute dort feste Wohnsitze. Im militärischen Gefolge des Adels zogen auch der Ritteradel und die ländlichen Führungsgruppen mit nach Italien. Die Schwyzer Landleute, die im Jahr 1240 vor Faenza von Kaiser Friedrich II. ein Reichsprivileg erhielten, werden nicht als ungeordneter Haufen nach Süden gezogen sein, sondern unter der Führung eines Adligen, vielleicht eines Grafen von Rapperswil oder gar zusammen mit Rudolf IV. von Habsburg. Und sie erwarteten eine Entschädigung. Von der Königsgefolgschaft zum Reichsprivileg und zum Solddienst war es ein kurzer Weg.
Die Bewohner des zentralen Alpenraums lebten zu Beginn des 13. Jahrhunderts nicht mehr in einem peripheren Raum, sondern standen in wachsendem Austausch mit dem mittelländischen Vorland und dem nunmehr besser zugänglichen Süden.
Die frühere Forschung hat versucht – von einem Freiheitsbegriff des 19. Jahrhunderts geprägt –, in der Innerschweiz möglichst viele, sogenannt freie Leute dingfest zu machen. Schon für Wilhelm Oechsli 1891 und dann vor allem für Karl Meyer 1927 war die Existenz von freien Leuten, die keinem Grundherrn, sondern nur dem Landesherrn beziehungsweise direkt dem König verantwortlich gewesen seien, eine Voraussetzung für die Bildung von kommunalen Organisationen, die sich direkt König und Reich verpflichtet gefühlt hätten.10 Sie argumentierten dabei unter anderem mit der Rodungsfreiheit. Adel und Klöster hätten als Entgelt für Rodung und Landesausbau diesen Gruppen individuelle Freiheit verliehen. Auch für Tschudi waren diese «frijen landtlüt» von zentraler Bedeutung. Sie seien in der Nachfolge der römischen Kolonisatoren schon immer da gewesen. Der Adel habe sie dann bedrängt und zu unterwerfen versucht.
Diese Argumentation wird durch die vorhandenen Quellen nicht gestützt. Es ist tatsächlich so, dass auch noch das berühmte Habsburger Urbar, das grosse Besitzverzeichnis aus dem frühen 14. Jahrhundert, sogenannt freie Vogtleute erwähnt. Diese gab es, mehr oder weniger zahlreich, auch im Mittelland. Sie standen aber, wenn sie nicht im Dienstadel aufsteigen konnten, im 13. und 14. Jahrhundert oft auf der Verliererseite. Ohne Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe eines Klosters oder eines Adligen waren sie von der wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt. Es gibt denn auch zahlreiche Beispiele dieser freien Vogtleute, die sich freiwillig in die Abhängigkeit eines Herrn begeben haben, um letztlich dort Karriere zu machen.
Was für das Mittelland gilt, wird auch für die Alpentäler nicht falsch gewesen sein. Wie oben beschrieben waren die späteren Waldstätte geprägt von grossen Gruppen von den Klöstern zugehörigen Gotteshausleuten. In Unterwalden und Uri wohl mehr, in Schwyz wahrscheinlich weniger. Aber: Die Zugehörigkeit zu diesen klösterlichen Genossenschaften war wahrscheinlich schon im 13. Jahrhundert schwach oder ist im Lauf der Zeit schwächer geworden. Für die Leute des Fraumünsters in Uri ist dies offensichtlich. Für die politische Entwicklung zu den kommunalen Organisationsformen, die sich in der Zeit um 1300 ausbildeten, ist die Frage ob frei oder nicht frei aber nicht von Bedeutung. Die kommunalen Strukturen wurden an Ort von den Führungsgruppen aufgebaut, die selbst in unterschiedlichsten Abhängigkeiten zueinander und gegen aussen standen. Ländliche Potentaten, klösterliche Ammänner und Adlige bildeten diese Gruppe, die eine eigenständige Politik gegen aussen zu entwickeln begannen. Darunter wird es auch einige Altfreie gegeben haben …
Keiser Fridrich belegert die statt Faventz in Italia, begert von den waltstetten Uri, Switz und Underwalden hilff, dera si bewilgtend, doch mit andingung [der Bedingung], das er inen brief und sigel geb, das si frije völcker sigind und uss frijem willen sin und des richs beherrschung angenommen hettend und vom rich niemer verendert söltind werden.
[…] Der keiser versampt [versammelt] ein hör [Heer], die abfelligen stett gehorsam ze machen und des papsts ungestüme ze tämmen, schickt ouch harumb sine erbre botten zuo den drijen waltstetten Uri, Switz und Underwalden umb hilff, liess inen anzeigen, wie unbillich und on alle redliche ursach der papst inne understuonde underzetrucken, und wie er in Italia ein hör versampt, in willen die stat Faventz ze belegern, und so si im jetz ir hilff erzeigtind, weit ers in guotem alzit gegen inen erkennen. Die waltstett gabend antwurt, si sigind von irn vordem har frije völcker und allein dem rich in tütschen landen verpflicht gewesen, aber übel geschirmpt worden, und so verr er inen brief und sigel geben, das si frij sigind und das si uss frijem unbezwungnem willenb sich under sin und des römischen richs beherrschung undergeben und si ze jeden ziten schützen und schirmen, ouch vom rich niemermer verendern welle, so wellind si imm und is dem rich gehorsame leisten und inne für irn herren erkennen, ouch alsdann die begerte hilff umb gebürende besoldung in Italiani tuon. (Aegidius Tschudi, Chronicon Helveticum, nach Stettler 2, 1974, 120f.)
