Vry - Lois M. Heitkamp - E-Book

Vry E-Book

Lois M. Heitkamp

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Beschreibung

"Es muss nicht so kommen, wie es in den Sternen geschrieben steht, man muss nur den Willen haben, sie umzuschreiben." Schon seit mehreren hundert Jahren sind die Gestaltwandler in sechs Ikatis aufgeteilt. Faith ist eine von ihnen. Mit siebzehn Jahren wird sie, wie alle anderen, in eines der Ikatis eingeteilt. In ihrer neuen Heimat lernt sie Freunde kennen. Vielleicht sogar die Liebe ihres Lebens. Alles scheint perfekt zu sein. Doch etwas Dunkles zieht auf. Und nur Faith scheint in der Lage es aufzuhalten. Hat sie die Kraft dazu?

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Für Mama und Papa– Ihr seid mein Anker in stürmischen Zeiten.

Inhaltswarnungen am Ende aufgeführt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Faith

Kapitel 2: Faith

Kapitel 3: Faith

Kapitel 4: Faith

Kapitel 5: Faith

Kapitel 6: Ty

Faith

Kapitel 7: Faith

Kapitel 8: Faith

Kapitel 9: Faith

Kapitel 10: Faith

Kapitel 11: Faith

Kapitel 12: Faith

Kapitel 13: Faith

Kapitel 14: Ty

Kapitel 15: Faith

Kapitel 16: Faith

Kapitel 17: Ty

Kapitel 18: Faith

Kapitel 19: Ty

Kapitel 20: Faith

Kapitel 21: Faith

Kapitel 22: Faith

Kapitel 23: Faith

Kapitel 24: Ty

Kapitel 25: Faith

Kapitel 26: Faith

Kapitel 27: Ty

Kapitel 28: Faith

Kapitel 29: Faith

Kapitel 30: Faith

Kapitel 31: Ty

Kapitel 32: Faith

Kapitel 33: Faith

Kapitel 34: Ty

Kapitel 35: Ty

Kapitel 36: Faith

Kapitel 37: Faith

Kapitel 38: Faith

Kapitel 39: Ty

Kapitel 40: Faith

Kapitel 41: Ty

Kapitel 42: Faith

Kapitel 43: Ty

Kapitel 44: Faith

Kapitel 45: Ty

Kapitel 46: Faith

Kapitel 47: Faith

Kapitel 48: Ty

Kapitel 49: Faith

Kapitel 50: Faith

Kapitel 51: Ty

Kapitel 52: Faith

Kapitel 53: Faith

Kapitel 54: Ty

Faith

Kapitel 55: Ty

Faith

Kapitel 56: Ty

Kapitel 57: Faith

Kapitel 58: Faith

Kapitel 1

Faith

Die Sterne tanzten mit mir im Mondlicht. So viele Sternschnuppen an einem frühen Morgen hatte ich noch nie gesehen. Doch wagte ich es nicht, mir bei jedem dieser Sterne, die vom Himmel fielen, etwas zu wünschen.

Früher habe ich mir immer gewünscht, dass ich meine Familie eines Tages treffe. Doch mit der Zeit habe ich diesen Wunsch verworfen, weil ich verstanden hatte, dass ich sie niemals wieder sehen würde, selbst wenn ich es mir noch so sehr wünschte.

Schon seit meinem ersten Lebensjahr lebte ich getrennt von meinen Eltern, meiner Familie. Das war normal hier. Denn ich lebte im Ikatisystem.

Seit fünf Jahrhunderten existierte unsere Art hier, aufgeteilt in sieben Gebiete. Noch wohnte und lebte ich im Zentrum des gesamten Territoriales. Hier war ich seit meinem ersten Lebensjahr untergebracht und es gab keinen einzigen Tag, an dem ich irgendwo anders war, sechzehn ganze Jahre lang. Und heute würde ich endlich, zum ersten Mal in meinem Leben etwas anderes sehen, etwas anderes erleben. Denn jeder war es leid hier zu sein, scheinbar gefangen. Nicht, dass es uns hier schlecht ging. Wir wurden versorgt, bekamen alles, was wir zum Leben brauchten. Manche würden sogar sagen, dass sie hier glücklich waren. Doch ein leiser Drang zog mich in die Freiheit hinaus. Hinaus in die Wildnis, zu den Ikatis. Zwar war ich jetzt schon ein Teil davon, doch heute wurde ich in die Gesellschaft aufgenommen, wurde ein vollständiger Teil von ihr. Heute fanden die Prüfungen statt. Denn wir alle waren Gestaltwandler. Aber in einer beschränkten Art und Weise. Wir können uns nur in ein Tier verwandeln. Und nach genau diesem wurden wir in die Gesellschaft eingegliedert. Ein Ikati bestand nur aus Geparden, ein weiteres nur aus Löwen, eins aus Luchsen, noch wieder eins aus Panthern, ein fünftes aus Tigern und eins aus Servalen. Sechs Arten von Gestaltwandlern, die nach der Meinung unserer Regenten, keinesfalls zusammen leben konnten. Wenn sich jemand nicht an diese Regeln hielt, wurde er entweder verbannt oder hingerichtet. Eine schmutzige Tortur, die öffentlich veranstaltet wurde. Nur das siebte Territorium, das Zentrum war neutral. Dort trafen sich die Anführer der Ikatis einmal im Monat friedlich, um sich auszutauschen, um Streitigkeiten zu klären.

