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Heinrich Seidels Autobiografie 'Von Perlin nach Berlin' ist ein faszinierender Einblick in das Leben eines der bedeutendsten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. In diesem Werk reflektiert Seidel über seine Wurzeln in Perlin und den Weg, der ihn schließlich nach Berlin führte. Sein literarischer Stil ist geprägt von einer klaren, präzisen Sprache, die eine Vielzahl von Emotionen beim Leser hervorruft. Die Autobiografie zeigt auch Seidels enge Verbundenheit mit der Natur und wie diese seine Werke maßgeblich beeinflusst hat. Angesiedelt im literarischen Kontext des Realismus, bietet das Buch einen Einblick in die sozialen und kulturellen Entwicklungen seiner Zeit. Heinrich Seidel, als Autor, war bekannt für seine empathische Herangehensweise an Themen wie Natur, Heimat und soziale Gerechtigkeit. Sein Hintergrund als Sohn eines Gutsbesitzers und seine Erfahrungen in verschiedenen gesellschaftlichen Schichten spiegeln sich deutlich in seinen Werken wider. 'Von Perlin nach Berlin' ist ein Muss für alle, die sich für die literarische Entwicklung des 19. Jahrhunderts interessieren. Seidels ehrliche Darstellung seines Lebensweges ist inspirierend und seine tiefe Liebe zur Natur wird den Leser sicherlich berühren.
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Seitenzahl: 198
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Ich will spiegeln mich in jenen Tagen, Die wie Lindenwipfelwehn entflohn.Gottfried Keller.
Es geht eine dunkle Sage, dass der Urahn meiner Familie wegen irgend eines Verbrechens aus der Schweiz entflohen sei. Man nagelte dort, da man seiner selbst nicht mehr habhaft werden konnte, sein Bildniss an den Galgen, er aber wandte sich nach Sachsen und gründete dort ein zahlreiches Geschlecht, wie ja denn noch heute der Name Seidel in Sachsen häufig ist. Ob diese Sage auf Wahrheit beruht, weiss ich nicht, mir aber hat sie stets ein gewisses Vergnügen bereitet. Denn der Mensch ist im Allgemeinen so geartet, dass er, anstatt sich mit seiner Ahnenreihe bald ehrbar und spurlos in das Dunkel der Vergangenheit zu verlieren, lieber eine recht herzhafte Abscheulichkeit eines Vorfahren in den Kauf nimmt, wenn sie nur dazu beigetragen hat, sein Gedächtniss der Nachwelt zu erhalten.
Ob nun, wie einige sagen, der Name Seidel mit siedeln zusammenhängt und so viel wie Siedler oder Siedel (vgl. Einsiedel) bezeichnet, ob er, wie andere behaupten, Zeidler oder Zeidel d. i. Bienenzüchter bedeutet, vermag ich ebenfalls nicht zu entscheiden. Jedenfalls ist man in heutiger Zeit mehr geneigt, ihn mit Bier in Zusammenhang zu bringen und der Witz die männlichen Kinder unseres Namens, als Schnitte, die weiblichen als Tulpen zu bezeichnen, erzeugt sich stets auf's Neue und hat Manchem schon viel billigen Spass bereitet. Als ich noch studierte, hielten aus denselben Gründen sehr oft neue Bekannte meinen Kneipnamen Till für meinen wirklichen, Seidel aber für meinen Kneipnamen.
Der erste meiner Vorfahren nun, der für mich ausser jenem sagenhaften aus dem Dunkel der Vergangenheit hervortritt, ist der Vater meines Urgrossvaters. Er war Buchhalter in Dresden, stammte wahrscheinlich aus bäuerlichem Geschlecht und hatte zwei Söhne Gottlieb und Heinrich.
