Vortex – Die Liebe, die den Anfang brachte - Anna Benning - E-Book
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Vortex – Die Liebe, die den Anfang brachte E-Book

Anna Benning

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Beschreibung

»Ich schob mich an ihm vorbei und sprang. Eines wusste ich nun mit absoluter Sicherheit … Es war von Anfang an unvermeidlich gewesen.« Nachdem Elaine nicht nur ihre Kräfte, sondern auch Bale verloren hat, droht alles auseinanderzubrechen. Die Armee des Roten Sturms dringt immer weiter vor, und die friedliche Welt, wie Elaine sie sich erträumt hat, scheint in weite Ferne zu rücken. Doch als Elaine Bale im besetzten São Paulo plötzlich gegenübersteht, keimt Hoffnung in ihr auf: Vielleicht kann sie den Jungen, den sie liebt, noch retten? Denn Elaine weiß: Nur zusammen können sie den Urvortex beschützen. Nur zusammen können sie tief hinein in die Vergangenheit reisen. Dorthin, wo alles seinen Anfang nahm … Das atemberaubende Finale der »Vortex«-Trilogie! Alle Bände der »Vortex«-Trilogie: Band 1: Der Tag, an dem die Welt zerriss Band 2: Das Mädchen, das die Zeit durchbrach Band 3: Die Liebe, die den Anfang brachte

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Seitenzahl: 638

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Kathrinschroeder

Gut verbrachte Zeit

Gelesen dank Netgalley Der dritte Teil der Vortex-Trilogie schafft es tatsächlich alle losen Fäden einzusammeln und sie zu einer runden Geschichte zu verknüpfen. Nach und nach rollen sich die einzelnen Wege und Irrwege ab und man bleibt bei der Frage: Kann die Vergangenheit geändert werden - die sich dann zum Ende auch klärt. Gelungenes Finale der Vortex-Trilogie #Vortex #AnnaBenning #Netgalleyde! #KathrinliebtLesen #Bookstagram
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Anna Benning

Vortex

Die Liebe, die den Anfang brachteBand 3

FISCHER E-Books

Inhalt

MottoPrologTeil Eins Wut & Wunder12345678910111213Teil Zwei Freund & Feind141516171819202122232425262728Teil Drei Anfang & Ende2930313233343536373839EpilogVerzeichnis der GruppierungenDanksagungAusblick auf die nächste Trilogie

Das Schicksal entreißt nichts,

was es nicht erst gegeben hat.

 

Seneca

Prolog

Ich hatte noch nie einen Vortex wie diesen gesehen.

Er vereinte unendlich viele Welten miteinander. Jeder Streifen Energie, der vor mir in dem Wirbel rotierte, schien zu einem anderen Ort zu führen. Jedes Surren trug einen anderen Widerhall mit sich: das Pfeifen arktischer Winde, der Ruf eines Wales, der Duft von Laubbäumen, der Lärm einer Großstadt. Die Energie, die dieser Vortex aussandte, raubte mir den Atem. Sie zog mich zu sich, so kraftvoll, dass ich die Spitzen meiner Stiefel in den Boden bohren musste, um nicht hineingesogen zu werden.

Trotz all seiner Zerstörungskraft war der Vortex wunderschön. Mächtiger als alles, was ich je gefühlt hatte. Und er rief mich zu sich, denn ich war die Einzige, die ihn jetzt noch unter Kontrolle bringen konnte.

Da griff eine Hand nach mir. Er war wie immer so schnell gewesen, dass ich ihn nicht hatte kommen sehen.

»Nicht«, sagte er und schob sich entschlossen vor mich. Nur ein Wort, doch darin lag alles, was ihn ausmachte. Alles, was ihn und mich zu diesem Moment geführt hatte. Seine Augen fixierten mich, während sich das Zucken bereits wie eine Hülle um uns legte.

Ich hatte ihm noch so vieles zu sagen. So vieles. Aber uns blieb keine Zeit mehr.

Mit einem Mal wurde alles in mir ganz ruhig. All die Verluste, die wir erlitten hatten, traten in den Hintergrund. Die Angst, die mich in den letzten Stunden gelähmt hatte, verflog. Ich umfasste sein Gesicht mit beiden Händen und küsste ihn. Sein Atem strich heiß über meine Haut, und seine Finger gruben sich in den Stoff meiner Uniform, in einem letzten, verzweifelten Versuch, mich bei sich zu halten. Alles, was ich für ihn empfand, lag in diesem Kuss, doch sobald ich mich von ihm löste, zögerte ich nicht länger.

Ich schob mich an ihm vorbei, so schnell, dass er mich nicht mehr zu greifen bekam. Dann nahm ich Anlauf und sprang.

Eines wusste ich nun mit absoluter Sicherheit.

Es war von Anfang an unvermeidlich gewesen.

Teil EinsWut & Wunder

Verschlüsselte Nachricht
Absender: Juliana Canto, Chefnavigatorin São PauloEmpfänger: Verteiler der Chefnavigatoren

Meine treuen Freunde,

die Lage ist so ungewiss, ich vermag nicht zu sagen, wen diese Nachricht noch erreichen wird. Die Vermengten haben Tokio, Mexiko-Stadt, Neu London, Sydney, Kapstadt und Kairo eingenommen. In wenigen Minuten werden sie sich São Paulo holen, wir können es nicht verhindern. Ich weiß, dass es schwer ist, den Tatsachen ins Auge zu blicken, doch das müssen wir: Varus Hawthorne hat uns und alle Mitglieder des Kuratoriums jahrelang getäuscht. Unser Oberster Leiter ist kein Mensch, er ist ein Vermengter, und wenn wir nichts tun, wird sein Hass uns alle in den Abgrund führen.

Er hat den Krieg in unsere Städte gebracht. Doch die viel schlimmere Bedrohung lauert woanders. Gestern erreichte uns aus verlässlicher Quelle die Information, dass Hawthornes Zeitläufer kurz davor ist, einen Weg zurück ins Jahr 2020 zu finden.

So wenig das Phänomen der Zeitläufer erforscht ist, so gefährlich ist es auch. Es ermöglicht dem Läufer nicht nur, über Erinnerungen in die eigene Vergangenheit zu reisen, sondern noch viel weiter zurück. Ich selbst habe an den Rifts geforscht, die Hawthornes Zeitläufer immer tiefer in die Zeit führen. Und wenn er es bis zum Urvortex schaffen sollte, ist es zu spät.

Ich sage es in aller Deutlichkeit: Hawthorne plant, den Urvortex so erstarken zu lassen, dass er unseren gesamten Planeten vermengt. Damit würde er ein knappes Jahrhundert auslöschen, die Menschheit würde mit einem Schlag vernichtet werden, und die Vermengten wären die neuen Herrscher dieser Welt.

Meine Freunde. Wer auch immer diese Nachricht erhält: Unsere letzte Hoffnung liegt darin, Hawthornes Zeitläufer aufzuhalten.

Findet Balian Travers! Tötet ihn! Es ist die einzige Möglichkeit.

Alles, was ihr dafür benötigt, lade ich in dieser Sekunde in das Kuratoriumsnetzwerk.

Jede Bewegung verläuft in der Zeit und hat ein Ziel.

Mögen wir uns wiedersehen.

 

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Anhang: 1 verschlüsselte Datei

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1

Wir hörten die Trommeln, als wir noch gar nicht im Landeanflug waren. Ihr Rhythmus war unkontrolliert, geradezu wild. Kein Schlag war gleichmäßig, sie erklangen mal heller, mal dunkler, mal schneller, mal langsamer. Erst zusammen erschufen sie eine hypnotisierende Melodie, der man sich nur schwer entziehen konnte.

Ich lugte zur Seite, zum Fenster unseres Transporters, bloß ganz kurz, aber Susie hatte es sofort bemerkt und räusperte sich streng. »Ellie! Wenn du nicht stillhältst, muss ich noch einmal von vorne anfangen.«

Bitte nicht.

Susie machte sich bereits seit einer halben Stunde an meinem Gesicht zu schaffen. Viel länger würde ich das nicht aushalten.

Also atmete ich tief ein und aus und versuchte, mich nicht mehr zu bewegen. »Entschuldige.«

»Ich bin auch gleich beim Feinschliff.« Susie holte ein Puderdöschen aus ihrer kleinen Umhängetasche heraus.

»Feinschliff?«, fragte ich misstrauisch.

Susie legte den Kopf schief. »Es sieht noch nicht wirklich … echt aus.«

»Damit meint sie: Deine Vermengung lässt noch zu wünschen übrig«, ergänzte Luka und grinste, als ich mich zur Seite lehnte, um ihm einen schneidenden Blick zuzuwerfen. Er und Fagus saßen auf der Sitzbank gegenüber von uns und wirkten trotz allem, was uns bevorstand, als hätten sie den Spaß ihres Lebens. Immerhin gab es keine weiteren Zuschauer, denn – von unserer Pilotin mal abgesehen – waren wir nur zu viert im Transporter.

»Je sorgfältiger, desto besser.« Susie tippte an mein Kinn, damit ich mich wieder zu ihr drehte, und ich tat, was sie verlangte. Schließlich wusste ich, worum es ging.

Während Susie mit einem Schwämmchen so viel grünes Puder auf meinem Gesicht verteilte, dass ich bald als Tannenbaum durchgehen konnte, schielte ich wieder aus dem Fenster.

Unser Transporter flog bereits seit einer guten Stunde über São Paulo. Zu allen Seiten erstreckte sich blauer Himmel, keine einzige Wolke weit und breit. Ein weiterer sengend heißer Sommertag.

