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Dieses eBook: "Vorlesungen und Abhandlungen: Schopenhauer's handschriftlicher Nachlaß" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Arthur Schopenhauer (1788-1860) war ein deutscher Philosoph, Autor und Hochschullehrer. Schopenhauer entwarf eine Lehre, die gleichermaßen Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ästhetik und Ethik umfasst. Inhalt: Einleitung in die Philosophie: Exordium über meinen Vortrag und dessen Methode Über das Studium der Philosophie Theorie des gesammten Vorstellens und Erkennens Exordium zur Dianoiologie Ueber die Endlichkeit und Nichtigkeit der Erscheinungen Metaphysik der Natur Metaphysik des Schönen Metaphysik der Sitten Eristische Dialektik Ueber die, seit einigen Jahren, methodisch betriebene Verhunzung der Deutschen Sprache Aus dem Buch: "Ich habe die Grundzüge der gesammten Philosophie angekündigt und habe daher in einem Cursus alles Das vorzutragen, was sonst als Erkenntnißlehre überhaupt, als Logik, als Metaphysik der Natur, Metaphysik der Sitten oder Ethik, Rechtslehre, Metaphysik des Schönen oder Aesthetik in eben so vielen verschiedenen Cursus vorgetragen wird. Der Grund, warum ich in Eines verknüpfe, was man sonst trennt und mir dadurch die zu einer Zeit zu leistende Arbeit sehr häufe, liegt nicht in meiner Willkür, sondern in der Natur der Philosophie. In Gemäßheit nämlich der Resultate, zu denen mich mein Studium und meine Forschungen geführt haben, hat die Philosophie eine Einheit und innern Zusammenhang, wie durchaus keine andere Wissenschaft, alle ihre Theile gehören so zu einander, wie die eines organischen Leibes und sind daher, eben wie diese, nicht von dem Ganzen zu trennen, ohne ihre Bedeutung und ihre Verständlichkeit einzubüßen, und als lacera membra, die außer dem Zusammenhang einen widerwärtigen Eindruck machen, dazuliegen."
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Einleitung in die Philosophie nebst Abhandlungen zur Dialektik, Aesthetik und über die deutsche Sprachverhunzung
Ich habe die Grundzüge der gesammten Philosophie angekündigt und habe daher in einem Cursus alles Das vorzutragen, was sonst als Erkenntnißlehre überhaupt, als Logik, als Metaphysik der Natur, Metaphysik der Sitten oder Ethik, Rechtslehre, Metaphysik des Schönen oder Aesthetik in eben so vielen verschiedenen Cursus vorgetragen wird.
Der Grund, warum ich in Eines verknüpfe, was man sonst trennt und mir dadurch die zu einer Zeit zu leistende Arbeit sehr häufe, liegt nicht in meiner Willkür, sondern in der Natur der Philosophie. In Gemäßheit nämlich der Resultate, zu denen mich mein Studium und meine Forschungen geführt haben, hat die Philosophie eine Einheit und innern Zusammenhang, wie durchaus keine andere Wissenschaft, alle ihre Theile gehören so zu einander, wie die eines organischen Leibes und sind daher, eben wie diese, nicht von dem Ganzen zu trennen, ohne ihre Bedeutung und ihre Verständlichkeit einzubüßen, und als lacera membra, die außer dem Zusammenhang einen widerwärtigen Eindruck machen, dazuliegen. Denken Sie sich ein erkennendes Wesen, das nie einen menschlichen Leib gesehn hätte, und dem nun die Glieder eines solches Leibes einzeln und nach einander vorgelegt werden; könnte ein solches wohl eine richtige Vorstellung erhalten vom ganzen menschlichen Leibe, ja nur von irgend einem einzigen Gliede desselben? Wie sollte es die Bedeutung und den Zweck der Hand verstehn, ohne sie am Arm, oder des Armes, ohne ihn an der Schulter gesehn zu haben? u. s. w. Grade so nun ist es mit der Philosophie. – Sie ist eine Erkenntniß vom eigentlichen Wesen dieser Welt, in der wir sind und die in uns ist; eine Erkenntniß davon im Ganzen und Allgemeinen, deren Licht, wenn sie gefaßt ist, nachher auch alles Einzelne, das Jedem im Leben vorkommen mag, beleuchtet und ihm dessen innere Bedeutung aufschließt. Diese Erkenntniß läßt sich daher nicht zerstückeln und theilweise geben und empfangen.