Kaiser Friedrich belagert im Jahr 1240 die Stadt Faenza in der Nähe von Ravenna und begehrt von den Waldstätten Uri, Schwyz und Unterwalden Hilfe, welche diese bewilligen, jedoch mit der Bedingung, dass er ihnen mit Brief und Siegel bestätigt, dass sie «frije völcker sigind und uss frijem willen sin und des richs beherrschung angenommen hettend». So beschreibt Aegidius Tschudi die Erlangung des Reichsprivilegs der Schwyzer – nur der Schwyzer. Es gilt, neben dem Reichsprivileg von Uri aus dem Jahr 1231, das nicht im Original erhalten ist, gleichsam als der Ritterschlag für die späteren Behauptungen der Waldstätte, sie seien von alters her frei gewesen. Dies umso mehr, als die Originalurkunde bis heute im Staatsarchiv Schwyz beziehungsweise im Bundesbriefmuseum sorgsam gehütet wird. Die Bedeutung dieser Urkunde ist nicht zu unterschätzen, auch weil sie schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts zur Konstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit der drei Waldstätte diente. Gegenüber König Ludwig dem Bayern haben es Schwyz, Uri und Unterwalden geschafft, sich 1316 und in der Folge eine gemeinsame Rückbesinnung auf das Jahr 1240 bestätigen zu lassen, wie weiter unten zu zeigen sein wird, obwohl einzig Schwyz eine solche Urkunde noch heute vorweisen kann. Tschudi hat diese Konstruktion in seiner Schweizer Chronik untermauert beziehungsweise als selbstverständlich angenommen. Um diese Vorgänge zu verstehen, muss das Umfeld der staufischen Aktivitäten in Norditalien um 1240 und vor allem der in dieser Zeit anbrechende Kampf zwischen Kaiser und Papst genauer beleuchtet werden. Und in diesen Jahren treten auch die Habsburger auf das politische Parkett der Innerschweiz.11
Die Neuordnung der Verhältnisse nach dem Aussterben der Zähringer im Jahr 1218 brachte den Raum zwischen Genfersee und Bodensee in Bewegung. Der Stauferkönig Friedrich stärkte seine Position, indem er einige der zähringischen Reichslehen zu seinen Handen nahm, neben den Städten Bern und Zürich zum Beispiel das Haslital, aber auch die Täler Blenio und Leventina südlich des Gotthards. Dies deutet darauf hin, dass der Gotthardpass in diesen Jahren an Bedeutung gewann. Durch das Aussterben der mächtigen Dynastien der Lenzburger und Zähringer stand der Kaiser einer Vielzahl von Ansprechern an Reichslehen gegenüber, neben den Adelsgeschlechtern wie den Kyburgern, Habsburgern, Savoyern, Rapperswilern und anderen auch die Talschaften wie Uri, Urseren oder Hasli. Wie diese Talschaften verfasst waren, ob bereits kommunale Strukturen gelebt wurden, wissen wir nicht.
Nach 1218 scheinen die Habsburger im Besitz der Reichsvogtei Uri gewesen zu sein, ob als Pfand oder Lehen ist nicht bekannt. Wir können dies indirekt daraus schliessen, dass Friedrichs Sohn, König Heinrich (VII.), 1231 im elsässischen Hagenau diese Verleihung oder Verpfändung gegenüber dem Habsburger Rudolf III. rückgängig und Uri zur reichsfreien Talschaft machte. Dies wird nicht ohne Entschädigung abgelaufen sein, die Urner werden sich ausgekauft haben. Allerdings ist eine originale Urkunde zu diesem Vorgang nicht mehr erhalten und nur durch Tschudi überliefert. Das Land Uri beruft sich Mitte des 14. Jahrhunderts – wieder nach Tschudi – auf diese Tradition, und zwar in der Privilegienbestätigung von Kaiser Karl IV. vom Oktober 1353 in Zürich.12 Die Überlieferungsgeschichte zum Land Uri ist, wahrscheinlich unter anderem wegen eines Archivbrandes im Jahr 1799, dünn. Tschudi notiert aber zu 1353 für Uri eine andere Privilegienreihe als für Schwyz und Unterwalden.13 Dies deutet darauf hin, dass er die Urkunde von 1231 tatsächlich gekannt und abgeschrieben hat. Die historische Einbettung dieser Rücknahme ans Reich ist durchaus schlüssig. Etwa zur gleichen Zeit wird das Urserental als Reichsvogtei den Rapperswilern, unter anderem Herren von Göschenen, verliehen. Das Tal war bisher unter der Herrschaft des Klosters Disentis stark auf den Ost-West-Verkehr zwischen dem Vorderrheintal und dem Oberwallis ausgerichtet gewesen. In den 1230er-Jahren häufen sich aber Nachrichten zum Nord-Süd-Passverkehr über den Gotthard. Die staufischen Könige werden dieser neuen Bedeutung des Gotthards Rechnung getragen und ihren Einfluss am Passweg verstärkt haben.