Unter uns zog ein Teppich an Hochhäusern vorbei. São Paulo war riesig, und es würde noch dauern, bis wir zu unserem Landepunkt kamen, dem Bezirk, der früher Rio de Janeiro genannt wurde, bevor das Kuratorium ihn an die Megacity angeschlossen hatte.

Die Stadt war eine einzige Abfolge von Wohnblocks, Hochhausfarmen, in denen Lebensmittel produziert wurden, und Zäunen, die die Bezirke voneinander abtrennten. Lediglich dort, wo die Ebene in saftig grüne Hügel überging, wurde die Bebauung spärlicher, und kleine Tupfen Natur waren übrig geblieben. Ansonsten sah es aus wie in jeder der zehn Kuratoriumsstädte.

In jeder der zehn ehemaligen Kuratoriumsstädte, verbesserte ich mich in Gedanken, denn die meisten von ihnen gehörten nicht mehr dem Kuratorium.

Sie gehörten nun den Vermengten.

Wie lange war es her, dass São Paulo kapituliert hatte? Eine Woche? Zwei? Es war so viel passiert, dass mein Kopf kaum hinterherkam.

»So!«, riss mich Susie aus meinen Gedanken. »Jetzt kommt das Beste!« Sie kramte ein weiteres Mal in ihrer Umhängetasche und warf mir ein verschmitztes Lächeln zu, als sie einige Zweige, Blätter und zartrosa Blüten herauszog.

»Susie …« Ich beobachtete so gefasst wie möglich, wie sie all das Grünzeug an eine Haarspange knotete, die sie ebenfalls aus ihrem Beutel holte. Dann kam sie damit auf mich zu – ein entschlossenes Funkeln in ihren Augen. »Reicht es nicht, dass du mir eine Flechtfrisur verpasst hast?«, fragte ich, aber Susie schüttelte vehement den Kopf.

»Das habe ich ja nur gemacht, damit die Pflanzen besser sitzen. Und jetzt halt still, ich weiß schon genau, wie es aussehen soll.«

Ich warf Luka einen hilfesuchenden Blick zu, doch der war so damit beschäftigt, Susie anzuschmachten, dass er mich überhaupt nicht bemerkte.

Kaum hatte er eine feste Freundin, ließ er mich im Stich. Verräter.

Fünf Minuten später hielt mir Susie einen Handspiegel vors Gesicht. »Du siehst wunderschön aus!«

Sie klang so stolz, dass ich ihr unmöglich sagen konnte, dass all diese Blumen sofort rausfliegen würden, wenn ich einmal zum Sprint ansetzte. Also tat ich ihr den Gefallen und betrachtete die kleinen Blümchen, die sie kunstvoll zwischen meine blonden Haare gesteckt hatte. Ohne meinen üblichen Pferdeschwanz kam ich mir zwar sofort verkleidet vor, aber Susie hatte sich unheimlich viel Mühe gegeben. Meine Augenbrauen hatte sie grün betupft, so dass sie Fagus’ Moosbrauen ähnelten, und meine Wimpern hatte sie bereits vor unserem Abflug mit Federn beklebt, die wie Blätter wirkten. Sogar das grüne Puder, das sie so aufgetragen hatte, dass ein leichtes Rindenmuster dabei entstanden war, sah sehr hübsch aus – und nicht, als müsste ich mich gleich übergeben.

»Danke«, sagte ich, und das Leuchten in Susies Augen wurde noch etwas heller. Zufrieden packte sie ihre Utensilien wieder ein und ließ sich neben mich auf den freien Sitz fallen.

Im Gegensatz zu meiner grünen Variante war Susies Outfit in hellen Blautönen gehalten. Dadurch kam ihre Schwimmerhaut, die von Natur aus und ganz ohne Puder bläuliche Akzente hatte, noch mehr zur Geltung. Sie trug ein Satinröckchen, und ihre schwarzen langen Haare, die sie sonst meistens zu einem seitlichen Fischgrätenzopf geflochten hatte, fielen heute in großen Wellen frei über ihre Schultern. Rund um ihre mandelförmigen Augen klebten Glitzersteine.

Luka und Fagus hatten sich weit weniger Mühe gegeben. Lukas Outfit bestand lediglich aus einer Stoffhose in Dunkelrot sowie einem weißen Leinenshirt. Seine roten Haare hatte er wild nach oben gekämmt, so dass sie ein bisschen wie Feuerlohe aussahen und seine Zündernatur bestens unterstrichen.

Fagus’ Shirt und seine Hose leuchteten in ähnlichen Grüntönen wie meine eigene Kleidung. Der einzige Unterschied war, dass ich mich nur als Grunderin ausgab – während das Moos und die Blätter, die aus seinen Haaren wuchsen, wirklich echt waren.

Die Kleider waren eine Anordnung unserer Navigatoren gewesen. Ich hatte erst geglaubt, mich verhört zu haben, als Gilbert damit ankam. Wieso sollten wir uns für eine so wichtige Mission wie für eine Party aufmotzen? Den Grund hatte ich allerdings schnell eingesehen.

Am heutigen Feiertag würden alle Vermengten, überall auf der Welt, die Farben der vier Elemente zur Schau tragen. Zum ersten Mal in ihrem Leben mussten sie ihre Kräfte nicht mehr verbergen und konnten ihre wahre Natur zeigen. Und die Farben … die waren ein Symbol für ihre Freiheit geworden.

Wenn ich da unten als ich selbst aufkreuzte, würde ich keine Minute überstehen. São Paulo gehörte jetzt dem Roten Sturm – einer Armee aus Vermengten, die die Menschen hassten, weil sie jahrelang von ihnen unterdrückt worden waren. Sie würden mich sofort gefangen nehmen. Und dann … nun, was dann geschah, kam darauf an: Wenn ich Glück hatte und sie nicht erkannten, wen sie da vor sich hatten, würden sie mich in die neuen Menschenbezirke stecken. Wenn sie dagegen merkten, dass ich Elaine Collins, die Zeitläuferin, war, würde ich sofort bei ihrem Anführer landen. Und sobald das passierte – wenn sie mich Hawthorne auslieferten –, war alles vorbei.

Natürlich musste ich vorsichtig sein.

Aber ein Rock, der mir kaum über den Hintern reichte? Dass das notwendig war, wagte ich zu bezweifeln.

Als ich wieder geradeaus sah, fing ich Fagus’ Blick auf. Wir alle waren angespannt, versuchten jedoch, uns nichts anmerken zu lassen. Und jetzt trat ein belustigtes Lächeln auf seine Lippen.

»Was?«, presste ich hervor.

»Nichts.« Das Lächeln wurde breiter. »Ich dachte nur gerade, dass du eine gute Grunderin abgibst. Ganz nach meinem Geschmack.«

»Ich wusste gar nicht, dass du überhaupt Geschmack hast«, warf Luka ein. »Dir ist klar, die Basilikumsträucher in deinem Garten zählen nicht, oder?«

Fagus hob eine Hand, ohne sich von mir abzuwenden. Er hielt sie vor Lukas Gesicht, und langsam, ganz langsam spross aus seinem Mittelfinger eine Wurzel heraus, an deren Spitze eine zartblättrige Blüte keimte.

Luka lachte bloß leise, woraufhin Fagus hinterherschob: »Ich hatte Freundinnen. Es hat nur nie gehalten. Und dann kam die Zeit, in der sich keiner mehr für mich interessiert hat, weil alle damit beschäftigt waren, Bale hinterherzu…« Fagus bemerkte seinen Fehler und ließ den Satz ins Leere laufen. Langsam, wie in Zeitlupe, richteten sich seine grünen Augen auf mich. »Elaine … Tut mir leid.«

»Schon gut«, sagte ich automatisch, wie jedes Mal wenn jemand auf Bale zu sprechen kam. Ich schaffte es sogar, Fagus ein Lächeln zu schenken, doch es war zu spät. Eine erdrückende Stille legte sich über den Innenraum des Transporters, selbst Luka verkniff sich jeden weiteren Kommentar. Zurück blieben nur das dumpfe Trommeln von draußen und das stete Surren unserer Antriebsmotoren.

Schnell schaute ich zum Fenster, um den Blicken zu entgehen. Das Schlimme war nämlich nicht, dass die anderen Bale erwähnten. Ich dachte ja ohnehin an ihn. Jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde.

Nein, das Schlimme war das Mitleid in ihren Augen.

Blind tastete ich mit einer Hand am Sitz entlang und von dort nach unten, bis meine Finger auf weiches Fell stießen. Ein Brummen ertönte von dem riesigen Hund, der an meinen Füßen lag und vor sich hin döste. Erst als ich mit den Fingernägeln über die Mooskissen an seinen Ohren kraulte, öffnete er seine strahlend grünen Augen und lehnte sich in die Berührung.

Atlas liebte es, am Kopf gekrault zu werden. So sehr, dass er ihn hin und her neigte, damit sich meine Streicheleinheiten perfekt über seine Stirn und seinen Nacken verteilten.

Irgendwann gähnte er zufrieden und sah mich an, als wollte er sagen: Danke, das genügt vorerst, bevor er sich wieder an meine Beine schmiegte.

Ich spürte der Berührung nach. Atlas war mir in den letzten Monaten mehr ans Herz gewachsen, als ich es für möglich gehalten hätte. Er begleitete mich überallhin und schlief jede Nacht neben meinem Bett, als wollte er mich beschützen. Luka und Susie waren meine besten Freunde, aber mit Atlas war es etwas anderes.

Er war ein Teil von Bale. Er war sein Hund – sein bester Freund. Und jedes Mal wenn ich Atlas streichelte, ersetzte ich in meinem Kopf eine schlechte Erinnerung durch eine gute.