Warum wir erst mit dem siebzehnten Lebensjahr eingegliedert wurden? Keine Ahnung. Das war das größte Mysterium, was wir in diesen siebzehn Jahren, die wir hier waren, nicht lüften konnten.

Mir war es eigentlich egal, warum es erst jetzt geschah. Egal welcher Zeitpunkt, wenn man Pech hatte, wurde man seinen Freunden entrissen. Das Ikati zu tauschen war unmöglich und eine vertraute Beziehung ebenso.

Mein Blick wanderte zurück in den Himmel, zu den Sternen, die langsam verblassten. Die Sonne lugte bereits über die hohen Häuser der Stadt.

»Da bist du ja, Faith. Wir haben dich schon gesucht, als wir bemerkten, dass du nicht in deinem Bett liegst.« Skye prustete förmlich, nachdem sie bei mir ankam und Ivy sah so aus, als wäre sie gerade aus dem Bett gefallen.

»Ich wollte mich nur von den Sternen verabschieden. Wer weiß, wie oft ich sie noch zu sehen bekomme.«

Skye schüttelte ihre goldblonde Mähne. Fast könnte man sagen, sie verkörpert einen Löwen, mit ihren sanften, aber doch herausfordernden Augen. »Du und deine Sterne. Glaubst du, die werden verschwinden, nur weil du deine Prüfung ablegst? Sie sind dir doch treu ergeben«, witzelte Skye.

»Können wir wieder reingehen? Es wird echt kalt draußen«, meinte Ivy. Ihr großer Körper zitterte und ihre blonden Locken flatterten im Wind.

Zwar fand ich es nicht sonderlich kalt draußen, was auch daran lag, dass ich viel Zeit unter freiem Himmel verbrachte, doch trotzdem spürte man, dass der Herbst gekommen war. Die Wärme des Sommers war verschwunden. Dazu kam der Wind, bei dem sich meine Armhaare unangenehm aufstellten.

Im Gebäude herrschte reges Treiben. Alles kam mir hier schon immer so hell und leuchtend vor. Kunstprojekte verschiedener Klassen hingen an den weiß gestrichenen Wänden. Der graue Fußboden war inzwischen abgenutzt, doch er verlieh dem Bild etwas Beruhigendes. Überall, im gesamten Gebäude sah es so aus, wie hier. Nur unsere Zimmer konnten wir mitgestalten. Das teilen wir uns allerdings mit ein paar Mitschülern.

So kam es irgendwann dazu, dass Skye und Ivy meine Zimmergenossinnen wurden und wir uns anfreundeten. Mit uns wohnte auch Mira zusammen in einem Zimmer. Wir kannten und vertrauten ihr, doch sie war still und zurückgezogen. Und selbst wenn wir versuchten, zu ihr Zugang zu bekommen, gelang es uns seit Jahren nicht.

Zwischen meinen Gedanken flog mein Blick immer wieder zu der Uhr, die in der Eingangshalle hing. Es war erst halb sieben. Warum war die Halle jetzt bereits so voller Menschen? Es war für die Meisten, die ich hier sah noch viel zu früh. Als hätte Ivy meine Gedanken gelesen bemerkte sie: »Alle sind wegen der Prüfung ziemlich aufgeregt. Selbst für die unteren Jahrgänge ist es ein aufregendes Ereignis.«

»Lasst uns was essen. Ich habe schon seit einer Ewigkeit Lust aufs Frühstück.« Warum auch immer ich so früh wach geworden war, der Hunger trieb mich erst seit einer Stunde.

»Ist es nicht viel zu früh, um zu essen. Wir haben doch noch den gesamten Tag vor uns.« Skye, die schon wieder alles und jeden auf unserem Weg begrüßte, gab gerne ihre Meinung kund und hielt nur selten den Mund, wenn man es ihr sagte. »Macht, was ihr wollt, ich werde etwas essen«, entschied ich und machte mich auf in die Richtung Mensa. Auch wenn meine zwei besten Freunde keinen großen Hunger hatten, folgten sie mir, ohne sich noch einmal über meine Entschlossenheit zu beschweren.

