Vorbild Hannah Arendt - Ulrich Gierse - E-Book

Vorbild Hannah Arendt E-Book

Ulrich Gierse

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Beschreibung

Das Buch "Vorbild Hannah Arendt: Aktive Politik gegen den Hass" gibt Antworten auf zwei drängende Probleme unserer Zeit.: 1. Wie ist es möglich, den Konsens der Nachkriegszeit, nie wieder Nazis zu wählen, zu erneuern? 2. Was müsste die Politik heute tun, um die Bevölkerung resilienter gegen extremistische Verführungen zu machen? Daraus ist ein Text entstanden, der drei Teile hat. Im ersten Teil geht es darum das, was nach Hannah Arendt das ist, was nie hätte geschehen dürfen, rauszuarbeiten. Vier Säulen des Hasses sind dabei zu unterscheiden: Totale Herrschaft, Imperialismus, Rassismus und Antisemitismus. Heute immer noch besonders interessant ist ihre Grundannahme, dass Einsamkeit/Verlassenheit eine wichtige Voraussetzung für die Abwanderung zu nicht-demokratischen Politikmodellen ist. Wenn Hannah Arendt damit richtig liegt, muss das Konsequenzen für die aktuelle Politik haben. Im zweiten Teil werden Elemente einer Gegenstrategie vorgestellt. Dabei geht es um ein neues Verständnis von Politik, nicht als Herrschafts- und Machtverhältnis, sondern als sozialer Selbstzweck von freien Menschen. Diese Revitalisierung des Politischen schließt auch ein, das Problem der Verlassenheit, der unpolitischen Weltlosigkeit, durch ein aktives In-der-Welt-zuhause-seins zu ersetzen. Im dritten Teil stellt Ulrich Gierse seine Ergebnisse für eine anti-totalitäre Politik, die sich aus den Analysen Hannah Arendts ergibt, vor.

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Widmung

Für Max und Hannes, die im Sinne Hannah Arendts noch so jung sind, dass sie neu anfangen können.

Und für meine Frau Sylvia, nur durch sie ist das Buch einigermaßen verständlich geworden.

Schön, dass es euch gibt!

Inhalt

Vorwort

I. Verlassenheit und Hass

1. Loneliness (Verlassenheit)

Begriffsklärungen

Entfremdung und Resonanzverlust

2. Totalitarianism (Totale Herrschaft)

Der Zivilisationsbruch

Der Begriff „totale Herrschaft“

Was ist neu an totaler Herrschaft?

Das eiserne Band des Terrors

Die Ideologieverschworenheit

Bewegung und Chaos

Die Zerstörung des Individuums

Vergessen und Empathielosigkeit

3. Imperialism (Imperialismus)

Das Scheitern des Modells Nationalstaat

4. Racism (Rassismus)

Kolonialismus und Rassismus

Der Rassenantisemitismus

Die völkischen Bewegungen in Europa

5. Antisemitism (Antisemitismus)

Der Antisemitismus und der Nationalstaat

Die Mobilisierung des Mobs

Der Antisemitismus als Joker

II. Vita activa gegen den Hass

Menschen gibt es nur im Plural

Menschen können neu anfangen

Menschen konstruieren Welt

Menschen machen Politik

Menschen sind frei

Menschen brauchen öffentliche Räume

Menschen haben Macht

Menschen denken

Denken ohne Geländer

Antizipation - das verstehende Herz

Menschen haben Gemein-Sinn

Menschen haben Sichtweisen

Die soziale Frage lösen

Menschen - In-der-Welt-Zuhause-sein

Freundschaft und Humanität

III. Look up!

Aktuelle Studien zu Einsamkeit

Pluralität und Freiheit

Erinnerung und Antisemitismus

Schluss

IV. Materialien:

Hannah Arendt über Freundschaft

Walter Benjamin: Angelus Novus

Hannah Arendt über Verlassenheit

Perikles: Rede in Athen 431 v.Z.

V. Literatur

Register

Autor

„Die Dinge sahen anders aus, nachdem sie sie betrachtet hatte.“

Hans Jonas über Hannah Arendt1

Vorwort

In Alfred Hitchcocks Horror-Klassiker "Die Vögel" beginnt der Überfall der Krähen auf die Kleinstadt Bodega Bay mit der Ankunft eines einzigen schwarzen Vogels. Niemand bemerkt ihn, niemand reagiert, denn es ist ja bloß ein einziger Vogel. Erst später, wenn der Himmel finster wird von den Krähenschwärmen und es Tote gibt, versteht man die Bedeutung der ersten Krähe.

