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In 'Vor der Flagge des Vaterlands: Historischer Abenteuerroman' entführt uns Jules Verne in eine fiktive Welt voller Abenteuer und historischer Ereignisse. Mit seinem typisch packenden Stil verwebt Verne geschickt Fiktion und Realität, während er die Leser auf eine Reise durch die Geschichte mitnimmt. Der Roman ist geprägt von detaillierten Beschreibungen und lebendigen Charakteren, die die Leser in die faszinierende Welt von Verne eintauchen lassen. Verne, bekannt für seine innovativen Science-Fiction-Werke, zeigt hier sein Talent für historische Romane und begeistert mit jeder Seite. 'Vor der Flagge des Vaterlands' ist ein Meisterwerk des Abenteuergenres und ein Muss für alle Fans von Jules Verne.
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Seitenzahl: 296
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Darunter stand, mehr an einer Ecke der Karte, mit Bleistift geschrieben die Adresse: »An Bord der Goelette »Ebba« auf der Rhede von New-Berne, Pamplicosund.«
Die Hauptstadt von Nord-Carolina, eines der zu jener Zeit vorhandnen vierundvierzig Staaten der Union, ist die nicht unbedeutende Stadt Raleigh, die etwa hundertfünfzig Meilen (zu 1609 Meter) tiefer im Innern des Landes liegt. Nur in Folge ihrer centralen Lage war genannte Stadt zum Sitze der Regierung gewählt worden, denn sie wird von andern, z. B. von Wilmington, Charlotte, Fayetteville, Edenton, Washington, Salisbury, Tarboro, Halifax und New-Berne bezüglich des Handels und der Industrie an Bedeutung übertroffen. Letztgenannte Stadt erhebt sich an der meerbusenartigen Mündung der Neuze in den Pamplicosund, eine Art großen Salzwassersees, den ein natürlicher Damm von Inseln und Eilanden der Küste von Carolina beschützt.
Der Director des Healthsul-House hätte nimmermehr errathen, weshalb ihm jene Karte zuging, wäre sie nicht von einer Zuschrift begleitet gewesen, durch die für den Grafen d'Artigas um Erlaubniß zum Besuche der erwähnten Anstalt ersucht wurde. Der Absender setzte voraus, daß der Director seine Zustimmung geben würde, und wollte sich im Laufe des Nachmittags mit dem Kapitän Spade, dem Führer der Goelette »Ebba«, vorstellen.
Der Wunsch, das Innre dieses Genesungsheims kennen zu lernen, einer Anstalt, die weit berühmt und von reichen Kranken aus den Vereinigten Staaten stark aufgesucht war, mußte bei einem Landesfremden ja ganz natürlich erscheinen. Es war schon von Andern besucht worden, die keinen so vornehmen Namen wie der Graf d'Artigas führten, und diese hatten dem Director des Healthsul-House gegenüber mit lobender Anerkennung nicht gespart. Letzterer beeilte sich also, die erbetne Genehmigung zu ertheilen und antwortete, daß er sich sehr geehrt fühlen werde, dem vornehmen Besucher die Pforten der Anstalt zu öffnen.
Healthsul-House, das auserwähltes Hilfspersonal hatte und von den berühmtesten Aerzten unterstützt wurde, war eine Gründung von Privatpersonen. Freier dastehend, als öffentliche Kranken- und Siechenhäuser, doch der Oberaufsicht des Staates unterworfen, vereinigte es alle Bedingungen der Bequemlichkeit und der Gesundheit, die man von derartigen Anstalten, welche zur Aufnahme einer reichbegüterten Kundschaft bestimmt sind, zu verlangen gewöhnt ist.
Man hätte eine schönere und angenehmere Lage als die des Healthsul-House schwerlich finden können. Vom Abhange eines Hügels beschützt, erfreute sich die Anstalt eines Parks von zweihundert Acres (achtzig Hektaren) mit den prächtigen Pflanzenarten, die Nordamerika in einer mit der der Canarien oder der Insel Madeira gleichen geographischen Breite hervorbringt. An der untern Grenze des Parks öffnete sich das breite Becken der Neuze, stets erfrischt von dem Lustzuge aus dem Pamplicosunde und den Winden von der offnen See her, die über das schmale Uferland strichen.
Im Healthsul-House, wo die reichen Kranken unter den vortrefflichsten hygienischen Verhältnissen behandelt und verpflegt wurden, waren Heilungsfälle häufig. War die Anstalt aber eigentlich mehr zur Behandlung chronischer Krankheiten bestimmt, so verweigerte die Verwaltung doch auch nicht die Aufnahme von Personen mit geistigen Störungen, wenn diese nicht zweifellos unheilbarer Natur waren.
Grade zu dieser Zeit nun befand sich – ein Umstand, der die Aufmerksamkeit mehr als sonst auf das Healthsul-House lenkte – eine sehr weit bekannte Persönlichkeit hier in Pflege, und das mochte wohl auch die Veranlassung zu dem vom Grafen d'Artigas erbetnen Besuche sein. Jener Insasse war seit achtzehn Monaten in der Anstalt, wo man ihm eine ganz besondre Ueberwachung zutheil werden ließ.
Der Mann, um den es sich handelte, war ein Franzose namens Thomas Roch und stand etwa im fünfundvierzigsten Lebensjahre. Daß er unter dem Einflusse einer geistigen Störung stand, darüber herrschte keinerlei Zweifel; bisher hatten die Aerzte an ihm aber noch keine wirkliche Vernichtung der Hirnthätigkeit feststellen können. Sicherlich fehlt ihm bei den einfachen Vorkommnissen und Verrichtungen die rechte Auffassung der Dinge. Jedenfalls erweist sich sein Verstand aber unverändert, lebhaft und unanfechtbar, wenn man im Gespräch auf sein Genie kam; es ist ja bekannt, daß Genie und Narrheit gar oft hart aneinander grenzen. Im übrigen waren Vernunft und Sinnesthätigkeit bei ihm schwer angegriffen. Wo sich diese äußern sollten, traten sie nur unbestimmt und lückenhaft zu Tage. So litt er am Fehlen des Gedächtnisses, an der Unmöglichkeit, aufmerksam zu sein, wie an Unklarheit des Bewußtseins und des Urtheils. Thomas Roch war also ein der Vernunft beraubtes Wesen, das in keiner Weise für sich selbst sorgte, ja jeden Trieb der Selbsterhaltung verloren hatte, so daß man ihn wie ein Kind behandeln mußte. Man durfte ihn nie aus dem Gesicht verlieren und im Pavillon Nr. 17, den er im Park des Healthsul-House bewohnte, hatte sein Wärter den strengsten Auftrag, ihn Tag und Nacht zu überwachen.