Mein Frühstück bestand aus einer großen Auswahl an Obst, einem Brötchen und zwei Spiegeleiern. Das Frühstück von Ivy und Skye fiel etwas magerer aus. Auf einmal stand Ivy auf, schaute erst Skye, dann mich mit ihren durchdringenden, dunkelblauen Augen an. »Ich wünsche mir, dass wir nach heute Abend weiterhin zusammen bleiben können und ich glaube fest daran, dass die Prüfung uns nicht auseinanderreißt.«

»Heute Abend wird es sicher aufregend werden. Aber auch wenn wir in verschiedene Ikatis kommen, werden wir uns im Herzen immer beistehen«, ermutigte ich sie. »Es wird aufregend. Endlich sind wir nicht mehr hier ran gebunden.« Skye machte eine ausladende Bewegung.

»Es bringt aber ganz schön viel Verantwortung mit sich, ein vollständiges Mitglied zu sein«, flüsterte Ivy.

»Genau das ist ja so aufregend«, rief ich und stieß ihr spielerisch den Ellbogen den Arm.

»Was ist, wenn man eine Vry ist? Dann musst du deine eigene Entscheidung treffen.« Das bedrückte sie also. Dieser Gedanke schoss mir seit einer Woche fast täglich durch den Kopf.

Eine Vry zu sein. Das war etwas Erschreckendes, doch zugleich auch etwas Besonderes, etwas Aufregendes. Wenn man eine Vry war, konnte man sich in jedes der sechs Tiere verwandeln. Das Prüfungsergebnis zählte somit nicht mehr, da es kein endgültiges Ergebnis gab.

Dann war es an dem Gestaltwandler selbst, eine Entscheidung zu treffen. Es war allerdings äußerst selten, ein solches Mitglied zu sein. Bisher waren nur drei Vrys unter den Ikatis bekannt, zwei bereits verstorben. Manche blieben unentdeckt.

»Die Chance ist so gering. Ich würde mir darüber keinen Kopf machen. Freu dich darauf, ein vollwertiges Mitglied zu werden«, stellte Skye klar. »Es wird sich schon alles fügen, wie es sein soll.« Syke nickte Ivy ermutigend zu. Weil niemand von uns mit sich selbst etwas anzufangen wusste, blieben wir an unserem Tisch sitzen, aßen.

Es war elf Uhr, als plötzlich Musik aus den Lautsprechern ertönte. Ich hatte noch nie einen Prüfungstag aktiv mitverfolgt, aber ich ahnte, was jetzt kommen würde.

Wir bekamen unser Empfehlungsschreiben. Es war eine Einschätzung unserer Lehrer und Betreuer, welches für das Ikati geschrieben wurde. Es war nicht bindend, aber von dem, was ich wusste, orientierten sich die Anführer an diesem Schreiben und teilten uns einem Bereich in ihrem Ikati zu.

Sechzehn Jahre, die jetzt zu Ende gingen. Es fühlte sich an, als würde morgen ein neues Leben beginnen. Und irgendwie war es wahr. Es begann ein neues Kapitel meines Lebens.

Kapitel 2

Faith

Es war stockdunkel, ich konnte nicht einmal meine Hand vor Augen sehen. Dabei sollte Mira bereits auf dem Zimmer sein.

Nach der Ausgabe der Beurteilung wurden wir auf die Zimmer geschickt, um unsere Sachen zusammen zu packen und uns auf die Prüfung vorzubereiten. Meine Finger tasteten vorsichtig nach dem Lichtschalter und fanden ihn. Schützend kroch ich in mein Bett, eines der unteren Betten. Mira saß auf ihrer Matratze und starrte ins Nichts. Zunächst dachte ich mir nichts dabei. Vielleicht war sie nur nervös.

Mein eigener kleiner Raum, in Form meines Bettes, enthielt kaum Persönliches. Es gab nichts, an dem ich wirklich hing. Es war uns nicht gestattet Kleidung zu behalten. Man hatte uns versichert, wir würden versorgt werden. »Habt ihr auch Kleidung für die Prüfung?«, fragte Ivy, die ihren blonden Lockenkopf aus ihrem Kleiderschrank steckte.

Neugierig kletterte ich aus meinem eigenen Bett und öffnete meine Kleidersammlung. Tatsächlich hing dort ein Bügel, welcher mir meinem Namen beschriftet war. Es war schlichte Kleidung – ein T-Shirt und dazu eine Jacke, eine feste Hose und ein paar Stiefel, alles in rabenschwarz. Die Jacke war hinten mit dem Ikatisymbol bestickt: ein Kreis mit einer senkrechten Linie hindurch. Ich fand, es sah irgendwie cool aus. Ein Blick auf Ivy und Skye sagte mir, dass diese Kleidung einheitlich war. Mira saß immer noch regungslos auf ihrem Bett, ihr Blick ausdruckslos. Auch wenn ich sie nicht belästigen wollte, machte ich mir Sorgen. Langsam kam ich zu ihr herüber und setzte mich neben sie. Meinen Arm legte ich tröstend um ihre Schulter. Doch was dann passierte, brachte mich vollständig aus meinem Konzept. Plötzlich sah ich nicht mehr aus meinen Augen, sondern aus denen von Mira. Der graue Fußboden, auf den ihre Augen gerichtet waren, ließ mich sicher sein, dass es nicht Ivys oder Skyes Sicht war. Dann hackten auf einmal eine Flut an Gedanken auf mich ein, Gedanken, die ich nachvollziehen konnte. Doch nie hatte ich so viele Gedanken auf einmal gesehen, gedacht.