Die ersten Hinweise auf eine drohende Katastrophe werden gern beiseitegeschoben, nicht ohne Grund ist die Hoffnung die schlimmste Plage aus der Büchse der Pandora. Menschen neigen offensichtlich stark dazu, sich vor allem nach Krisen schnell der Illusion von Harmonie hinzugeben. Nach dem Ersten Weltkrieg dachte man, das sei nun endgültig der letzte Krieg gewesen und die Demokratie habe weltweit gesiegt, stattdessen wurden die Demokratien durch Stalinismus und Faschismus in die nächste Katastrophe geführt. Am Ende des Zweiten Weltkriegs war Franklin Roosevelt davon überzeugt, dass nun das Zeitalter „einer Weltorganisation“ aus „friedliebenden Nationen“ angebrochen sei, die eine „dauerhafte Struktur des Friedens“ zum Ziel hätte. Was kam war der erste globale Krieg, der sogenannte Kalte Krieg. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums 1990 prognostizierte der amerikanische Politologe Francis Fukuyama, dass das, was wir heute erleben, vielleicht das Ende der Geschichte als solcher sei, er sah die Universalisierung der westlich-liberalen Demokratie als definitive Regierungsform des Menschen am Horizont.

Aktuell erleben wir das Ende der US-amerikanischen Vorherrschaft in der Welt, das Ergebnis ist eine globale Unordnung. Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus erstarken, ein neuer islamischer Fundamentalismus erschüttert mit Terrorakten die Welt. Selbst in Europa sind die Nachkriegszeiten, in denen die nationalen Grenzen als sicher galten, mit dem Überfall auf die Ukraine durch die Russische Föderation vorbei. Nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 an über 1000 Zivilisten in Israel durch die islamistische Terrororganisation Hamas gab es nicht etwa eine weltweite Solidarisierung mit den Israelis, sondern einen Aufschwung von Antisemitismus. Die globale Linke zieht sich in das scheinabr überwundene Schneckenhaus der einfachen Wahrheiten zurück und damit erleben wir eine bisher für Unsinn gehaltene Nähe zwischen rechts- und linksextremen Positionen.

Besorgniserregend ist insbesondere, dass es den Menschen, die extrem wählen, gar nicht um konkrete Inhalte zu gehen scheint, sondern sie wollen eine Bestrafung des „Systems“, welches sie für ihre Probleme haftbar machen, insgesamt und eine Rückkehr zu einer als „normal“ empfundenen Vergangenheit. Das zeigen auch die Wahlergebnisse der AfD bei den Europa-Wahlen, insbesondere in den Bundesländern der ehemaligen DDR. Trotz einem unsinnigen Programm und wahrscheinlich korrupten Spitzenkandidaten gelang es der AfD ein Rekordergebnis einzufahren und gleichzeitig noch Stimmen an die CDU und das BSW abzugeben. Das wäre vor einem Jahr noch als Schock empfunden worden, aber offensichtlich gibt es einen Gewöhnungseffekt, man nimmt das Desaster achselzuckend hin. Genauso befremdlich ist die Nähe von AfD und auch BSW zum faschistoiden russischen Apparat und der faktischen Parteinahme für den neoimperialen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

„Bussiness as useal“ oder „Der Verbrenner ist mir wichtiger als die Zukunft meiner Kinder“ sind die Verdrängungsstrategien vor allem in der Mitte der Gesellschaft. Die aktuell notwendigen Veränderungen wegen der Erderhitzung werden als Zumutungen betrachtet, die angeblich Angriffe auf die Freiheit bedeuteten. Auch diese Ablehnung, Verantwortung zu übernehmen, ist Wasser auf den Mühlen der politischen Extremisten. Denn letztlich geht es allen extremistischen Bewegungen um Zerstörung. Zum einen ist der Rückzug ins Unpolitische immer schon die Basis für totalitäre Bewegungen gewesen und zum anderen sind Chaos und Zerstörung wesentliches Futter für Extremismus. Es geht um die Zerstörung von dem, was den Westen bzw. Deutschland heute ausmacht: Integration in die EU und die NATO, militärische Unterstützung gegen die gewaltsame Veränderung von Grenzen in Europa, Toleranz gegenüber sexuellen Orientierungen und nicht zuletzt der Anspruch die Menschenrechte wie sie in der UN-Charta oder im Grundgesetz festgeschrieben sind, zu erfüllen, was vor allem der Beschränkung von Migration Grenzen setzt.

Doch auch nach den Wahlen zum Europaparlament gibt es noch keinen Grund, in Panik auszubrechen, wir sind noch weit von totalitären Verhältnissen entfernt, aber autoritäre, reaktionäre und auch faschistische Perspektiven sind durchaus auch kurzfristig in einzelnen Ländern denkbar.2

Den Demokrat*innen weltweit bleibt noch Zeit, die Bedrohungen abzuwehren. Aber es ist so ähnlich wie bei der Klimakrise, wenn man nicht rechtzeitig anfängt, ist es vielleicht zu spät. Bei der Klimakrise ist die Ursache seit fast 50 Jahren bekannt, die CO2-Emissionen müssen runter, darüber ist man sich politisch wie wissenschaftlich inzwischen einig. Bei der Analyse des totalitären Extremismus ist man noch nicht soweit. Weder journalistisch, wissenschaftlich noch politisch gibt es einen vergleichbaren Konsens über die Diagnose und erst recht nicht über Gegenstrategien. Das ist die Ausgangsposition, die mir zumindest Sorgen macht.