Die Erinnerung, wie Bale von den Zündern des Roten Sturms gefangen genommen worden war, verblasste. Stattdessen rief ich mir vor Augen, wie er mich mit einem spöttischen Grinsen in seinen Vortex gezogen hatte.

Bales leerer Gesichtsausdruck, als Hawthorne ihm dieses verdammte Halluzinogen verabreichen ließ, verblasste. Stattdessen sah ich den Glanz des Meeres in seinen eisblauen Augen, als er mir zum ersten Mal gestanden hatte, dass er mich liebte.

Auch Hawthornes Propagandavideos verblassten. Ich sah nicht mehr Bale, wie er inmitten der Kämpfe Kuratoriumsläufer mit seinen Vortexen in die Luft beförderte und ohne jegliche Regung beobachtete, wie sie auf dem Boden aufschlugen. Nein, ich sah Bale, wie er Atlas umarmte oder mit Susie im See in unserer Heimatstadt Sanktum das Schwimmen trainierte. Sein warmer Blick legte sich auf mich, der Klang seiner Stimme drang an mein Ohr …

… und ich kam mir ein kleines Stück weniger verloren – und weniger hoffnungslos vor.

Wenn Bale noch er selbst wäre und wüsste, was aus ihm geworden war … Es würde ihn innerlich zerreißen. Varus Hawthorne hatte ihn zu seiner Marionette gemacht. Indem er ihm dieses Halluzinogen gab, hatte er ihn vollständig unter Kontrolle, und alles, was Bale tat, geschah auf seinen Befehl hin.

Mir war klar, dass Bale lieber gestorben wäre, statt Hawthorne derart ausgeliefert zu sein. Doch die Entscheidung war ihm genommen worden.

Die Wahrheit war: Mein Bale existierte nicht länger. Der Junge, in den ich mich verliebt hatte, der mir so fehlte, dass ich nach dem Aufwachen kaum Luft bekam, war ausgelöscht worden. Und ich fürchtete mich unendlich davor, was passieren würde, wenn ich ihm letztlich gegenüberstand.

»Noch fünfzehn Minuten!«, ertönte es auf einmal aus dem Cockpit. Unsere Pilotin war eine Grunderfrau, deren Blätterhaare kaum unter ihren Helm passten und zu allen Seiten herausstanden. Ich griff an die Stecker in meinen Ohren.

»Testet bitte noch einmal eure Verbindung«, hörte ich da schon Gilberts Stimme durch das Mikro. Zeitgleich hoben wir unsere Hände und schauten auf unsere Detektoren.

Team zwei, stand ganz oben auf dem runden armbanduhrähnlichen Gerät. Darunter die Namen der Teammitglieder: Luka Woodrow, Susana Albright, Fagus Hadkin, Elaine Collins. Etwas darunter unser Navigator: Gilbert Woodrow.

Die Aussicht stimmte mich etwas ruhiger. Unsere Mission war knifflig. Wir würden mitten in einer Hochburg des Roten Sturms landen, der Armee, die diesen Krieg überhaupt erst losgetreten hatte. Aber Gilbert war der beste Navigator, den es gab. Er hatte Hunderte Vortexläufer durch die brenzligsten Situationen gelotst. Er konnte Fluchtwege aus dem Nichts hervorzaubern und Gefahren so schnell analysieren wie kein anderer. Ihn heute in meinem Ohr zu haben, gab mir ein Gefühl der Sicherheit. Er würde uns durch diese Mission bringen – eine Mission, die uns unbedingt gelingen musste.

Noch einmal rief ich das Profil der Frau in meinem Detektor auf, die wir aus der Stadt evakuieren sollten. Juliana Canto, Chefnavigatorin des Kuratoriums in São Paulo.

Eine schmale Statur, graubraune, lockige Haare, Brille.

Eine Frau, die alles für uns ändern könnte.

Sofern sie nicht längst tot war.

»Die Verbindung ist stabil«, sagte Fagus. Susie, Luka und ich bestätigten.

»Gut«, gab Gilbert zurück. »Prüft sie noch einmal, wenn ihr landet, und dann wieder, wenn ihr am Treffpunkt angekommen seid. Ich will, dass ihr mich ständig auf dem Laufenden haltet über das, was ihr seht. Und vergesst nicht: Das hier ist kein Kampfeinsatz, sondern eine Rettungsmission. Ihr geht rein, ihr geht wieder raus. Im Fall einer Auseinandersetzung hättet ihr keine Chance.«

»Aye, aye, Chef«, sagte Luka. »Wir sollen unauffällig sein. Kapiert.«

Seine Worte wurden mit bleiernem Schweigen belohnt. Gilbert war in seinem professionellen Navigatorenmodus – da hatte er keinen Sinn für die flapsigen Sprüche seines Adoptivsohns. »Wenn ihr Juliana nicht findet …«, fuhr er fort.

»Verschwinden wir sofort«, versprach ich. »Keine spontanen Aktionen.«

Diesmal klang Gilberts Schweigen sehr zufrieden. Statt zu antworten, sendete er die Positionssignale der beiden anderen Teams auf unsere Detektoren. Sie waren ebenfalls im Sinkflug und kamen dem Bezirk, in dem wir landen würden, immer näher. Zwar waren wir heute Morgen gemeinsam aufgebrochen, doch steuerte jeder Teamtransporter die Stadt aus einer anderen Richtung an, um nicht aufzufallen. Wir würden sie erst an unserem Treffpunkt sehen.

Ich lehnte mich zurück, versuchte, ruhig zu bleiben, aber die Anspannung ließ nicht nach. Immer wieder befühlte ich den leichten Satinstoff, der meine Oberschenkel umschmiegte. Dieser Fetzen würde mich kaum schützen, wenn uns jemand erwischte. Und meine Füße … die steckten in grün glitzernden Riemchensandalen.

Wie sehr wünschte ich mir meine Uniform herbei, die mich mit ihrem robusten Material von Kopf bis Fuß umschloss, dazu meine Laufboots oder meinen Pferdeschwanz, bei dem ich nicht Sorge haben musste, dass bei einer falschen Bewegung ein halber Blumenstrauß herausfiel.

Ich kam mir schrecklich verletzlich vor. Und tief innendrin war mir klar, dass das nur wenig mit meinem Outfit zu tun hatte.

Schließlich hatte ich mich daran gewöhnt, aus jeder Situation sofort fliehen zu können, wenn es nötig war. Ich hatte nur einen Vortex öffnen müssen, und schon war ich weg. Eine Bewegung meiner Hand, und die Energie verdichtete sich, wuchs zu einem Wirbel, der mich in Sekundenschnelle an einen anderen Ort – oder in eine andere Zeit – in Sicherheit brachte.

Diesen Luxus hatte ich nicht mehr. Wenn heute etwas schiefging, konnte ich keinen Vortex erschaffen, um uns zu retten. Meine Kräfte waren versiegt. Wie jeder andere konnte ich nur davonlaufen. Oder kämpfen.

»Schaut mal!«, rief Susie plötzlich.

Wir alle standen auf und beugten uns zum Fenster. Sogar Atlas kam angelaufen, sein von Pflanzen durchwachsenes Fell kitzelte an meinen nackten Beinen.

Inzwischen war der Teppich aus Hochhäusern um einiges näher gerückt als noch vor zehn Minuten. Susies Finger deutete aufgeregt in die Ferne und … da. Tatsächlich. Im strahlenden Sonnenlicht tauchte vor uns die Statue mit den ausgestreckten Armen auf, die bereits über ein Jahrhundert die Stadt bewachte. Der Erlöser. Zu ihren Füßen war ein Feuer entzündet worden, das viele Meter in die Höhe ragte und eine schwarze Rauchspur in Richtung der Straßen wehte.

»Sie feiern ihren Sieg«, hatte Gilbert zu mir gesagt, kurz bevor ich zu den anderen in den Transporter gestiegen war. Dabei hatte er mich eindringlich angesehen, beide Hände auf meinen Schultern. »Vergiss das niemals, wenn ihr da unten seid. Sie feiern, dass sie die Menschen besiegt haben. Sie feiern, ihre Kräfte nicht mehr zügeln zu müssen. Und auch wenn wir nicht ihre Feinde sind und sie nicht unsere, müsst ihr sehr vorsichtig sein. Du mehr als jeder andere.«

Jetzt, da wir der Stadt näher kamen, erkannte ich unter uns die Massen zwischen den Häuserschluchten, während der Rhythmus der Trommeln immer intensiver wurde.

Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Eine Stadt, die in Schutt und Asche lag? Zertrümmerte Gebäude, abgebrannte Parks? Vermutlich. In São Paulo waren, wie in jeder anderen Megacity, furchtbare Kämpfe zwischen dem Kuratorium und den Vermengten ausgetragen worden. Die Stadt hatte fast drei Monate länger durchgehalten als Neu London oder Sydney. Ich hatte gedacht, man würde irgendetwas davon sehen.

Doch São Paulo war in die wildesten Farben getaucht. Hochhäuser waren mit bunt blühenden Pflanzen überwuchert. Auf jedem zweiten Dach brannte ein Feuer, dessen Rauchschwaden elegant in der Luft schwebten, als würde ein Wirbler sie steuern. In der Ferne entdeckte ich die Umrisse des Vulkans, der seit der Großen Vermengung direkt an Rio grenzte. Er spuckte seit Tagen Feuer, hatte Gilbert gesagt, aber die Stadt blieb davon verschont – wahrscheinlich weil die Zünder den Ausbruch mäßigten.

Wunderschön, ging es mir durch den Kopf. Gleichzeitig spürte ich einen stechenden Schmerz in der Brust. All das hätten wir haben können, wenn wir es geschafft hätten, Menschen und Vermengte zusammenzubringen, bevor Varus Hawthorne beide Seiten zum Krieg aufgestachelt hatte.