Im nächsten Moment war es schon wieder vorbei. Vor Schreck zog ich meine Hand von Miras Schulter zurück und stand auf.

»Wir brauchen unbedingt einen Betreuer. Jetzt!« Was immer da passiert war, es war sicher nicht normal, und da ich alle Sinne beisammen hatte, ging ich nur davon aus, dass Mira diejenige war, mit der etwas nicht stimmte. Während Skye aus dem Zimmer eilte, kam Ivy zu mir hinüber und legte mir einen Arm um die Schultern. Reflexartig wand ich mich aus der Berührung. Meine beste Freundin wusste genau, dass es nicht abstoßend gemeint war, trotzdem war sie ein wenig erschrocken von meiner Reaktion, versuchte daraufhin aber keine weitere Annäherung. Stattdessen versuchte sie, sich Mira anzunähern und ihr einen Arm auf die Schulter zu legen. Ich wollte sie schon warnen, dass sie das lieber lassen sollte, aber im Gegensatz zu mir, schien sie überhaupt keine Probleme mit der Berührung zu haben. Damit schlich sich das undenkbare Gefühl ein, dass etwas mit mir nicht in richtig war.

Endlich kam Skye wieder, mit einem unserer Jahrgangsbetreuer und meinem Lehrer Herr Morgan. »Was ist los?«, fragte er besorgt und sah uns nach der Reihe an. Auf mir ruhte sein Blick ein bisschen länger, ich konnte ihn nicht ansehen. In diesem Moment fühlte ich mich fehl am Platz. Als ich aufsah, trafen sich unsere Blicke und ich sah in seinen Augen, dass er etwas wusste. »Mira geht es überhaupt nicht gut. Sie atmet zwar, aber sie reagiert auf nichts. Weder bewegt sie sich, noch sagt sie ein Wort. Sie blinzelt nicht einmal mit den Augen«, berichtete Ivy, schielte jedoch mit einem kurzen Seitenblick auf mich. Ich senkte den Blick, traute mich nicht, sie anzusehen. Unser Lehrer wusste scheinbar genau, was zu tun war, denn er schritt ohne Umschweife auf Mira zu, kniete sich auf den Boden und suchte ihren Augenkontakt. Über sein Gesicht legte sich ein Ausdruck der Besorgnis. »Sie muss sofort hier raus und braucht ärztliche Hilfe. So schnell wie möglich.« Zwar sah er in meine Richtung, doch ich schaffte es nicht, aufzustehen, um ihm zu helfen. Ähnlich erstarrt wie Mira, blieb ich sitzen, und überließ es Skye, unserem Lehrer zu helfen. Einen letzten Blick warf ich auf Mira, als sie sie aus der Tür hinaustrugen. Meine Zimmergenossin hing wie eine leblose Gestalt zwischen ihnen.

Als die drei aus dem Raum verschwunden waren, spürte ich erleichtert, wie die Anspannung aus meinem Körper wich. Auch Ivy merkte es. »Lass uns ins Bad gehen und uns fertig machen für die Prüfung. Skye wird nachkommen, sobald sie sich versichert hat, dass Mira in sicheren Händen ist.« Nach einem langen Seufzer stand ich auf und folgte Ivy aus dem Raum. Wir konnten nicht ewig hier sitzen bleiben und darauf warten, dass Stunde um Stunde verging. Die Gänge, durch die wir die letzten sechzehn Jahre gegangen waren, wirkten auf einmal fremd. Als wäre ich kein Teil mehr hiervon, von einem behüteten Leben. Stückweise kam es in meinem Kopf an. Zwar würde ich es erst dann wahrhaben können, wenn ich meinen neuen Lebensabschnitt begann, doch schon jetzt merkte ich, dass sich etwas veränderte. Die Menschen, die uns in den Gängen begegneten, sahen uns mit Ehrfurcht an. So mancher Blick grenzte an Mitleid. Als würden wir heute in eine Todeszone geschickt werden. Doch wir hatten nur eine lebensverändernde Prüfung. Eine gewisse Ähnlichkeit erkannte ich erst nach einer Weile.