Ich kann nicht von den Formen des Denkens d. i. des abstrakten Erkennens, welches der Gegenstand der Logik ist, reden, ohne vorher vom anschaulichen Erkennen geredet zu haben, zu welchem das abstrakte stets in genauer Beziehung steht, kann also die Grundlehren der Logik nicht gründlich und erschöpfend vortragen, ohne das Ganze unsres Erkenntnißvermögens zu betrachten und zu zergliedern, also auch das anschauliche Erkennen und dessen Formen, Raum, Zeit, Kausalität, wodurch ich schon auf dem Gebiet bin, welches man Metaphysik genannt hat. Rede ich nun aber vom anschaulichen Erkennen für sich, so betrachte ich die ganze Welt, bloß sofern sie in unserm Kopfe vorhanden ist, also sofern sie bloße Vorstellung ist, und zeige, daß jedes Objekt, jeder Gegenstand, nur als Vorstellung in einem Vorstellen, einem Subjekt, existiren kann. Kann und darf ich Sie nun nicht in den Wahn versetzen, daß die Welt eben weiter nichts als bloße Vorstellung d. h. bloßes Phantom, leerer Traum sei; so muß ich mich auf die Frage einlassen, was denn zuletzt alle diese Vorstellungen bedeuten, was das als Vorstellung uns Gegebene, noch etwa außerdem, außer aller Vorstellung, also was es an sich sei. Ich komme also nothwendig auf die Lehre vom Dinge an sich, vom eigentlichen und wahren Wesen der Welt, d. h. ich komme zur eigentlichen Metaphysik, und muß jene erste Betrachtung der Welt als bloßer Vorstellung in uns, ergänzen durch die Betrachtung der zweiten Seite der Welt, nämlich des innern Wesens derselben: muß Ihnen also die ganze Metaphysik vortragen, wenn ich nicht, durch alle vorhergegangenen Lehren, Ihnen mehr geschadet als geholfen haben will, nicht Ihnen einen ganz falschen Idealismus in den Kopf gesetzt haben will. – Sollte nun aber als das Resultat unsrer Forschungen nach dem innern Wesen der als unsre Vorstellungen in Raum und Zeit erscheinenden Dinge etwa sich ergeben haben, daß dieses innere Wesen der Dinge eben nichts anderes ist, als jenes uns durch die unmittelbarste Selbsterkenntniß genau bekannte und sehr vertraute was wir in uns den Willen nennen; so entsteht nothwendig die Frage nach der Bedeutung und dem Werthe der Aeußerungen dieses Willens in uns, also das Bedürfniß der Ethik, oder wenigstens einer Metaphysik der Sitten, als welche sodann erst auf alles früher Gelehrte das volle Licht wirft und es seiner eigentlichen Bedeutung nach erkennen läßt: da sie den Willen an sich betrachtet, als dessen Erscheinung uns das Vorhergehende die ganze anschauliche Welt erkennen ließ. Ich muß also dann zur dargelegten Metaphysik sogleich die Ethik fügen, oder vielmehr eigentlich nur jene Metaphysik von der ethischen Seite betrachten, zur Metaphysik der Natur die der Sitten fügen; um so mehr als sonst zu besorgen wäre, daß jene Metaphysik der Natur Sie zu einem trostlosen und unmoralischen Spinozismus verleiten könnte, ja Sie so verwirren könnte, daß Sie sich der wichtigsten aller Erscheinungen des Lebens, der großen Ethischen Bedeutsamkeit alles Handelns verschlössen, und zur verstockten Ableugnung derselben verführt werden könnten. Daher ist es durchaus nothwendig an die Metaphysik der Natur sogleich die der Sitten zu knüpfen, um so mehr, als der Mensch seinem ganzen Wesen nach mehr praktisch als theoretisch und so sehr auf das Thun gerichtet ist, daß bei jeder Untersuchung, worüber sie auch sei, die praktische Seite derselben ihm stets das Interessanteste ist, allemal von ihm als das eigentliche Resultat angesehn wird, dem er seine Aufmerksamkeit schenkt, sogar wenn er alles Vorhergängige derselben nicht gewürdigt hätte. Daher findet das Ethische Resultat jeder Philosophie allemal die meiste Beachtung und wird, mit Recht, als der Hauptpunkt angesehn. Die Metaphysik der Sitten aber allein vortragen, konnte ich durchaus nicht, weil die Metaphysik der Natur ganz und gar die Basis und Stütze derselben ist, und ich in der Ethik nicht etwa wie Kant, und alle die seit ihm philosophirt haben, thun, von einem absoluten Soll und nicht weiter zu erklärenden Kategorischem Imperativ oder Sittengesetze ausgehe; sondern von rein theoretischen Sätzen; so daß die unleugbare große Ethische Bedeutsamkeit des Handelns, welche sich uns in dem ankündigt, was man das Gewissen nennt, nicht von mir (wie eben von Kant u. s. w.) ohne weiteres postulirt und für sich hingestellt, ja zur Grundlage von Hypothesen gemacht wird; sondern sie wird von mir vielmehr als ein Problem genommen, welches der Auflösung bedarf und solche erhält aus der vorhergegangenen Metaphysik der Natur oder Erklärung des innern Wesens der Welt.