»Muss eine echt wilde Feier sein«, murmelte Luka neben mir.

»Nicht für uns«, erinnerte ich ihn. »Wir haben einen Job zu erledigen.«

Luka legte einen Arm um meine Schultern. »Vielen Dank für diese wertvolle Information, Ellie.« Er drückte mir einen Kuss auf die Schläfe und grinste. »Aber wenn du eins über mich weißt, dann, dass ich bestens arbeiten und feiern kann.«

Ich verdrehte die Augen, ließ mich gegen Luka sinken. Fagus hatte eine Hand auf meine linke Schulter gelegt, und Susie lächelte mir im Fenster des Transporters entgegen.

Gegenseitig gaben wir uns ein stummes Versprechen.

Wir würden Juliana Canto hier herausholen. Und wenn wir das getan hatten …

… würde sie uns dabei helfen, Bale zu finden.

2

Die Hitze vibrierte, und eine Wolke aus Glitzer, Staub und bunten Papierstreifen legte sich wie Regen auf meine Haut.

Innerhalb von Sekunden hatte ich in der wogenden Menschenmenge den Blickkontakt zu den anderen verloren. Nun stand ich alleine mitten auf einer riesigen Straße in São Paulo, in einem Pulk aus Vermengten, und versuchte, keine Panik zu kriegen.

Ich wusste, der heutige Tag war die einzige Möglichkeit gewesen, nach São Paulo zu gelangen, ohne aufzufallen. Während der Siegesfeier, die gleichzeitig in allen Megacitys stattfand, strömten Vermengte von überall im Territorium herbei, so dass wir leicht in der Masse untertauchen konnten. Ich hatte nur nicht geahnt, dass es so viele waren.

Sie alle trugen Kleider voller Pailletten und Federn. Vor allem aber trugen sie sehr knappe Kleidung, in der ihre vermengte Haut bestens zur Schau gestellt wurde.

Vor mir tanzte eine Grunderfrau, deren Wurzelhaare zu einem Turm nach oben gebunden waren. Ihre Arme und Beine waren über und über mit roten Blumen überwuchert, und ihr gesamter Rücken bestand aus Rinde.

Als die Frau sich um sich selbst drehte, wurde sie auf mich aufmerksam. Mit ihren grün schimmernden Augen musterte sie mich prüfend, dann grinste sie. Susies Verkleidung schien zu wirken – besser, als es mir lieb war, denn die Grunderin griff an meine Taille und begann, mit mir zu tanzen. Ich spürte, wie ihre Finger sich zu Wurzeln formten, die Gewächse kitzelten, während sie an meiner Wirbelsäule entlangwanderten.

»Ich, äh …«, setzte ich an, doch die Grunderin hatte mittlerweile ihre Augen geschlossen. Sie wiegte sich wie in Trance hin und her, bewegte sich zu den Trommelschlägen, die von einer Gruppe Vermengter kamen, die am Straßenrand spielte. Egal, was ich zu ihr gesagt hätte, in dem Lärm würde sie mich sowieso nicht hören.

Ich legte eine Hand auf mein rechtes Ohr. Funktionierten die Mikrostecker überhaupt? »Wo seid ihr?«, zischte ich, bekam jedoch keine Antwort.

Unser Transporter war vor wenigen Minuten auf einem der zentralen Parkplätze gelandet. Einige Zünder hatten uns kurz nach Waffen abgesucht, und als sie keine fanden, hatten sie uns in Richtung der Straße gedrängt, um Platz für weitere Besucher zu schaffen.

Vom Parkplatz aus waren es laut Gilberts Berechnungen knapp drei Kilometer Fußweg bis zu dem kuratoriumseigenen Wohngebäude, wo das letzte Signal von Juliana Canto geortet worden war. Doch bevor wir uns abstimmen konnten, wie wir den Massen am besten ausweichen sollten, waren wir getrennt worden. In einem Moment standen Susie, Luka und Fagus noch neben mir, dann war ein Ruck durch die Menge gegangen, ich war gestolpert, und als ich wieder aufgesehen hatte, waren sie verschwunden. Nun war ich alleine in einer Welt aus Bändern, Girlanden, Konfettiregen und tanzenden Vermengten.

Der Einzige, den ich noch nicht verloren hatte, war Atlas. Er lief dicht neben mir und beäugte die Grunderin, als würde er gerade abwägen, sie ins Bein zu zwicken.

Rechts von mir schoss eine Feuerlohe empor. Ich wich vor Schreck zurück, während ein Zündermann weitere Flammen in den Himmel sandte – direkt aus seinem Mund.

Verrückt. Völlig verrückt!

Obwohl man von Grundern sagte, dass sie eine Engelsgeduld hatten, wurde es meiner Tanzpartnerin offensichtlich zu viel. Nachdem ich nur wie ein Klotz dagestanden hatte, entließ sie mich aus ihrem Wurzelgriff und tanzte stattdessen eine Wirblerin links von mir an. Helle Haare wehten sanft hin und her, ihr halb durchsichtiges weißes Kleid umhüllte sie wie Nebel. Außerdem trug sie eine Maske, mit Federn und Glitzerstaub darauf.

Viele andere Vermengte waren ebenfalls maskiert – farblich passend zu ihrer roten, blauen, grünen oder weißen Kleidung, die sie tatsächlich auf ihre Elemente abgestimmt hatten. Ich hatte keine Ahnung, ob sie anonym bleiben wollten oder es einfach schick fanden, doch Gilbert hatte in jedem Fall recht behalten: Sie alle zeigten mit Stolz, wer sie waren – und was sie tun konnten.

»Hört mich jemand?«, versuchte ich es wieder, diesmal lauter. Ich hielt mir beide Ohren zu, dabei stellte ich mich auf die Zehenspitzen, um inmitten der Menge irgendetwas zu erkennen.

Die Straße, in der ich mich befand, führte durch eine enge Häuserschlucht, die Wolkenkratzer ragten links und rechts in den Himmel. Der Neu-Rio-Bezirk war einer der luxuriösesten in ganz São Paulo. Nach der Großen Vermengung im Jahr 2020 war die Stadt zu großen Teilen zerstört worden, aber danach schöner wiederaufgebaut worden. Bis vor kurzem waren genau hier sämtliche Bankgeschäfte des Südamerikanischen Territoriums abgewickelt worden. Die Gebäudefassaden waren elegant und bestanden aus Metallstreben und sehr viel Glas. Allerdings hatten sich die Grunder bereits daran ausgelassen. Pflanzen wucherten einfach überall. Ein Gebäude gegenüber von mir war von oben bis unten mit Lianen, Farnen und schillernden Blumen bedeckt. Ich kam mir vor wie im Dschungel, und ein süßlich-harziges Duftgemisch drang von allen Seiten an meine Nase.

Etwas brummte an meinem Ohr, und ich fasste an den Kommunikator, um ihn fester hineinzudrücken. »Was?«, rief ich, unsicher, ob mich irgendjemand hören konnte.

»Seid ihr schon an eurer Position?«, ertönte Gilberts Stimme, dieses Mal lauter. Ich starrte etwas hilflos auf meinen Detektor, während erneut Hände an meine Hüften griffen und jemand versuchte, sich von hinten tanzend an mich zu drücken.

Ein Knurren ertönte. Atlas hatte sich umgedreht und fletschte die Zähne. Es dauerte keine Sekunde, da verschwanden die Hände, und ich hatte das Gefühl, dass auch alle anderen Vermengten in meiner Nähe einen Schritt zurückwichen.

Guter Junge, dachte ich und griff wieder an mein Ohr.

»Noch nicht! Die anderen sind …«

»Hier!«, entgegnete eine Stimme zu meiner Linken.

Fagus’ Hände legten sich auf meine Schultern, und er lächelte mir von der Seite zu. »Da bist du ja, Grundermädchen.« Er presste sich an mich, wiegte sich hin und her und verschränkte unsere Finger miteinander. »Tanz mit mir.«

Ich blinzelte. »Was? Aber …«

»Ernsthaft, Elaine. Tanz mit mir. Jetzt«, sagte Fagus sehr eindringlich und legte den Kopf leicht nach rechts. Da begriff ich, was er mir zeigen wollte. Drei Zünder standen in unserer Nähe am Straßenrand. Sie trugen schwarze Kleidung mit einer roten Flamme darauf. Ganz eindeutig Soldaten des Roten Sturms, Hawthornes Leute. Und ihre rot schimmernden Augen hatten sich auf mich gerichtet.

Mit einem Mal bereute ich es, dass wir nicht ebenfalls Masken trugen.

»Du musst mehr Spaß haben«, raunte Fagus in mein Ohr, nahm meine Hand und drehte mich in einer Pirouette.

»Ich …« … will aber keinen Spaß haben, hätte ich am liebsten geantwortet, doch natürlich hatte er recht. Wir durften nicht auffallen. Also ließ ich mich von Fagus in noch eine und noch eine Umdrehung führen, zwang mir ein Lächeln auf die Lippen und bewegte mich zum Rhythmus der Trommeln.

»Hier hängen überall Holowände mit Fahndungsbildern von uns«, raunte Fagus mir ins Ohr. Er drehte mich ein Stück weiter, bis ich geradewegs auf eines der überwucherten Gebäude schaute. Zwischen einigen Wurzeln flimmerte ein Video über die Hauswand. Zuerst wurde Lukas Gesicht eingeblendet, dann Susies, dann das von Fagus, Holden und schließlich von mir.

Verdammt. Wir hätten wirklich Masken tragen sollen!