In der gesamten Zeit im Bad zog mein Körper mich zu Boden. In meinem Kopf rangen Sorgen und freudige Erwartungen miteinander, beide mit dem Ziel die Oberhand zu gewinnen. Doch keiner von beiden schaffte es. So war mein Kopf der Schauplatz eines blutrünstigen Gefechts. Am Rand meines Bewusstseins stellte ich fest, dass Skye zu uns gestoßen war. Nachdem ich meinen beiden Freundinnen erklärt hatte, dass ich einen Moment für mich brauchte, um meine Gedanken zu ordnen, ließen sie mich mit sorgenvollen Gesichtern vorausgehen, mit dem Versprechen, bald nachzukommen. Ohne zu fragen, trugen mich meine Füße in die Richtung der Küchen. Ich hatte ein wenig Hoffnung, noch eine kleine letzte Leckerei zu erhaschen, bevor mir wer weiß, was aufgetischt wurde. Mein volles Bewusstsein wurde wieder in meinen Körper katapultiert, als ich Stimmen hörte, viele Stimmen, hier in der Küche. Ich musste an der Tür ein Schild übersehen haben. Damit niemand meine Anwesenheit bemerkte, wollte ich schon wieder hinausschleichen, bis ich Miras Namen in dem Gewirr voller Stimmen heraushörte. Ich hielt inne und machte voller Neugierde ein paar Schritte auf die Stimmen zu. »… hoffe, sie ist heute Abend wieder fit, sonst müssen wir sie verstoßen.«

»Meinst du, das ist eine gute Lösung? Ich weiß, dass es im Gesetz steht, aber wir könnten sie ein Jahr jünger machen und ihnen sagen, dass es nur ein normaler Krankheitsfall ist«, hörte ich einige Betreuer diskutieren.

In unserem Gesetz stehen viele strenge Regeln, die wir alle zu befolgen haben. Wenn wir dies nicht tun, werden wir verbannt oder getötet. Mira war ein besonderer Fall. Sie konnte nichts dafür, dass sie sich unwohl fühlte. Trotzdem würden die Anführer keine Gnade walten lassen. Sie betrachten es als unnormal. Warum auch immer sie die Vry hierbehielten, es musste ein verdammt wichtiger Grund sein.

»Sie wird gehen müssen, egal was wir ihnen erzählen. Wenn sie herausbekommen, dass wir sie angelogen haben, werden sie Mira oder vielleicht auch uns töten. Dann wäre es besser, sie geht lebend, als wenn sie hierbleibt und mit ihr, andere sterben.«

Der Schock steckte mir in den Gliedern, als ich zurück zur Tür schlich, schnell hindurch schlüpfte und mit langen Schritten zurück in unser Zimmer floh. Anders als vorher sah ich meine Gedanken klar und deutlich. Und sie formten sich langsam zu einer schrecklichen Erkenntnis heran. Was Mira passiert war, könnte tödlich für sie enden. Eins wurde mir in diesem Moment klar: Mira sah ich wahrscheinlich nie wieder.

»Was ist passiert? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.« Ivy war sofort bei mir, während Skye lässig in ihrem Bett lag.

»So sieht sie immer aus, wenn die eine ihrer bahnbrechenden Erkenntnisse hatte«, meinte Skye scherzhaft. Sie machte sich scheinbar überhaupt keine Sorgen, auch wenn sie mit ihrer Aussage genau ins Loch getroffen hatte. Ich hatte etwas erkannt…

»So schnell werden wir Mira nicht wieder sehen, es sei denn, es findet eine Hinrichtung für sie statt.« Mehr brachte ich in diesem Moment nicht heraus, auch wenn ich mich für meine Freundinnen komplett unverständlich ausdrückte. Auf einmal war Skye hellwach und stand senkrecht im Bett. »Wie? Was? Warum?«, waren die einzigen Fragen, die ihren Mund verließen.

»Es hat irgendetwas mit ihrer Schockstarre soeben zu tun. Sie sagten, es wäre was Krankhaftes und dass, wenn sie es verheimlichen würden, jemand getötet wird. Sie erwähnten etwas davon, dass sie sie verbannen. Ich kann euch nicht alles sagen, ich habe auch nur einen Teil des Gesprächs gehört.« Nach meinem Bericht holte ich erst einmal Luft.

Ivy schien die Einzige zu sein, die ihre Nerven im Griff hatte. »Woher weißt du das alles überhaupt? Ist es nicht möglich, dass du nur wilde Spekulationen mit angehört hast?«

Ich fing schon mit dem Kopfschütteln an, bevor sie den Satz beenden konnte. »Kann nicht sein. Das waren Betreuer, Menschen, die um ihr Leben fürchteten.«

Verständnisvoll strich Ivy mir immer wieder über den Rücken, als wolle sie, dass ich die Angelegenheit vergaß. Doch auch wenn ich versuchte, sie aus meinem Kopf zu verbannen, spukten sie weiterhin dort herum. Vielleicht ging es Ivy und Skye ähnlich, doch sie zeigten es nicht.

Kapitel 3

Faith

Eine dröhnende Stimme ertönte aus dem großen Lautsprecher am Eingang der Schule.