Wenn nun also die Metaphysik der Sitten zu den früher vorzunehmenden Betrachtungen nothwendig hinzukommen muß, um das Misverstehn derselben zu verhüten, um solche ins gehörige Licht zu stellen, und um überhaupt das Wichtigste und Jedem am meisten Angelegene nicht wegzulassen: so ist hingegen mit der Metaphysik des Schönen dieses nicht in gleichem Grade der Fall und sie könnte allenfalls, ohne großen Nachtheil aus dem Gange unsrer Betrachtung wegfallen. Jedoch könnte ich sie nicht für sich und abgesondert vortragen, weil sie, wenn sie gleich nicht vom Uebrigen nothwendig vorausgesetzt wird; doch eben selbst dieses Uebrige nothwendig voraussetzt und ohne dasselbe nicht gründlich verstanden werden kann. Ueberdies trägt auch sie noch vieles bei zum bessern Verständniß der Metaphysik der Sitten und ist daher eine sehr taugliche Vorbereitung zu derselben, hat auch sonst manche Beziehungen zum Ganzen der Philosophie; so daß es zweckmäßig ist sie in Verbindung mit diesem vorzutragen. Ich schicke sie daher der Ethik vorher und nehme diese zuletzt.
Sie sehn also die Gründe, welche mich bewegen das Ganze der Philosophie auf einmal und alle verschiedenen Disciplinen die man sonst trennt zusammen vorzutragen. Da dieses in einem Semester geschehn soll, so ergiebt sich von selbst, daß wir von allen jenen Disciplinen nur die Grundwahrheiten, das Allgemeinere durchgehn werden, nicht aber bis auf das Specielle und die Anwendung des Einzelnen kommen werden. So werde ich Ihnen zwar die Basis, das Wesen, die Hauptlehren der Logik vortragen, nicht aber alle verschiedenen möglichen Arten von Schlüssen durchgehn. Ebenso in der Ethik zeigen was der Ursprung der Ethischen Bedeutsamkeit des Handelns sei, worin das eigentliche Wesen des Guten und Bösen bestehe, wie weit beides in den äußersten Fällen geht, jedoch nicht von diesem allen die Anwendung machen auf alle möglichen Verhältnisse des Lebens oder etwas dem Analoges aufstellen was man eine ausgeführte, systematische, komplete Pflichtenlehre nennt. Ebenso in der Rechtslehre werde ich den Ursprung und den eigentlichen Sinn der Begriffe Recht und Unrecht darlegen und die Hauptfrage lösen, auf die alles ankommt, nicht aber die Anwendung derselben auf alle menschlichen Verhältnisse durchführen. Das ist auch nicht nöthig: denn wer das Allgemeine einer Sache, die Grundwahrheit, die obersten Sätze wohl gefaßt hat, kann sehr leicht bei einigem Nachdenken die Anwendung davon auf das Einzelne und die Durchführung bei allem ihm Vorkommenden selbst machen, auch im Nothfall sich in den fast unzähligen Lehrbüchern Raths erholen, in denen das Einzelne meistens ziemlich richtig aufgezählt und dargestellt ist, wenn gleich das Allgemeine verfehlt und der Gesichtspunkt des Ganzen falsch ist.