Die Fragestellung lautet also, was droht uns und gibt es Hebel zur Vermeidung einer weiteren politischen Katastrophe? Oder zugespitzt gefragt: was ist das CO2der Krise der Demokratien?

Hass scheint der neue Zeitgeist zu sein: Hass auf Einwanderer, Judenhass, Hass auf Grüne, Hass auf Polizisten, Hass auf Rettungskräfte, Hass auf jeden, der anderer Meinung ist. Hass zersetzt den Gemeinsinn und isoliert die Menschen unter- und voneinander. Die neuen Smartphone- Medien machen das Opfersein zu einem marktgängigen Mittel, Geld zu verdienen. Die Posts, welche am wütendsten , am polemischsten sind die von den Algorithmen der Social-Media-Plattformen bevorzugtesten. Und am besten ist es, wenn man sich selbst als verwundet zeigt. Wunden sind eine eindrucksvoll und daher beliebte Ware. Auch da zeigt sich, es geht gar nicht um Inhalte. Die PolitikerInnen, die die AfD inhaltlich stellen wollen, verkennen den Zerstörungswunsch und das Zerstörungspotential von extremistischen Haltungen. Inhalte sind dabei austauschbar, entscheidend ist die Opfer-Haltung.

Eine politische Strategie gegen den Hass müsste meiner Meinung nach folgendes leisten: Sich mit Rassismus und Antisemitismus als Trigger von politischen Affekte auseinandersetzen; den Zivilisations- und Traditionsbruch des Nazi-Regime3 im Bewusstsein präsent halten und darüber nachdenken, welche strukturellen Veränderungen zur Stärkung der Resilienz gegen extremistische Ideologien, gerade auch in Krisenzeiten, möglich und erfolgversprechend sind.

Und da kommt Hannah Arendt ins Spiel. Ihre Antwort auf die Frage, wie lässt sich eine Wiederholung von totalitärer Herrschaft verhindern, ist das Produkt eines lebenslangen Nachdenkens über totalitäre Herrschaft und der Verhinderung einer Wiederholung.

Ein heute wenig beachtetes Element für die Herausbildung dieser neuen Herrschaftsform ist für Hannah Arendt die Verlassenheit (engl. loneliness) des modernen Menschen. Arendt bemüht zur Erklärung ein Lutherzitat, „daß es nicht gut sei für den Menschen, allein zu sein. Luther sagt dort: »Ein solcher (nämlich ein einsamer) Mensch folgert immer eins aus dem anderen und denkt alles zum ärgsten.« (EU 1004)4 Etwas später heißt es dann: „Die »Radikalität« totalitärer Ideologien ist nur der Extremismus des Ärgsten und hat mit echter Radikalität gar nichts zu tun.“5 Im Gegenteil führt diese Art zu denken, alles aufs Ärgste zu denken, immer zu Verschwörungstheorie, dem Salz in der trüben Suppe jeder Ideologie.

Neben dem Massenphänomen, sich verlassen, abgehängt, verwundet zu fühlen und der darauf aufsetzenden Bereitschaft sich einer Weltanschauung anzuschließen, die das, was ist, negiert, führt Arendt als das wichtiges Alarmzeichen für die Bedrohung der liberalen Demokratie an, wenn Menschen meinen, der Sinn von Politik sei, sie nicht weiter zu belästigen und dass Politik geräuschlos hinter den Kulissen abzulaufen habe. Das sei fatal, denn wenn Menschen apolitisch werden, werden sie weltlos und werden ebenfalls offen dafür, in Freund- Feind-Schemata zu denken und Hass und Zerstörungsphantasien als Lösung anzunehmen. Hannah Arendt nennt Zeiten, in denen Menschen sich Ruhe von der Politik wünschen, deshalb finstere Zeiten.

Wenn Hannah Arendt recht hat, ist der Dreiklang von ideologischem Denken, Entpolitisierung und „Verlassenheit“ die Mischung von giftigen Molekülen, die die liberalen Demokratien in ihrer Existenz gefährden.

Das Molekül-Cocktail CO2in der Erdatmosphäre, das durch die Verbrennung fossiler Rohstoffe entsteht, muss, will man die Klimakrise stoppen, praktisch auf null Emissionen gesenkt werden. Analog müssten also gesellschaftlich soziale Strukturen entwickelt werden, die Menschen neuen Halt geben, politische Debatten befördern und das Gefühl der Verlassenheit reduzieren.

Hannah Arendts schlägt eine Re-Politisierung vor, die zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen soll. Zum einen wird ein neuer soziale Zusammenhalt Verlassenheit nachhaltig vermindern können, zum anderen liegt ein individueller Gewinn in einer Demokratisierung in einem Zuwachs von Selbstgewissheit. Jede/r Bürger/in Könnte seine/ ihre eigene Sicht auf die Welt mit den Sichtweisen der anderen abgleichen und die eigene Weltsicht schärfen. Denn nur im miteinander und gegeneinander Sprechen gewinnen Menschen eine Sicht auf die Wirklichkeit und können sich dann auf gemeinsames Handeln verständigen.