Der gewöhnliche Irrsinn kann, wenn er nicht ganz unheilbar ist, nur durch moralische Mittel bekämpft werden. Medicin und Therapeutik sind dagegen unvermögend und ihre Nutzlosigkeit ist von den Irrenärzten auch schon seit langer Zeit anerkannt. Ob jene moralischen Mittel auch im Falle des Thomas Roch anwendbar waren, erschien mindestens zweifelhaft, selbst in der stillen, heilsamen Umgebung des Healthsul-House. Eine fortwährende Unruhe, steter Wechsel der Laune, Reizbarkeit und Wunderlichkeit des Charakters – diese verschiednen Krankheitszeichen traten deutlich genug zu Tage. Kein Arzt hätte sich darüber täuschen können und keine Behandlung erschien geeignet, sie zu unterdrücken oder nur zu mildern.
Man hat treffend gesagt, daß der Irrsinn einen Exceß der Subjectivität darstelle, d. h. daß Seele und Geist sich zu sehr innrer Thätigkeit hingeben und Eindrücken von außen zu wenig zugänglich sind. Bei Thomas Roch traf das im höchsten Maße zu. Er lebte nur noch in seinem Innern, als Beute einer fixen Idee, die sich seiner völlig bemächtigt und ihn zuletzt auch hierher gebracht hatte. Ob es nun zu irgend einem Ereigniß, zu einer Art Rückschlag kommen würde, der ihn wieder »exteriorisierté« – wenn dieses hier ganz angebrachte Wort erlaubt ist – das erschien zwar unwahrscheinlich, doch nicht ganz unmöglich.
Es dürfte hier an der Stelle sein, mitzutheilen, unter welchen Umständen dieser Franzose sein Vaterland verlassen, welcher Beweggrund ihn nach den Vereinigten Staaten geführt und warum es die Bundesregierung für angezeigt und sogar nothwendig erachtet hatte, ihn diesem Genesungsheim zuzuführen, wo man mit peinlichster Sorgfalt auf alles achten sollte, was er bei seinen gelegentlichen Anfällen unwillkürlich äußerte.
Vor achtzehn Monaten ging dem Marineminister in Washington das Gesuch um eine Audienz zu, bei der der genannte Thomas Roch dem hohen Beamten eine wichtige Mittheilung machen wollte.
Schon der Name des Nachsuchenden verrieth dem Minister, um was es sich handelte. Obgleich er also die Natur der Mittheilung kannte und wußte, von welchen Forderungen sie begleitet sein werde, zögerte er gewünschte Audienz sofort zu bewilligen.
Der Ruf jenes Thomas Roch war zur Zeit schon so weit verbreitet, daß der Minister im Interesse der Angelegenheiten seines Ressorts gar nicht zögern konnte, den Gesuchsteller zu empfangen, um von den Vorschlägen, die ihm dieser persönlich machen würde, Kenntniß zu nehmen.
Thomas Roch war ein Erfinder – ein Erfindergenie. Schon hatten wichtige Entdeckungen seine Persönlichkeit in helles Licht gestellt. Durch ihn waren mancherlei bisher nur in der Theorie vorhandne Probleme der praktischen Anwendung zugeführt worden. Sein bereits bekannter Name wurde in der gelehrten Welt unter den ersten genannt, und der Leser wird selbst erkennen, in Folge welcher Verdrießlichkeiten, Kränkungen, Enttäuschungen und sogar welcher Beschimpfungen, womit er von den Spottvögeln der Presse überhäuft wurde, er allmählich in das Stadium der Geistesgestörtheit gerieth, das seine Unterbringung im Healthsul-House nöthig gemacht hatte.
Seine letzte Erfindung im Gebiete der Kriegsmaschinen trug den Namen des »Fulgurator Roch«. Dieser Apparat besaß, wenn man dem Erfinder glauben durfte, eine solche Ueberlegenheit gegenüber allen andern, daß der Staat, der sich denselben sicherte, unbedingt der Beherrscher der Länder und Meere sein mußte.
Es ist ja bekannt, welch beklagenswerthen Schwierigkeiten die Erfinder so oft begegnen, wenn es sich um ihre Erfindungen handelt, und vorzüglich, wenn sie deren Annahme durch eine Staatsbehörde erstreben. Davon leben ja noch zahlreiche und selbst höchst wichtige Dinge betreffende Beispiele in Aller Erinnerung. Wir brauchen hier darauf nicht näher einzugehen, denn derartige Sachen werden oft von schwer zu erkennenden Unterströmungen beeinflußt. Was Thomas Roch betrifft, muß man jedenfalls zugestehen, daß er, gleich den meisten seiner Vorgänger, so unmäßige Forderungen stellte, den Werth seiner neuen Maschine zu einem so unermeßlichen Preis veranschlagte, daß es aussichtslos erschien, überhaupt mit ihm zu verhandeln.
Das rührte aber – wie hier auch zu bemerken ist – daher, daß manche seiner frühern Erfindungen, die erfolgreiche praktische Verwendung gefunden hatten, mit wirklich seltner Kühnheit ausgebeutet worden waren. Da ihm dadurch die Vortheile, die er rechtmäßig davon erwartet hatte, entgangen waren, verfiel er allmählich einer bittern Verstimmung. Er wurde mißtrauisch und nahm sich vor, nur höchst vorsichtig mit der Sprache herauszugehen, fest auf dem Worte zu beharren und jedenfalls eine so beträchtliche Geldsumme zu verlangen, daß auf solche Forderungen, noch dazu vor jeder Erprobung der Sache, kein Mensch eingehen konnte.