Der ältere kam nicht gut in der Schule fort und eine häufige Redensart des Lehrers war: »Grosser Seidel, grosser Seidel, wenn dein kleiner Bruder in der Kutsche fährt, wirst du hinten auf stehen müssen«. Das ging für ihn auch fast wörtlich in Erfüllung, denn er wurde später herrschaftlicher Diener, starb aber früh. Es wird erzählt, dass der zweite Sohn Heinrich, mein Urgrossvater, obwohl nur klein und von zartem Körperbau, doch von grossem persönlichem Muthe beseelt gewesen sei. Einmal als Dresden von Oestreichern besetzt war, trat er mit anderen Chorschülern aus der Kirche, vor der sich eine grosse Anzahl von Soldaten gelagert hatte. Ein etwas angetrunkener baumlanger Kerl ging auf sie zu mit den drohenden Worten: »Wartet, ihr lutherischen Bestien ihr!« Die anderen Chorschüler drückten sich schnell bei Seite, mein Urgrossvater aber liess ihn ankommen und rannte ihm plötzlich mit dem Kopf vor den Bauch, so dass der lange Goliath umstülpte und erheblich rolläugend nach Luft schnappte. Die anderen Soldaten brachen dar ob in ein schallendes Gelächter aus und riefen beifällig: »Braver Student, braver Student!«
Auch später in seinem Amte bewährte er solchen Muth und was Menschenfurcht war, kannte er nicht. Er studierte Theologie und wurde später Pastor in dem Dorfe Mecklenburg bei Wismar, wie denn schon seit alter Zeit das Land Mecklenburg seinen Bedarf an Geistlichen und Lehrern nicht aus eigener Produktion zu decken vermochte und solche vielfach von ausserhalb zu beziehen genöthigt war. Dagegen an Rechtsgelehrten leidet es Ueberfluss und Landleute, Kaufleute, Offiziere und Ingenieure exportiert es in Mengen. Das Dorf Mecklenburg war zur Wendenzeit der Hauptsitz der Obotriten und hat dem ganzen Lande den Namen gegeben. In einer grossen Wiese ist noch heute deutlich der ausgedehnte Wall der alten Burg zu sehen.
Von Mecklenburg ward er auf Anlass des Herzogs, der ihn hatte predigen hören, nach Parchim berufen, nicht zu seinem Vortheil, denn seine Einnahme war dort erheblich geringer als in Mecklenburg. Der Herzog hatte zwar versprochen, ihm nach dem ersten Jahre, wenn er den Unterschied übersehen könne, eine entsprechende Zulage zu gewähren, starb aber darüber hinweg, und so war mein Urgrossvater genöthigt, sich bis an sein Ende der äussersten Sparsamkeit zu befleissigen. Er starb als Pastor Primarius in Parchim am 21. August 1811. Während seiner Amtsthätigkeit wurde dort am 26. Oktober 1800 ein Kind geboren und von meinem Urgrossvater am 2. November desselben Jahres getauft, ein Knabe, dessen Ruhm nachher den Weltkreis erfüllen sollte. Es war der spätere Feldmarschall Helmuth, Graf von Moltke.
Mein Urgrossvater hatte ausser mehreren Töchtern zwei Söhne Heinrich und Georg. Der älteste, mein Grossvater, studierte Medizin und wurde Arzt in der kleinen Stadt Goldberg in Mecklenburg. Er verheirathete sich mit einer geborenen Hermes, die aus der Familie jenes Biedermannes stammte, der »Sophiens Reise von Memel nach Sachsen« geschrieben hat. Aus Pietät für solche Familientradition habe ich mir dieses sechsbändige dickleibige Roman-Ungethüm verschafft und es prangt sehr stattlich in meiner Bibliothek neben dem neunbändigen »Irdischen Vergnügen in Gott« des alten Brockes. Ich habe auch versucht, jenen Roman zu lesen, allein es ist über meine Kräfte gegangen. Zwar ward mir ebenso wie meinem Freunde Trojan die Gabe zu Theil, sehr langweilige Bücher lesen zu können, allein Alles hat seine Gränzen. Und doch betrachte ich mir von Zeit zu Zeit das stattliche Werk mit Wohlgefallen. Es giebt eben Bücher, die eine doppelte Freude gewähren, erstens dass man sie hat, und zweitens, dass man sie nicht zu lesen braucht. Von meinem Grossvater weiss ich sehr wenig, weil er früh gestorben ist, noch vor seinem Vater. Es herrschte damals 1811 in Folge des Franzosenkrieges das Lazarethfieber und der Amtsarzt hatte aus Furcht vor Ansteckung solchen Kranken seine Hülfe verweigert. Man wandte sich an meinen Grossvater. Dieser that seine Pflicht, wurde aber von der gefährlichen Krankheit ergriffen und starb, als mein am 4. Februar 1811 geborener Vater Heinrich Alexander Seidel vier Wochen alt war.