Das Miteinander-Reden ist auch der Punkt, der aktuell besonders wichtig wird, denn auch wenn wir aktuell die ideologisch in der medialen Blase der AfD gefangenen Menschen nicht mehr medial erreichen können, müssen wir prioritär die Menschen erreichen, die auf dem Absprung sind oder noch im Stadium des Unpolitisch-Sein verharren. Diese Menschen können aber die etablierten Parteien und politischen Eliten kaum noch erreichen, denn diese Menschen fühlen sich von der traditionellen Politik im Stich gelassen, sie sind, wenn überhaupt nur noch von Nachbarn, Kolleg*innen und Freund*innen oder im Sinne Arendts durch die lokale Bürgerschaft erreichbar.

Grundlage dieser Thesen sind eine komplexe, tiefsinnige Analyse totaler Herrschaft und die Expertise, ein ganzes Leben darüber nachgedacht zu haben, was sich in der Politikvorstellung selbst ändern muss, damit eine Wiederholung dessen, was nie hätte geschehen dürfen, verhindert werden kann. Das Denkprojekt lautet also folgendermaßen: Mal angenommen, Hannah Arendt hätte Recht? Was müssten wir dann tun?

Getreu dem Motto: „The proof of the pudding is in the eating.“, gilt es also erstmal das Arendtsche Rezept neu zu studieren, um dann ein gutes Gericht zu zaubern. Das wird nicht ganz einfach, denn Hannah Arendt fordert als Antwort auf das, „Was nie hätte geschehen dürfen“6 einen Bruch mit dem traditionellen (gerade auch philosophischen) Denkens über Politik, Macht und Herrschaft und eine Neuformulierung von Freiheit, politischem Handeln und politischer Öffentlichkeit. Hannah Arendt bringt, und das ist ihre Einzigartigkeit, in einmaliger Weise Analyse und persönliche Erfahrungen zusammen. Ihren politischen Scharfsinn, die Courage, auch unangenehme Wahrheiten auszusprechen und ihre

geistesgeschichtliche Expertise verknüpft sie mit ihren Erfahrungen als verfolgte deutsche Jüdin, staatenlose Flüchtende, zionistische Aktivistin und antizionistische Kritikerin, Deutsche und Amerikanerin, und nicht zuletzt als jemand, der Freundschaft nicht nur proklamierte, sondern lebte. Ihr Verleger William Jovanovich drückte das sehr bewegend auf ihrer Trauerfeier so aus: „Durch Hannah schäme ich mich weniger, ein Mensch zu sein. Das ist ihr Geschenk.“7

Die politische Analyse der „totalen Herrschaft“ bildet auch für mich die Denkbasis, von dem sich alle andere Arbeiten Arendts erschließen. Denn für Arendt ist es nicht die Frage, ob Politik oder Wissenschaft rechts oder links sind, sondern nach dem furchtbaren Zivilisationsbruch des millionenfachen Mords müsse jede/r letztlich die Frage: „Wird es zu totalitärer Herrschaft führen oder nicht?“8, beantworten.

Daraus ist ein Text entstanden, der drei Teile hat. Im ersten Teil geht es darum das, was Hannah Arendt unter „totalitäre Herrschaft“ als neues Herrschaftssystem versteht, anschaulich herauszuarbeiten. Vier Säulen des Hasses sind dabei zu unterscheiden: Totalitäre Herrschaft, Imperialismus, Rassismus und Antisemitismus. Den rote Faden bildet Hannah Arendts Grundannahme, dass „Verlassenheit“ als Abfallprodukt der Moderne ein notwendiges Element für die totalitäre Zerstörung jeder Spontaneität, Individualität und Freiheit ist. Im zweiten Teil wird die politische Gegenstrategie Hannah

Arendts gegen vortotalitäre Strukturen vorgestellt. Ihre Revitalisierung des Politischen schließt auch ein, das Problem der Verlassenheit und der unpolitischen Weltlosigkeit, durch ein aktives In-der-Welt-zuhause-Sein zu ersetzen. Hannah Arendt macht den sozialen Status zum Ausgangspunkt ihres Nachdenkens über Alternativen. Menschen die ihre Wirklichkeit selbst in die Hand nehmen können, wären nicht länger im Status des Verlassenseins, sondern sozial eingebunden, gerade durch das aktive politisch Leben (Vita activa).

Im dritten Teil habe ich meine Schlussfolgerungen für eine neue politische Kultur formuliert. Aktive Politik gegen den Hass heißt Menschen zu ermächtigen über ihre Angelegenheiten selbst entscheiden zu können.

