Vortex – Das Mädchen, das die Zeit durchbrach - Anna Benning - E-Book
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Vortex – Das Mädchen, das die Zeit durchbrach E-Book

Anna Benning

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Beschreibung

»Die Vergangenheit kann man nicht ändern. Das hat er mir immer wieder gesagt. Aber ich muss es tun. Für ihn. Für uns. Sonst sind wir alle verloren.« Elaines Welt wurde von Vortexen erschaffen. Sie formten Städte aus Bäumen, Lagunen aus Licht – und Menschen, die mit Feuer, Luft, Wasser und Erde vermengt wurden. Elaine dachte, sie hätte diese Welt gerettet. Was ein Sieg für die Freiheit sein sollte, droht jedoch, zu einem furchtbaren Krieg zu werden. Als ihr Widersacher Varus Hawthorne seine Vortexläufer zurück in die Vergangenheit schickt, bleibt Elaine und Bale keine Wahl: Sie müssen ihnen folgen. Doch jede Zeit, in der sie landen, offenbart neue Geheimnisse. Bis Elaine etwas erfährt, was ihr Vertrauen zu Bale erschüttert und ihr klarmacht, dass ihre Liebe das Schicksal aller entscheiden wird … Die fulminante Fortsetzung der Future-Fantasy-Trilogie Alle Bände der »Vortex«-Trilogie: Band 1: Der Tag an dem die Welt zerriss Band 2: Das Mädchen, das die Zeit durchbrach Band 3: erscheint im Frühjahr 2021

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Seitenzahl: 600

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Anna Benning

Vortex

Das Mädchen, das die Zeit durchbrachBand 2

FISCHER E-Books

Inhalt

[Motto]Teil Eins: Nordamerikanisches Territorium1234Drei Tage später56789101112Teil Zwei: Mittelamerikanisches Territorium1314151617181920212223242526Teil Drei: Südamerikanisches Territorium2728293031323334353637EpilogVerzeichnis der GruppierungenKarte[Dank][Leseprobe: Vortex Band 3]

Die Zeit ist das klügste aller Dinge,

weil sie früher oder später alles ans Licht bringt.

 

Thales

Teil EinsNordamerikanisches Territorium

AktualisierungsnotizHandbuch der Navigatoren
Überwachung und Sicherstellung

Die weltweite Gefahr terroristischer Anschläge durch die Vermengten besteht fort. Nach den jüngsten Ereignissen werden daher sämtliche Sicherheitsmaßnahmen in den verbliebenen Territorien verstärkt (gem. Punkt 4.1, Schützenswerte Gebiete). Alle Navigatoren sind dazu verpflichtet, ihren zugewiesenen Grenzabschnitt zu jeder Zeit von Vortexläufern überwachen zu lassen. Jeglicher Zugriffsversuch der Vermengten, die sich an den Stadtmauern in Position gebracht haben, ist sofort zu unterbinden.

1

Die Energie unseres Vortex brachte das Neonschild zum Flackern. Einmal, zweimal, dann war der Schriftzug wieder vollständig zu erkennen. Über einer Metalltür stand in fein geschwungenen Buchstaben: The Merge. Aus dem Inneren des Gebäudes ertönte ein tiefer, regelmäßiger Bass.

»Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache«, murmelte ich und warf Bale einen missmutigen Blick zu, als er sich zu mir umdrehte.

»Du hast nie ein gutes Gefühl, wenn es mein Plan ist.«

»Das stimmt nicht«, log ich und biss mir auf die Unterlippe. Ich widerstand dem Bedürfnis, erneut über meine Schulter zu schauen, um sicherzugehen, dass wirklich niemand unsere Ankunft bemerkt hatte. Die Straßen waren völlig leer. Eigentlich sollte mich das nicht wundern, wir hatten die Gegend schließlich bis Mitternacht mehrere Stunden lang von unserem Posten auf dem Hochhausdach ausgespäht.

Nirgends war ein Vortexläufer zu sehen.

Es war sicher.

Da trat Bale näher an mich heran und warf mir ein Lächeln von der Sorte zu, die ich vor einigen Wochen noch gehasst hatte. Er beugte sich zu mir herab, bis unsere Lippen nur wenige Millimeter voneinander entfernt waren. »Alles wird gutgehen, Barbie. Wo bleibt dein Vertrauen?«

»Vertrauen hat nichts damit zu tun, dass es ein schlechter Plan ist.«

»Es ist ein großartiger Plan«, sagte Bale. Dann griff er nach meiner Hand und zog mich zum Eingang. »Du willst es bloß nicht zugeben.«

Ich seufzte. »Was, wenn es doch eine Falle ist?« Diese Frage hatte ich ihm bereits ungefähr hundertmal gestellt.

»Dann sind wir sofort wieder draußen«, versicherte er. »Wenn es das kleinste Anzeichen dafür gibt, dass er nicht der ist, für den wir ihn halten, verschwinden wir.«

Ich spürte, wie ich allmählich ruhiger wurde. »Versprochen?«

Bales Lächeln wurde sanfter. »Versprochen.«

Ein letztes Mal seufzte ich. Dann ließ ich mich von ihm durch die Tür ins The Merge ziehen.

Denn tief in mir drin spürte ich, dass Bale recht hatte: Früher oder später mussten wir uns aus Sanktum herauswagen. Nur so hatten wir eine Chance, unseren Plan umzusetzen. Andererseits … Ich wusste, wie sehr sich das Leben in den verbliebenen Megacitys verändert hatte. Ich wusste, wie stark sie die Außenmauern in den letzten zwei Monaten abgesichert hatten und wie akribisch jeder Bezirk überwacht wurde. Und ich wusste, dass das Kuratorium überall auf der Welt nach Bale und mir suchen ließ.

Ausgerechnet jetzt zurück nach New York City zu kommen war völliger Wahnsinn.

Aber wenn es um Balian Travers ging, war ich wahnsinnige Aktionen ja inzwischen gewohnt.

Hinter der Eingangstür führte eine Treppe hinab in einen schummrigen Raum. Schon auf den ersten Blick war mir klar: Der Club war nicht das, was ich erwartet hatte. Überhaupt war es eher eine Art Pub. Ein winziger, unspektakulärer und ziemlich gammeliger Pub. Sowohl am Tresen als auch an den paar billigen Sperrholztischen, die im Raum verteilt standen, saß keine Menschenseele, und der Bass, den ich von draußen gehört hatte, drang noch immer leise zu uns.

Der Wirt, ein beleibter Mann mit Halbglatze und Schürze, warf uns lediglich einen flüchtigen Blick zu. Ich sollte erleichtert sein, dass er uns nicht erkannte, aber in mir kam sofort das Misstrauen hoch: Gab er nur vor, uns nicht zu kennen? Unsere Gesichter, oder besser gesagt unsere Fahndungsbilder, waren überall in den Städten zu sehen, auf riesigen Leuchtreklamen, in den Medienkanälen – Himmel, sie hatten sogar die Transportbahnen mit Hologrammen von uns zugekleistert!

Doch der Wirt wirkte ungefähr so interessiert, als wären wir Stammkunden, die bloß ihr tägliches Feierabendbier trinken wollten.

»Hey, John«, sagte Bale im Vorbeigehen und steuerte dann zielstrebig eine Tür an, auf der eine Figur mit Zylinder und Gehstock abgebildet war. Gents stand auf dem Schild darunter.

»Soll ich hier … warten?«, fragte ich perplex und blieb stehen.

Aber Bale zog mich weiter. »Nein. Komm mit.«

Also folgte ich ihm in die Herrentoilette, die … eben eine Herrentoilette war. Sechs Kabinen reihten sich aneinander, an der Wand gegenüber hingen alte Waschbecken.

Bale lief zur letzten Kabine, und ich ging unschlüssig hinterher. Als ich ihn eingeholt hatte, klopfte er gerade auf eine Fliese hinter dem Spülkasten. Wenige Sekunden später ertönte ein Geräusch von der Wand links von uns.

Ich zuckte zusammen. Ein Teil der Wand setzte sich knarzend in Bewegung. Ein Schiebemechanismus! Bale drückte die Fliesenverkleidung zuerst etwas nach vorne und dann nach rechts. Dahinter kam eine weitere Treppe zum Vorschein, und nun drang der Bass und die dazugehörige Musik in voller Lautstärke zu uns.

Langsam wurde mir klar, was das hier sollte. Der Raum oben war lediglich eine Tarnung. Das The Merge war gar nicht dieser alte, gammelige Pub – der eigentliche Club befand sich darunter.

Bale warf mir ein schiefes Lächeln zu und deutete die Treppe hinab. »Du musst jetzt ganz stark sein.«

»Ich glaube nicht, dass mich noch irgendetwas überraschen kann.« Immerhin lebte ich seit einigen Wochen in einer geheimen, illegalen Stadt, in der es hauptsächlich vermengte Menschen gab. Nicht nur Grunder, sondern auch Wirbler, eine Schwimmerin und sogar einen Halbzünder.

Was auch immer da unten auf mich wartete, würde mich kaum umhauen.

Bale zuckte mit den Schultern und lächelte auf diese spezielle Bale-Art, die mir sofort das Gefühl gab, er wüsste mehr als ich – und als würde er diesen Zustand sehr genießen. »Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Je tiefer wir hinabstiegen, desto lauter drang die Musik an meine Ohren. Elektronische Klänge schoben sich zwischen den Bass – Klänge, wie ich sie noch nie gehört hatte. Sie kamen mir irgendwie schwermütig und fast ein wenig bedrohlich vor. Gleichzeitig wurde die Dunkelheit des Treppenhauses von wilden Farben erhellt. Flackernde Lichter, die im Takt der Musik an die Wände projiziert wurden. Rot und Grün und Blau und Gelb – und alle Mischfarben dazwischen.