Da tauchten auf einmal Luka und Susie neben uns auf. Auch Susies Haare hatten einen glitzernden Konfettiregen abbekommen. Luka stand neben ihr, und als eine Zünderfrau in seiner Nähe eine Feuerlohe aus ihrer Hand in den Himmel ausstieß, lachte er und tat es ihr gleich.

Susie schob sich derweil mit einem Lächeln zwischen mich und Fagus und gab vor, mit uns zu tanzen. »Hier.« Sie holte verstohlen ihr Puderdöschen raus und tupfte mit dem Schwämmchen über meine Wange. »Ich fürchte, wir müssen öfter nachbessern bei der Hitze.«

Lukas Blick wanderte derweil über die Menge hinweg. Er schaute auf seinen Detektor. »Die laufen alle in dieselbe Richtung. Zum Kuratorium.«

Ich fluchte innerlich. Dass heute so viel los sein würde, war uns natürlich klar gewesen. Deshalb waren wir ja hier – um in der Menge unterzutauchen. Allerdings war Gilbert davon ausgegangen, dass sich das Fest über ganz São Paulo erstreckte. Dass sämtliche Vermengte genau dorthin liefen, wo wir hinmussten, hatte keiner vorausgesehen.

Doch uns blieb keine Wahl: Juliana Cantos Wohnung, von wo aus sie zuletzt ein Hilfesignal abgesondert hatte, lag unmittelbar neben dem Kuratorium. Wie alle hochrangigen Mitarbeiter bewohnte sie eine der luxuriösesten Suiten im Zentrum der Megacity. Und in die mussten wir irgendwie unerkannt hineingelangen.

»Gehen wir erst mal hin, dann schauen wir weiter«, schlug Susie vor.

Luka nickte und checkte seinen Detektor. »Team eins und Team drei sind schon in Position«, erklärte er. »Wir sind die Einzigen, die noch fehlen.«

Fagus nickte uns zu. »Na los, Kinder. Und dieses Mal halten alle Händchen, damit keiner mehr verloren geht.«

 

Bis wir uns dem Kuratorium genähert hatten, verging fast eine Stunde. In der Zwischenzeit hatte mir jemand zwei Blumenkränze um den Hals geworfen, und Susie musste mein Make-up dreimal nachbessern, weil die Hitze das Puder ständig zum Verlaufen brachte.

Ich fühlte mich gerädert, noch bevor wir an unserem Ziel angekommen waren. Die Läuferuniform, die ich sonst trug, glich eine Hitze wie diese beinahe vollständig aus. Ich hatte fast vergessen, wie sich Sonne auf nackter Haut anfühlte, wie die schwüle Luft einem das Atmen schwermachte. Wie es war, sich der Natur völlig auszusetzen.

Dieser Tag würde mir den Sonnenbrand aus der Hölle bescheren, so viel war klar.

Gilbert lotste uns durch die verwinkelten Straßen. Statt dem Strom zu folgen, ließ er uns in Seitengassen ausweichen. Wie er dabei aus der Ferne die schnellsten Routen auswertete, war mir ein Rätsel. Immerhin befanden sich Gilbert und die anderen Navigatoren in Transportern außerhalb der Stadtgrenzen São Paulos.

Früher, im Kuratorium, hatten sie einen hochentwickelten Überwachungsapparat zur Verfügung gehabt, mit dem sie ihre Vortexläufer tracken konnten. Jetzt blieben ihnen nur eine Handvoll Drohnen, alte Satellitenbilder und die Daten, die unsere Detektoren lieferten. Doch Gilbert navigierte uns derart gekonnt durch die Stadt, als hätte er immer noch Zugriff auf sämtliche Tracking-Technik.

Die Häuserschlucht lichtete sich und gab die Sicht frei auf einen weitläufigen Platz. Dieser war mit gold glänzenden Pflastersteinen gesäumt und wurde links und rechts von Wolkenkratzern flankiert. Dahinter war blaues Wasser; der Platz mündete direkt an die Guanabara-Bucht.

Und in der Mitte – dort ragte ein enormes Gebäude auf.

Das Kuratorium von São Paulo.

Eigentlich waren es sogar drei Gebäude. Drei hohe gläserne Türme, jeder von ihnen wie eine Spirale geformt, ähnlich dem Kuratorium in Neu London, aber nur halb so hoch.

Natürlich kannte ich das Institut von São Paulo, allerdings hatte ich es bislang nur auf Hologrammen und in Simulationen gesehen. In Wirklichkeit war es noch viel beeindruckender. Die Türme bildeten zusammen eine Art Skulptur, eine Mischung aus Vortexen und züngelnden Flammen. Durch die Sonne, die durch das goldgelbe Glas der Außenfassade von oben hineinfiel, wirkte es, als würden die Wolkenkratzer von innen heraus leuchten.

»Wahnsinn«, hörte ich Fagus sagen, doch mein Blick lag auf Susie.

»Ist alles in Ordnung?«

Susie schaute zu mir und nickte. »Ja, alles okay.«

Ich wusste, dass der kleinste der drei Türme das Wissenszentrum war. Der Ort, an dem bislang sämtliche Forschungen des Kuratoriums stattgefunden hatten, aber auch viel Schlimmeres. Hier, an diesem Ort, hatte Susie ihre halbe Kindheit verbracht. Das Kuratorium hatte sie, wie viele andere Vermengte, gefangen gehalten und Experimente an ihr durchgeführt, so lange, bis ihr Körper das Wasser abstieß und sie nicht mehr wie andere Schwimmer im Meer leben konnte.

Erst jetzt, Jahre später, hatte sie gelernt, zumindest eine Zeitlang unter Wasser zu bleiben. Sie brauchte kein schweres, bulliges Atemgerät mehr, lediglich eine kleine Maschine, die sie beim Atmen unterstützte und die unter ihrem flattrigen Shirt gut versteckt war. Susie hatte geübt, die verbliebenen Wassermengen in sich optimal zu nutzen, und so einen Teil ihrer Kräfte zurückerobert.

Der Weg dahin war lang gewesen, voller Fehlschläge, Frustration und Schmerz. Keiner hätte von ihr verlangt, dass sie uns zu diesem Ort begleitete, aber Susie hatte darauf bestanden.

Ein Gebäude macht mir keine Angst. Das waren ihre Worte gewesen.

Die Menge drückte uns weiter. Von allen Seiten strömten Vermengte herbei, und ich hielt meine Hand an Atlas’ Kopf, um ihn sicher bei mir zu wissen.

Wir passierten einen Megastore, dessen Schaufensterscheiben eingeschlagen waren, und liefen durch einen steinernen Rundbogen. Erst dann sah ich das Kuratoriumsgebäude direkt vor mir – und die Wurzeln, die darumlagen. Die Fassaden waren über und über von ihnen umrankt. Das war das Werk von Grundern, eindeutig. Sie hatten sogar Wurzelstege zwischen den Türmen gebaut. Und an diesen Stegen – ich konnte es kaum glauben – hingen Lianen herab, in denen Tausende Grunder und andere Vermengte wie in Schaukeln saßen, einige in vielen Metern Höhe.

»Was machen die da?«, fragte ich ungläubig und richtete die Kamera an meinem Detektor in Richtung der Türme.

»Sieht aus, als warteten sie auf irgendetwas«, murmelte Luka.

Einige Vermengte in Uniformen lotsten vom Boden aus die Besucher dorthin, wo noch freie Sitzplätze auf den Lianen und Wurzelstegen waren. Grunder hatten sich an verschiedenen Stockwerken positioniert und ließen neue Wurzeln nach unten wachsen, um weitere Vermengte emporzuheben. Am Ufer der Bucht herrschte ebenfalls rege Bewegung, dort tummelten sich zahlreiche Schwimmer im Wasser. Und auch sie schienen auf irgendetwas zu warten.

»Bleibt in Bewegung«, hörte ich da Gilbert in meinem Ohr sagen. »Bleibt auf keinen Fall stehen. Das zieht nur Aufmerksamkeit auf euch. Die Wohnung von Juliana liegt links von eurem Standort, elf Uhr, dreihundert Meter. Los.«

Ich kontrollierte das Richtungssignal auf meinem Detektor. Unser Ziel musste in einem der Häuser sein, die den Platz umsäumten. Doch während wir uns in Bewegung setzten, glitt mein Blick immer wieder über den Festplatz.

Zwischen den Türmen schien eine Art Zufahrt zum Zentrum des Platzes freigehalten zu werden. Eine Bühne war dort aufgebaut worden, tanzende Zünder bewegten sich darauf und jonglierten kunstvoll Feuerbälle.

Gab es vielleicht eine Art Aufführung zur Feier der Befreiung? Oder eine Rede?

Ich schwenkte meine Kamera weiter und bemerkte, dass viele Vermengte im Publikum ein rotes Flammensymbol auf ihrer Kleidung trugen. Das galt nicht nur für die Zünder, sondern auch für andere Vermengte. Die Flamme war das Zeichen des Roten Sturms, und mir wurde trotz der Hitze ganz kalt.

Gilbert hatte recht. Wenn wir hier auffielen, waren wir verloren.

Da tauchte ein Positionssignal auf meinem Detektor auf. Ein kleiner roter Punkt auf der Karte der Stadt. Ich richtete meine Kamera aus, der Punkt lag direkt an unserem Zielgebäude. Es dauerte nur einen Moment, doch dann entdeckte ich vier bunt verkleidete Gestalten auf einem Balkon.

Wir hatten über unsere Mikrophone keinen direkten Kontakt zu ihnen, weil die Teams sich auf ihren Navigator konzentrieren sollten, aber ich war mir ganz sicher: Das dort drüben war Team eins.