Von meinem. Urgrossvater heisst es in einer Niederschrift seines jüngsten Sohnes: »Der Vater war Pastor, ein kleiner, aber rühriger und wissenschaftlich sehr gebildeter Mann mit dichterischen Anlagen.« – Die kleine Figur hat sich nun in Mecklenburg, dem Lande der grossen Leute, allmählich verloren, indem unausgesetzt durch drei Generationen hindurch die Söhne über ihre Väter hinauswuchsen, die dichterischen Anlagen haben sich aber in den ältesten Söhnen der Familie ständig fortgeerbt. Denn auch von meinem Grossvater sind mir poetische Versuche bekannt geworden, und mein Vater hat sich auf dem Gebiete des religiösen Liedes, des Epos und der Volkserzählung ausgezeichnet. Einzelne seiner Gedichte sind in viele Sammlungen übergegangen, und seine Volkserzählung »Balthasar Scharfenberg« hat im Verlage des Rauhen Hauses mehrere Auflagen erlebt und wird noch jetzt gekauft und gelesen. Ungenügende Beachtung fand dagegen meiner Meinung nach sein in der Nibelungenstrophe geschriebenes Epos: »Der Sieg des Kreuzes an der Usenz«, dem Stöbers hübsche Sage von der Bekehrung der letzten Heiden im Einfischthale durch den buckligen Zwerg Zacher als Stoff zu Grunde liegt. Das Gedicht enthält besonders ausgezeichnete Schilderungen der grossartigen Alpennatur, obwohl mein Vater, ebenso wie Schiller, die Schweiz nie gesehen hat.
Mein Vater verlebte seine erste Jugend in Goldberg und besuchte später das Gymnasium in Schwerin. Ich weiss von dieser Zeit wenig; nur eine wunderliche Geschichte, die mein Vater gern erzählte, hat sich mir eingeprägt.
Zum Neubau des dortigen Regierungsgebäudes – nebenbei eines der vornehmsten und edelsten Bauwerke der Schinkelschen Richtung – wurde der Grund ausgehoben und da dort früher der Klosterkirchhof gelegen hatte, so kamen eine Menge von wohlerhaltenen menschlichen Gebeinen zum Vorschein. Man konnte von den Arbeitern ein Memento mori, zwei Armknochen und einen Schädel für vier Schillinge (25 Pf.) kaufen. Mein Vater erstand sich ebenfalls so ein grausiges Ornament und war zu Hause sehr erfreut, als er fand, dass sich die beiden gekreuzten Knochen mit dem Schädel drüber schicklich in die Ofenröhre oder wie man in Mecklenburg sagt, »das Röhr« klemmen liessen, gerade in der Stellung, wie man diesen Todeszierrath immer dargestellt findet. Als er nachher zu Bett ging, liess er wie gewöhnlich die Thür zu seinem Wohnzimmer geöffnet. Der Mond schien hell und er konnte anfangs nicht davor einschlafen. Dann aber, als er eben eindrusen wollte, wurde er durch ein lautes Geräusch im Nebenzimmer wieder aufgeschreckt. Es krachte und rasselte dort mächtig – dann ein anhaltendes Kollern und plötzlich stand der Schädel im Mondschein auf der Schwelle der Schlafstube und grinste ihn an.