Der Gang unsrer Betrachtung aber wird folgender seyn. Nach vorangeschickter Einleitung über das Studium der Philosophie überhaupt, werden wir ausgehn von der Vorstellung und die Welt bloß betrachten sofern sie unsre Vorstellung ist, sofern sie im Kopfe eines Jeden vorhanden ist. Wir werden dann zuvörderst zweierlei Arten von Vorstellungen unterscheiden, Anschauliche und Abstrakte, die anschauliche werden wir zuerst betrachten, diese Vorstellungen analysiren, ihre verschiedenen Formen untersuchen und erkennen was a priori im Bewußtsein liegt, und daher eben nur dessen Form ist, und werden das Entstehn, das zu Stande kommen der anschaulichen Vorstellungen kennen lernen: werden sehn, wie der Verstand operirt. Wir werden darauf das abstrakte Vorstellen, im Gegensatz des anschaulichen, betrachten, das eigentliche Denken: d. h. wir werden sehn wie die Vernunft operirt: zu diesem Ende werden wir die Formen und Gesetze des Denkens aufsuchen und eben dadurch die Grundlehren der Logik durchgehn. Diese Betrachtung des Vorstellens und Erkennens wird den 1ten und freilich auch trockensten Theil unsrer Untersuchungen ausmachen. Die wichtigen Wahrheiten, welche zuerst von Kant ans Licht gebracht sind, werden dem Theil derselben nach, der sich bewährt und behauptet hat, größtenteils darin vorgetragen werden. Denn etwas Einweihung in die Kantische Lehre ist unumgänglich nöthig. Erst durch dieselbe wird, wenn ich mich etwas seltsam ausdrücken darf, der metaphysische Sinn aufgeschlossen. Nachdem man sie einigermaaßen gefaßt, sieht man mit ganz anderen Augen in die Welt hinein. Denn man merkt den Unterschied zwischen Erscheinung und Ding an sich. Ich wünschte freilich, daß Sie durch eigenes Studium in die Kantischen Schriften eingeweiht wären und ich vor lauter Zuhörern läse, welche die Kr. d. r. V. inne hätten; was ich an der Kantischen Philosophie zu bestreiten und zu berichtigen habe, ließe sich leicht ins Reine bringen.
Der 2te Theil unsrer Betrachtungen wird die Lehre vom Dinge an sich ausmachen d. h. von dem was diese Welt und alle Erscheinungen derselben, die wir bis dahin bloß als Vorstellung betrachtet haben werden, noch außerdem, also an sich sind. Man kann dieser Untersuchung den Namen der Metaphysik lassen, bestimmter Metaphysik der Natur.
Auf diese wird als der 3te Theil die Metaphysik des Schönen, oder die Grundlage der Aesthetik folgen: endlich als der 4te Metaphysik der Sitten oder die Grundlage der Ethik, welche auch die philosophische Rechtslehre begreift.
Dieselbe Notwendigkeit, meine Herren, welche mir es auflegt, alle diese so weitläuftigen Lehren in einem Cursus zu begreifen und sie im Zusammenhange vorzutragen, fordert von Ihnen, daß auch Sie solche im Zusammenhange zu fassen sich bemühen und nicht etwa bloße Bruchstücke daraus nehmen und solche jedes für sich zu verstehen und zu benutzen versuchen. Ich erinnere Sie an das obige Gleichniß vom Leibe und dessen einzelnen Gliedern. Bei einer so große Einheit und so wesentlichen Zusammenhang habenden Lehre, als die Philosophie in der Gestalt ist, die ich ihr gegeben habe, setzt nicht bloß das Folgende das Vorhergängige nothwendig voraus, wie dieses bei jeder Wissenschaft der Fall ist; sondern hier kommt noch dieses hinzu, daß eben wegen jener organischen Einheit des Ganzen das früher Vorzutragende seine nähere und völlige Erläuterung erst durch das später Folgende erhält; das Spätere erst die näheren Beziehungen und Anwendungen des Vorhergegangenen zeigt, und Sie daher nicht nur alles zuerst Vorzutragende wohl zu fassen und sich zu merken haben, sondern sich auch hüten müssen vor einem voreiligen Urtheil über dasselbe, indem Sie erst durch das Spätere die gehörige und notwendige Erläuterung desselben erhalten. Bei jeder Wissenschaft erhält man den vollständigen Begriff von derselben erst nachdem man den ganzen Cursus durchgemacht hat und nun auf den Anfang zurücksieht. Aber bei dem, was ich Ihnen vortragen werde, ist dies noch viel mehr der Fall als irgendwo. Glauben Sie mir ganz gewiß, daß Sie erst bei dem Schlusse meines gesammten Vortrages den Anfang desselben vollständig verstehen können: und wenn Sie daher etwa hin und wieder Einiges nur mit Widerstreben auffassen sollten; so denken Sie, daß erst das Nachfolgende die Ergänzung und die Erläuterung dazu liefert. Denn der Zusammenhang der Philosophie in der Gestalt, welche ich ihr gegeben habe, ist nicht, wie der aller übrigen Wissenschaften, ein architektonischer, d. h. ein solcher, wo die Basis bloß trägt, ohne getragen zu werden, dann jeder Stein getragen wird und wieder trägt, bis der Gipfel bloß getragen wird ohne selbst zu tragen; sondern jener Zusammenhang ist ein organischer, d. h. ein solcher, wo jeder Theil eben so sehr das Ganze erhält, als er vom Ganzen erhalten wird, dem Wesen nach keiner der Erste und keiner der Letzte ist, sondern die Ordnung, in der die Theile vorgetragen, bloß mit Rücksicht auf die Erleichterung der Mittheilung, also mit einer gewissen Willkür gewählt ist: daher hier eigentlich das Ganze erst dann recht verstanden werden kann, nachdem man alle Theile gefaßt hat, und sogar die Theile zu ihrem erschöpfenden, völlig genügenden Verständniß auch schon das Ganze voraussetzen. Dies ist eine Schwierigkeit, die hier im Wesen der Sache liegt und nur überwunden werden kann von Ihrer Seite durch Aufmerksamkeit, Geduld und Gedächtniß, von meiner Seite durch die Bemühung, Alles so faßlich als möglich zu machen, Das, welches am Meisten das Uebrige voraussetzt, zuletzt zu nehmen, und den Zusammenhang aller Theile stets nachzuweisen und immer Rückblicke und Seitenblicke zu eröffnen.