Nach und nach konnte ich mehr von dem Club sehen: schwarz vertäfelte Wände, schwarze Böden, alles so glänzend, dass sich die bunten Lichter perfekt darin spiegelten. Verschiedene Sitznischen, die zum Teil durch Hologramm-Vorhänge vom Rest des Raumes abgeschirmt waren, umrahmten eine Tanzfläche, auf der sich unzählige Vermengte teilweise eng umschlungen zu den Klängen der Musik bewegten.

Da versperrte mir eine große, stämmige Frau den Weg. Mit ihren kurzen roten Haaren, den knolligen Ohren und den rot glimmenden Augen war sie ganz klar eine Zünderin. Und die Türsteherin, ihren Muskelbergen nach zu urteilen.

Als Bale an ihr vorbeilief, tätschelte sie ihm kurz die Schulter. Als ich jedoch dasselbe versuchte, verschränkte sie die Arme.

»Keine Läufer im Merge«, bellte sie und deutete auf meine Uniform. Dort, wo früher das Convectum geprangt hatte – das Symbol des Kuratoriums – war nun ein anderer Aufnäher angebracht: ein Blitz auf einem Blatt, das Zeichen des Grünen Bebens, Sanktums friedlicher Rebellion. Aber das schien die Zünderin kaum gnädiger zu stimmen.

»Sie ist keine Läuferin mehr«, sagte Bale und griff wieder nach meiner Hand. »Und sie ist mit mir hier.«

Die Türsteherin drehte sich um und musterte Bale. Dann machte sie mir widerwillig Platz. »Aber sorg dafür, dass sie auch bei dir bleibt, Balian«, stieß sie scharf hervor. »Wenn sie alleine rumläuft, gibt’s Ärger.«

Ich schluckte, während ich mich von Bale in den Raum hineinziehen ließ.

Natürlich vertraute die Zünderin Bale. Für die Vermengten war er ein Held; derjenige, der dem Kuratorium den Rücken gekehrt und viele von ihnen aus den Zonen befreit hatte.

Mich dagegen … mich kannten die meisten nur von dem Tag, als das Kuratorium mich zur Vortexläuferin ernannt hatte.

»Es war doch keine gute Idee, die Uniformen anzuziehen«, murmelte ich, als wir die ersten Blicke auf uns zogen.

»Wir gehen in einen Club voller Vermengter, die dich nicht kennen«, sagte Bale. »Es ist mir egal, ob sie dich für eine Vortexläuferin halten. Die Uniform rettet dir im Zweifelsfall das Leben.«

Ich sah mich um. Das hier … das war definitiv ein Club nur für Vermengte. An einem langen Tresen, an dem jeder Hocker besetzt war, jonglierte der Barkeeper – ein Grunder – mit seinen Wurzelhänden mehrere Gläser, Shaker und sonstige Behälter hin und her. Die Triebe, die aus seinen Fingern sprossen, fingen alles mühelos auf, schwangen es wieder in die Luft und mixten so unzählige Getränke gleichzeitig.

Die Bewegungen der Wirbler, die mit den anderen Vermengten auf der Tanzfläche standen, wurden von sanften Windstößen begleitet. Dadurch flatterten ihre Kleider und Haare rhythmisch hin und her – und auch die aller anderen um sie herum.

Ein paar Zünder waren ebenfalls zu sehen. Viele von ihnen hielten sich eher an der Bar oder am Rand der Tanzfläche auf. Ihre roten Haare waren selbst im gedimmten Licht gut zu erkennen, und bei jedem von ihnen fragte ich mich, wie lange es dauern würde, bis sie unsere Läuferuniformen registrierten und den ganzen Club in Brand steckten.

Bale zog mich an der Tanzfläche vorbei, um eine Ecke herum, tiefer in den Club hinein. Sofort wurde meine Aufmerksamkeit zur Wand links von uns gelenkt. Zuerst hatte ich gedacht, die Fläche wäre einfach nur in blaues Licht getaucht, doch jetzt erkannte ich, dass die gesamte Wand aus einem riesigen Aquarium bestand. Das Wasser war klar und schillerte in den Farben der Laser und Scheinwerfer.

Im Aquarium gab es jedoch keine Fische oder Pflanzen, und erst als sich plötzlich zwei Hände von innen an die Scheibe pressten, verstand ich, welchem Zweck der Tank diente.

Alle paar Meter bewegten sich Schwimmer im Wasser. Sie wiegten sich hin und her zum Rhythmus der Musik. Dabei verschwommen immer wieder Teile ihrer Körper im Wasser um sie herum, als wäre ihre bleiche Haut durchlässig und würde das Wasser absorbieren, bevor es in sanften Luftblasen entwich.

Ich war wie hypnotisiert. Das Kuratorium hatte uns zwar Bilder und Videos von Schwimmern gezeigt, die unter Wasser waren, aber ich hatte noch nie einen mit eigenen Augen in seinem Element gesehen.

Die Schwimmer mussten so etwas wie die Tänzer im The Merge sein. Sie alle trugen kaum etwas am Leib, lediglich kleine Höschen und Tops aus einem fließenden, dünnen Stoff, der sich zusammen mit dem Wasser um die Schwimmer herumbewegte.

»Uhm«, kam es mir über die Lippen. Ein männlicher Tänzer schwamm direkt vor mich und grinste mich vielsagend an, bevor er sich elegant um die eigene Achse drehte und dabei auffällig die Hüfte kreisen ließ. »Was für eine Art Club ist das noch gleich?«, versuchte ich, die Musik zu übertönen.

»Die Art, die so gut versteckt ist, dass das Kuratorium sie auf keinen Fall finden wird«, antwortete Bale und folgte meinem Blick, der nach wie vor an dem leichtbekleideten Schwimmermann haftete. »Wenn du ihm Trinkgeld geben willst, da hinten ist eine Konsole, die du mit deinem Detektor koppeln kannst und …«

»Sehr witzig«, sagte ich und funkelte ihn düster an, was Bales Grinsen natürlich nur breiter werden ließ.

Das hatte er heute Morgen also damit gemeint, dass das The Merge ein Club für Vermengte wäre, die Ablenkung vom ständigen Weglaufen brauchten.

»Wie kommen die Schwimmer da wieder raus?«, fragte ich. Soweit ich wusste, konnten sie nicht lange an der Luft überleben.

»Die Tanks sind mit dem Hudson verbunden«, antwortete Bale und zog mich an dem Aquarium entlang.

Dem Hudson River? Das war doch wahnsinnig! Das Kuratorium überwachte den Fluss garantiert bis in die allerletzte Kuhle. Und selbst wenn sie einen Ort gefunden hatten, an dem sie sicher waren – was für ein Leben führten sie dort unten?

»Warte hier, ja?«, sagte Bale, als wir an einer der Sitznischen angekommen waren. »Ich muss kurz etwas regeln.«

Ein Teil von mir wollte sagen: Lass mich nicht alleine. Aber ich schluckte die Worte sofort herunter. Von ein bisschen nackter Haut und innig tanzenden Splits würde ich mich nicht einschüchtern lassen.

Nicht Splits, ermahnte ich mich sofort. Vermengte.

Denn die Menschen, die damals im Jahr 2020 durch die Große Vermengung mit den Elementen Luft, Wasser, Feuer und Erde vermischt worden waren, waren keine Splittermenschen, keine halben Menschen – das wusste ich jetzt auch. Split. Das war ein Schimpfwort. Und ich hatte mir eigentlich abgewöhnt, es zu benutzen.

Ich sah Bale hinterher. Er steuerte auf den Tresen zu und sprach mit dem Barkeeper. Dann setzte ich mich auf die äußerste Kante der Sitzbank, von wo aus ich die tanzende Menge betrachtete.

Alle Vermengten waren sich in Sachen Alter und Statur sehr ähnlich. Sie waren recht jung, sportlich und nicht allzu stark vermengt, fast menschlich aussehend. Und mir wurde schnell klar, warum das so war: Wären sie älter und gebrechlicher, weniger fit und weniger menschlich – sie hätten sich niemals in einer Stadt wie New York durchschlagen können. Sie wären längst von den Läufern des Kuratoriums gefangen worden.

Seit Bale und ich vor zwei Monaten einen Großteil der Zonengebiete geöffnet hatten, in denen die Vermengten jahrzehntelang gefangen gewesen waren, wurden die Megacitys noch viel strenger bewacht. Es hatte uns tagelange Vorbereitungen gekostet, sicher mit einer Transportbahn in die Stadt zu kommen, denn selbst mit einem präzise gelenkten Vortex war kein Durchkommen mehr. Das Kuratorium hatte die Außengrenzen der Stadt völlig abgeschottet und sie zur Festung gemacht. Bei den anderen Megacitys war es das Gleiche – mit Ausnahme von Tokio und Mexiko-Stadt. Tokio hatte gegen die Anweisung des Kuratoriums seine Tore vor wenigen Tagen für die ersten Vermengten geöffnet. Und Mexiko-Stadt war bereits kurz nach der Zonenöffnung von den Zünderrebellen des Roten Sturms eingenommen worden und galt als verlorenes Gebiet.