Der Blick in die Zukunft kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn die Vergangenheit immer auch präsent bleibt. Und da spielt die offensichtlich nicht mehr erfolgreiche Tabuisierung, auf keinen Fall mehr Faschisten zu wählen eine wichtige Rolle. Die Europawahlen hatten in Deutschland ein signifikantes Ergebnis in Bezug auf AfD-Stimmanteile in Altersgruppen. Der AfD-Anteil bei den 16 bis 69-jährigen schwankt zwischen 16 bis 21 Prozent. Dass es bei 16 % bliebt ist der Altersgruppe der über 70-jährigen zu verdanken. Hier kommt die AfD nur auf 8 Prozent. Offensichtlich ist die Generation derjenigen, deren Eltern noch in das Nazi-Regime verstrickt waren gegen die Versuchung einer Wiederholung resilienter. Das ist auch ein Generationswechsel, waren früher die Alten noch identisch mit den unverbesserlichen Alt-Nazis, sind heute die Generation der gegen ihre Nazi-Eltern rebellierenden Töchter und Söhne alt.

Hannah Arendt hat eine für heutige Ohren faszinierende Sprache. Ich kann nur empfehlen, sich das Gaus-Interview auf Youtube anzuschauen. Zudem kann man den besonderen Sound Hannah Arendts im Materialienteil in zwei Texte, die sprachlich und inhaltlich die besondere Art Hannah Arendts redend zu schreiben zeigen, nachvollziehen.

Ich hoffe, dass es Ihnen dann zum Schluss so geht wie Kurt Sontheimer, der in seiner Biografie über Hannah Arendt euphorisch feststellt: Ihre Ideen sind „einem Leuchtturm vergleichbar, der Signale für das richtige politische Handeln aussendet: die Erinnerung daran, dass politisches Handeln Freiheit ist und Freiheit schafft, dass es unterschiedliche Menschen in einem öffentlichen Raum zusammenführt, wo sie zweckfrei und interessenunabhängig nach dem Gemeinwohl streben und spontan, dem Neuen gegenüber offen, agieren können.“9

1 Hans Jonas auf der Trauerfeier Hannah Arendts, zitiert nach Thomas Meyer (2023), S.475

2 Das Vorwort wurde vor den Wahlen zur französischen Nationalversammlung geschrieben.

3 Ich konzentriere mich auf die deutsche Geschichte, zur Geschichte totaler Herrschaft gehört aber auch der Stalinismus in der Sowjetunion. Beides sind letztlich rechte Ideologien, die sich gegen die Freiheit des Individuums richten.

4 Arendt, Hannah (2023): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Neuedition, S. 1004, hier und im Folgenden mit der Sigle EU abgekürzt.

5 Ebenda, S. 1006

6 Arendts Standardformulierung für einen Zivilisationsbruch

7 William Javanovich auf der Trauerfeier für Hannah Arendt, zitiert nach Thomas Meyer (2023), S.477

8 zit. nach Young Brühl (2006), S. 39 „An insight into the nature of totalitarian rule, directed by our fear of the concentration camp, might serve to devaluate all outmoded political shadings from left to right, and, beside and above them, to introduce the most essential political criterion for judging the events of our time: will it lead to totalitarian rule or will it not.“

9 Sontheimer (2005), S. 256

I. Verlassenheit und Hass

Schon sechs Jahre nach dem Zusammenbruch der Nazi-Herrschaft legt Hannah Arendt 1951 ihr grundlegendes Werk „The Origins of Totalitarianism“ in ihrer neuen Heimat USA vor. Der erste Titelvorschlag zu diesem großen Werk lautete: „The Three Pillars of Hate. Antisemitism – Imperialism – Racism“.

Heute hat man manchmal den Eindruck, dass Hass erst mit den neuen sozialen Medien zu einem Problem geworden ist. Das stimmt sicher auch bezogen auf die sich durch die Anonymität des Internets neuen Möglichkeiten, die Gebote der Höflichkeit zu unterlaufen. Es gilt aber nicht für den Hass, der schon immer die emotionale Seite jeder Ideologie war und ist. Der Titel die „Drei Säulen des Hasses“ konnte sich nicht durchsetzen, in den Mittelpunkt rückte die Analyse des „Totalitarianism“ und er lautete deshalb: „The Origins of Totalitarianism“.10 In ihrer deutschen Übersetzung von 1955 heißt es dann: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, im Untertitel „Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft“. Die Kategorie der „Verlassenheit“ fand keinen Eingang in den Titel.

Das ist vielleicht auch der Grund, dass „Verlassenheit“ in der Rezeption keine große Rolle spielte. Dabei müsste dem Phänomen der Verlassenheit gerade in präfaschistischen Zeiten eine große Aufmerksamkeit zu kommen, denn totale Kontrolle braucht die Vereinzelung der zu beherrschenden Menschen als notwendige Bedingung. Diese Hypothese Arendts scheint durch aktuelle psychologische Studien bestätigt zu werden. Dazu in Teil drei mehr. Hass ist eine ähnlich wie Verlassenheit schwer zu definierende Kategorie. Heinrich Mann hat wahrscheinlich Recht wenn er schreibt: „ Aber der Hass ist eine Tatsache durch sich selbst: eine Volksmenge braucht nicht zu wissen, warum sie hasst. Übrigens hasst sie mit Gleichgültigkeit“ 11 Genau das wird heute nicht mehr verstanden. Hass braucht keine Inhalte. Und Hass hat häufig mit Einsamkeit, Verlassenheit, zu tun. Dazu eine kleine Anekdote von Karoline Preissler, einer mutigen deutschen Jüdin, die auf antisemitische Kundgebungen geht, um dort in eine Diskussion zu kommen, bzw. Haltung zu zeigen. Sie schreibt auf Twitter:

„Irgend ein Udo steht immer bei antisemitischen Protesten in Berlin. Ich erkenne ihn an seiner dicken Brille, dem schütternden Haar und seinem greisen Style. Er drückt sich dann bei den Islamisten und mir herum, ruft aus sicherer Entfernung „Karo! Kaaaaro? Wie geht es deinem Mann. Ich ignoriere ihn er ist mir peinlich. Gestern lief ich nach der (pro-palästinensischen Demo) #b1206 noch einmal über den Potsdamer Platz. Der Mann stand dort – nach Beendigung der Versammlung – noch immer mit wenigen Männern. Planlos. Da erkannte ich: Er ist einsam. Für ihn sind Antisemitismus und Sexismus die Ablenkung im Alter. Er tut mir leid.“12

Simone Weil hat die Problematik sehr schön auf den Punkt gebracht:

Die Entwurzelung ist bei weitem die gefährlichste Krankheit der menschlichen Gesellschaft. Wer entwurzelt ist, entwurzelt. Wer verwurzelt ist, entwurzelt nicht. Die Verwurzelung ist vielleicht das wichtigste und Meistverkannte Bedürfnis der menschlichen Seele.

10 Siehe Meyer, Thomas (2023), S. 256

11 Mann, Heinrich (1988): Ein Zeitalter wird besichtigt. S.375

12 Preissler, Karoline (2024) https://twitter.com/PreislerKa/status/1801117014989127884

1. Loneliness13 (Verlassenheit)

Hannah Arendt ist der Überzeugung, dass menschliches Handeln immer auf Grunderfahrungen des Menschen fußt. Jede Möglichkeit zum Handeln, zu einer gemeinsamen Aktion soll im „Ein Volk! - Ein Führer!“- Regime verhindert werden. Das geht nicht von heute auf morgen. Historisch herrscht in der Anfangsphase oder der Aufstiegsphase totaler Herrschaft in der Regel eine Einparteiendiktatur, deren Hauptanliegen es ist, die Menschen voneinander, Arendt schreibt gegeneinander, politisch zu isolieren, um sie besser beherrschen zu können. Ziel der totalen Herrschaft ist totale Kontrolle. Dazu müssen Menschen von ihrer Verschiedenheit „gesäubert“ werden und zu einer homogenen Einheit, zu einer Totalität, zusammengezwungen werden. „This isolation is, as it were, pretotalitarian; its hallmark is impotence insofar as power always comes from men acting together, acting in concert" (Burke); isolated men are powerless by definition.“1415

In einer Diktatur verlieren Menschen aus Furcht ihre politische Handlungsmöglichkeiten, dazu reicht es, dass ihre Kontakte abgebrochen werden. Aber nicht alle Kontakte werden in der Diktatur abgebrochen, sondern nur die politischen. Es bleibt noch eine Privatsphäre mit der Fähigkeit zum „Erleben, Erfinden und Denken“ (the capacities for experience, fabrication and thought) intakt. Die totale Herrschaft will aber mehr, sie will alle Menschen in ihrem Einflussbereich zu Menschen machen, die verlassen sind, denn das ist die Voraussetzung, um sie total beherrschen zu können. Erst in der Verlassenheit sind Menschen wirklich allein, nämlich verlassen nicht nur von anderen Menschen und der Welt (Politik), sondern auch von dem Selbst, der eigenen Identität, die von anderen nicht mehr bestätigt wird. In dieser Verlassenheit gehen Selbst und Welt, und das heißt echte Denkfähigkeit und echte Erfahrungsfähigkeit, zugleich zugrunde.

Die Verlassenheit ist nicht ein von den Totalitären erfundenes Phänomen, sondern „ist eng mit der Entwurzelung und der Überflüssigkeit verbunden, die seit Beginn der industriellen Revolution der Fluch der modernen Massen sind und sich mit dem Aufstieg des Imperialismus am Ende des letzten Jahrhunderts und dem Zusammenbruch der politischen Institutionen und sozialen Traditionen in unserer Zeit verschärft haben.“16 Entwurzelt zu sein ist dabei die Erfahrung, wenn man keinen Platz mehr in der Welt hat, der von anderen anerkannt wird. Überflüssig zu sein bedeutet, überhaupt nicht zur Welt zu gehören, nicht zu existieren. Das können Erfahrungen der Erwerbslosigkeit, Arbeitslosigkeit oder von Staatenlosigkeit und Flucht sein oder deren Antizipation.