Zuerst bot dieser Franzose den Fulgurator Roch natürlich Frankreich an. Er unterrichtete die zur Entgegennahme solcher Mittheilungen beglaubigte Commission darüber, um was es sich handelte. Das war nämlich eine selbstbewegliche Maschine von ganz besondrer Construction, die mit einem ganz neuen Explosivstoffe geladen war und die nur unter der Wirkung einer ebenfalls neuen Zündmethode in Thätigkeit trat.
Wenn diese auf ihr Ziel losgelassene Maschine nicht durch Anprall an letzteres, sondern einige hundert Meter davon entfernt explodierte, übte sie auf die umgebenden Luftschichten eine so furchtbare Wirkung aus, daß jedes Bauwerk, ein detachiertes Fort oder ein Kriegsschiff, in einem Kreise von zehntausend Quadratmetern Inhalt augenblicklich zerstört werden mußte. Die Sache kam auf dasselbe Princip hinaus, wie die von der Zalinski'schen pneumatischen Kanone geschleuderte Kugel, doch mit wenigstens hundertfacher Wirkung.
Entsprach die Erfindung Thomas Roch's wirklich dieser Darstellung, so bedeutete sie für sein Vaterland die Uebermacht in der Vertheidigung wie im Angriffe. Ob sich der Erfinder der Uebertreibung schuldig machte, obwohl er die Wirkung ähnlicher, angeblich unvergleichlicher Maschinen kennen mußte, das konnten nur praktische Versuche lehren. Grade auf solche Versuche wollte er aber nicht eingehen, ehe er nicht die Millionen in der Tasche hatte, die er seinen Fulgurator werth schätzte.
In den geistigen Fähigkeiten Thomas Roch's hatte sich bereits eine Art Gleichgewichtsstörung vollzogen. Er war nicht mehr in vollem Besitz seiner Gehirnthätigkeit. Man empfand es, daß er auf einen Weg gerathen war, der ihn Schritt für Schritt zum Wahnsinn führen mußte. Keine Regierung hätte sich herbeilassen können, mit dem Manne auf die von ihm gestellten Bedingungen hin zu verhandeln.
Die französische Commission mußte jeden weitern Verkehr abbrechen, und die Zeitungen, selbst die der radicalen Opposition, sahen zuletzt ein, daß es schwierig sei, diese Angelegenheit weiter zu verfolgen. Thomas Roch's Vorschläge wurden also abgelehnt, ohne daß man übrigens zu befürchten brauchte, daß ein andrer Staat darauf eingehen könnte.
Bei dem Exceß von Subjectivität, die in der tief gestörten Seele Thomas Roch's immer mehr aufwucherte, ist es nicht zu verwundern, daß die allmählich erschlaffte Saite des Patriotismus in ihm endlich zu schwingen aufhörte. Wir heben zur Ehrenrettung der menschlichen Natur hervor, daß Thomas Roch zu jener Zeit schon mehr unbewußt handelte. In ihm lebte nichts mehr unverletzt, als was sich unmittelbar auf seine Erfindung bezog; das beherrschte er auch jetzt noch mit genialer Kraft. Was dagegen die gewöhnlichsten Einzelheiten der
Existenz anging, trat sein geistiger Verfall jeden Tag mehr hervor und raubte ihm die Verantwortlichkeit für sein Thun und Lassen.
Was nun kommen mußte, kam. Unter zunehmender Reizbarkeit schliefen die Gefühle der Vaterlandsliebe, des heiligsten innern Kerns des Menschen – der früher und mehr als sich selbst seinem Vaterlande gehört – in der Seele des Erfinders ein. Er dachte an andre Völker, überschritt die Grenze und bot den Fulgurator Roch dem Deutschen Reiche an.
Nach dem Bekanntwerden der unmäßigen Forderungen Thomas Roch's lehnte es die Reichsregierung aber ab, sich mit ihm einzulassen. Uebrigens war man hier schon mit der Prüfung einer neuen ballistischen Maschine beschäftigt und glaubte von der des französischen Erfinders absehen zu können.
Jetzt verdoppelte sich sein Ingrimm durch den Haß – einen instinctiven Haß gegen die Menschheit – vorzüglich als auch seine Schritte bei dem Admiralitätsrathe Großbritanniens völlig gescheitert waren. Die Engländer, als besonders praktische Leute, wiesen Thomas Roch freilich nicht vom Anfang herein ab, sondern suchten durch List von ihm etwas herauszulocken. Thomas Roch ließ sich jedoch auf nichts ein. Sein Geheimniß war Millionen werth, und entweder erhielt er diese oder das Geheimniß blieb unenthüllt. So zog sich schließlich auch die Admiralität von ihm zurück.
Unter diesen Verhältnissen und als sich sein Geisteszustand schon Tag für Tag verschlimmerte, unternahm er einen letzten Versuch bei Amerika... etwa achtzehn Monate vor dem Anfang unsrer Erzählung.
Noch praktischer als die Engländer, feilschten die Amerikaner gar nicht um den Fulgurator Roch, dem sie bei dem Rufe des französischen Chemikers einen außergewöhnlichen Werth beimaßen.
Mit Recht hielten sie den Mann für ein Genie und trafen Maßregeln, die durch seinen geistigen Zustand geboten erschienen, mit dem Vorbehalt, ihn später in entsprechendem Maße zu entschädigen.
Da Thomas Roch nämlich zu offenbare Beweise von Irrsinn gab, hielt es die Regierung, schon im Interesse seiner Erfindung selbst, für gerathen, ihn zu internieren.