Die Nachricht vom Fall der ersten Megacity hatte die Welt wie ein Erdbeben erschüttert. Sie hatte die Menschen in Angst und Schrecken versetzt. Und die Vermengten – die hatten sich trotz aller Gefahren zu den Mauern der verbliebenen Städte aufgemacht. In Scharen hatten sie sich dort eingefunden, angetrieben durch die Hoffnung, dass sich die restlichen Tore bald öffnen würden.

Die gesamte Welt hielt den Atem an, als würden alle nur darauf warten, dass der andere den nächsten Zug machte.

Und genau das war der Grund, warum der Plan, den Bale ausgeheckt hatte, unbedingt gelingen musste – so riskant er in meinen Augen auch war.

2

Ich war erleichtert, als ich Bale auf mich zulaufen sah.

»Und?«, fragte ich.

Er hob eine Chipkarte in mein Sichtfeld. Sie war schwarz und in rot glänzenden Buchstaben stand darauf: RED ROOM. »Wir haben den Raum. Dort warten wir.«

Ich konnte nicht anders. Ich seufzte wieder. »Das ist ein ganz –«

»Es ist kein schlechter Plan.« Bale verdrehte die Augen und zog mich an der Hand weiter.

Doch, das war es. Es war der furchtbarste, leichtsinnigste Plan, den man sich überhaupt ausdenken konnte. Schließlich würden wir uns im Club mit einem Navigator des Kuratoriums treffen. Einem derjenigen Menschen, die uns seit Wochen überall auf der Welt suchen ließen.

Er hatte uns aus dem Nichts kontaktiert und ein Treffen vorgeschlagen. Und Bale hatte sein Angebot schneller angenommen, als ich das Wort H-I-N-T-E-R-H-A-L-T überhaupt hätte aussprechen können.

»Wie soll er hier eigentlich reinkommen?«, fragte ich im Gehen. »Wenn wir die Türsteherin kaum überreden konnten, dann …«

»Ich habe ihn angekündigt«, sagte Bale.

Natürlich hatte er das.

Zwei Wirbler stolperten an uns vorbei. Sie bahnten sich einen Weg von der Tanzfläche durch die Menge und verschwanden dann heftig knutschend hinter einer Tür, auf der in Gelb YELLOW ROOM stand.

»Komm«, sagte Bale und deutete auf eine Tür nicht weit weg von uns. Er hielt die Chipkarte gegen die Konsole neben der Tür, öffnete sie und ging dann hinein. Kaum dass ich ebenfalls drinnen war, drückte ich die Tür wieder zu. Dann drehte ich mich langsam um und spürte, wie meine Wangen heiß wurden.

Es war nicht schwer zu erraten, für welchen Zweck dieser Raum gedacht war. Er bot gerade genug Platz für ein Bett mit einem kompliziert geformten Metallgestell. Alles war in Rottönen gehalten: Laken aus Satin, ein samtbezogener Sessel. Auf Abstelltischen, ebenfalls aus Metall, standen Dutzende intensiv duftende Kerzen. Die Wände bestanden aus Projektionsflächen, auf denen flackernde Feuer zu sehen waren.

Am Metallgestell des Bettes baumelten eiserne Handschellen.

»Das ist dann wohl die Zündersuite.« Bale rieb sich den Nacken. Ich könnte schwören, dass er etwas rot anlief, aber vielleicht war es auch nur das Licht.

»Ich kann echt nicht glauben, dass du diesen Ort als Treffpunkt ausgewählt hast«, murmelte ich und beschloss, nichts, aber auch gar nichts anzufassen.

Bale seufzte. »Hier ist es sicher und … wir bleiben ja nicht lange. Außerdem habe ich schon Dutzende Male in einem dieser Räume übernachtet, wenn ich untertauchen musste. Alles wird gereinigt – und meistens wird tatsächlich nur geschlafen.«

»Meistens«, wiederholte ich und hob die Augenbrauen.

Bales belustigtes Schnauben drang zu mir. »Keine Sorge, Barbie. Ich werde deine Tugend respektieren.«

»Ha ha.« Ich schnitt eine Grimasse und kämpfte gegen die Hitze in meinen Wangen an. Nach Bales Grinsen zu urteilen, gelang es mir nicht sonderlich gut.

»Es sei denn, das willst du gar nicht«, fügte er hinzu und zog mich mit einem festen Griff an meiner Taille zu sich. Das Flackern der künstlichen Flammen tauchte ihn in ein warmes Licht, und ich zwang mich, meine ernste Miene beizubehalten, obwohl es mir schwerfiel.

»Das hättest du wohl gerne«, presste ich schließlich wenig geistreich hervor, schloss aber trotzdem die Augen, als Bale sich zu mir herabbeugte und mich küsste.

Nach unserem Kennenlernen hatte ich Bale für den unausstehlichsten, arrogantesten, selbstherrlichsten Kerl auf der Welt gehalten.

Gut, unausstehlich, arrogant und selbstherrlich war er auch heute noch, aber … Jetzt fiel es mir oft schwer, überhaupt den Blick von ihm zu nehmen. Seine eisblauen Augen waren wie tiefe Seen, die unter einer gefrorenen Schicht verschlossen lagen. Und in Momenten wie diesen gab er mir das Gefühl, die Einzige zu sein, die bis zum Grund vordringen könnte.

Das Problem mit Bale war nicht einfach nur, dass er tolle Wangenknochen, tolles Haar und einen tollen Körper hatte. Darüber hätte ich hinwegsehen können. Das Problem lag vielmehr in … dieser speziellen Art und Weise, wie er seinen Mundwinkel verzog, wenn er sich konzentrierte. Oder in seinen beißenden Kommentaren, die mich öfter zum Lachen brachten, als sie es sollten. Oder wie er seinem Hund Atlas zwar ständig drohte, ihn irgendwo auszusetzen, sollte er sich nicht sofort besser benehmen, ihn dabei aber so liebevoll streichelte, dass jeder wusste, er meinte es nicht ernst.

Das Problem mit Bale war, dass jedes Mal wenn ich glaubte, mich an ihn gewöhnt zu haben und immun gegen seinen Charme zu sein, er mich nur anzulächeln brauchte, damit es mir die Sprache verschlug.

Ich war rettungslos verloren.

Viel mehr, als ich es jemals zulassen wollte.

Bales Hände wanderten meinen Rücken entlang, um mich näher zu sich zu ziehen, doch da klopfte es an der Tür. Wir schreckten auseinander, und ich brachte etwas Abstand zwischen uns.

Bale warf mir einen prüfenden Blick zu. Ich nickte und wappnete mich innerlich dafür, gleich Dutzenden bewaffneten Vortexläufern gegenüberzustehen, die uns auf Geheiß ihres Obersten Leiters inhaftieren wollten.

Doch als Bale die Tür einen Spaltbreit aufzog, stand dort nur ein älterer Herr mit Anzug, Brille und Spitzbart, der uns sichtlich nervös musterte.

»S…sind Sie meine Kontaktpersonen vom Grünen Beben?«, fragte er und versuchte, an uns vorbei ins Zimmer zu lugen.

Er hat selbst Angst vor einer Falle, wurde mir da klar, und das schlechte Gefühl, das ich schon den ganzen Tag mit mir herumtrug, verpuffte.

Bale ließ den Mann hinein. Der sah zuerst ziemlich erleichtert aus, dass er aus dem Saal voller Vermengter herauskam, grunzte dann aber überrascht, denn Bale drückte ihn keine Sekunde später von innen gegen die geschlossene Tür.

»W-was?«, stotterte der Mann, doch Bale achtete nicht auf ihn.

Er hob die Hand und scannte ihn mit seinem Detektor ab. Als der Bildschirm grün aufleuchtete, packte Bale den Arm des Navigators, legte dessen eigenen Detektor frei und tippte sich mit raschen Bewegungen durchs Menü. Ich nahm an, dass alle Ortungsfunktionen, mit denen man uns aufspüren könnte, zu seiner Zufriedenheit deaktiviert worden waren, denn Bale ließ den Mann frei und reichte ihm die Hand zum Gruß.

»Balian Travers«, stellte er sich selbst vor.

Der Mann sammelte sich, und als er nickte, trat ein Leuchten in seine Augen. »Natürlich, natürlich – ich kenne Sie. Immerhin sind Sie … nun ja … Sie. Es ist mir eine Ehre, den begabtesten Vortexläufer aller Zeiten kennenzulernen, Mister Travers.« Sein Blick wanderte zu mir. »Und Sie natürlich ebenso, Miss Collins. Wir sind uns während Ihrer Ausbildung im Kuratorium einige Male begegnet, doch Sie werden sich wahrscheinlich nicht an mich erinnern.«

Ich betrachtete den Mann etwas genauer. Die Nachricht, die Nathaniel, der Anführer des Grünen Bebens und Oberhaupt von Sanktum, erhalten hatte, war recht knapp gewesen. Wir hatten keinen Namen bekommen, wir wussten nur, dass die Person jahrzehntelang als Navigator unter Gilbert, dem Ehemann meiner Tante, im Kuratorium von Neu London gearbeitet hatte. Er behauptete, bei seiner Arbeit Hunderte von Vortexläufer-Missionen betreut und angeblich in direktem Austausch mit der Forschungsabteilung des Kuratoriums gestanden zu haben. Dadurch hatte er Informationen gesammelt, die für uns angeblich sehr hilfreich wären. Im Gegenzug erhoffte er sich Asyl in Sanktum.

Nachdem Nathaniel uns die Nachricht gezeigt hatte, waren wir uns nicht im Klaren gewesen, ob wir dem Mann trauen konnten. Er behauptete, meinen Onkel zu verehren, doch das konnte auch eine gezielte Lüge sein.