Die Ordnung, welche ich erwähle, weil sie die Verständlichkeit am meisten befördert, macht es nothwendig, von der Untersuchung des Erkenntnißvermögens und der Theorie des Vorstellens und Erkennens auszugehen. Dies ist aber bei Weitem der trockenste Theil des ganzen Cursus. Hingegen sind gerade Aesthethik und Ethik, welche ich zu allerletzt nehme, Das, welches am meisten Interesse erregt und Unterhaltung gewährt. Wäre es mir bloß darum zu thun, durch etwas Anziehendes Ihre Aufmerksamkeit zu fesseln und vor’s Erste zu gewinnen, so müßte ich einen gerade umgekehrten Gang nehmen. Da ich aber mich lieber bestrebe, gründlich, als anziehend zu seyn, so wünsche ich, daß Sie durch den Ernst und das Trockene des ersten Theils unserer Untersuchungen nicht mögen die Ausdauer verlieren oder sich abschrecken lassen, auszuharren, bis auch unmittelbar interessantere Dinge kommen.
Ich glaube nicht voraussetzen zu dürfen, daß die Meisten von Ihnen sich schon sonderlich mit Philosophie beschäftigt, ein eigentlich methodisches philosophisches Studium getrieben haben. Dieser Umstand würde mir willkommen seyn, wenn ich darauf die Voraussetzung gründen könnte, Sie völlig unbefangen in dieser Art der Betrachtung zu finden, ohne alle vorgefaßte Meinung, und daher meinem Vortrage desto empfänglicher offen stehend. Aber diese Voraussetzung wäre ganz falsch. Ein Jeder von Ihnen bringt schon eine ganz fertige Philosophie mit, ja er hat sich sogar, wenigstens halb und halb, nur in dem Vertrauen hergesetzt, eine Bestätigung derselben zu vernehmen. Dies kommt nun zum Theil daher, daß jeder Mensch ein geborener Metaphysikus ist: er ist das einzige metaphysische Geschöpf auf der Erde. Daher auch manche Philosophen Das, was im Allgemeinen gilt, als speciell nahmen, und sich einbildeten, die bestimmten Dogmen ihrer Philosophie wären dem Menschen angeboren; da es doch nur der Hang zum metaphysischen Dogmatisiren überhaupt ist, den man jedoch leicht in der Jugend zu bestimmten Dogmen abrichten kann. Alles philosophirt, jedes wilde Volk hat Metaphysik in Mythen, die ihm die Welt in einem gewissen Zusammenhang zu einem Ganzen abrunden und so verständlich machen sollen. Daß bei jedem Volke (obwohl bei einem mehr als dem andern) der Kultus unsichtbarer Wesen einen großen Theil des öffentlichen Lebens ausmacht, ferner daß dieser Kultus mit einem Ernst getrieben wird, wie gar keine andere Sache; endlich der Fanatismus, mit dem er vertheidigt wird; – dies beweist, wie groß die Macht hyperphysischer Vorstellungen auf den Menschen ist, und wie sehr ihm solche angelegen sind. Ueberall philosophiren selbst die Rohesten, die Weiber, die Kinder, und nicht etwa bloß bei seltenen Anlässen, sondern anhaltend und recht fleißig und mit sehr großem Zutrauen zu sich selbst. Dieser Trieb kommt nicht etwa daher, daß, wie Manche es auslegen, der Mensch sich so erhaben über die Natur fühlt, daß sein Geist ihn in Sphären höherer Art, aus der Endlichkeit in die Unendlichkeit zieht, das Irdische ihm nicht genügt u. dgl. m. Der Fall ist selten. Sondern es kommt daher, daß der Mensch mittelst der Besonnenheit, die ihm die Vernunft giebt, das Mißliche seiner Lage einsieht, und es ihm schlecht gefällt, sein Daseyn als ganz prekär und sowohl in Hinsicht auf dessen Anfang als auf dessen Ende ganz dem Zufall unterworfen zu sehn, noch dazu es auf jeden Fall als äußerst kurz zwischen zwei unendlichen Zeiten zu finden, ferner seine Person als verschwindend klein im unendlichen Raum und unter zahllosen Wesen. Dieselbe Vernunft die ihn treibt für die Zukunft in seinem Leben zu sorgen, treibt ihn auch, über die Zukunft nach seinem Leben sich Sorgen zu machen. Er wünscht das All zu begreifen, hauptsächlich um sein Verhältniß zu diesem All zu erkennen. Sein Motiv ist hier, wie meistens, egoistisch. Gäbe man ihm die Gewißheit, daß der Tod ihn ganz zu Nichts macht: so würde er meistentheils sich alles Philosophirens entschlagen und sagen nihil ad me.