Thomas Roch wurde, wie wir wissen, nicht nach einer eigentlichen Irrenanstalt gebracht. Die Anstalt Healthsul-House bot jede Sicherheit für die Behandlung des Kranken; doch obgleich ihm die aufmerksamste Pflege zutheil geworden war, war eine Heilung bisher nicht erzielt worden.
Wir betonen hier, da es wichtig genug erscheint, nochmals, daß Thomas Roch trotz seiner gewöhnlichen Geistesabwesenheit sofort ein ganz andrer wurde, wenn man das Gebiet seiner Entdeckungen irgendwie berührte. Dann lebte er gleichsam auf, sprach mit der Bestimmtheit eines Mannes, der seiner sicher ist, mit einer Ueberzeugung, die tiefen Eindruck machte. Im Feuer der Beredtsamkeit schilderte er die wunderbaren Eigenschaften seines Fulgurators, die in der That außerordentlichen Wirkungen, die er haben sollte. Ueber die Natur des Explosivstoffes und des Zünders, über die Grundstoffe beider, die Herstellungsweise und über die nöthigen Handgriffe bei der Verwendung bewahrte er aber eine Zurückhaltung, aus der ihn niemand reißen konnte. Ein- oder zweimal, bei besonders starken Krisen, schien es, als ob das Geheimniß seiner Erfindung ihm entschlüpfen sollte und man traf daraufhin alle Vorsichtsmaßregeln... vergeblich, und wenn Thomas Roch auch den Trieb der Selbsterhaltung verloren hatte, so hatte er wenigstens den der Erhaltung seines Geheimnisses nicht eingebüßt.
Der Pavillon Nr. 17 im Healthful-House war von einem mit lebenden Hecken umschlossnen Garten umgeben, in dem der Pensionär unter Begleitung seines Wärters umherspazieren konnte. Dieser Wärter bewohnte denselben Pavillon wie er, schlief in demselben Zimmer, beobachtete ihn Tag und Nacht und verließ ihn keine Stunde. Er erspähte bei gelegentlichen Hallucinationen, die meist während des Uebergangs vom Wachen zum Schlafen auftraten, seine geringsten Worte und belauschte sogar seine Träume.
Der Wärter nannte sich Gaydon. Als er kurz nach der Einlieferung Thomas Roch's gehört hatte, daß man hier einen, die französische Sprache beherrschenden Wärter suchte, hatte er sich im Healthsul-House vorgestellt und war als Wärter für den neuen Pflegling der Anstalt angenommen worden.
Der angebliche Gaydon war in Wahrheit ein französischer Ingenieur namens Simon Hart, der seit Jahren Stellung bei einer Fabrik für chemische Erzeugnisse in New-Jersey innehatte. Simon Hart zählte vierzig Jahre, hatte eine breite Stirne mit Denkerfalten und ein sichres Auftreten, das Entschlossenheit und Zähigkeit erkennen ließ.
In den verschiednen Fragen, die mit der Vervollkommnung der modernen Bewaffnung in Verbindung stehen, sehr bewandert, und unterrichtet über die Erfindungen, die deren Werth beeinflussen konnten, kannte Simon Hart auch ebenso gründlich alle bisher erzeugten Sprengstoffe, deren Anzahl sich am Ende des 19. Jahrhunderts auf etwa elfhundert belief. Ihm kam es nicht darauf an, einen Mann wie Thomas Roch erst zu prüfen; er glaubte an die mächtige Wirkung seines Fulgurators und bezweifelte nicht, daß jener im Besitz einer Maschine sei, die im Stande wäre, die Grundlagen der Kriegführung zu Lande wie zur See, für den Angriff wie für die Vertheidigung umzugestalten. Da er gehört hatte, daß der Irrsinn in dem Manne den Gelehrten noch verschont hatte, daß in diesem, theilweise der Zerrüttung verfallnen Gehirn noch ein heller Schein, eine Flamme, die Flamme des Genies, aufleuchtete, beherrschte ihn nur noch der eine Gedanke, daß die französische Erfindung, wenn jener sie in einem Anfalle einmal verrieth, einem andern Lande als Frankreich dienstbar werden könnte. Sein Entschluß stand fest, sich als Wärter Thomas Roch's anstellen zu lassen, indem er sich für einen geläufig französisch sprechenden Amerikaner ausgab. Er nahm eine Reise nach Europa zum Vorwand, reichte seinen Abschied ein, wechselte den Namen, die Umstände begünstigten ihn, sein Gesuch wurde vom Director genehmigt und so versah er nun seit fünfzehn Monaten den Wärterdienst bei dem Pfleglinge des Healthful-House.
Dieser Entschluß zeugte von einer seltnen Opferwilligkeit, von edler Vaterlandsliebe, denn es handelte sich für einen Mann von dem Bildungsgrade Simon Hart's um eine recht peinliche Dienstleistung. Man vergesse aber nicht, daß der Ingenieur den Thomas Roch nicht nm den Vortheil aus seinem Geheimnisse, wenn dieser es sich entschlüpfen ließ, bestehlen, sondern ihm den verdienten Gewinn sichern wollte, wenn er die Vernunft jemals wieder erlangte.
Seit fünfzehn Monaten lebte also Simon Hart, oder vielmehr Gaydon, bei dem Geisteskranken, beobachtete, belauschte ihn und richtete sogar bestimmte Fragen an den Armen, doch ohne daß er irgend etwas erreicht hätte. Hörte er den Erfinder aber von seiner Entdeckung sprechen, so überzeugte er sich mehr und mehr von deren außergewöhnlichen Bedeutung. Vor allem fürchtete er freilich, daß der partielle Irrsinn Thomas Roch's in allgemeinen Wahnsinn ausarten und daß ein heftiger Anfall sein Geheimniß mit ihm vernichten könnte.
Das war die Lage Simon Hart's, das die Aufgabe, der er sich im Interesse seines Vaterlandes widmete.