»Robert Pullman«, stellte sich der Mann endlich vor. Ich schüttelte seine Hand. »Es ist mir eine Ehre, Sie zu treffen, Miss Collins. Furchtbar, was mit Mister Woodrow geschehen ist.«

»Haben Sie ihn gesehen?«, platzte es aus mir heraus. »Haben Sie meinen Onkel im Kuratorium zu Gesicht bekommen?«

»Leider nicht.« Pullman schüttelte den Kopf und blickte mich an, als würde es ihm ehrlich leidtun. »Nachdem das Institut in Neu London vor einer Woche wiedereröffnet wurde, wurden alle Mitarbeiter aus New York zurücktransferiert. Mister Woodrow müsste darunter gewesen sein, doch ich habe mich vor dem Transport abgesetzt. Ich weiß nur, dass er weiterhin wegen Hochverrat unter Arrest steht.«

»Dann wurde er noch gar nicht angeklagt?«, wollte Bale wissen.

Pullman verzog das Gesicht. »Ich fürchte, dazu wird es so schnell nicht kommen. Ich nehme an, Mister Hawthorne …« Er sah wieder sehr entschuldigend drein.

»… zögert die Sache absichtlich hinaus«, beendete ich seinen Satz und ballte meine Hände zu Fäusten.

Damit lag er vermutlich richtig. Gilbert nützte Varus Hawthorne nichts, wenn er rechtskräftig verurteilt im Gefängnis versauerte. Dazu war er viel zu wertvoll, mit all dem Wissen, das er über Sanktum, die Vermengten und über Bale und mich hatte.

Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was Hawthorne mit Gilbert machte, um an dieses Wissen zu kommen.

Pullman musterte mich. »Wegen Ihres Onkels bin ich überhaupt hier. Mister Hawthorne ist in seinem Hass auf die Vermengten völlig außer Kontrolle. Da bin ich nicht der Einzige im Kuratorium, der das denkt. Ihr Onkel …«, er räusperte sich, »… ist beliebt, müssen Sie wissen. Was mit ihm passiert ist, hat mir und vielen anderen Navigatoren die Augen geöffnet.«

»Und deswegen setzen Sie Ihr Leben aufs Spiel?«, fragte Bale und musterte Pullman kalt. »Weil Ihnen Ihr Vorgesetzter leidtut?«

Ich war Bale dankbar, dass er skeptisch blieb. Denn ich war dazu nicht mehr in der Lage. Gerade sah ich bloß Gilbert vor mir, wie er alleine in einer Zelle saß, an meine Tante Lis dachte, seine Frau, die er über alles liebte. An Luka, seinen Ziehsohn, und an mich, das Mädchen, das er vom ersten Tag an wie seine Tochter behandelt hatte.

Und ich stellte mir vor, wie er sich fragte, ob er seine Familie jemals wiedersehen würde.

»Nicht nur seinetwegen«, sagte Pullman mit brüchiger Stimme. »Ich selbst war verantwortlich für die … für die Inhaftierung und den Transport von Hunderten Vermengten. Ich dachte, ich würde das Richtige tun, aber …« Er brach ab und schluckte schwer, als stünde er kurz davor loszuweinen. »Erst nachdem die Existenz von Zeitläufern bestätigt wurde – nachdem Ihre Existenz bestätigt wurde …«, er schaute zwischen Bale und mir hin und her, »… und uns klarwurde, dass Mister Hawthorne plant, mit Ihrer Hilfe alle Vermengten auf einmal zu vernichten, da begriff ich, dass ich dem Kuratorium nicht mehr weiter dienen kann.«

Bale zögerte, etwas, das selten bei ihm war. Ich wechselte einen langen Blick mit ihm. Pullman wirkte, als würde er seine Worte ernst meinen. Und selbst wenn es eine Falle war – wir mussten es riskieren, oder nicht?

Ich räusperte mich. »Sie sagten, Sie hätten etwas für uns, Mister Pullman?«

»Ja, ja … in der Tat.« Er öffnete die zwei Knöpfe seines Jacketts. Dann griff er in die Innentasche.

Ich hielt vor Anspannung den Atem an, und Bale schien es ähnlich zu gehen. Doch Pullman stockte, bevor er das, was er in seiner Jacke verbarg, herauszog. »Und ich habe Ihre Garantie, dass Sie mich im Gegenzug zu dieser Stadt bringen und mir dort Schutz gewähren? Sie wissen, was mit mir passiert, wenn das Kuratorium hiervon erfährt?«

»Wir versprechen es«, sagte ich, auch wenn Bale und ich da keineswegs einer Meinung waren.

Noch in der Transportbahn nach New York hatten wir darüber gestritten. Wenn es nach Bale ginge, würden wir sämtliche Informationen aus ihm herauskitzeln und Pullman, der Bales Meinung nach ein zu großes Risiko für Sanktum war, einfach hier zurücklassen.

Letztlich hatte ich mich durchgesetzt, aber Bale war nicht glücklich mit der Entscheidung.

Von alldem wusste Pullman natürlich nichts.

Bale streckte die Hand aus, aber Pullman wandte sich stattdessen mir zu. Er zog einen Datenchip aus seiner Jackentasche und gab ihn mir.

»Das Video ist verschlüsselt«, erklärte er. »Die Konferenzen der Kuratoriumsleiter unterliegen der höchsten Geheimhaltung, die Decodierung benötigt Zeit, und die hatte ich nicht. Aber natürlich würde ich mich sofort an die Arbeit machen, sobald Sie mich in Sicherheit gebracht haben.«

Das war ein schlauer Schachzug von Pullman, wenn auch nicht überraschend. Er wollte sich unersetzbar machen.

Ich befühlte die körperwarme Hülle der Speicherkarte. Für diesen Chip waren wir ein großes Risiko eingegangen. Ich hoffte, er war es wert. Dann reichte ich ihn Bale. Der steckte ihn in die Öffnung seines Detektors, und es dauerte eine lange Minute, bis er nickte.

»Sieht echt aus«, sagte er. »Zumindest soweit ich das beurteilen kann. Ich schicke die Datei nach Sanktum, Robur soll sich die Sache mal anschauen, dann wissen wir, ob das Video wirklich Hawthorne zeigt.«

»Natürlich tut es das!« Pullman klang empört. »Ich habe alles riskiert, um Ihnen dieses Video zu überbringen. Wenn das Kuratorium erfahren würde, dass ich eine Konferenz der Leiter aufgezeichnet habe, dann –«

»Schon gut«, unterbrach ich ihn. »Wir sind Ihnen dankbar. Aber Sie werden verstehen, dass wir das erst verifizieren müssen, bevor wir Sie mitnehmen.«

»Natürlich«, antwortete Pullman. Dann griff er wieder in seine Jackettinnentasche. »Ich habe Ihnen noch etwas mitgebracht.« Er lächelte steif. »Quasi eine Art zusätzlichen Vertrauensbeweis.«

Er zog ein daumennagelgroßes Kügelchen hervor, das er anschließend ins Licht des Zimmers hielt.

Es war ein Gravisensor. Seine glatte, kreisrunde Außenhülle war dunkel, nahezu schwarz. Auf den ersten Blick sah er aus wie ein ganz gewöhnlicher Gravisensor, der blau leuchtete, wenn er aktiviert wurde. Nur wenn das flackernde Licht der Wandprojektionen darauffiel, erkannte man, dass die Kugel nicht blau, sondern orangefarben glomm.

»Ein Nullsensor«, sagte ich verwirrt. Das da war die erste Generation der Gravisensoren, die je gebaut wurde. Aufgrund ihrer zerstörerischen Wirkung waren sie seit Jahrzehnten offiziell verboten. Sie unterdrückten die Vortexenergie nicht nur für einen bestimmten Zeitraum, wie es die heutigen Sensoren taten, sondern zerstörten sie.

Mit genug Kugeln konnten sie einen Vermengten sogar töten.

Allerdings hatten Bale und ich es auch geschafft, dem Kuratorium mit ebendiesen Nullsensoren eine empfindliche Niederlage beizubringen. Mit einigen dieser Sensoren hatten wir den einzigen Weg in die Vergangenheit für immer zerstört. Nun gab es keine Möglichkeit mehr, zurück ins Jahr 2020 zu reisen, wo der erste Vortex ins Leben getreten war. Wir hatten Varus Hawthornes Plan – den Urvortex zu vernichten und damit nicht nur den Verlauf der letzten achtzig Jahre auf den Kopf zu stellen, sondern auch die Existenz aller Vermengten ungeschehen zu machen – verhindert.

»Was soll das?«, fragte ich verständnislos.

»Miss Collins.« Pullman legte seine Hand um meine, und ich war für einen Moment so perplex, dass ich zuließ, wie er sie sanft zudrückte, bis meine Finger den Nullsensor umschlossen hatten. »Was ich hier habe, ist ein neu produzierter Nullsensor.« Er wirkte höchst beunruhigt. »Das alleine wäre schon unerhört. Wie Sie wissen, wurde die Entwicklung der Nullgeneration vor Jahrzehnten eingestellt. Sie sind zu gefährlich, zu zerstörerisch. Die Baupläne müssten eigentlich aus den fünfziger Jahren stammen. Aber dieser Sensor – und einige hundert weitere – wurden noch am selben Tag der Leiterkonferenz in Auftrag gegeben. Und nicht nur das: Sie wurden verändert. Sie wurden weiterentwickelt.«

Ich hörte Bale schnauben. »Und was soll das Ihrer Meinung nach bedeuten?«

»Das weiß ich nicht.« Pullman schürzte die Lippen. »Ich weiß nicht, warum die Nullsensoren plötzlich überarbeitet werden sollten, aber im Bauplan war ein Änderungsprotokoll hinterlegt. Die Änderung wurde veranlasst für Projekt Aeolus.«

Ich warf Bale einen fragenden Blick zu, doch der zuckte bloß mit den Schultern. Also drehte ich mich wieder zu Pullman.