Oder Team Badass, wie Luka sie nannte. Zwei von ihnen waren ehemalige ranghohe Vortexläufer, die sich wie ich als Vermengte verkleidet hatten. Sie hatten jahrelang unter Gilbert in Neu London gearbeitet, ihnen vertraute er blind. Die anderen beiden waren ein Grunder und ein Wirbler, zwei unfassbar mächtige Vermengte, die sich uns vor einigen Wochen in Tokio angeschlossen hatten. Sie zogen schon seit Jahren gemeinsam durch die Welt und waren perfekt aufeinander abgestimmt. Ich hatte die zwei in den letzten Monaten in Sanktum, unserer Basis, beim Training beobachtet. Es war beängstigend, was ihre Elemente zusammen ausrichten konnten.

Team Badass leitete unsere Mission. Sie würden Juliana Canto befreien und hier rausbringen. Wir waren lediglich das Back-up, wie Gilbert gesagt hatte. Wir hielten den anderen den Rücken frei, waren ihre Augen und Ohren.

Es hatte an mir genagt, dass ich nicht direkt dabei sein konnte, aber für unser Ziel hatte ich mich untergeordnet. Juliana Canto war meine einzige Hoffnung. Ihre Befreiung musste uns einfach gelingen.

Ich richtete meine Kamera auf die umliegenden Häuser. Die Position von Team drei – ebenfalls Back-up – wurde uns nun von Gilbert auf unsere Displays gesendet, und so war es leicht, die Gruppe auszumachen. Sie hatten sich auf dem Dach eines Nachbargebäudes positioniert. Aus dem Winkel heraus konnte ich nur ihre Oberkörper über der Balustrade erkennen. Es waren zwei Grunder, eine Vortexläuferin, die sich als Zünderin verkleidet hatte, und …

Ich zoomte mit meiner Kamera auf die Gestalt, die ganz rechts stand, ein hochgewachsener Junge in weißem Shirt. Seine blonden Haare wirkten besonders hell im Sonnenlicht, und als er plötzlich den Kopf hob, glaubte ich, auf dem Kamerabild ein gelbes Flackern in seinen Augen zu erkennen.

Holden.

Neben mir schaute Luka ebenfalls auf seinen Detektor. Dann schnaubte er. »Er hat wohl immer noch schlechte Laune, weil er nicht in unser Team durfte«, sagte er und klang äußerst zufrieden mit sich. Als Gilbert mich beim Briefing heute Morgen gefragt hatte, ob ich lieber Fagus oder Holden in meinem Team wollte, hatte ich mich, ohne zu zögern, für Fagus entschieden.

»Ich versuche einfach nur, ihm aus dem Weg zu gehen«, murmelte ich und wandte die Kamera ab. »Das ist besser für uns beide.«

»Das sieht er anders, glaub mir.« Luka grinste, immer noch sehr zufrieden. »Aber meinen Segen hast du. Lass ihn ruhig leiden. Jeder Tag, an dem Holden Hawthorne rumläuft wie ein begossener Pudel, ist ein guter Tag.«

Ich ließ den Detektor sinken.

»Ich will ihn nicht leiden lassen«, sagte ich. »Ich will ihn nur nicht mehr sehen müssen.«

Denn obwohl Monate vergangen waren – vier Monate und sechzehn Tage, um genau zu sein –, konnte ich Holden nicht verzeihen, was er getan hatte. Und dabei war es mir egal, wie oft alle anderen beteuerten, dass Holdens Handeln richtig gewesen war, ich wollte es nicht hören.

Um mich zu retten, hatte er Bale an Varus Hawthorne ausgeliefert. Er hatte ihn seinem Vater geradewegs in die Arme geworfen, hatte dafür gesorgt, dass Hawthorne Bale unmöglich gehenlassen würde.

Holden war schuld daran, dass Bale seitdem unerreichbar für uns war und nur ab und an auf irgendwelchen Propagandavideos auftauchte, die Hawthorne in die Welt schickte.

Wann immer ich versuchte, mir einen Ruck zu geben und mit Holden zu sprechen, kam die Wut wieder hoch – und mit ihr all der Schmerz, den ich seinetwegen mit mir herumtrug.

»Ich finde ihn eigentlich sehr nett«, warf Susie ein und schnitt eine Grimasse, als Luka ihr einen völlig erschütterten Blick zuwarf. »Ich kannte ihn ja früher nicht«, setzte sie nach. »Aber er strengt sich an. Er will helfen. Und abgesehen davon sind seine Kräfte wirklich beeindruckend.« Sie schaute zu Luka. »Gerade du würdest von ihm profitieren. Zünder und Wirbler sind zusammen extrem stark.«

Luka lächelte Susie gutmütig zu. »Du weißt, ich liebe dich, aber bevor ich mit Holden Hawthorne zusammenarbeite, friert eher die Hölle zu.«

Susie schnaubte. »Ich sag ja nur: Ein Wirbler wäre gut für uns. Wir sind zu langsam.«

Ich presste die Lippen zusammen. »Das ist mir klar.«

Susies Augen weiteten sich. »Oh, Ellie, nein! So habe ich es nicht gemeint.«

»Es stimmt trotzdem.« Wir waren zu langsam, das war in den letzten Wochen deutlich geworden. Die Tatsache, dass ich keine Vortexe mehr öffnen konnte, machte jede unserer Missionen so viel mühsamer. Aber sosehr ich es auch versuchte, kein Funke Energie legte sich um meine Finger. Und wann immer wir durch einen normalen Vortex sprangen, den Gilbert vorher für uns lokalisiert hatte, verband sich seine Energie nicht mit mir, sondern stieß mich genauso ab wie alle anderen.

»Deine Kräfte kommen zurück«, sagte Susie, als das Gebäude, aus dem Juliana Canto vor ein paar Tagen das Hilfesignal gesendet hatte, unmittelbar vor uns lag. Sie umfasste meine Schulter. Ich ließ es zu, doch brachte keine Antwort zustande.

Vier Monate. Sechzehn Tage. So lange war es her, dass ich Dutzende Rifts – direkte Abstrahlungen des Urvortex und Wege in der Zeit – zerstört und ihre Energie in mich aufgenommen hatte. Offenbar war die Kraft zu groß für mich gewesen, denn sie hatte meine Fähigkeiten mit einem Schlag erlöschen lassen.

Seitdem war ich keine Zeitläuferin mehr, auch wenn Gilbert versuchte, das im kleinsten Kreis zu halten. Zumindest nach außen hin wollte er die Hoffnung erhalten, dass wir alles unter Kontrolle hatten. Dass ich Bale tatsächlich aufhalten könnte, wenn es so weit war und er den Urvortex erreichte.

Ein Zeitläufer war die mächtigste Waffe überhaupt. Und Hawthorne hatte mit Bale den einzigen, der durch Zeit und Raum springen konnte, während wir … während wir nur mich hatten.

3

Ein Jubeln ging durch die Menge. Wir waren beinahe an Cantos Wohnhaus angekommen, da streckten plötzlich alle Vermengten um uns herum die Hände in den Himmel.

Erst begriff ich nicht, was los war, aber dann schob sich zwischen den Kuratoriumstürmen ein Fahrzeug auf den Platz. Nein, mehrere! Ich musste dreimal hinsehen, bis ich erkannte, dass es aneinandergereihte Transportbahnen waren. Diese Transporter waren bestimmt früher zwischen São Paulo und Mexiko-Stadt eingesetzt worden, doch nun hatten die Vermengten ihre Dächer abmontiert, so dass sie oben rausschauen und der Menge zuwinken konnten.

Langsam schob sich der Zug der Bahnen den freien Weg entlang zur Bühne vor. Die Vermengten ringsum jubelten ihnen zu, die Trommeln wurden noch einmal lauter.

»Karneval«, sagte Luka neben mir. »So hat man das früher genannt.«

Ich starrte zu den Transportern hinüber, die allesamt mit Vermengten gefüllt waren. Aus der ersten Bahn wucherte ein Wald voller Blüten. Lange Wurzelsäulen ragten weit in die Höhe, daran hatten die Grunder Lianen wachsen lassen, auf denen sie hin und her schaukelten. Dabei ließen sie Blumen aus ihren Händen sprießen, die sie danach in die Menge warfen.

Rundherum tanzten Vermengte, die den Transporter begleiteten. Lieder schallten über den Lärm der Menge hinweg, während an den Kuratoriumstürmen – dort, wo sie nicht mit Pflanzen überwachsen waren – auf einmal Hologrammflächen aktiviert wurden. In großflächigen Bildern übertrugen sie das Geschehen auf dem Platz, damit es auch für alle anderen Besucher sichtbar war. Nun wussten wir, warum es die Massen hierhergezogen hatte.

Die zweite Transportbahn war von unten bis oben mit Wasser geflutet, man sah es hinter den Fenstern hin und her schwappen. Einige Schwimmer tummelten sich darin. Ihre Hände waren nach oben gestreckt, und aus ihren Fingern sonderten sie feine Wasserströme ab, die Muster und Bilder in die Luft malten. Erst nach einigen Sekunden wurde mir klar, dass sie etwas formten – ein Gebäude.

Unglaublich.

»Was ist das?«, fragte Susie, als das Wassergebäude immer höher wuchs. Oben, an der Spitze, wurde es kreisrund, zog sich in einen Wirbel.

»Das … Ich glaube, das soll das Kuratorium in Sydney sein«, erklärte Luka und warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu. Da barst das Gebäude aus Wasser plötzlich auseinander und löste sich in Tausende Wassertropfen auf. Keine Sekunde später brandete wilder Applaus auf.

Ich zuckte zusammen. Sogar Atlas drängte sich etwas näher an mich, als hätte er sich erschrocken.