Die Philosophie, die, wie ich behaupte, Jeder von Ihnen mitbringt, ist nun theils aus diesem dem Menschen natürlichen Hange entsprungen, theils hat sie aber auch von Außen Nahrung erhalten, fremde fertige Lehren sind ihr zugeführt und, durch die eigene Individualität modificirt, in diese aufgenommen worden. Hieher gehört theils die Religion, deren Unterricht mehr und mehr die Form einer Philosophie angenommen hat und sich mehr auf Ueberzeugung, als auf Offenbarung stützen will; theils ist mit allen Wissenschaften die Philosophie so sehr verwebt, daß Einer mag getrieben oder gelesen haben was er will; es sind immer viel Philosopheme mit eingeflossen.
Also darf ich Ihren Geist keineswegs als eine tabula rasa in Hinsicht auf das Vorzutragende betrachten. Und da dem so ist, so wäre es mir am liebsten, wenn Sie Alle alle vorhandenen Systeme genau kennten. Daß Sie hingegen nur ein einziges der dagewesenen Systeme studirt hätten und Ihre Denkweise ihm angepaßt hätten, wäre mir nicht willkommen: denn bei Einem und dem Andern, der etwa mehr zum Festhalten des Erlernten als zum Aufnehmen des zu Erlernenden fähig und geneigt wäre, könnte so ein einmal vertrauensvoll ergriffenes System zum Glaubensartikel oder gar zu einer Art von fixirten Vorstellungen geworden seyn, die allem Andern, und sei es noch so vorzüglich, den Zugang versperrt. Aber wenn Sie die ganze Geschichte der Philosophie schon kennen gelernt hätten, von allen Systemen einen Begriff hätten, dies wäre mir lieb: – denn Sie würden alsdann am leichtesten dahin kommen, einzusehen, warum der Weg, welchen ich mit Ihnen zu gehn gedenke, der richtige ist oder wenigstens seyn kann, indem Sie bereits aus Erfahrung wüßten, daß alle jene früher versuchten Wege doch nicht zum Ziele führen und überhaupt das Schwierige, ja Mißliche des ganzen Bestrebens deutlich eingesehen hätten; statt daß Sie jetzt manchen jener von Philosophen verschiedener Zeiten eingeschlagenen Wege wohl von selbst gewahr werden und sich wundern möchten, warum man ihn nicht einschlägt. Denn ohne Vorkenntniß der früheren Versuche möchte der Weg, den wir vorhaben, Manchem befremdend, sehr umständlich und beschwerlich und ganz unnatürlich scheinen: denn freilich ist es nicht der auf den die spekulirende Vernunft zuerst geräth, sondern erst nachdem sie die von selbst sich darbietenden und so leicht zu gehenden als falsch befunden hat, durch Erfahrung gewitzigt ist und gesehn hat, daß man einen weitern Anlauf nehmen muß, als die weniger steilen Wege erfordern.
Daß also die spekulirende Vernunft erst allmälig und nach viel mißlungenen Versuchen, den rechten Weg einschlagen konnte, erklärt sich aus Folgendem.