»Und was ist Projekt Aeolus?«

Pullman sah mich hilflos an. »Ich habe noch nie zuvor davon gehört, aber es muss einen Zusammenhang zwischen dem Video der Leiterkonferenz und der Änderung an den Sensoren bestehen.«

»Nun«, ich steckte den Sensor in die Seitentasche meiner Uniform, »vielleicht ist es ein wertvoller Hinweis. Wir werden –«

Von jetzt auf gleich erlosch das Flackern der Wandprojektionen.

Für zwei oder drei lange Sekunden standen wir im Dunkeln, dann erhellte ein grelles Licht den Raum, als die Wände auf Weiß umschalteten.

Ich schirmte meine Augen mit der Hand ab. »Was zum Teufel?«

Bale stürmte zur Tür. Von draußen drangen gedämpfte Rufe und Schreie zu uns.

»Du hast gesagt, es ist unmöglich, dass dieser Club aufgespürt wird!«, rief ich.

»Sollte es auch sein!« Bale öffnete die Tür des RED ROOM. Durch den Spalt fiel mein Blick auf die Besucher des Clubs, die wild durcheinanderrannten. Vortexläufer standen am Eingang, die Waffen im Anschlag. Dann fingen sie an zu schießen, und Panik brach aus. Entsetzt registrierte ich, dass sie nicht die übliche blau schimmernde Munition verwendeten. Stattdessen blitzte es überall orangefarben auf.

Eine tiefe Schwere breitete sich in mir aus. Pullman hatte die Wahrheit gesagt: Das Kuratorium ließ nicht mehr mit gewöhnlichen Gravisensoren auf die Vermengten schießen, um sie gefangen zu nehmen. Nein, das hier waren Nullsensoren. Und die waren dazu da, die Vortexenergie in den Vermengten für immer zu vernichten.

3

Bale schlug die Tür zu, drückte auf den Schließmechanismus und funkelte Robert Pullman an. »Sie haben uns reingelegt.«

»Nein! Ich habe sie nicht hergeführt!« Der Blässe in seinem Gesicht nach sagte Pullman die Wahrheit.

»Wir müssen hier raus«, raunte ich. Draußen im Saal ertönten weitere Schreie – und weitere Schüsse. Mir wurde übel, wenn ich daran dachte, wie die Vortexläufer all diese Vermengten, die eben noch friedlich gefeiert hatten, kaltblütig zusammentrieben.

»Ohne ihn«, gab Bale knapp zurück.

Das konnte er nicht ernst meinen. »Mit ihm!«

Bale schüttelte den Kopf. »Nicht, solange wir nicht wissen, ob er uns verraten hat. Vielleicht hat sein Detektor uns doch getrackt.«

Ich zerrte Pullman am Ärmel seines Jacketts nach oben, dann zog ich ihm kurzerhand seinen Detektor vom Handgelenk. Der Navigator protestierte, presste dann aber die Lippen aufeinander und sagte nichts, als ich das armbanduhrähnliche Gerät auf den Boden fallen ließ und mehrmals kräftig mit meinem Stiefel drauftrat.

»Jetzt ist er keine Gefahr mehr für Sanktum«, sagte ich. »Ob er die Läufer hergeführt hat oder nicht, können wir später herausfinden. So oder so hat er Informationen, die nützlich für uns sind.«

Bale wirkte alles andere als glücklich, aber ich wusste, dass er gegen dieses Argument nichts sagen konnte.

Statt einer Antwort streckte er seine Hand aus und ließ einen Vortex zwischen seinen Fingern entstehen. Das blaue Zucken wuchs rasant an, und der Vortex formte sich zu einem Kreis, der fast bis zur Decke des Zimmers reichte. Dann rotierte er vor uns, ein Wirbel, der alles miteinander vermischte – Decke, Boden, das helle Licht. Und ich spürte, wie seine knisternde Energie mich wie ein Magnet nach vorne zog.

»Kommen Sie«, befahl ich Pullman, doch der sah mich auf einmal mit großer Panik in den Augen an.

»Ich … ich kann nicht durch Vortexe laufen. Ich habe mich nie als Läufer beworben. Ich war … ich wollte immer nur Navigator werden.«

Ich stöhnte auf. Wie viel Pech konnte man haben? Es gab wenige Navigatoren, die nicht zumindest die Grundausbildung für Vortexläufer abgeschlossen hatten. Sie waren zwar oft nicht gut darin, aber fast jeder konnte sich an der Seite eines erfahrenen Läufers durch einen Vortex bewegen.

Etwas prallte hart gegen unsere Tür. Von draußen drangen Stimmen zu uns. Jemand rüttelte am Türgriff.

»W-was … was machen wir denn jetzt?« Pullman zitterte am ganzen Leib. »Wenn sie mich hier finden, bin ich verloren!«

»Uns fällt schon etwas ein«, versuchte ich ihn – und mich selbst – zu beruhigen. »Können wir ihn nicht einfach mit uns ziehen?«, raunte ich Bale zu. Er tat das manchmal mit Atlas, seinem Hund. Aber Atlas war ein vermengtes Tier, die Vortexenergie steckte bereits in ihm. Er konnte genau wie Grunder, Schwimmer, Wirbler oder Zünder durch einen Vortex laufen. Menschen wie ich dagegen mussten es mühsam lernen.

Ein Blick zu Bale, und ich wusste genau, was ihm durch den Kopf ging. Keine Chance.

»Oder wir könnten sie ablenken«, sagte ich hastig. »Wir gehen gleichzeitig raus, im Schnellspringen bin ich inzwischen fast genauso gut wie du.« Das war eine fette Lüge, und das wussten wir beide. »Während sie uns jagen, kann er versuchen, sich rauszuschleichen.«

»Zu gefährlich«, wischte Bale meinen Vorschlag beiseite. »Wenn sie uns nur mit einem Gravisensor treffen, sitzen wir fest. Dann können wir keine Vortexe mehr öffnen. Und wandern alle ins Gefängnis.«

Die Schreie draußen wurden immer lauter. Wieder rammte etwas die Tür – und wieder und wieder. Dann herrschte für einen Moment Stille, bis es plötzlich surrte und der Schließmechanismus sich entriegelte.

»Kommen Sie!«, schrie ich Pullman an und streckte ihm meine Hand entgegen. »Sie müssen mit uns springen. Anders geht es nicht!«

Pullman zögerte. In seinen Augen flackerten Angst und Unsicherheit. Dann schüttelte er panisch den Kopf. »Ich kann nicht«, wimmerte er.

Bale griff nach meiner Hand zerrte mich nach vorne.

Ich stemmte mich gegen die Bewegung – jedenfalls versuchte ich es.

»Elaine!« Bales Stimme schien weit weg zu sein. »Wir haben keine Zeit mehr!«

Ich sah zu Pullman. Er stand noch immer wie angewurzelt in der Mitte des Raumes und schüttelte nur wieder den Kopf. Ich wollte zu ihm, doch in diesem Moment sprang die Tür auf, und fast gleichzeitig verstärkte Bale seinen Griff und zog mich in einer ruckartigen Bewegung in den Vortexwirbel hinein.

Während Dutzende Vortexläufer in den Raum stürmten, erfasste mich die rohe Energie, und das Zimmer verschwamm vor meinen Augen. Gerade noch war Pullman vor mir, in Anzug, Krawatte, Spitzbart und Brille, dann war er verschwunden.

Ich wollte Bale anschreien, wollte ihn zwingen, umzukehren und den Mann irgendwie dort rauszuholen, doch er hielt mich eisern in der richtigen Position. Die Energie drängte an uns vorbei und riss mich so rasend schnell mit sich, dass ich keine andere Wahl hatte. Ich passte mich ihr an und bewegte meine Beine so, dass ich auf der Strömung laufen konnte.

Durch die bläulichen Schwaden hindurch sah ich New Yorks Wolkenkratzer an uns vorbeirauschen. Die Gerüche der Stadt drangen zu uns, ein Meer aus Lichtern flackerte auf. Da riss mich Bale schon wieder zur Seite, und fast im selben Moment erkannte ich auch den Grund dafür. Mehrere blaue Gravisensoren steuerten auf uns zu! Sie gerieten in die Vortexwirbel, rotierten darin umher und rasten schließlich von allen Seiten in unsere Richtung. Als sie uns verfehlten, schlugen sie Löcher in den Vortex.

Das waren die Vortexläufer aus dem Club! Im Gegensatz zu Pullman hatten sie uns durch den Vortex folgen können – und griffen uns nun an.

»Mach dich bereit!«, rief Bale. Der Vortex löste sich auf, wir schlingerten, und ich ließ mich in Bales Arme ziehen, als wir von jetzt auf gleich den Wirbel verließen und durch die Luft flogen.

 

Wir fielen mitten auf eine breite Straße, konnten uns aber beide gerade so abrollen. Ich blickte nach oben. Vor uns erhoben sich fünf riesige, hell beleuchtete Glastürme in den Nachthimmel. Das Gebäude erkannte ich sofort wieder: Es war New Yorks südlicher Fernbahnhof, wo wir heute Morgen angekommen waren.