Trotz so vieler Enttäuschungen und Kränkungen schien die leibliche Gesundheit Thomas Roch's, Dank seiner kräftigen Constitution, doch nicht gelitten zu haben. Die Nervosität seines Temperaments hielt ihn auch entgegen so vielen zerstörenden Einflüssen aufrecht. Von Mittelgröße, mit mächtigem Kopfe, breiter Stirn, gewaltig entwickeltem Schädel, graugesprenkeltem Haar, mit verstörtem, doch lebhaftem, festem, gebieterischem Blicke, wenn sein vorherrschender Gedanke darin einen Blitz aufleuchten ließ, mit dichtem Schnurrbart unter einer Nase mit beweglichen Flügeln, einem Munde mit festgeschlossnen Lippen, als sollten sie kein Geheimniß herausschlüpfen lassen, mit nachdenklichem Gesichtsausdruck und der Haltung eines Mannes, der schon lange gekämpft hat und entschlossen ist, auch noch weiter zu kämpfen... so hat man sich den Erfinder Thomas Roch vorzustellen, der in einem der Pavillons des Healthsul-House untergebracht war, ohne davon eine Vorstellung zu haben, und den der Ingenieur Simon Hart unter dem Namen Gaydon sorgsam überwachte.
Wer war eigentlich dieser Graf d'Artigas?... Ein Spanier?... Sein Name schien darauf hinzudeuten. Am Achter seiner Goelette stand in goldnen Buchstaben der Name »Ebba«, und dieser ist rein norwegischen Ursprungs. Hätte man ihn gefragt, wie der Kapitän der »Ebba« heiße, so würde er geantwortet haben: »Spade«, und »Effrondat« der Obersteuermann, und »Helim« der Koch, lauter sehr abweichende Namen, die auf verschiedne Nationalität der Inhaber schließen ließen.
Es erschien auch schwierig, aus dem Typus, den der Graf d'Artigas selbst vertrat, einen sichern Schluß zu ziehen. Wies auch die Farbe seiner Haut, das tiefschwarze Haar, die Grazie seiner Haltung auf spanische Abstammung hin, so zeigte seine Gesammterscheinung doch nicht den Rassencharakter, der den Eingebornen der iberischen Halbinsel eigen ist.
Er war ein Mann von übermittler Größe, kräftigem Bau und höchstens fünfundvierzig Jahre alt. Mit seinem ruhigen, fast hoheitsvollen Auftreten ähnelte er jenen Großen der Hindus, deren Blut mit solchem vom malaiischen Archipel gemischt ist. War diese Persönlichkeit auch nicht von kalter Natur, so bemühte sie sich doch, so zu erscheinen, zeigte gebieterische Bewegungen und bediente sich einer kurzen Ausdrucksweise. Was die Sprache des Mannes und seiner Leute anging, so bestand sie in einem jener eigenthümlichen Idiome, die auf den Inseln des Indischen Oceans und der benachbarten Meere herrschen. Brachten ihn seine Seereisen aber an die Küste der Alten oder der Neuen Welt, so drückte er sich mit auffallender Leichtigkeit englisch aus, wobei sich nur ein ganz schwacher Anklang an seine fremde Abstammung hörbar machte.
Kein Mensch hätte sagen können, welches die Vergangenheit des Grafen d'Artigas war, auf welche Schlangenwege ihn sein höchst geheimnißvolles Leben geführt hatte, was er jetzt eigentlich war, woher sein jedenfalls beträchtliches Vermögen, das ihm als vornehmer Herr zu leben erlaubte, wohl stamme, wo er seinen dauernden Wohnsitz oder wenigstens seine Goelette ihren Heimathafen habe, und kein Mensch hätte auch gewagt, ihn danach zu fragen, da er sich wenig mittheilsam erwies. Er schien nicht der Mann zu sein, der sich durch ein Interview, selbst mit amerikanischen Reportern, ausforschen ließ.
Was man von ihm wußte, beschränkte sich auf die Nachrichten der Zeitungen, wenn diese das Eintreffen der »Ebba« in dem oder jenem Hafen, vorzüglich in einem der Ostküste der Vereinigten Staaten meldeten. Dahin kam die Goelette nämlich fast zu bestimmten Zeitpunkten, um sich mit allen Bedürfnissen für eine längere Seefahrt zu versorgen. Hier erwarb sie nicht allein Mundvorrath, Mehl, Zwieback, Conserven, getrocknetes und frisches Fleisch, lebende Rinder und Schafe, sondern auch Kleidungsstücke, Werkzeuge, Luxus- und Bedarfsgegenstände aller Art gegen hohe Preise, die in Dollars, Guineen oder andern Münzsorten verschiednen Herkommens bezahlt wurden.
Hieraus ergiebt sich, daß, wenn man vom Privatleben des Grafen d'Artigas auch gar nichts wußte, er doch in den verschiednen Häfen Amerikas, von denen der Halbinsel Florida an bis zu denen Neu-Englands hin, recht wohl bekannt war. Es erscheint daher gar nicht wunderbar, daß der Director des Healthsul-House sich durch das Gesuch des Grafen d'Artigas sehr geehrt fühlte und diesen ehrerbietigst empfing.
Uebrigens war es das erste Mal, daß die Goelette »Ebba« im Hafen von New-Berne ankerte. Nach der Mündung der Neuze konnte sie offenbar nur eine Laune ihres Eigenthümers geführt haben. Was hätte Graf d'Artigas sonst hier vorgehabt?... Sich zu verproviantieren?... Nein, denn im Grunde des Pamplicosundes hätte er die Hilfsmittel, die ihm andre Häfen, wie Boston, New-York, Dover, Savannah, Wilmington in Nord- und Charleston in Südcarolina boten, gewiß nicht vorgefunden. Seine Piaster und Banknoten hätte er im Becken der Neuze, auf dem unbedeutenden Markte von New-Berne, auch kaum gegen Waaren umtauschen können.
Dieser Hauptort der Grafschaft Craven zählt kaum fünf- bis sechstausend Einwohner. Der Handel desselben beschränkt sich auf die Ausfuhr von Getreide, Schweinen, Möbeln und einiger Schiffsmunition. Außerdem hatte die Goelette vor wenigen Wochen, bei einem zehntägigen Aufenthalt in Charleston, volle Ladung für eine Reise eingenommen, deren Ziel wie immer niemand kannte.