Mein Vater studierte später in Berlin und Rostock Theologie und besonders an den Aufenthalt in letzter Stadt erinnerte er sich gern. Er verkehrte mit anderen Studenten in einem angeregten Familienkreise, wo man sich vorzugsweise für Musik interessirte. Die jungen Leute hatten ein besonderes Geschick in kleinen Stegreif-Aufführungen, denen eine verabredete Idee zu Grunde lag, wobei es aber jedem überlassen blieb, sich so gut er konnte, mit seiner Rolle abzufinden. Von der gelungensten dieser Aufführungen erzählte mein Vater gern. Unter diesen jungen Leuten waren zwei, die sich besonders viel mit Musik beschäftigten, der eine dilettirte ohne wesentliche theoretische Kenntnisse fleissig als Komponist, während der andere, eine etwas pedantische Natur, sich eifrig mit dem Studium des Generalbasses beschäftigte. Dieser lag immer mit dem andern im Streit, schalt ihn leichtfertig, suchte ihn zu einem eifrigen Studium der Gesetze der Musik zu bekehren und hielt ihm grosse Reden, wobei er sich beträchtlicher Weisheit entledigte und mit bezifferten Bässen, Tonika, Dominants und ähnlichen Fachausdrücken mächtig um sich warf. Der Inhalt des Stückes nun war folgender: Der Musikdilettant stellte einen Komponisten dar, dem für eine festliche Gelegenheit der Auftrag geworden ist, eine Ouvertüre zu komponiren. Verzweifelt irrt er in seinem Zimmer umher, fährt sich bald in die Haare, bald schlägt er einige Akkorde auf dem Klavier an, bald sitzt er wieder und starrt rathlos auf das leere Notenpapier, denn ihm will durchaus nichts einfallen. Ein Freund besucht ihn, dem er seine Noth klagt. Vergeblich sucht dieser ihn zu trösten und zu ermuntern. Endlich kommt ihm eine Idee: »Wir wollen Mozarts Geist zitiren« sagt er, »wenn einer, kann der dir helfen!« Das leuchtet dem Komponisten ein; es wird ein Kreis aus Notenbüchern gebildet, ein Fiedelbogen als Zauberstab geschwenkt und unter furchtbaren Beschwörungen Mozarts Geist herbeigerufen. Blitz und langnachhallender Donner hinter der Scene. Aus der Koulisse hebt sich ein Filzschuh, dann schiesst in Kopfhöhe ein langer Dampfstrahl hervor und nun zeigt sich der Musiktheoretiker als Mozart's Geist in ein langes weisses Laken gehüllt, das nur die spitze Nase und eine Hand mit einer mächtigen Papierrolle sehen lässt. Den verhüllten Kopf ziert ein Lorbeerkranz. Langsam, lautlos und bei jedem Schritt einen mächtigen Dampfstrahl aus der unter dem Laken verborgenen Pfeife schiessend, schreitet das Gespenst auf die Beschwörer zu. Dann steht es feierlich in erhabenem Schweigen da und pafft. Der Komponist beugt nun das Knie und fleht den Geist des grossen Mozart an um Errettung aus seiner Noth. Unter den Zuschauern herrscht grosse Spannung, wie dieser sich wohl aus der Affaire ziehen wird und da Allen der ständige Streit zwischen diesen beiden Musikfreunden bekannt war, so ist das Gelächter auf Kosten des unglückseligen Komponisten natürlich gross, als Mozarts Geist nun langsam und feierlich seine mächtige Papierrolle erhebt und sie jenem vor die Füsse schleudert mit dem vernichtenden Ausruf: »Studiere Generalbass!«
Sodann wendet er sich mit erhabener Geberde und schreitet unter erneutem Blitz und Donner und mächtigem Paffen in die Koulisse zurück, während der andere vernichtet sein Haupt in den Händen verbirgt.