Es ist ein Zusammenhang in der Geschichte der Philosophie und auch ein Fortschritt, so gut als in der Geschichte andrer Wissenschaften, obgleich man hieran zweifeln könnte, wenn man sieht, daß jeder neu auftretende Philosoph es macht, wie jeder neue Sultan, dessen erster Akt die Hinrichtung seiner Brüder ist, nämlich jeder neu auftretende Philosoph damit anfängt, seine Vorgänger zu widerlegen oder wenigstens abzuleugnen und ihre Sätze für null und nichtig zu erklären und ganz von Neuem anhebt, als ob nichts geschehen sei; so daß es ist wie in einer Auktion, wo jedes neue Gebot das frühere annullirt. Die Feinde aller Philosophie benutzen dies: sie behaupten, Philosophie sei ein völlig vergebliches Streben nach einem schlechterdings unerreichbaren Ziel: daher sei ein Versuch darin gerade so viel werth, als der andere, und nach allen Jahrhunderten noch gar kein Fortschritt gemacht worden; denn man höbe ja noch immer von Vorne an. In diesem Sinne ruft Voltaire aus: »O Metaphysik! wir sind grade so weit, als zur Zeit der Druiden!« – Solche entschiedene Feinde der Philosophie kann man nicht aus der Philosophie, die sie nicht gelten lassen, widerlegen, sondern nur aus der Geschichte, nämlich so: Wenn in der Philosophie noch nie etwas geleistet worden, noch kein Fortschritt gemacht worden und eine Philosophie grade so viel werth wäre, als die andere, so wären nicht nur Plato, Aristoteles und Kant Narren, sondern diese unnützen Träumereien hätten auch nie die übrigen Wissenschaften weiter fördern können: nun aber sehn wir durchgängig, daß zu jeder Zeit der Stand aller übrigen Wissenschaften, ja auch der Geist der Zeit und dadurch die Geschichte der Zeit ein ganz genaues Verhältniß zur jedesmaligen Philosophie hat. Wie die Philosophie eines Zeitalters beschaffen ist; so ist auch jedes Mal alles Treiben in den übrigen Wissenschaften, in den Künsten und im Leben: die Philosophie ist im Fortgang des menschlichen Wissens, folglich auch in der Geschichte dieses Fortgangs grade das, was in der Musik der Grundbaß ist; der bestimmt allemal den Ton und Karakter und den Gang des Ganzen: und wie in der Musik jede einzelne musikalische Periode oder Lauf dem Ton entsprechen und mit ihm harmoniren muß, zu welchem der Baß eben fortgeschritten ist: so trägt in jeder Zeitperiode das menschliche Wissen jeder Art durchweg das Gepräge der Philosophie, die zu solcher Zeit herrscht, und jeder Schriftsteller, worüber er auch schreibe, trägt allemal die Spuren der Philosophie seines Zeitalters. Jede große Veränderung in der Philosophie wirkt auf alle Wissenschaften, giebt ihnen einen andern Anstrich. Den Beleg hiezu giebt die Litterargeschichte durchweg. Daher ist jedem Gelehrten das Studium der Philosophie so nothwendig, wie dem Musiker das Studium des Generalbasses. Denn die Philosophie ist der Grundbaß der Wissenschaften. Auch nimmt man, wenn man die Geschichte der Philosophie im Ganzen überblickt, sehr deutlich einen Zusammenhang und einen Fortschritt wahr, dem ähnlich, den unser eigener Gedankengang hat, wenn bei einer Untersuchung wir eine Vermuthung nach der andern verwerfen, eben dadurch den Gegenstand mehr und mehr beleuchten, es in uns immer heller wird, und wir zuletzt bestimmt urtheilen, entweder wie sich die Sache verhält, oder doch wie weit sich etwas davon wissen läßt. So sehn wir auch in der Geschichte der Philosophie die Menschheit nach und nach zur Besinnung kommen, sich selbst deutlich werden, durch Abwege sich belehren lassen, durch vergebliche Anstrengung ihre Kräfte üben und stärken. Durch die Vorgänger wird Jeder, auch wenn er sie verläßt, belehrt, wenigstens negativ, oft auch positiv, indem er das Gegebene beibehält und meistens weiter ausbildet, wobei es oft eine ganz andere Gestalt erhält. So ließe sich also allerdings in der Geschichte der Philosophie eine gewisse Nothwendigkeit, d. h. eine gesetzmäßige, fortschreitende Entwicklung erkennen, wenigstens ebenso gut, ja gewiß besser, als in der Weltgeschichte, obgleich dort wie hier die Individualität derjenigen, die zur Wirksamkeit kamen, als ein zufälliges Element stark eingreift und den Gang