Verlassenheit bedeutet dabei, nicht nur den Verlust der materiellen Absicherung, sondern den Verlust der Erfahrung, diese materielle und sinnliche Welt mit anderen Menschen zu teilen, denn dazu muss man mit anderen Menschen in Kontakt sein, also nicht verlassen zu sein. „Das Einzige, was in der Verlassenheit als scheinbar unantastbar sicher verbleibt, sind die Elementargesetze des zwingend Evidenten, die Tautologie des Satzes: zweimal zwei ist vier. Damit erfährt das zwingend Einsehbare für den Verlassenen eine eigentümliche Gewichtsverschiebung: es ist nicht mehr die selbstverständliche Regelung menschlichen Denkens, ein Mittel des Verstandes, um Widersprüche zu vermeiden; sondern es wird aus sich heraus gleichsam produktiv, beginnt Denkreihen zu entfalten, Prozesse zu entwickeln, »folgert eins aus dem anderen und denkt alles zum ärgsten«. (EU 1006)

Verlassenheit, die nicht existente Beziehung zur Welt und zur Politik, ist nach Arendts Überzeugung ein wesentlicher Baustein für die Faszination totalitärer Ideologie. Aber nicht nur für die Homogenisierung des Denkens in Schablonen, sondern auch für die Organisation der Gesellschaft selbst.

Die totale Herrschaft hat das Ziel, alle Menschen zu einer undifferenzierten Einheit (Volksgemeinschaft) zu formen. Das kann nur gelingen, wenn das Defizit einer Diktatur, privat noch handlungsfähig zu sein, also „the capacities for experience, fabrication and thought“ zu haben, zerstört wird. Da das jedoch Grundfertigkeiten des Menschen sind, die seine Entwicklung wesentlich befördert haben, braucht es den Zwang von Ideologie und Terror, der den Menschen verspricht ihnen Halt zu geben, sie aber tatsächlich in ihrem Menschsein zerstört. Das eiserne Band des Terrors wirkt wie ein Schraubstock, so eingezwängt wird jeder Raum zwischen den Menschen zerstört und die Menschen gegeneinander gepresst und alle produktiven Möglichkeiten, die es im Stadium der Isolation noch gab, vernichtet.

Die totale Herrschaft ist die Herrschaft einer Ideologie, die das Denken beherrscht und den „Verlassenen“ durch den Glauben an die alles erklärende Ideologie einen Halt verspricht. Es kommt also zweierlei zusammen: die Sehnsucht nach einer Welt- und Geschichtserklärung (2+2=4), die Halt gibt und eine Verlassenheit, die diesen Halt benötigt. „Die tödlichen Konsequenzen, die sich aus den Ideologien ergeben, können nur von Verlassenen, denen die ihre Freunde und die, die sie lieben, bereits verlassen haben, exekutiert werden.“17

Will man aktiv etwas gegen totalitäre Tendenzen tun, dann muss man auch das Problem der Verlassenheit ins Zentrum der Gegenstrategien rücken.18

Begriffsklärungen

Hannah Arendt benutzt für das Wortfeld „Verlassenheit“ im englischen Original die Begriffe: „isolation“ und „loneliness“, im Deutschen neben „isoliert sein“, „Verlassenheit“ und „Entwurzelung“.

Mit Isolation bezeichnet sie den Zustand, in der politischen Sphäre nicht mehr handlungsfähig zu sein, weil es verunmöglicht wird, sich zusammenzuschließen, das ist auch die Erfahrung in einer Diktatur.

In der totalen Herrschaft kommt zu dieser politischen Isolierung eine in der privaten Sphäre dazu. Arendt wählt dafür im Englischen das Wort „loneliness“, im Deutschen „Verlassenheit“. Man fragt sich, warum diese unterschiedliche Wortwahl? Die meistens verwendete deutsche Übersetzung von „loneliness“ ist „Einsamkeit“. Das deutsche Wort „Einsamkeit“ entspricht aber eher dem englischen solitude“, das sich direkt aus dem lateinischen Original „solitudo“ erschließt.

Das deutsche Wort „Einsamkeit“ ist ein Lehnwort des lateinischen „solitudo“, eine wortwörtliche Übertragung in „Einsamkeit“. Verlassenheit ist aber nicht zu verwechseln mit Alleinsein (solitudo), noch mit Einsamkeit“. Das erläutert Arendt am römischen Philosophen Epiktet: „Nach Epiktet (Dissertationes, Buch 3, Kap. 13) ist der einsame Mensch (eremos) von anderen umgeben, mit denen er keinen Kontakt aufnehmen kann oder deren Feindseligkeit er ausgesetzt ist. Der alleinseiende (solitary) Mensch hingegen ist allein und kann daher "mit sich selbst zusammen sein", denn der Mensch hat die Fähigkeit, "mit sich selbst zu reden". (…) Was (dagegen) die Einsamkeit/ Verlassenheit so unerträglich macht, ist der Verlust des eigenen Ichs, das sich in dem Alleinsein zwar verwirklichen kann, aber nur durch die vertrauensvolle Begleitung von meinesgleichen in seiner Identität bestätigt wird. In dieser Situation verliert der Mensch das Vertrauen in sich selbst als Partner seiner Gedanken und jenes Urvertrauen in die Welt, das notwendig ist, um überhaupt Erfahrungen zu machen. Selbst und Welt, Denk- und Erlebnisfähigkeit gehen gleichzeitig verloren.“ 19

Der Mensch fühlt sich allein gelassen, wisse aber, dass er allein weder handeln noch leben kann. Im Deutschen kann man „loneliness“ auch wortwörtlich mit Alleingelassensein (intransitiv) übersetzen, das entsprechende Synonym dazu ist Verlassenheit.