Es fragt sich nun, ob die räthselhafte Persönlichkeit nur mit der Absicht gekommen war, das Healthsul-House einmal zu besuchen.
Das erschien ja nicht überraschend, da diese Anstalt sich eines verbreiteten und wohlverdienten Russ erfreute.
Vielleicht bestimmte den Grafen d'Artigas dabei auch die Laune, einmal mit Thomas Roch zusammenzutreffen. Das allgemeine Bekanntwerden des französischen Erfinders hätte eine solche Neugier ja gerechtfertigt... ein überspanntes Genie, dessen Erfindungen die Methoden der modernen Kriegführung umzustürzen versprachen.
Am Nachmittage stellte sich, seinem Gesuche entsprechend, der Graf d'Artigas in Begleitung des Kapitän Spade, des Befehlshabers der »Ebba«, am Thore des Healthsul-House ein.
Gemäß den ertheilten Anordnungen wurden Beide sofort eingelassen und nach dem Privatzimmer des Directors geführt.
Dieser empfing den Grafen d'Artigas in zuvorkommendster Weise und stellte sich ihm zur Verfügung, da er keinem Andern die Ehre gönnen wollte, sein Cicerone zu sein. Graf d'Artigas nahm das verbindliche Angebot mit höflichem Danke an. Der Director prahlte nicht wenig mit seiner den Kranken gewidmeten Pflege, einer Pflege, die, wenn man ihm glauben durfte, der weit überlegen war, die jene in ihrem eignen Heim genossen hätten, einer wahren »Luxusbehandlung«, wiederholte er öfters, deren Erfolge dem Healthsul-House seinen verdienten Ruhm erworben hatten.
Der Graf d'Artigas hörte ihm zu, ohne sich aus seinem gewohnten Phlegma bringen zu lassen, und schien sich von dieser unversieglichen Ruhmrednerei interessieren zu lassen, um desto besser das Verlangen zu verhüllen, das ihn nach diesem Hause geführt hatte. Nach fast einstündigem Zuhören und Umherwandeln nahm er jedoch selbst das Wort.
»Haben Sie, Herr Director, nicht auch einen Kranken hier, von dem man in der letzten Zeit allgemein viel gesprochen und der sogar in nicht geringem Maße dazu beigetragen hat, dem Healthsul-House die öffentliche Aufmerksamkeit zuzuwenden?
– Ah, Sie sprechen wohl von Thomas Roch, Herr Graf? fragte der Director.
– Ganz recht... von jenem Franzosen... jenem Erfinder, dessen Vernunft etwas angegriffen zu sein scheint.
– Sogar sehr, Herr Graf, und vielleicht ist das ein wahres Glück. Meiner Ansicht nach hat die Menschheit nichts zu gewinnen durch Erfindungen, deren Verwendung nur die ohnehin schon so zahlreichen Zerstörungsmittel noch vermehrt...
– Sehr klug und weise, Herr Director! Ich theile hierin übrigens völlig Ihre Meinung. Der wahre Fortschritt liegt nicht auf dieser Seite, und ich betrachte die als verderbliche Geister, die auf solchem Wege wandeln. Hat jener Erfinder denn seine geistigen Fähigkeiten noch nicht gänzlich verloren?
– Gänzlich?... O nein, Herr Graf, außer was so die gewöhnlichen Sachen des Lebens betrifft. In dieser Beziehung fehlt es ihm an jedem Verständniß und an jeder Verantwortlichkeit für sein Thun und Treiben. Sein Erfindergenie ist dagegen ganz unberührt geblieben, es hat die geistige Entartung überlebt, und wenn jemand auf seine, allerdings ganz unverständigen Forderungen eingegangen wäre, zweifle ich gar nicht daran, daß er eine neue Kriegsmaschine – für die ja nicht das geringste Bedürfniß vorliegt – zu Stande gebracht hätte.
– Gewiß, kein Bedürfniß, Herr Director, wiederholte der Graf d'Artigas, dem der Kapitän Spade beizustimmen schien.
– Sie werden darüber übrigens selbst urtheilen können, Herr Graf. Hier stehen wir vor dem von Thomas Roch bewohnten Pavillon. Ist seine Einschließung auch vom Gesichtspunkte der öffentlichen Wohlfahrt ganz gerechtfertigt, so wird er doch mit aller ihm gebührenden Rücksicht und aller Sorgfalt behandelt, die sein Zustand erfordert. Daneben ist er geschützt vor indiscreten Personen, die etwa darauf ausgingen...«
Der Director schloß seinen Satz mit einem sehr bezeichnenden Kopfschütteln, das auf den Lippen des Fremden ein kaum bemerkbares Lächeln hervorrief.
Wird denn Thomas Roch, fragte der Graf d'Artigas, auch niemals allein gelassen?...
– Niemals, Herr Graf. Er hat zur steten Beaufsichtigung einen besondern Wärter, auf den wir uns unbedingt verlassen können. Im Fall ihm dann auf die eine oder die andre Weise eine Andeutung entfallen sollte, wird diese augenblicklich bemerkt, und es würde sich dann zeigen, welcher Gebrauch davon zu machen wäre.«
Bei diesen Worten streifte der Graf d'Artigas mit einem flüchtigen Blicke den Kapitän Spade, der durch eine leichte Bewegung sagen zu wollen schien: »Ja, ja, ich verstehe.«
Wer den genannten Kapitän während dieses Besuchs beobachtet hätte, würde in der That bemerkt haben, daß er den Theil des Parks, der den Pavillon Nr. 17 umschloß, und die Eingänge, die hierher den Zutritt ermöglichten, mit größter Aufmerksamkeit musterte... wahrscheinlich angesichts eines schon vorher entworfnen Planes.
Der Garten dieses Pavillons reichte bis an die Umfassungsmauer des Healthsul-House. Nach außen zu zog sich die Mauer fast am Fuße des Hügels hin, dessen letzter Abhang in sanfter Neigung nach dem rechten Neuzeuser verlief.