»Bitte stellt euch nach der Liste, die an der Glastür hängt, auf. Dies wird die Prüfungsreihenfolge sein.«

Wir waren vierzig Prüflinge in meinem Jahrgang. Die Schlange vor mir wand sich an den Wänden der Prüfungshalle entlang.

Der erste Prüfling wurde aufgerufen und trat vor. Einer unserer Betreuer führte ihn an der Schulter in die Richtung eines kleinen Gebäudes. Hinter der Anlage lag eine große Lagerhalle, in welcher die eigentliche Prüfung stattfand. Der erste Junge ging in den Vorraum und eine dicke Stahltür schloss sich hinter ihm, sodass wir nichts zu sehen bekamen. Es dauerte etwa ein wenig, bis der nächste Prüfling aufgerufen wurde und mit einem leichten Zögern vortrat.

Nach einer Weile geleiteten die Betreuer die lange Schlange zu ein paar Bänken. Ich war froh, ein bisschen sitzen zu können, denn ich würde meine Kräfte während der Prüfung noch brauchen.

Die Sonne stand tief, als Ivy an die Reihe kam. Ich fing an zu zittern und flüstere ihr ein leises »Viel Glück!« zu, auch wenn ich wusste, dass sie mich nicht hörte, bevor sie in dem kleinen Vorraum verschwand.

Über einen Bildschirm konnten wir die Verwandlungen mitverfolgen. Wie gebannt starrte ich auf den Monitor. Noch geschah nichts, doch bald musste so weit sein.

Plötzlich schlug das Bild auf dem Bildschirm zu einem gelben Fleck um.

Alles war still.

Dann kam das Bild eines Geparden zum Vorschein. Ich sprang von meinem Platz auf und fing an zu jubeln. Auch Skye klatschte vor Begeisterung, doch ich sah ein paar Sorgenfalten in ihrem Gesicht aufziehen. Ich verstand ihre Angst, denn wie ich, wusste sie nicht, ob wir zusammenblieben. Es war ihr wichtig, da es ihr schwerfiel, neue Freunde zu finden.

Die Sonne schwand scheinbar so schnell vom Himmel, wie die Schlange vor mir schrumpfte, bis der Mond schon tief am Himmel stand und die Stimme des Lautsprechers meinen Namen ausrief. Ich stand mit zitternden Beinen auf und trat langsam vor. Mein Gesicht war kreidebleich und Schweißperlen rannen mir von der Stirn.

»Alles wird gut«, flüsterte mir eine Betreuerin leise zu und schenkte mir ein schüchternes Lächeln.

Die große Stahltür öffnete sich vor mir. Ich trat langsam in den Raum ein und schaute mich wachsam um. In der hintersten Ecke stand ein Mann. Irgendwie kam er mir bekannt vor, was ich schnell wieder vergaß. Ich war so aufgeregt, dass ich nicht einmal bemerkte, dass ich fast gegen einen großen Tisch lief.

Der Mann kam langsam auf mich zu und stellte sich vor den Tisch.

»Ich gebe dir eine Flüssigkeit, die deine gesamte Wut hervorbringt. Deine Wut wird dich dazu bringen, dich zu verwandeln«, erklärte er mir, »Wenn du eine Vry bist, wirst du in deinem Körper ein Kribbeln spüren. Außerdem wirst du dich in mindestens drei Gestalten verwandeln. Ich wünsche dir bei deiner Prüfung viel Glück.«

Ich nickte und er gab mir ein Glas mit einer türkisfarbenen Flüssigkeit. Zögernd nahm ich es und trank es mit einem Zug aus.

Ich spürte nichts, doch meine Wut würde bald einsetzten. Der Mann öffnete eine weitere Stahltür und dahinter tat sich ein wohlriechendes, großes und naturnahes Gelände auf.

»Geh rein!«, rief der Mann mir zu.

Ich ging zögernd auf die Stahltür zu. Jetzt gab es kein Zurück mehr!

Als ich in der großen Halle stand, schaute ich mich erstaunt um. Das andere Ende konnte ich nicht sehen, da vor mir ein dichter Wald lag. Laubbäume, Büsche, die ich nicht erkannte und riesige Farne wucherten ais dem Boden. Nur ein kleines Stück Sand war am rechten Rand zu sehen.

Hinter mir fiel die Tür klirrend ins Schloss. Jetzt war ich auf mich allein gestellt.

Ich ging auf einen großen Baum zu und legte meine Hand auf die raue Rinde. Eine unbekannte Energie strömte durch meinen Körper. Mein Bauch fing an zu kribbeln, wodurch ich mich stärker fühlte als je zu vor.

Auf einmal wachte in mir eine weitere, intensivere Kraft in mir auf.

Wut!

Eigentlich war ich auf nichts wütend, weswegen ich mich erschreckte als diese Energie, aus mir auszubrechen drohte.

Ich rannte los, denn irgendwie musste ich der Wut in meinem Bauch Luft machen. Doch das Rennen bewirkte, dass ich mich auf einmal fühlte, als explodierte ich jeden Moment. Am liebsten wäre ich einfach aus meiner Haut ausgebrochen und davongerannt.