der Philosophie wie den der Weltbegebenheiten sehr modifizirt. Stillstände und Rückschritte sind in der Geschichte der Philosophie wie in der Weltgeschichte: dort, wie hier, giebt das Mittelalter einen traurigen Anblick, ist ein Versinken in Barbarei. Aber aus dem Rückschritt erhebt sich immer die Kraft wie neugestärkt durch die Ruhe. Man hat ein gewisses Verhältniß wahrgenommen zwischen dem jedesmaligen Zeitgeist und der Philosophie und auch wohl gemeint, die Philosophie würde durch den Zeitgeist bestimmt: aber es ist grade umgekehrt: die Philosophie bestimmt den Geist der Zeit und dadurch ihre Begebenheiten. Wäre im Mittelalter die Philosophie eine andere gewesen, so hätte kein Gregor VII. und keine Kreuzzüge bestehen können. Aber der Zeitlauf wirkt negativ auf die Philosophie, indem er die zu ihr fähigen Geister nicht zur Ausbildung und nicht zur Sprache gelangen läßt. Positiv wirken auf die Philosophie nur die vorzüglichen Geister, welche die Kraft haben, die Menschheit weiter zu bringen, und die nur als seltene Ausnahmen aus den Händen der Natur hervorgehen: auf diese nun aber wirken allerdings ihre Vorgänger, am meisten die nächsten, dann auch die ferneren, von denen diese abhiengen: also wirkt auf den Philosophen eigentlich nur die Geschichte der Philosophie, nicht die Weltgeschichte, außer sofern diese auf den Menschen wirkt, es ihm möglich macht, seine Individualität auszubilden, zu entfalten, zu benutzen, nicht nur für sich, sondern auch für Andre.
Nehmen wir nun dem Gesagten zufolge eine gewisse notwendige Entwickelung und Fortschreitung in der Geschichte der Philosophie an, so müssen wir auch ihre Irrthümer und Fehler als im gewissen Sinne nothwendige erkennen, müssen sie ansehen, wie im Leben des einzelnen vorzüglichen Menschen die Verirrungen seiner Jugend, die nicht verhindert werden durften, sondern in denen man ihn gewähren lassen mußte, damit er eben vom Leben selbst diejenige Art der Belehrung und Selbstkenntniß erhielte, die ihm auf anderem Wege nicht beigebracht werden konnte, für die es kein Surrogat gab. Denn das Buch wird nie geschrieben werden, welches die Erfahrung ersetzen könnte: durch Erfahrung aber lernt man nicht nur Andre und die Welt, sondern auch sich selbst kennen, seine Fehler, seine Irrthümer als solche, und die richtigen Ansichten, zu denen man, vor Andern, von Natur bestimmt ist und von selbst die Richtung nimmt. Oder wir mögen die nothwendig durchzumachenden Fehler ansehen, wie Blattern und ähnliche Krankheiten, die man überstehen muß, damit das Gift aus dem Leibe komme, das seiner Natur anhieng. Demnach können wir uns nicht wohl denken, daß die Geschichte so gut mit Kant, als mit Thales anfangen konnte u. s. f. Ist aber eine solche mehr oder minder genau bestimmte Notwendigkeit in der Geschichte der Philosophie, so wird man, um den Kant vollständig zu verstehen, auch seine Vorgänger gekannt haben müssen, zuerst die nächsten, den Chr. Wolf, den Hume, den Locke, dann aufwärts bis auf den Thales.
Aus dieser Betrachtung ergiebt sich, daß mir nichts willkommener seyn könnte, als daß Jeder von Ihnen schon eine Kenntnis der Geschichte der Philosophie mitbrächte und daß er besonders meinen nächsten Vorgänger, ihn, den ich als meinen Lehrer betrachte, genau kännte, nämlich Kant. Denn was seit Kant geschehen ist, ist in meinen Augen ganz ohne Gewicht und ohne Bedeutsamkeit, wenigstens für mich, also ohne Einfluß auf mich. So sehr ich aber auch das Studium der Geschichte der Philosophie Ihnen empfehle, so wünsche ich doch nicht, daß, wie oft geschieht, die Geschichte der Philosophie selbst Ihre Philosophie werde. Denn das heißt, statt denken und forschen zu wollen, nur wissen wollen, was Andre gedacht haben, und diese todte Notiz neben andern todten Notizen aufspeichern. Es ist jedoch ein häufiger Fall. Wer zum Denken von Natur die Richtung hat, muß erstaunen und es als ein eignes Problem betrachten, wenn er sieht, wie die allermeisten Menschen ihr Studiren und ihre Lektüre betreiben. Nämlich es fällt ihnen dabei gar nicht ein, wissen zu wollen, was wahr sei; sondern sie wollen bloß wissen, was gesagt worden