Der Pavillon selbst bestand nur aus einem Erdgeschoß, mit einer Art italienischen Terrasse darüber. Das Erdgeschoß enthielt zwei Zimmer nebst einem Vorraume, deren Fenster durch Eisenstangen verwahrt waren. An beiden Seiten des kleinen Gebäudes erhoben sich schöne Bäume, die jetzt im üppigsten Laubschmuck standen. Davor dehnte sich eine grüne, zarte Rasenfläche aus, die da und dort mit verschiednen Gesträuchen und farbenprächtigen Blumen geschmückt war. Das Ganze umfaßte etwa einen halben Ar zum ausschließlichen Gebrauch für Thomas Roch, der hier unter der Aufsicht seines Wärters beliebig lustwandeln konnte.
Als der Graf d'Artigas, der Kapitän Spade und der Director der Anstalt den abgeschlossnen Raum betraten, bemerkten sie schon an der Thür des Pavillons den Wärter Gaydon.
Sofort wendete sich der Blick des Grafen d'Artigas dem Manne zu, den er mit merkwürdiger Zähigkeit zu betrachten schien. Es war nicht zum ersten Male, daß Fremde den Insassen des Pavillons Nr. 17 aufsuchten, denn der französische Erfinder galt mit Recht für den interessantesten Pflegling des Healthful-House. Gaydon's Aufmerksamkeit wurde jetzt aber besonders erregt durch den originellen Typus der zwei Männer, deren Nationalität er nicht kannte. War ihm der Name des Grafen d'Artigas auch geläufig genug, so hatte er doch nie Gelegenheit gehabt, diesem Gentleman während seines Aufenthalts in den östlichen Häfen zu begegnen, und er wußte auch nicht, daß die Goelette »Ebba« zur Zeit am Eingange der Neuze und am Fuße des Hügels vom Healthful-House verankert lag.
»Wo ist Thomas Roch, Gaydon? fragte der Director.
– Dort, antwortete der Wärter, indem er mit der Hand nach einem Manne hinwies, der hinter dem Pavillon nachdenkend und langsamen Schrittes unter den Bäumen auf und ab ging.
– Der Herr Graf d'Artigas ist ermächtigt, das Healthsul-House zu besuchen und hat davon nicht wieder weggehen wollen, ohne Thomas Roch gesehen zu haben, von dem in letzter Zeit so vielfach gesprochen worden ist...
– Und von dem man noch mehr sprechen würde, fiel der Graf d'Artigas ein, wenn die Bundesregierung nicht die Vorsicht gebraucht hätte, ihn in dieser Anstalt einzuschließen...
– Eine nothwendige Vorsichtsmaßregel, Herr Graf.
– Nothwendig... ja freilich... Herr Director, jedenfalls ist es für die Ruhe der Welt ersprießlicher, wenn das Geheimniß dieses Erfinders mit ihm untergeht.«
Gaydon hatte, nachdem er sich den Grafen d'Artigas angesehen, noch kein Wort gesprochen und begab sich jetzt, den beiden Fremden voranschreitend, nach dem Baumdickicht im Hintergrunde der Einzäunung.
Die Besucher hatten nur einige Schritte zu machen, um Thomas Roch gegenüber zu stehen.
Thomas Roch hatte sie nicht kommen sehen, und als sie sich in kurzem Abstande vor ihm befanden, bemerkte er ihre Anwesenheit wahrscheinlich auch jetzt nicht.
Inzwischen besichtigte der Kapitän Spade, ohne irgendwelchen Verdacht zu erregen, die ganze Oertlichkeit, vorzüglich die Stelle, die der Pavillon Nr. 17 hier im untern Parktheile des Healthsul-House einnahm. Als er eine geneigt verlaufende Allee herauskam, konnte er deutlich eine Mastspitze sehen, die über die Umfassungsmauer emporragte. Um zu erkennen, daß es die der Goelette »Ebba« war, genügte ihm ein einziger Blick, und er sah daraus, daß die Mauer sich hier längs des Neuzeusers hin erstreckte.
Unbeweglich und stumm betrachtete der Graf d'Artigas inzwischen den französischen Erfinder. Bei diesem noch kräftigen Manne – das erkannte er – schien die körperliche Gesundheit durch eine schon achtzehn Monate währende Einschließung noch nicht gelitten zu haben. Sein seltsames Auftreten aber, die unzusammenhängenden Bewegungen, der starre Blick und die mangelnde Aufmerksamkeit gegen alles, was um ihn her vorging, verriethen nur zu deutlich einen vollständigen Zustand der Unbewußtheit und eine tiefe Störung der geistigen Fähigkeiten.
Thomas Roch hatte sich auf eine Bank gesetzt und zeichnete mit der Spitze eines Rohrstöckchens die Umrisse einer Festungsanlage in den Sand des Weges. Dann kniete er nieder und scharrte kleine Haufen von Sand zusammen, die offenbar Bastionen vorstellen sollten. Nachdem er hierauf einige Blätter von einem Strauche in der Nähe abgerissen hatte, steckte er sie als Miniaturfahnen in die Häuschen, und alles das geschah höchst ernsthaft und ohne daß er sich durch die ihm zusehenden Personen im geringsten beirren ließ.
Das Ganze war ein Kinderspiel, nur hätte ein Kind dabei nicht diesen Ernst und die charakteristische Gleichgiltigkeit für alles andre gezeigt.
»Er ist also wohl ganz irrsinnig? fragte der Graf d'Artigas, der trotz seiner gewohnten Unerregbarkeit doch einige Enttäuschung zu fühlen schien.
– Ich hatte Ihnen schon mitgetheilt, Herr Graf, wie es mit ihm steht.
– Wäre er auch nicht im Stande, uns einige Aufmerksamkeit zu widmen?
– Es dürfte schwer fallen, ihn dazu zu bewegen.«
Dann wendete er sich an den Wärter.