Genau das war vor über drei Monaten passiert. Sydney war fast zeitgleich in der ersten Welle mit Neu London gefallen, und die Schwimmer, die nahe der Stadt lebten, hatten mit dem Kuratoriumsgebäude kurzen Prozess gemacht.

Eine weitere Transportbahn fuhr über das Festgelände. Im Gegensatz zu den anderen blieb sie jedoch nicht auf dem Boden, sondern schwebte in der Luft.

Ich zoomte mit meiner Kamera näher heran. Mehrere Wirbler in weißen Stoffkleidern standen darin und tanzten. Immer wieder beugten sie sich hinab und ließen ihre Hände in einem Behälter verschwinden. Sie warfen Sand nach oben, rot schimmernden Sand, der von ihren Winden erfasst wurde und zwei Formen malte. Diesmal waren es die Kuratorien in Kairo und Kapstadt, die gezeigt wurden – die zweite Welle –, und gerade als der Wind sie perfekt in die Luft gezeichnet hatte, schickte einer der Zünder von der Bühne aus einer Feuerlohe in den Wind hinein, bis die Sandbahnen sich im Wind zerstreuten.

Unter weiterem Applaus hoben sich nun auch die anderen Bahnen vom Boden ab. Ich sah noch, wie Reste des roten Sandes zu allen Seiten davonwehten, wie sich die Windschwaden der Wirbler unter die Transporter drückten und nach und nach alle Bahnen in den Himmel stiegen, direkt vor die Vermengten, die dort in den Wurzeln hingen.

Darauf hatten sie also gewartet. Der Höhepunkt der Feierlichkeiten.

Weitere Kuratoriumsgebäude wurden in die Luft gezeichnet – mit Wasser, Pflanzen, Wind und Feuer. Und sie alle fielen in sich zusammen, explodierten oder wurden von Flutwellen getroffen.

Gilbert hatte recht gehabt. Diese Vermengten feierten nicht einfach nur ihre Freiheit. Sie feierten den Sieg über die Menschen.

Die Megacitys waren wie Fliegen gefallen. Das hätte sich früher niemand von uns vorstellen können, denn die Städte waren durch unzählige Gravisensoren geschützt. Diese Sensoren unterdrückten die Kräfte der Vermengten und machten ein Durchkommen für sie unmöglich.

Aber Varus Hawthorne war es gelungen, sämtliche Sensoren, in jeder der Städte, mit einem Schlag zu deaktivieren und Löcher in die Mauern zu sprengen, um den Weg für den Roten Sturm – und seine Zerstörungswut – frei zu machen.

Hawthorne musste jahrelang auf diesen Moment hingearbeitet haben. Als Oberster Leiter des Kuratoriums hatte er unter einer menschlichen Fassade seine wahre Natur eines Wirblers verborgen und so seinen Plan geschmiedet, das Kuratorium zu stürzen. Und dieser Plan hatte perfekt funktioniert.

Nur Moskau, New York City und São Paulo hatten die ersten zwei Wellen überstanden, weil die dortigen Chefnavigatoren rechtzeitig reagiert hatten. Sie hatten die Sensoren wieder hochgefahren und damit das Gröbste verhindert. Doch das hatte São Paulo nicht ewig gegen die Naturgewalten der Vermengten schützen können.

Das Schlimmste war: Keiner von ihnen – weder Mensch noch Vermengter – ahnte, dass Hawthorne die Vernichtung der Kuratorien noch lange nicht reichte. Er würde nicht ruhen, bis er den Urvortex im Jahr 2020 erreicht hatte und durch ihn die gesamte Menschheit und unser aller Leben, wie wir es bisher kannten, mit einem Schlag auslöschte.

»So viel Wut«, sagte Susie und starrte in die Menge. »Ich wusste nicht, dass sie so wütend sind.«

Wie sollten sie das auch nicht sein?, dachte ich, und eine Erinnerung schob sich an die Oberfläche. Bale und ich hatten uns eben erst kennengelernt und hatten an einem Abend in Sanktum spät noch draußen gesessen. Bale hatte über die Zonen geredet, in denen wir Menschen die Vermengten jahrzehntelang eingesperrt hatten, und mir erklärt, warum die Welt so, wie sie war, nicht bestehen konnte.

Die Vermengten stehen mit dem Rücken zur Wand, hatte er gesagt. Denkst du, sie werden sich ewig kleinhalten lassen?

Bale und ich waren es schließlich gewesen, die einen Großteil der Zonen geöffnet hatten. Wir hatten den ersten Stein ins Rollen gebracht, und es gab Tage, an denen fragte ich mich, ob wir einen Fehler gemacht hatten. So viele Menschen waren seither gestorben. So viele Vermengte. Und doch …

Ich konnte es nicht bereuen.

Ich konnte nur daran glauben, dass Bale am Ende recht behalten würde.

Manchmal muss man etwas einreißen, um es besser zu machen.

»Kommt schon«, sagte Luka. »Wir sollten uns beeilen.« Er wirkte auf einmal nervös und deutete in Richtung des Gebäudeblocks, in dem Juliana Canto auf uns wartete.

Hoffentlich.

 

Wir liefen in die schmale Seitengasse, die an dem Wohnhaus vorbeiführte. Zwar gab es auch vorne einen Eingang, aber der war von überall einsehbar, und das Risiko war Gilbert zu hoch.

»Ihr bezieht im Nachbarhaus Stellung und haltet euch im Hintergrund. Vergesst das nicht«, hörte ich ihn in meinem Mikrostecker sagen. »Team eins ist am Zug.«

»Badass«, flüsterte Luka nur und verdrehte die Augen.

Ich schaute mich um. Links und rechts ragten Häuserwände auf, Stockwerk über Stockwerk. Die unteren Ebenen bestanden vorwiegend aus Beton, die luxuriöseren Wohnungen mit den Glasfronten lagen weiter oben.

»Tür, fünf Meter von euch, links«, kam Gilberts knappe Anweisung. Ich blickte nach vorne. Inzwischen stand die Sonne tiefer, und hier in der Häuserschlucht waren die Lichtverhältnisse schlecht – aber ja, da war eine Tür. »Sie ist nicht verschlossen und führt in ein Treppenhaus«, fuhr Gilbert fort. »Das Gebäude ist derzeit unbewohnt. Ihr müsst in den sechsten Stock, dort seid ihr in Höhe von Cantos Wohnung. Der Aufzug funktioniert nicht, also nehmt die Treppe.«

»Woher weiß er das alles?«, murmelte Luka neben mir, während wir auf die Tür zuliefen.

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Keinen blassen Schimmer.«

Das Treppenhaus war tatsächlich leer, doch als wir im ersten Stockwerk ankamen, stiegen wir über einige Gepäckstücke hinweg, die auf dem Boden herumlagen. Atlas schnupperte an einer halb geöffneten Tasche, aus der ein Bilderrahmen und Plüschtiere herausragten.

Keiner von uns sagte ein Wort, obwohl wir uns denken konnten, was passiert war. Die Bewohner waren derart schnell aus ihrem Zuhause geflohen, dass ein Teil ihrer Habseligkeiten dabei zurückgeblieben war.

Es war nicht bekannt, wie viele Menschen bei den Kämpfen umgekommen waren. Das Kuratorium in New York ließ nur verlauten, dass mehrere Millionen in den umliegenden Gebieten in Sicherheit gebracht worden waren. Dass ein Großteil in den Städten verblieben war, streng getrennt in den Randbezirken, sagte niemand.

Es war, als wäre die Welt einmal auf den Kopf gestellt worden. Nun gehörten die Städte den Vermengten, und die Menschen hatten ihre Zonen bekommen.

Wo auch immer Varus Hawthorne gerade war … Er musste sehr zufrieden mit sich sein.

Oben angekommen, stellten wir uns an die Glasfront, die das Gebäude umrahmte. Von hier konnten wir direkt in das Hochhaus blicken, in dem Canto gewohnt hatte. Die Fenster waren so sauber, dass wir klare Sicht auf das Treppenhaus und die ersten Wohnungstüren dahinter hatten. Eine von ihnen musste zu Cantos Apartment gehören.

»Wartet hier und behaltet den Gang im Auge. Nahe den Aufzügen führt ein Übergang von euch ins Nachbargebäude. Den nehmt ihr, sobald ich euch das Zeichen gebe.«

Ich nickte, auch wenn Gilbert das natürlich nicht sehen konnte.

»Luka«, sagte er, während gleichzeitig auf unseren Detektoren ein Signal aufleuchtete. »An der Wand gegenüber vom Aufzug findest du auf einer Kachel ein Convectum. Tipp darauf und gib den Code, den ich dir schicke, in das Kontrollpanel ein.«

»O… kay?« Luka schaute zu mir, pure Verwirrung in seinen rotbraunen Augen. Er lief in Richtung der Aufzüge, verschwand kurz aus meinem Sichtfeld. Als er zwei Minuten später wieder zum Vorschein kam, hatte er vier Schusswaffen in der Hand und wirkte ehrlich beeindruckt.

»Verteilt sie«, sagte Gilbert. »Und haltet euch bereit.«

Ich nahm meine Läuferwaffe in die Hand. Es waren neue Modelle mit einem durchsichtigen Lauf, in dem mehrere Munitionsbahnen lagen. Zwei Reihen mit blauen Gravisensoren, eine mit normalen Patronen und eine mit … orange glühenden Sensoren.

Nullsensoren.

Inzwischen hatte ich erlebt, welchen Schaden beide Varianten anrichteten. Die blauen unterdrückten lediglich die Vortexenergie in den Vermengten und verhinderten, dass sie ihre Kräfte einsetzten oder Vortexe entstehen konnten. Nach einiger Zeit deaktivierten sie sich wieder, und bis auf einen blauen Fleck hinterließen sie keinen Schaden. Die orange glühenden Sensoren dagegen vernichteten die Vortexenergie – für immer. Wurde ein Vermengter einmal damit getroffen, erholte er sich nie wieder davon.