Noch eine andere kleine Geschichte sehr wunderlicher Natur aus dieser Zeit hat sich mir eingeprägt, weil ich sie öfter von meinem Vater habe erzählen hören. Ihm träumte eines Nachts, er besuche eine Familie, in der er viel verkehrte, da trat ihm die Frau des Hauses entgegen und sagte: »Kommen Sie mit Herr Seidel und helfen Sie mir.« Sie gingen dann zusammen eine Treppe hinauf und packten in einer grossen Bodenkammer allerlei Sachen in Körbe. Durch das Fenster kam ein seltsamer rother Schein. Nicht lange darauf wurde er des Nachts durch Feuerlärm geweckt und da er bei näherer Erkundigung erfuhr, dass es ganz in der Nähe des Hauses jener bekannten Familie brenne, machte er sich schnell auf, um dort, falls es nöthig sein sollte, seine Hülfe anzubieten. Dort fand er Alle in Thätigkeit, ein schnelles Ausräumen vorzubereiten und die Frau des Hauses kam ihm gleich entgegen mit den Worten: »Gut, dass Sie kommen, Herr Seidel, Sie können mir helfen. Wir müssen auf Alles gefasst sein.« Sie gingen dann die Treppe hinauf in eine grosse Bodenkammer und packten allerlei Porzellangeschirr, das dort aufbewahrt wurde, in Körbe ein. Durch die Fenster kam der rothe Schein des nahen Brandes.
Als mein Vater ausstudiert hatte, wurde er Hauslehrer, lebte als solcher längere Zeit in Dobbin bei Krakow und wurde im Jahre 1839 nach Perlin bei der kleinen Stadt Wittenburg berufen.
Das Pastorenhaus in Perlin war alt, hatte schon den dreissigjährigen Krieg überstanden und trug noch ein Strohdach. Es passte nicht mehr in die Zeit und in der Nähe wurde ein funkelnagelneues Haus errichtet aus rothen Ziegeln mit einem thurmartigen Vorbau für die Treppe und einem flachen sogenannten dornschen Dache. Es sah für die damalige Zeit und für ein Pastorenhaus sehr vornehm aus und wurde später von Fremden oft für »das Schloss« gehalten, was uns natürlich mit grossem Stolze erfüllte. Doch vorher schon, ehe dies neue Haus vollendet war, sorgte der junge Pastor dafür, dass die ansehnlichen Räume, die darin für eine Pastorin vorgesehen waren, nicht leer stehen sollten. Der Gutsverwalter Dimpfel des Grafen B., dem das grosse Gut Perlin gehörte, hatte ganz in der Nähe auf dem Pachtgute Progress eine Schwester, die an den Pächter Römer verheirathet und in dieser Ehe ausser mit vier hünenhaften Söhnen auch mit drei Töchtern gesegnet war. Als nun mein zukünftiger Vater dort mit dem Verwalter Dimpfel seinen Besuch machte fand er diesen Verkehr so angenehm, dass er solchen Besuch öfter wiederholte. Er ritt dabei auf einem Fuchs, der ihn, wie meine Mutter erzählt, oftmals in sausender Eile an's Ziel brachte, oft aber auch höchsteigene Ansichten entwickelte und dann durchaus nicht vom Hofe oder an einem Blatte Papier vorbei wollte, das am Wege lag. Es mochte auch wohl sein, dass mein Vater dieses irdische Pferd weniger beherrschte als den Pegasus, der noch nie vor einem Blatte Papier scheu geworden ist. Es kam dann im Lauf der Zeit so weit, dass der junge Pastor die Frau Römer bat ihm Gelegenheit zu geben, ihre zweite Tochter Johanna unter vier Augen zu sprechen. Es war am zweiundzwanzigsten September 1840, als diese Frau ihr Schicksal, dereinst meine Grossmutter zu werden, dadurch besiegelte, dass sie ihrer Tochter den Auftrag gab, Herrn Pastor Seidel doch den Rosenstrauch im Garten zu zeigen, der trotz der herbstlichen Zeit in voller Blüthe stand. An dieser freundlichen Naturerscheinung nahmen die jungen Leute grosses Intresse und besichtigten sie lange und gründlich. Es wird vermuthet, dass im Laufe dieser Besichtigung auf den Wangen des Fräuleins Johanna Römer vier neue Rosen aufgeblüht sind, erst zwei weisse und dann zwei dunkelrothe, aber gewiss ist, dass sie, als sie zurückkam, den Entschluss gefasst hatte, eine Frau Pastorin zu werden.