Das Sirren der Hochgeschwindigkeitsbahnen hörte man bis hierher. Sie verbanden die Megacitys mit den wenigen verbliebenen Kleinstädten, die es über das Land verteilt noch gab.

Der Vortex, aus dem wir gefallen waren, flimmerte etwa drei Meter über uns. Ich hörte Rufe daraus hervordringen.

Bale zerrte an meinem Arm. Ich stolperte über einige Müllsäcke und fand erst mein Gleichgewicht, als Bale eine Tür neben uns aufgetreten und mich in einen halbdunklen Raum geschoben hatte. Es war eine Lagerhalle – deckenhohe Regale reihten sich zu allen Seiten.

Gleichzeitig streckten Bale und ich die Hände nach vorne. Zwischen unseren Fingerspitzen vibrierte es, die Vortexenergie wuchs – und verebbte wieder.

»Verdammt«, fluchte er.

Wir schauten uns um und erkannten sofort, warum wir hier drin keine Vortexe erzeugen konnten. An jeder Regalstrebe waren mehrere blaue Gravisensoren angebracht, die jegliche Vortexenergie in der Nähe blockten.

Mein Blick fiel auf eines der Regale. Neben einigen Containern gab es auch Plätze, in denen E-Plakate gelagert wurden. Da sie frontal herabhingen, leuchteten sie mir direkt entgegen. Ich schluckte, denn ich hatte diese Plakate heute bereits überall in der Stadt gesehen. Alle paar Sekunden wechselten sich zwei Fahndungsbilder ab: Zuerst das von Bale, dann meines.

Unter jedem der Bilder stand: GESUCHT WEGEN HOCHVERRATS.

»Das ist eine Lagerhalle des Kuratoriums«, keuchte ich, als von außen etwas gegen die Tür in unserem Rücken stieß.

»Weiter!« Bale zerrte mich an der Hand an den Regalen vorbei. Die Reihen zogen sich endlos in die Länge, hinter uns wurde die Tür zur Halle aufgetreten.

»Stehen bleiben!«, rief einer der Vortexläufer, und schon wurde die Dunkelheit der Halle von mehreren blau glimmenden Kugeln durchschnitten, die nur knapp an uns vorbeisausten.

Diesmal war ich es, die Bale zur Seite stieß. Dadurch verfehlte uns zwar der Schuss, wir krachten aber in eines der Plakate.

»Schneller!« Ich griff nach Bales Hand und zog ihn an den Regalen entlang.

Am Ende der Reihe glaubte ich, einen Ausgang zu erkennen. Wir steuerten darauf zu, mussten uns noch zweimal vor Schüssen ducken und setzten dann die letzten Meter zum Spurt an.

Bitte sei offen, bitte sei offen, dachte ich und stellte mich schon auf das Schlimmste ein, als ich die Vortexläufer hinter uns abermals Befehle schreien hörte. Garantiert wiesen sie ihre Navigatoren in der Zentrale dazu an, die Türen aus der Ferne zu verriegeln.

Doch wir waren zu schnell. In perfekter Harmonie zog Bale an der Tür, ich glitt zuerst durch, öffnete auf der anderen Seite einen Vortex, während Bale den Ausgang wieder verschloss.

Ich sprang voraus und sah noch, wie Bale die Vortexenergie zwischen seinen Händen so bündelte, dass er damit den Griff der Tür sprengte. Unsere Hände verhakten sich ineinander, und ich nahm einen tiefen Atemzug, als wir gemeinsam durch die Welt davonrauschten.

4

Noch in der Sekunde, in der wir uns auf einem Hochhausdach materialisierten, legte ich alle Kraft in meine Arme, um Bale von mir zu stoßen.

Er sah mitgenommen aus – mindestens genauso mitgenommen, wie ich mich fühlte, aber das ließ die Wut in meinem Bauch, die unsere Flucht im besten Fall überdeckt hatte, nicht kleiner werden.

»Wir hatten ausgemacht, ihn nicht zurückzulassen!«, schrie ich Bale über den Wind hinweg an. »Du hattest es mir versprochen!«

Bales Kiefer versteifte sich. »Es war ja nicht so, als hätten wir eine Wahl gehabt.«

»Ach ja? Wie praktisch für dich!«

»Hey.« Bale funkelte mich an. »Ich hab das nicht geplant, okay? Das Merge war sicher – der Club war immer sicher. Ich kannte viele Vermengte dort. Die Leute waren meine Freunde. Glaubst du, es gefällt mir, dass sie jetzt in die letzten verbliebenen Zonen gebracht werden?«

Ich erstarrte, und meine Wut verpuffte völlig. Bale hatte recht. Nicht nur dass die Läufer den Club gestürmt hatten – sie hatten auch mit den Nullsensoren auf die Vermengten geschossen.

Das hatte ich noch nie erlebt. Nullsensoren waren verboten, seit Jahren! Kein Vortexläufer sollte je mit ihnen auf Vermengte zielen.

Wie viele mussten heute Nacht durch sie verletzt worden sein? Womöglich hatte es sogar Tote gegeben. In jedem Fall würden alle Vermengten, die heute im Merge gewesen waren, vom Kuratorium eingesperrt werden.

Ich griff in meine Uniform, zog die kleine Kugel hervor, die Pullman mir gegeben hatte. Das orangefarbene Glimmen schien mich auszulachen. Hastig verstaute ich sie wieder in meiner Jackentasche und lief los. In Momenten wie diesen hatte ich früher immer mein Minzölfläschchen ausgepackt, um mich mit dem stechenden Duft zu beruhigen, doch ich hatte es schon vor Monaten verloren und brauchte es auch nicht mehr. Normalerweise.

Am Rand des Daches blieb ich stehen und sah auf die Riesenstadt hinab. Ich hatte uns mit dem Vortex zurück nach Lower Manhattan gebracht, wo sie uns jetzt garantiert am wenigsten vermuteten. Nur wenige Kilometer von uns entfernt ragte das blaue, hufeisenförmige Gebäude des New Yorker Kuratoriums in den Himmel.

Ich hörte leise Schritte und spürte, wie Bale hinter mich trat.

Meine Hände ballten sich zu Fäusten. »Wir hätten nie in die Stadt kommen dürfen.«

Bale seufzte. »Was hatten wir für eine Wahl? Pullman hat sich geweigert, ohne Schutz in die Ungesicherten Gebiete zu gehen.«

»Dort wäre er sicherer gewesen«, raunte ich und schlang die Arme um meinen Oberkörper. Für Mai war es noch ungewöhnlich kalt. Zwar absorbierte meine Uniform den beißenden Wind, aber in Verbindung mit dem Schreck, der tief in meinen Gliedern saß, fröstelte ich von Kopf bis Fuß.

All die Vermengten, die in Panik aus dem Club fliehen wollten. Der verzweifelte Blick von Pullman, wie er den Kopf schüttelte. Ich hatte sie im Stich gelassen. Genau wie ich damals Gilbert im Stich gelassen hatte.

»Elaine, wir hätten sie nicht retten können.« Bales Stimme klang resigniert. »Und es war Pullmans eigene Entscheidung. Jeder erfahrene Navigator weiß, was mit Menschen passiert, die noch nie einen Vortex gelaufen sind. Er hat das Gefängnis dem sicheren Tod vorgezogen.«

Ein zittriger Atemzug entwich mir. Ich hasste es, wenn Bale recht hatte. Und noch mehr hasste ich, dass mir seine Worte nichts von meinen Schuldgefühlen nehmen konnten.

»Komm schon, wir müssen verschwinden.« Bale deutete hinauf in den Himmel, wo Überwachungsdrohnen ihre Bahnen flogen. Er hielt mir die Hand entgegen.

»Wohin denn?«, erwiderte ich mutlos. »Das Kuratorium hat die Fernbahnhöfe vermutlich längst abgeriegelt. Sie werden alle Läufer zusammenziehen, um uns zu suchen. Wir kommen hier nie raus.«

Bale streckte mir seine Hand entgegen. »Ich habe einen Plan, Barbie. Du musst mir nur vertrauen.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt habe ich einen Plan.«

Bale hob eine Augenbraue. »Und der wäre?«

»Wir versuchen es noch einmal von vorn«, sagte ich entschlossen. »Wenn wir jetzt in der Zeit zurückspringen, können wir Pullman und die Vermengten vielleicht retten, bevor das Kuratorium dort aufkreuzt.«

Bale stöhnte. »Das können wir nicht. Wie oft muss ich dir das eigentlich sagen?«

Bis ich es glaube.

Ich spürte Bales Finger an meinen. Er zog meine Hände von meinem Brustkorb und hielt sie in seinen fest. Ein Teil von mir war so wütend, dass ich die Berührung am liebsten abgeschüttelt hätte – doch als Bale mich mit diesem intensiven Blick ansah, konnte ich es nicht.

»Wir können die Vergangenheit nicht ändern«, sagte er zu mir, so wie er es in den letzten Wochen schon Dutzende Male getan hatte. »Selbst wenn wir mit einem Vortex zurückspringen, selbst wenn wir alles dafür tun … die Zeit ist ein geschlossenes System. Alles, was passiert ist, wird immer so passieren. Wir können versuchen, was wir wollen, und vielleicht ändern wir Kleinigkeiten, aber am Ende werden wir Robert Pullman zurücklassen müssen. Die Vermengten werden vom Kuratorium gefasst. Und es gibt nichts, was du oder ich daran ändern könnten.«

Erschöpft ließ ich meine Stirn gegen Bales Brust sinken. Wie konnte er so überzeugt davon sein, nichts ausrichten zu können, wo wir doch schon so vieles verändert hatten?