Plötzlich passierte etwas Unerwartetes. Ich stolperte über eine Wurzel und flog im hohen Bogen durch die Luft.

Doch anstatt auf dem harten Waldboden aufzukommen, landete ich auf vier weichen Pfoten. Mein Körper explodierte und meine Wut verrauchte in der schwülen Luft.

Ich schaute an mir herunter und sah wie sich Muskeln unter meinem sand-goldfarbenem Fell abzeichneten. Zudem wanden sich schwarze Streifen auf meinem ganzen Körper.

Ich bemerkte eine große Enttäuschung in meinem leeren Bauch. Doch die eben noch weggewesene Wut kehrte zurück und jagte mir ein kaltes Schaudern über den Rücken. Ich hoffte, dass dies ein normaler Prozess war.

Ich rannte wieder los, rannte durch den Wald, wich den Bäumen im Zickzack aus. Meine riesigen Pfoten fanden auf dem Waldboden guten Halt.

Diesmal wurde es besser, doch nicht das Rennen machte es besser, sondern eine weitere Verwandlung. Wieder waren es meine Pfoten, die sich der Transformation zuerst hingaben. Sie schrumpften und so folgte auch mein ganzer Körper, der in die Länge gezogen wurde. Kurze Zeit später nahm ich die gesamte Gestalt eines Geparden an.

Mit einem unsicheren und doch glücklichen Gefühl betrachtete ich die Landschaft, die vor mir lag. Mein Blick schweifte über die kahle Sandlandschaft, die ich nur verschwommen wahrnahm.

Ich trabte einen Sandhügel hinab, auf den Horizont zu. Je mehr ich von meinen Sorgen abschweifte, die mich schon den gesamten Tag quälten, desto schneller wurde mein Körper, bis ich abrupt stehen blieb, weil mich ein komisches Gefühl verfolgte.

Mit wachsamen Augen sah ich mich um und suchte die Landschaft ab. In der Ferne konnte ich eine immer näherkommende Staubwolke beobachten. Es lief mir eiskalt den Rücken herunter, als ich begriff was da auf mich zu raste.

Zwei große Krieger der Panther und zwei der Geparden schossen auf mich zu. Ich wirbelte herum und rannte wie um mein Leben. In dem ungünstigsten Moment meines Lebens kribbelte mein Körper und mein Bauch füllte sich wieder mit der unerklärbaren Wut. Mit einem hechelnden Atem spürte ich meine vier Verfolger im Rücken.

Alles zog an mir vorbei, als würde ich fliegen. Neben mir tauchte ein dichter Wald auf und mit einem Blick hinter mich, bei dem ich bemerkte, dass die Panther zurückgefallen waren, bog ich mit einer scharfen Kurve in einen Pfad, der von großen Bäumen gezeichnet war, ein.

Meine Entscheidung lohnte sich, denn ich verwandelte mich erneut. Meine Geschwindigkeit verringerte sich und ich fiel zurück, hielt meinen Vorsprung unter dem dichten Blätterdach aber.

Ich fand mich in der Gestalt eines Luchses wieder. In meinem Blickfeld erschien ein hoher Baum mit vielen Ästen. Jetzt war ich erleichtert, dass ich mich erneut verwandelt hatte.

Kurz nach den ersten Wurzeln des Baums sprang ich mit aller Kraft ab und landete sicher in einem der unteren Äste. Von hier aus war es leicht, an Höhe zu gewinnen.

Ich war weit genug oben auf dem Baum, sodass ich beschloss, herunter zu spähen, wo ich die vier Raubkatzen dabei beobachtete, wie sie vergeblich versuchten, mir auf den Baum hinauf zu folgen. Zögernd schaute ich mich auf wackeligen Beinen um. Weit und breit sah ich nur dicht gewachsene Baumkronen und verschlungene Äste.

Langsam balancierte ich in die Richtung eines kahlen Baums, dessen Baumkrone äußerst stabil aussah. Ich nahm Anlauf, spannte meine Muskeln an und sprang ab. Die Äste unter mir federten und ich konzentrierte mich darauf, das Gleichgewicht zu halten.

Bald darauf wagte ich den Sprung auf den nächsten Baum, bei welchem ich nicht mehr so zitterte, da meine Anspannung etwas gewichen war. Immer wieder suchte ich mir eine passende Position, von wo aus ich den Boden und seine Umgebung betrachtete. Alles sah ruhig aus, keine Anzeichen von meinen Verfolgern. Doch wovor hatte ich eigentlich Angst?

Jetzt wo ich mich etwas entspannen konnte, schossen mir sämtliche Sorgen und Gedanken wieder in den Kopf. Und ich realisierte: ich war eine Vry, musste mich für ein Ikati entscheiden, ich hatte drei Verwandlungen vollzogen.