Am 8. Oktober des Jahres 1841 war die Hochzeit. Das junge Paar hauste noch ein halbes Jahr unter dem alten Strohdach, siedelte dann im nächsten Frühjahr in das neue schöne Haus über und dort, am 25. Juni 1842 kam ich zur Welt, genau an demselben Tage, an dem zwanzig Jahre früher der alte E. T. A. Hoffmann die Augen schloss. Bei der Taufe wurde mir als dem ältesten Sohne, wie es nun schon Familiengebrauch geworden war, der Rufname Heinrich zuertheilt, jedoch erhielt ich ausserdem noch eine Menge anderer, und wenn ich mit allen zugleich vorfahre, so macht es den Eindruck, als wenn ein Güterzug durch eine ebene Wiesenlandschaft dampft. Man prüfe selbst, wie es sich ausnimmt: Heinrich Friedrich Wilhelm Karl Philipp Georg Eduard Seidel.
Wie alle Erstgeborenen war ich natürlich ein unbegreifliches Wunderkind und zeigte Eigenschaften, die man kaum jemals, solange die Welt steht, an einem Geschöpfe so zarten Alters in solcher Vollendung zu bemerken Gelegenheit hatte. Zwei von diesen Geistesblitzen, die etwa aus meinem zweiten Jahre stammen, sind mir später oft erzählt worden. Auf die Frage: »Wo is Papa?« hätte ich stets geantwortet: »Hinnen löppt'e!« Ferner: hätte ich einen Topf, einen Teller oder sonst etwas zerschlagen, hätte ich mich nachdenklich vor die Trümmer gestellt mit der verwunderten Frage: »Wen hett dat dahn?« und dann mit grosser Bestimmtheit selbst geantwortet. »Dat hett ick dahn!« Man sieht aus diesen wenigen erhaltenen Beispielen, dass auch meine nächsten Vorfahren nicht frei waren von jener lieblichen Milde und rührenden Anspruchslosigkeit den Geistesäusserungen ihres Erstgebornen gegenüber, die fast allen jungen Eltern zur freundlichen Zierde gereichen soll.
Meine erste wirkliche Erinnerung stammt aus dem Anfang meines vierten Jahres und hat es mit einem beträchtlichen Gegenstande zu thun, einem Elefanten nämlich, der damals in einer benachbarten kleinen Stadt für Geld gezeigt wurde. Viel mehr aber als das unförmliche ausländische Ungethüm erfreute mich ein kleiner Pony, der dem Elefanten unter dem Bauche und zwischen den Beinen durchlief und ihm zugesellt war, wie dem mächtigen Fallstaff der winzige Page, um gegen ihn abzustechen. Ich glaube, es war bei dieser selben Gelegenheit, wo sich mir ein zweites kleines Erlebniss für die Dauer eingeprägt hat. Die städtischen Strassenjungen waren ein Geschlecht, das ich mit einem Gemisch von Grauen und Hochachtung zu betrachten gewohnt war. Die ausserordentliche Sicherheit ihres Auftretens, die edle Frechheit, mit der sie mich besahen und Kritik an mir übten, die grossartige Ueberlegenheit, die sich in allen ihren Reden und Handlungen kundgab – ich hatte gesehen, dass sie sogar die Macht des Gesetzes nicht achteten und einen Polizeidiener verhöhnten – kurz alles dies erzeugte in mir eine achtungsvolle Scheu, die mit einiger Furcht durchtränkt war. Als ich nun mit meinen Eltern an einem Wassergraben entlang zu irgend einem Festplatze ging, kam ein echtes Exemplar dieser Gattung, die Hände in den Hosentaschen und die Mütze im Nacken tragend, an uns vorüber. Da ich nahe an der Kante des Grabens ging, sagte er im Vorbeigehen zu mir mit einem Wohlwollen, das ich diesem gehärteten Geschlecht von jugendlichen Heroen niemals zugetraut hätte: »Du fall man nich in'n Graben.« – Diese Herablassung hob und rührte mich zugleich, und obgleich ich diesen Jüngling nie wiedergesehen habe, so habe ich ihm seinen Edelmuth doch niemals vergessen. Noch jetzt ertappe ich mich manchmal bei den Gedanken, dass ich wohl wissen möchte, was aus ihm geworden ist. Wäre er ein Schuster geworden, so würde ich meine Stiefel bei ihm machen lassen.