Wir hatten die Zonen geöffnet, in denen die Vermengten seit über vierzig Jahren gefangen gehalten worden waren. Wir hatten dafür gesorgt, dass sogar eine Megacity ihre Tore in Frieden für die Vermengten geöffnet hatte. Und Sanktum?

Die geheime Baumstadt war das beste Beispiel dafür, dass ein friedliches Leben zwischen Menschen und Vermengten möglich war.

Wer all das erreichen konnte, der konnte noch mehr erreichen! Und ich weigerte mich zu glauben, dass die Zeit uns vorschrieb, was wir tun konnten und was nicht.

»Es tut mir leid, dass wir ihm nicht helfen konnten«, sagte Bale und klang, als würde er es auch so meinen. »Und du hattest recht. Er war auf unserer Seite. Er wollte wirklich aussteigen.«

Ich dachte zurück an das The Merge. So viele Vermengte hatten uns zu Helden erklärt, nachdem wir die Zonen geöffnet hatten. So viele sahen in uns die Gesichter einer friedlichen Revolution, die versuchte, die Menschen von einem Miteinander mit den Vermengten zu überzeugen.

Einige nannten uns deshalb Befreier, was auf Bale ja zutreffen mochte, immerhin hatte er die Codes aus den Kuratorien gestohlen, mit denen er die Zonen hatte öffnen können. Aber ich?

Meine einzige Heldentat war es gewesen, dass ich ihn nicht davon abgehalten hatte. Und heute hatten unzählige Vermengte durch unsere Anwesenheit ihre Freiheit verloren.

Befreier? Im Moment kam ich mir eher wie ein Verräter vor.

Bales Detektor blinkte auf, und er ließ mich los, um auf den Bildschirm zu schauen.

»Wir müssen zurück nach Sanktum.«

»Großartige Idee. Hast du auch einen Plan, wie?«

Bales Blick war gen Himmel gerichtet. Dann warf er mir ein schwaches Lächeln zu. »Ja. Aber ich fürchte, er wird dir nicht gefallen.«

 

Bales Plan gefiel mir nicht.

Um nicht zu sagen: Auf der Verrücktheitsskala von Balian Travers’ Plänen erreichte dieser hier eine glatte Zehn.

»Du hast den Verstand verloren«, sagte ich, als ich mich widerwillig zum Vorsprung ziehen ließ.

Das Glitzern in Bales Augen wirkte nicht gerade beruhigend auf mich. »Jetzt übertreibst du.«

»Übertreiben?« Ich starrte nach unten in den Abgrund. »Ich glaube nicht!«

Wir standen auf einer der Hochhausfarmen, die New York mit Nahrungsmitteln versorgten. Überall in den Megacitys fand man sie in den Randbezirken, in direkter Nähe zu den Wohnblocks und in unserem Fall in direkter Nähe zum nördlichen Fernbahnhof.

Das gläserne Bahnhofsgebäude lag direkt vor uns. Und es war deutlich zu erkennen, mit wie vielen Drohnen und Transportern – allesamt gespickt mit leuchtend blauen Sensoren – es gesichert war.

Bereits unser Weg hinein in die Stadt war ein unfassbar großes Risiko gewesen, vor allem da die Einreise in die Megacity viel strenger reguliert war als die Ausreise. Nach nervenaufreibenden Stunden, in denen wir durch Dutzende Scanner gejagt worden waren und andauernd befürchten mussten, dass unsere Tarnung auffliegen würde, hatten wir uns um unsere Ausreise keine Sorgen gemacht. Jetzt hatte sich das Blatt jedoch gewendet. Meine Vermutung war richtig gewesen: Sie hatten die einzigen Ausgänge der Stadt dichtgemacht. Niemand kam mehr raus, bis Bale und ich geschnappt worden waren.

Ich sah also ein, dass unsere Möglichkeiten begrenzt waren.

Und trotzdem.

»Wir werden dabei sterben, das ist dir klar, oder?«

Ein seltsamer Ausdruck legte sich auf Bales Gesicht, dann lächelte er. »Vertrau mir, keiner von uns wird heute sterben.«

Ich schnaubte. Die Art, wie Bale sich so furchtlos in tödliche Gefahren stürzte, war mir unbegreiflich. Als hätte er eine Wahrsagekugel, die ihm nach mehrfachem Schütteln bestätigte: Keine Sorge, den heutigen Tag überlebst du, also kein Grund zur Vorsicht!

Tief durchatmend, schaute ich nach vorne, in die endlose Weite. Die Sonne war bereits aufgegangen; vor uns lagen noch zwei oder drei Wohnblocks, gefolgt von der riesigen Mauer, die New York von den Ungesicherten Gebieten abtrennte. Dahinter erstreckte sich unbebautes Land, auf dem ich kleine weiße Flecken ausmachte – die Zelte des Grünen Bebens, in denen Tausende Vermengte seit Wochen auf Einlass warteten.

Doch es war nicht die weite Strecke, die mich einschüchterte, die war mit einem Vortex natürlich kein Problem. Es waren die blauen Gravisensoren, die auf der Mauer blinkten. Und nicht nur dort, sondern sogar im Himmel darüber. New York verfügte inzwischen über eine enorme Sensorenkuppel, die sich über weite Teile der Randbezirke erstreckte.

Es war, als hätten sie zusätzlich zu der Mauer noch einen Riesenschirm aufgespannt, was auch für uns, die wir die Vortexe frei lenken konnten, eine Flucht unmöglich machte.

Oder beinahe unmöglich, wenn man Bale Glauben schenkte.

Die einzelnen Reihen der Sensorenkuppel blinkten im Sekundentakt nacheinander, mal war eine Reihe schwarz, mal blau, wie eine künstliche La-Ola-Welle.

»Wir müssen den richtigen Moment abpassen«, sagte Bale neben mir und zeigte nach vorne. »Sie können nicht alle Sensoren gleichzeitig aktivieren, das würde die Energiereserven der Stadt zu schnell aufbrauchen.«

»Aber – das sind nur Sekunden«, warf ich ein. Ich kam mir vor wie in einem schlechten Film oder in einem von Lukas geliebten Retrospielen, mit denen er mich jahrelang zu Hause genervt hatte und in denen das Männchen unter mehreren herabsausenden Fallbeilen hindurchrollen sollte.

»Wir brauchen das richtige Timing«, stimmte Bale zu und hielt mir wieder die Hand hin.

Ich stöhnte gequält, verhakte meine Finger aber trotzdem mit seinen. Einerseits weil wir wirklich keine Wahl hatten, andererseits weil ich wusste, zu was Bale imstande war. Sein Plan war verrückt – aber er war auch der Einzige, der ihn tatsächlich ausführen könnte.

Bale beugte sich nach vorne, und ich tat es ihm gleich.

Reihe für Reihe blinkten die Sensoren blau und dann schwarz. Schwarz hieß deaktiviert. Blau hieß aktiviert und damit absolut tödlich – denn wenn unser Vortex dagegenprallte und seine Energie schlagartig blockiert werden würde, würden wir Hunderte Meter ungebremst in die Tiefe fallen.

Mein Herzschlag wurde immer schneller, und ich drückte Bales Hand so fest, dass es ihm weh tun musste, aber ein Blick zur Seite bestätigte mir, dass er hoch konzentriert war. Die schwachen Lichtstrahlen fielen auf seine schwarzbraunen Haare und umspielten seine Silhouette, während sich nur seine Lippen leicht bewegten: Er zählte den Takt. Ich sah ebenfalls wieder nach vorne, versuchte, nachzuvollziehen, wann der beste Zeitpunkt war.

»Bereit?«, fragte Bale schließlich, ohne mit dem Zählen aufzuhören. Vor uns öffnete sich ein Vortex und surrte, als könnte er unseren Sprung kaum erwarten.

Ich atmete tief durch, der Wind aus der Tiefe der Stadt strömte mir entgegen, und ich stellte mir den Duft der grünen Wiesen vor, die hinter der Mauer auf uns warteten.

Also nickte ich. »Bereit.«

Bale wartete mehrere Sekunden. Die Sensorenreihe unmittelbar vor uns war gerade schwarz, als wir in den Vortex sprangen. Der Wirbel katapultierte uns nach vorne – das Zucken war so dicht, dass man von der Außenwelt nur Fetzen sah. Ich legte den Kopf in den Nacken. Vor uns konnte ich vage die Sensoren ausmachen.

Wir waren schon fast da, doch die Sensoren wechselten von Schwarz auf Blau. Ein erschrockener Schrei entfuhr mir, und ich drückte Bales Hand, so fest ich konnte.

Wir schossen durch die Luft, die Sensoren blieben blau. Immer näher, immer schneller, und als wir geradewegs auf die Lücke zwischen dem Sensorennetz zurasten, schloss ich die Augen und wappnete mich für den Aufprall.

Um mich herum surrte der Vortex, und ich hörte den Rhythmus meiner eigenen zittrigen Atemzüge.

Erst nachdem ich die Augen wieder geöffnet hatte, begriff ich, dass nichts passiert war. Wir hatten die Kuppel hinter uns gelassen. Unter uns lagen die unzähligen Zelte der Vermengten, die vor New York City campierten. Wir hatten tatsächlich exakt die Sekunde erwischt, in der die Sensoren deaktiviert gewesen waren.