»Sprechen Sie ihn an, Gaydon, vielleicht bringt ihn Ihre Stimme dazu, eine Antwort zu geben.
– Ja, mir wird er sicherlich antworten, Herr Director,« sagte Gaydon.
Bei diesen Worten berührte er die Schulter des Kranken.
»Thomas Roch?« rief er recht sanften Tones.
Dieser richtete den Kopf auf, sah aber von allen anwesenden Personen ohne Zweifel nur seinen Wärter, obgleich der Graf d'Artigas, der Kapitän Spade und der Anstaltsdirector einen Kreis um ihn her bildeten.
»Thomas Roch, fuhr Gaydon in englischer Sprache fort, hier sind Besucher, die Sie zu sehen wünschten... sie interessieren sich für Ihr Wohlergehen... für Ihre Arbeiten...«
Das letzte Wort war das einzige, das die Aufmerksamkeit des Erfinders zu wecken schien.
»Für meine Arbeiten?...« erwiderte er ebenfalls englisch, das er geläufig sprach.
Darauf faßte er, wie ein Knabe seinen Ball, einen Kieselstein mit Daumen und Zeigefinger und schleuderte ihn nach einem der Sandhäufchen, das er dadurch zerstörte.
Ein Freudenruf drang aus seinem Munde.
»Vernichtet!... Weggefegt!... Mein Fulgurator!... Ich habe alles mit einem einzigen Schlage zerstört!«
Thomas Roch hatte sich erhoben, das Feuer des Triumphes leuchtete aus seinen Augen.
»Da sehen Sie es, bemerkte der Director gegen den Grafen d'Artigas, der Gedanke an seine Erfindung weicht nie von ihm...
– Und wird auch mit ihm sterben, versicherte der Wärter Gaydon.
– Könnten Sie ihn nicht dazu bewegen, von seiner Erfindung, von seinem Sprengstoffe und seinem Zünder zu sprechen, Gaydon?...
– Wenn Sie es haben wollen, Herr Director...
– Ja, ich will es, denn ich glaube, das dürfte den Grafen d'Artigas vor allem interessieren...
– In der That, fiel der Besucher ein, ohne daß sein kalter Gesichtsausdruck etwas von den Empfindungen erkennen ließ, die ihn bewegten.
– Ich laufe aber Gefahr, damit einen neuen Anfall hervorzurufen, bemerkte der Wärter.
– Sie werden das Gespräch abbrechen, wo Sie es für angezeigt halten. Sagen Sie Thomas Roch, ein Fremder wünsche mit ihm um den Ankauf seiner Maschine zu verhandeln...
– Fürchten Sie denn nicht, daß ihm sein Geheimniß dabei entschlüpft?« versetzte der Graf d'Artigas.
Das stieß er so hastig hervor, daß Gaydon sich nicht enthalten konnte, ihn mit mißtrauischen Blicken zu messen, was den unerschütterlichen Gast freilich nicht zu beunruhigen schien.
»Das ist nicht zu befürchten, antwortete der Wärter; kein Versprechen vermöchte Thomas Roch sein Geheimniß zu entlocken!... So lange man ihm nicht die Millionen eingehändigt hat, die er fordert...
– Die hab' ich leider nicht bei mir,« antwortete der Graf d'Artigas sehr ruhig.
Gaydon trat seinem Pflegebefohlenen etwas näher und berührte, wie vorher, leicht dessen Schulter.
»Thomas Roch, sagte er, hier sind Fremde, die Ihren Fulgurator zu kaufen beabsichtigen....
Thomas Roch richtete sich auf.
»Meinen Fulgurator... rief er, den Fulgurator Roch!...«
Eine zunehmende Aufregung deutete schon auf das Bevorstehen eines Anfalls hin, von dem Gaydon bereits gesprochen hatte und den Fragen dieser Art stets auslösten.
»Für wieviel wollten Sie ihn erwerben... für wieviel... wieviel...« fuhr der französische Erfinder fort.
Es war gar nicht gewagt, ihm eine noch so ungeheure Summe zu bieten.
»Wieviel bieten Sie... wieviel?... wiederholte der Kranke.
– Zehn Millionen Dollars, antwortete Gaydon.
– Zehn Millionen!... rief Thomas Roch. Zehn Millionen für einen Fulgurator, der allem, was man bisher in solchen Dingen geschaffen hat, zehnmillionenmal überlegen ist?... Zehn Millionen für ein Geschoß mit eigner Fortbewegung, das im Zerspringen seine zerstörende Gewalt über Tausende von Quadratmetern ausbreitet?... Zehn Millionen, das ist ja allein der Zünder werth, der die Explosion hervorbringt!... Nein, alle Schätze der Erde würden nicht hinreichen, das Geheimniß meiner Maschine zu bezahlen, und ehe ich es für einen solchen Preis hingebe, beiß' ich mir lieber die Zunge im Munde ab!... Zehn Millionen für etwas, das eine Milliarde werth ist... eine Milliarde... eine Milliarde!...«
Thomas Roch erwies sich hiermit als ein Mensch, dem alle Begriffe und jedes Maß der Dinge verloren gegangen waren, wenn man mit ihm unterhandeln wollte. Und selbst wenn ihm Gaydon zehn Milliarden geboten hätte, so würde er in seinem Wahnsinn doch noch mehr verlangt haben.
Der Graf d'Artigas und der Kapitän Spade hatten nicht aufgehört, ihn von Anfang dieses Anfalles an zu beobachten – der Graf immer phlegmatisch, obgleich sich seine Stirn verdüstert hatte, der Kapitän mit Kopfschütteln, wie Einer, der sagen zu wollenschien: »Entschieden ist mit diesem Unglücklichen nichts an zufangen!«
Thomas Roch war übrigens schon entwichen, lief quer durch den Garten und rief noch immer mit von Zorn erstickter Stimme:
»Milliarden!... Milliarden!...«
Da bemerkte Gaydon, gegen den Director gewendet:
»Das hatt' ich Ihnen vorhergesagt!«