Ich schaltete meinen Lauf auf die blauen Sensoren und sah, dass die anderen dasselbe taten.

Susie war mit den Nullsensoren gefoltert worden, Fagus hätte dadurch beinahe seine Kräfte verloren. Wir würden die Nullsensoren nicht benutzen – niemals.

»Leute«, sagte da Fagus und zeigte durch das Fenster ins gegenüberliegende Gebäude. Ich zog Atlas dichter an mich heran, damit wir zumindest ein bisschen hinter den Metallstreben der Außenfassade verschwanden. Gemeinsam beobachteten wir, wie vier verkleidete Gestalten durch das Treppenhaus nach oben liefen. Als sie unsere Höhe erreicht hatten, neigten sie ihre Köpfe und nickten uns zu. Natürlich wusste Team Badass, dass wir da waren.

Dann wendeten sie sich den Wohnungstüren zu.

»Jetzt wird’s spannend«, murmelte Luka, und ich spürte, wie mein Herz gegen meine Rippen schlug.

Bitte sei am Leben. Bitte sei am Leben.

Sechster Stock, fünfte Tür rechts, Wohnung 44b. Das hatte in den Briefingunterlagen gestanden. Team eins lief durch den Gang und hielt an der fünften Tür. Einer von ihnen drückte seinen Detektor gegen den Einlasssensor, und die Gruppe verschwand in der Wohnung.

»Gilbert?«, fragte ich, als fünf Sekunden lang völlige Stille herrschte.

»Geduld. Wir können noch nichts sagen. Julianas Apartment ist riesig.«

Juliana. Gilbert kannte sie schon lange, hatte er gesagt. Sie und er waren viele Jahre lang Chefnavigatoren gewesen und hatten eng zusammengearbeitet.

Weitere dreißig Sekunden Funkstille. Irgendwo auf dem Dach des Gebäudes musste sich Team drei positioniert haben und wartete sicherlich genauso angespannt wie wir.

Inzwischen war Team eins bereits vier oder fünf Minuten in Cantos Wohnung. Warum tat sich nichts?

»Gilbert?«, fragte ich, doch es kam keine Antwort. Sogar Atlas tänzelte nervös hin und her, und neben mir strich sich Luka durch die nach oben gekämmten roten Haare.

»Dad?«

So nannte er Gilbert nur selten. Und nur wenn er etwas wollte – oder wenn er sich Sorgen machte.

Weitere Sekunden Stille. Dann hörten wir Gilbert scharf die Luft einziehen. »Verschwindet«, keuchte er, und im Hintergrund hörte ich aufgeregtes Rufen der anderen Navigatoren. »Verschwindet sofort!«

Wir warfen uns erschrockene Blicke zu. »Aber –«

Ein Knacken in der Leitung, als hätte Gilbert an seinem Mikro gezerrt. »Kein Aber!«, schrie er. »Los!«

 

Mein Herz klopfte wie wild, während wir zum Treppenhaus stürmten. Wir hatten darüber geredet: Wenn etwas schiefging, würde Gilbert uns geradewegs aus der Stadt lotsen, keine Umwege, kein Zögern.

Ich rannte den anderen hinterher, vorbei an der langen Fensterfront. Erst an den Aufzügen, wo ein gläserner Übergang von unserem Gebäude ins Nachbargebäude führte, stoppte ich. Es war nichts zu hören, kein Schreien, keine Kampfgeräusche oder das Zischen von abgeschossenen Sensoren. Im Gebäude, in dem Canto lebte, war es völlig ruhig. Am Ende des Gangs stand nur eine leicht verdorrte Topfpflanze.

Ich wollte Gilbert fragen, was passiert war. Ich wollte wissen, ob es Team eins gut ging. Vor allem aber musste er mir sagen, ob Juliana Canto noch lebte. Denn ohne sie …

Ohne sie würde ich niemals erfahren, wie wir Bale finden sollten.

Ich ballte die Hände zu Fäusten.

»Elaine«, warnte mich Gilbert durch meinen Ohrstecker. »Beweg dich. Sofort.«

Natürlich sah er, dass mein Signalpunkt verharrte. Da tauchte Luka wieder auf. Er stand an der obersten Stufe der Treppe, Atlas an seiner Seite.

»Ellie! Komm!«

Noch immer setzte ich mich nicht in Bewegung. »Lebt sie noch?«

Gilbert atmete schwer. »Ich bin dein Navigator, Elaine. Du hörst jetzt auf mich: Los!«

Ich bin keine Soldatin, wollte ich ihm sagen. Ich bin es nie gewesen. Und ich will es auch niemals sein.

»Lebt sie noch?«, fragte ich erneut. »Sag es mir.«

Gilbert zögerte, doch schließlich hörte ich ihn seufzen. »Der hintere Teil ihrer Wohnung war verwüstet. Es wurde Blut gefunden.«

»Eine Leiche?«

»Nein. Keine Leiche. Dafür hat irgendjemand das Apartment verwanzt. Und wer auch immer es war, weiß nun, dass wir hier sind.«

Ich trat nach vorn, zögerte. »Was, wenn Canto sich nur versteckt?«

Gilbert fluchte gedämpft. Offenbar hatte er eine Hand um das Mikrophon gelegt. »Du hast es versprochen. Geh! Ich sage es kein zweites Mal.«

Wir wussten beide, dass er aus der Ferne rein gar nichts ausrichten konnte. Das war das Schicksal aller Navigatoren. Wenn ihre Vortexläufer in Gefahr gerieten, waren sie live dabei – sie mussten sich alles anhören und konnten nichts tun.

Da griff jemand von der Seite an meine Hand. Es war Luka. »Ich sag’s ja nur ungern, Ellie, aber Dad hat recht. Und jetzt komm.«

Ich nickte, auch wenn alles in mir danach schrie, hinüber in das Nachbargebäude und zu Cantos Wohnung zu rennen, um mir selbst einen Eindruck zu verschaffen. Ich brauchte diese Frau. Ich konnte die Stadt nicht ohne sie verlassen. Doch als Luka ein weiteres Mal heftig an meinem Arm zog und seine Finger dabei bedrohlich heiß wurden, gab ich nach.

Zusammen stürzten wir in Richtung Treppenhaus. Meine Riemchensandalen gaben mit jedem Schritt etwas mehr nach, und ich rutschte auf den Sohlen aus. Für eine Flucht hätte ich wirklich keine unpassendere Fußbekleidung tragen können.

Im vierten Stockwerk warteten Susie und Fagus, ein erleichterter Ausdruck auf ihren Gesichtern.

»Planänderung«, sagte Gilbert auf einmal. »Biegt im nächsten Stockwerk in den rechten Gang ab, lauft bis zum Ende und nehmt dort die Feuerleiter.«

Wir stellten keine Fragen mehr. Denn durch die gläserne Fassade des Treppenhauses konnte man jetzt draußen auf der Straße mehrere Gestalten erkennen. Rote Haare, rot funkelnde Augen, ein Flammensymbol auf den Uniformen. Wer auch immer Cantos Wohnung verwanzt hatte, gehörte offenbar zum Roten Sturm.

»Verdammt«, raunte ich und folgte den anderen ein weiteres Stockwerk tiefer.

»Was ist mit Team eins?«, fragte Fagus schwer atmend. »Sind sie etwa –«

»Nicht jetzt. Lauft schneller.« Gilbert klang gehetzt. Wie oft hatte er solche Situationen wohl bereits durchgestanden? Wir sprangen die Treppenstufen hinab, nahmen mehrere auf einmal. Als wir im zweiten Stock ankamen, rief er: »Nicht der rechte – in den linken Gang! Los, biegt ab, biegt ab!«

Wir folgten seinen Anweisungen blind. Ich griff an Susies Hand, um sie davon abzuhalten, in den falschen Gang zu laufen. Keine Sekunde später ertönten Schritte. Sie durchsuchten das Gebäude!

Durch die linke Abzweigung dauerte es länger, bis wir den Notausgang erreichten, der wiederum auf die Feuertreppe hinausführte. Luka riss die Tür auf, und der volle Lärm des Festes dröhnte zu uns herauf. Trommelschläge, aufgeregte Rufe, Gesänge und frenetisches Klatschen.

Die metallene Nottreppe führte direkt am Gebäude nach unten. Silbrige Stufen, durch deren Gitter man den Boden sehen konnte. Viele, viele Meter unter uns.

Und dort, am Fuß der Treppe, warteten drei weitere Zünder. Sie alle trugen die Uniformen des Roten Sturms. Und einen von ihnen – den kannte ich.

»O verdammt«, raunte Luka. Er starrte nach unten, auch Susie und Fagus zogen scharf die Luft ein. Fast gleichzeitig machten wir einen Schritt zurück.

Zwischen zwei eher schmalen Zündern stand ein wahrer Riese von einem Mann – der widerlichste Kerl, den ich in meinem Leben kennengelernt hatte.

»Was macht Grames hier?«, fragte Fagus leise.

Ich hatte keine Ahnung. Duncan Grames war Varus Hawthornes rechte Hand. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte, war er in einen Transporter eingestiegen, um Bale von mir wegzubringen. Ich konnte noch immer seine Finger auf mir spüren, mit denen er mich durch das Kuratorium von Neu London gezerrt hatte.

»Im Gebäude ist es nicht sicher.« Gilberts Stimme klang kontrolliert. »Rückzug über die Feuertreppe nach oben. Auf dem Dach des Nachbargebäudes entsteht in zwei Minuten ein Vortex. Der ist eure Chance.«