Aus etwas späterer Zeit haben sich mir zwei Ereignisse eingeprägt, bei deren einem ich mich als vermeintlicher Held, bei dem anderen aber ohne Frage als das Gegentheil eines solchen benommen hatte. Ich mochte etwa sechs Jahre alt sein, als ich in einen Haufen Glasscherben fiel und mir den Rücken der linken Hand so stark verletzte, dass ich noch jetzt die deutliche Narbe davon trage. Ich lief zu meiner Mutter, die mir die heftig blutende Wunde mit Wasser auswusch und mich verband. Dabei lobte sie mich sehr, dass ich gar nicht geweint habe. Dieses Lob muss mir wohl zu Kopfe gestiegen sein, denn ich erinnere mich, dass ich nachher eine ganze Weile vor dem Spiegel stand, um mir solchen Helden recht genau zu betrachten.
Da ich entschlossen bin, mich in diesen Blättern der Wahrhaftigkeit zu befleissigen, so will ich auch die zweite Geschichte nicht verschweigen, obwohl ich wenig Ruhm sondern nur das Gegentheil dadurch gewinnen kann. Sie wird zeigen, welch' hässlicher kleiner Dämon in der Brust eines sonst gut gearteten Kindes auftauchen kann. Mein Vater hatte eine Zeit lang grosse Noth, seine geliebten Blumenbeete vor meinen jungen Geschwistern Werner und Frieda zu schützen, die damals wie ich denke drei und zwei Jahre alt waren. Diese kleinen Berserker hatten sich gewöhnt Alles abzureissen, was ihnen vor die Finger kam, und hatten so oft Strafe dafür bekommen, dass sie endlich anfingen durch Schaden klug zu werden. Als wir uns nun einmal an einem schönen Frühlingsabende alle drei in der Nähe eines schönen Hyacinthenbeetes befanden, da plagte mich der Teufel, dass ich niederhockte und mit der Hand eine stattliche Hyacinthe hin und her wackelte, als wollte ich sie pflücken. Kaum sahen die beiden Kleinen, was der grosse Bruder that, so erwachten die mühsam unterdrückten Instinkte in ihnen aufs Neue, sie stürzten sich jauchzend auf das Blumenbeet und rissen sich ganze Hände voll der schönsten Hyacinthen ab. Ich aber ging sofort hin und klänte sie an, wie man in Mecklenburg sagt, oder wie der Berliner sich ausdrückt: ich petzte. Bei dem nun folgenden peinlichen Verhör fielen höchst bedenkliche Streiflichter auf mich, und die ganze Schändlichkeit meines heimtückischen Verfahrens kam heraus. Ich erinnere mich noch ganz genau der peinlichen Spannung, die mich beherrschte, während die nöthigen Knöpfe an dem hinderlichen Kleidungsstücke gelöst wurden, und als nun im Angesicht der sinkenden Frühlingssonne ein furchtbares Strafgericht über mich hereinbrach, war ich fest überzeugt, dies vollkommen verdient zu haben. Ich habe überhaupt während meiner ganzen Kindheit nie die entsetzliche Bitterkeit des Gefühles kennen gelernt, ungerecht gestraft zu werden, sondern immer die Empfindung gehabt, dass Soll und Haben in dieser Hinsicht zu meinen Gunsten abschlössen. Kinder haben oft ein sehr feines Gerechtigkeitsgefühl und so hat mir der Umstand, dass ich bei einer Gelegenheit nicht