Wir waren frei!

Unsere Körper flogen wie Geschosse durch die Welt, die Energie unter uns rauschte dahin, das Adrenalin in meinen Adern ließ jede Zelle in mir pochen und schmerzen.

Alles außer meinen elementarsten Sinnen verschwand, wurde zu einem Hintergrundrauschen, als ich mich dem Vortex hingab. Ich spürte die Energie an meiner Haut wie ein Knistern, das von einer offenen Stromleitung ausging.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich geglaubt hatte, dass ein Vortexsprung bloß Mittel zum Zweck wäre, um in kürzester Zeit riesige Strecken zu überwinden. In einem Vortex konnte man von New York nach Moskau und von Sydney nach Neu London springen, von der Wüste Sahara bis zum höchsten Gipfel des Himalaya-Gebirges. Ich war davon überzeugt gewesen, dass ich nur durch Vortexe springen würde, um dem Kuratorium zu dienen. Aber heute war das anders.

Inzwischen hatte ich gelernt, wie man einen Vortex beeinflussen musste, damit er einen zum richtigen Ort führte. Die Energien, die einen normalen Vortexläufer sofort schwer verletzt hätten, flossen ungehindert in unsere Körper hinein und passten sich unseren Bewegungen an. Wir mussten den Vortex bloß stark genug biegen, damit er …

Ja, dachte ich. Die Verwirbelungen reagierten, bevor ich den Gedanken gefasst hatte. Der Vortex wechselte die Richtung und nahm – ich spürte es bis in die Zehenspitzen – Kurs auf Sanktum.

Drei Tage später

5

Vorsichtig betrat ich Bales Zimmer und verharrte einen Moment im Türrahmen. Aus dem angrenzenden Badezimmer drang das Rauschen der Dusche zu mir.

Wir hatten uns heute Vormittag mit Susie und Fagus zum Vortextraining verabredet, aber Bale war anscheinend noch nicht fertig.

Am besten, ich würde auf ihn warten. Allerdings war ich bisher nie alleine in Bales Zimmer gegangen. Natürlich war ich schon oft hier gewesen – meistens, um mit ihm auf die Dachterrasse des Gasthauses zu klettern –, aber alleine … das war etwas völlig anderes.

Ich sah aus einem der runden Fenster, das in das Holz eingelassen war. Draußen leuchtete die Stadt in sattem Grün. Sanktum bestand aus Unmengen an riesigen Bäumen, aus denen Baumhäuser wuchsen, so wie das Gasthaus eins war. Von außen sahen sie aus wie knubbelige Gebilde, die untereinander mit Brücken und Stegen verbunden waren. Leitern führten durch die Blätter von einem Baumstockwerk zum nächsten. In dem Gasthaus, das dem Schneider Allister Wemyss gehörte und in dem ich mich gerade befand, waren es allein fünf an der Zahl. Im Erdgeschoss gab es eine Küche, ein Ess- und Wohnzimmer und Allisters Schneiderei. In den oberen Stockwerken waren die Wohnräume untergebracht.

Sowohl in Sanktum als auch im Gasthaus gab es jeden Tag etwas Neues zu entdecken. Ganz im Gegensatz zu Bales Zimmer. Ich wandte mich vom Fenster ab und ließ meinen Blick über das Bett, das Sofa, den Schreibtisch und Atlas’ Hundekorb wandern, der neben der Tür platziert war. Schon als ich Bale kennengelernt hatte, konnte man die persönlichen Dinge, die von ihm herumlagen, an einer Hand abzählen. Der Raum war völlig unpersönlich eingerichtet, obwohl Bale hier zwischen seinen Vortexreisen immer wieder lange Pausen verbracht hatte. Selbst seine Klamotten packte er mittlerweile nicht einmal mehr aus. Und die wenigen Bücher, die er besaß, waren nach wie vor in einem Karton verstaut.

Die Dusche rauschte weiter. Ich ließ mich auf den Schreibtischstuhl sinken und atmete tief ein. Hier drin roch es überall ganz leicht nach Pfefferminze, meinem Lieblingsduft, der von allem auszugehen schien, was jemals mit Bale in Berührung gekommen war.

Kaum zu glauben, dass schon drei Tage vergangen waren, seit wir von unserer Mission in New York City zurückgekehrt waren. Drei lange Tage, in denen die Erinnerung an die Stürmung des Clubs in Endlosschleife durch meinen Kopf geisterte, ob ich es wollte oder nicht. Ständig fragte ich mich, ob wir die Läufer zu den Vermengten geführt hatten oder ob wir einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren.

Wahrscheinlich würde ich es nie erfahren.

Doch es half, wieder zu Hause zu sein. Mir war überhaupt nicht klar gewesen, wie sehr ich Sanktum, Tante Lis und meine Freunde – Susie, Fagus und natürlich Luka – vermisst hatte. Bis zu dem Moment, in dem wir aus dem Vortex gesprungen waren und der feucht-erdige Geruch des Waldes und der geheimen Baumstadt in meine Nase drang.

Bale und ich waren so schnell wie möglich in Allisters Gasthaus verschwunden, um kein großes Aufsehen in der Stadt zu verursachen. Seit wir überall auf der Welt die Zonen geöffnet hatten, in denen die Vermengten eingesperrt gewesen waren, kannte jeder einzelne Vermengte der Stadt unsere Gesichter. Nur im Gasthaus hatten wir unsere Ruhe.

Na ja. Mehr oder weniger.

Tante Lis hatte mich am Tag nach unserer Ankunft kaum aus den Augen gelassen. Sie war schon immer eine ziemliche Glucke gewesen – seit sie mich nach dem Tod meiner Mutter bei sich aufgenommen hatte. Und nach allem, was wir in New York erlebt hatten, hätte sie mich am liebsten gar nicht mehr fortgelassen.

Gleichzeitig war uns beiden klar, wie unmöglich das war.

Sie und Luka hatten mich sofort über Gilbert ausgefragt. Tante Lis kam um vor Sorge um ihren Mann, und Luka ging es ebenso. Ich hatte es in ihren Augen gesehen, wie sehr sie sich nach einem Strohhalm sehnten – irgendetwas, das ihnen Hoffnung gab.

Doch ich konnte ihnen nur sagen, was Robert Pullman mir mitgeteilt hatte. Wir wussten nichts Neues. Gilbert war Hawthornes Gefangener. Und solange wir keinen Weg fanden, ihn aus dem Kuratorium zu befreien, würde er das auch bleiben.

Lis’ gequältes Lächeln war mir durch und durch gegangen.

Gilbert war weder mein Vater noch mein leiblicher Onkel – aber er hatte Luka und mich wie seine eigenen Kinder behandelt, und er hatte immer für das eingestanden, was er für richtig hielt.

Wir mussten ihn da rausholen.

Und dabei würde uns Pullmans Datenchip mit der verschlüsselten Videobotschaft hoffentlich helfen. Wir hatten ihn sofort in Roburs Werkstatt abgeliefert.

Robur wohnte ebenfalls mit uns im Gasthaus und war so etwas wie der Chefingenieur des Grünen Bebens. Er und die wenigen anderen Techniker, die in Sanktum lebten, setzten nun alles daran, das Video aus dem Kuratorium so schnell wie möglich zu dekodieren.

Luka half ihnen dabei – schließlich hatte er seine Zeit als Anwärter im Kuratorium mit Vorliebe damit verbracht, sich in das System zu hacken. Eine Leiterkonferenz zu knacken wäre jedoch eine andere Nummer, hatte er gesagt.

Wir konnten also nichts anderes tun, als zu warten. Und ich sah es jeden Tag in Bales Blick: Er hasste es, zu warten.

Anfangs hatte er sich wie ein Wachhund vor Roburs Werkstatt positioniert, um ihm bei der Entschlüsselung der Videobotschaft über die Schulter zu schauen. So lange, bis Robur ihn wegen seiner ständigen Nachfragen entnervt rausgeworfen hatte.

Seitdem nutzte er die Zeit, um mit Susie, Fagus und mir das Springen durch Vortexe zu trainieren, was mir nur recht war, denn ich brannte darauf, besser zu werden.

Unschlüssig drehte ich mich im Schreibtischstuhl hin und her. Dabei fiel mein Blick erneut auf den Karton mit Bales Büchern. Ich beugte mich nach unten und ließ meine Fingerspitze über die Buchrücken gleiten. Dann zog ich den Karton auf meinen Schoß. Die Bücher waren allesamt schon sehr alt, die Einbände rissig und abgenutzt. Bei den meisten handelte es sich um Fachbücher über Vortexe, aber es gab auch einige Geschichtsbücher, einzelne Romane und … Ich stockte, als ich ein Buch entdeckte, das quer am Boden des Kartons lag und gar keinen Titel hatte.

Behutsam zog ich es heraus. Es war recht dünn, hatte einen Ledereinband, und ein Bleistift klemmte in einer Seitenlasche.

Es sah fast aus wie ein … Tagebuch. Zumindest hatte ich solche Eintragebücher schon beim Papierverkäufer in Sanktum gesehen.

Andererseits: Bale war nicht der Tagebuch-Typ.

Oder doch?

Mein Finger schwebte unentschlossen in der Luft. Ich hielt inne und lauschte.

Die Dusche lief immer noch.

Auch wenn ich wusste, dass ich es nicht sollte, nahm ich das Buch an mich und versprach mir im selben Moment, es sofort zurückzulegen, wenn es wirklich ein Tagebuch war.