Einsamkeit wird in der Psychologie als eine wahrgenommene Distanz zwischen den gewünschten und den tatsächlichen sozialen Beziehungen definiert. Verlassenheit ist dagegen ein Begriff, der sich gut in die existentialistische Auffassung einfügt, dass der moderne Mensch Schwierigkeiten hat, seinen Ort in der Welt zu finden, der Mensch der modernen Massengesellschaft wurzellos geworden sei. Verlassenheit entsteht, wenn aus gleich welchen personalen Gründen ein Mensch aus dieser Welt hinausgestoßen wird oder wenn aus gleich welchen geschichtlich-politischen Gründen diese gemeinsam bewohnte Welt auseinanderbricht und die miteinander verbundenen Menschen plötzlich auf sich selbst zurückwirft. Mensch fühlt sich verlassen von Gott und der Welt ( Regierung, Staat etc.)und verhält sich als sei man von allen guten Geistern verlassen.

Allen gemeinsam ist, man sieht sich in der Opferrolle. In der oben zitierten norwegischen Studie verwenden die Autor*innen den Begriff „soziale Entfremdung“, um den größeren Zusammenhang in dem Einsamkeit steht begrifflich zu fassen. „Verlassenheit“ meint also ein Wortfeld, welches verschiedene Konnotationen hat: einsam sein, verlassen sein, abgehängt sein, verwundet sein, allein gelassen sein, sich als Opfer von Mächten zu sehen. Letztlich wird die Verantwortung für das eigene Leben und das eigene soziale Umfeld abgelehnt und mehr oder weniger anonymen Mächten zugeschoben.

Entfremdung und Resonanzverlust

Interessant in diesem Zusammenhang ist die Deutung der Erfolge des Rechtspopulismus durch Hartmut Rosa. Er deutet sie als eine Reaktion auf das Gefühl eines Resonanzverlusts, auf eine Entfremdungserfahrung. Diese Gruppen fühlen sich nicht gehört und nicht repräsentiert. Er bebildert das in einem SZ-Interview so: „Die Wahrnehmung vieler Leute, die ich nicht teile, aber eben beobachte, ist: Eigentlich ist unser Alltag noch ganz intakt, wir hatten schon viele Veränderungen, wir sind erschöpft, das ist problematisch, aber eigentlich ist unser Dörfchen okay - und dann kommt der Staat und setzt uns ein Flüchtlingsheim hin. Das wird persönlich genommen. Und dann will die Regierung an die Heizung ran. Es reicht ihr also offenbar nicht, dass sie ins Dorf eindringt, sie will in mein Haus. Und mit der Impfung dringt sie sogar bis in meinen Körper vor. Und mein Denken will sie auch noch beeinflussen, ich darf das N-Wort nicht mehr sagen, ich muss gendern.“ 20

Diese unterschiedlichen Wahrnehmungen von Wirklichkeit, da ist Hartmut Rosa nahe an Hannah Arendt, haben ihre Ursache in einer unterschiedlichen „Beziehung zur Welt und zur Politik“: „Ich glaube, die Spaltung liegt, wenn man so will, nicht auf der Einstellungsebene, ob man für oder gegen Umweltschutz ist. Sie liegt in dem Gefühl, die staatlichen Autoritäten seien viel zu aktiv, sie bedrohen meine Welt. Auf der anderen Seite dominiert das gegenteilige Gefühl, der Staat tue viel zu wenig, unser Alltag ist zutiefst umweltzerstörerisch, er ist homophob, er beruht noch immer auf kolonialer Ausbeutung. Die Spaltung liegt für mich also noch unterhalb der Weltbilder, es geht eher darum, welche Beziehung zur Welt und zur Politik man fühlt.“ (ebenda)

13 Ich benutze in den Überschriften die amerikanischen Begriffe für Verlassenheit und die vier Säulen des Hasses, weil die deutschen Übersetzungen eine andere (falsche?) Gewichtung haben können. (Siehe dazu die Kapitel „Begriffserklärungen“ und „Der Begriff „totale Herrschaft“ weiter unten)

14 „Diese Isolation ist sozusagen prätotalitär; ihr Kennzeichen ist die Ohnmacht, da die Macht immer von gemeinsam handelnden Menschen ausgeht, die "gemeinsam handeln" (Burke); isolierte Menschen sind per definitionem machtlos.“

15 Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism, 1958, New York, S.474

16