genug Strafe bekommen hatte, mehr Qual bereitet als jede Züchtigung, die mir sonst geworden ist. Ich hatte meinen drei Jahre jüngeren Bruder Werner mit einem Stück Fischbein geschlagen und zwar so, dass ich es durch Zurückbiegen an seine Hand schnellen liess, was bekanntlich sehr weh thut. Er schrie nach der Mutter; diese kam und schlug mich zur Strafe mit dem dünnen Fischbein ein paar Mal einfach über die Hand, was ich natürlich garnicht fühlte. Aber in der Seele that es mir weh, und eine unendliche Rührung überkam mich über die Güte und den Edelmuth meiner Mutter, die mich so nach der besseren Seite hin verkannte. Ich verkroch mich tief ergriffen in einen Winkel, wo meine Thränen unaufhaltsam flossen. Noch nach Jahren konnte ich diesen Eindruck nicht verwinden und tiefe Rührung ergriff mich stets, wenn mir dieser kleine Vorgang wieder einfiel. Hätte sie mich auf dieselbe schmerzhafte Weise gestraft, wie ich gesündigt hatte, so wären wir quitt gewesen und niemals wäre mir meine Mutter aus diesem Anlass in einem so engelhaft erhabenen Lichte erschienen, wie es nun der Fall war.
In Perlin verblieb mein Vater bis zu meinem neunten Jahre, bis Anfang 1852, und diese Zeit erscheint mir in meiner Erinnerung als die eines ungetrübten Glückes. Der Ort war aber auch ein richtiges Kinderparadies. An das neuerbaute geräumige Haus schloss sich ein sehr grosser Garten mit unzähligen Obstbäumen und Beerensträuchern. Er enthielt viele Lauben und dichte Gebüsche, in denen man einsam hausen und Robinson und Einsiedler spielen konnte, und in der Nähe des Hauses bildete er einen Winkel, die sogenannte Kapellenecke; hier schloss sich unmittelbar, nur durch eine niedrige Feldsteinmauer getrennt, der Kirchhof an wie eine Fortsetzung des Gartens. Ich betrachtete ihn auch so und spielte gern zwischen den verwilderten Gräbern und unter den riesigen Linden an seinem Eingange und stieg gar oft auf den alten grau bemoosten Glockenstuhl neben der Kirche, um die Glocken zu bewundern, die für mich etwas von lebenden Wesen hatten. Die kleine Landkirche war aus Findlingsblöcken und Ziegeln von grossem Format erbaut und an den gothischen Fenstern ihres Chores nisteten Hunderte von Schwalben, deren kugelige Nester die Linien der Architektur begleiteten, und deren unablässiges Ab- und Zufliegen, Schwirren und Schrillen mir noch heute vor Auge und Ohr steht. In der Nähe unseres Gartens, in einer Gruppe von Bäumen und Gebüsch lag die gräfliche Grabkapelle, für mich ein Ort von stillen Schauern umweht. Denn dort ruhte die junge Gräfin ganz allein in einem von verdorrten Kränzen bedeckten Sarge. Ich erinnere mich nicht, sie noch lebend gesehen zu haben, allein mein Vater erzählte von ihrer Anmuth, Schönheit und Güte, und ich konnte dann lange ihr Bild betrachten, das in seinem Zimmer hing, oder mit dem Gesicht ans Gitter gedrückt in die dämmerige Kapelle starren und wunderlichen Gedanken nachhängen.