Hinter mir knackte ein Ast und meine Nackenhaare sträubten sich. Aus heiterem Himmel erschienen zwei muskulöse Luchse.

Ich erstarrte. Meine Gedanken wirbelten umher, verzweifelnd suchend nach einer Lösung. Panisch blickte ich um mich und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Unter mir bildeten ein paar Äste eine Art Treppe. Darin lag meine einzige Chance.

Schnell rappelte ich mich auf und stellte mich mit angespannten Muskeln gegenüber den beiden Luchsen. Mit einem Mal sprang ich und rannte, so schnell mein Gleichgewicht es zuließ, die Äste entlang.

Plötzlich war unter meinen Pfoten kein Ast mehr, nichts festes. Ich trat ins Leere. Erfüllt von Panik strampelte ich mit meinen Beinen in der Luft herum. Vor meinen Augen raste der Boden immer schneller auf mich zu, bis ich mit allen vier Pfoten auf dem Waldboden aufkam.

Kurz darauf, folgten mir die Luchse, die jedoch elegant zu Boden glitten und in sicherer Entfernung vor dem Baum stehen blieben.

Ohne darüber nachzudenken, stürzte ich mich auf einen der Luchse und zerfetzte ihm mit meinen scharfen Krallen die Ohren. Doch, bevor ich über meine nächsten Schritte nachdenken konnte, fuhr mir sein Komplize, mit seiner Pfote über meine empfindliche Nase. Und ich fragte mich, warum ich mich wehrte. Niemand wollte mir etwas Böses. Glaubte ich. Nachdem ich endlich wieder etwas sehen konnte, fiel mir vor Schreck fast das Herz in die Pfoten. Sechs große schmächtige Katzen standen drohend aufgebaut vor mir.

Ich spürte, wie das Blut meine Nase hinunter rann und rote Flecken am Boden hinterließ. Ohne Erfolg versuchte ich mit meinen Pfoten um mich zu schlagen. Stattdessen wurde ich hart getroffen, sodass mein Kopf anfing zu dröhnen und ich ins Gras glitt. Wäre das nicht schon genug, stemmte sich jetzt auch noch ein großer Luchs auf mich und drückte mich mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Boden.

Langsam ging mir die Luft aus und ich wurde bewusstlos. Das Einzige, was ich noch erkennen konnte, bevor mir die Augen zufielen, waren die eisblauen Augen des Luchses, die mich voller Hass anstarrten.

Kapitel 4

Faith

Als ich wieder zum Bewusstsein kam, lag ich in einem Kreis, gebildet aus Raubkatzen, die mich anstarrten, als wäre ich ein Alien.

Die sechs Anführer der Ikatis schauten mit grimmigen Mienen auf mich herab. War ich so wichtig oder gefährlich, dass selbst die Anführer sich für mich interessierten?

Ich versuchte vorsichtig aufzustehen, ohne Erfolg, sodass ich wieder zurück ins Gras sank. Meine Pfoten waren schwer wie Blei. Als ich mir mit der Zunge über die Nase fuhr, schmeckte ich getrocknete Blut.

Nachdem sich der Anführer der Löwen in seine menschliche Gestalt verwandelt hatte, trat er vor und musterte mich von der Nase bis zur Schwanzspitze.

»Ich bin Leonardo, der Anführer der Löwen. Wie heißt du?« Eine überflüssige Frage, denn ich wusste, dass er meinen Namen bereits kannte.

Ich war nicht in der Lage zu antworten, denn ich steckte in meinem Katzenkörper. Als ich meinen Mund öffnete, kam nur ein klägliches Mauzen heraus.

»Du weißt sicherlich, dass es nicht häufig vorkommt, dass wir vor einer solchen Situation stehen. Manche sind trotz unserer Gesetze, welche besagen, dass ein Vry sich selbst einem Ikati zuordnen darf, nicht bereit dich in ihrem Ikati aufzunehmen«, fasste er zusammen.

Mein Magen drehte sich um. Was wenn ich nicht zu meinen Freunden konnte oder ich nicht die Entscheidung treffen durfte, die ich für richtig empfand?

Ich musste auf mein Herz hören, denn diese Entscheidung betraf fortan mein gesamtes Leben.

»Ich, Lore wie auch Kali sind bereit, dich aufzunehmen.« Zu Leonardo traten nun eine Gepardendame und ein kräftiger Panther.

»Außerdem müssen wir deine Betreuer über den Stand informieren und wir Kassen deine Eltern ausfindig machen, damit wir sie testen lassen können«, brummte Kali mürrisch.

Mein Herz schlug schneller. Ich wusste überhaupt nichts über meine Eltern und ich hatte Angst vor einem möglichen Kennenlernen.

Als würde Leonardo meine Gedanken lesen, fügte er schnell hinzu: »Natürlich zwingen wir dich und deine Eltern nicht zu einem Treffen, du musst jedoch akzeptieren, dass deine Eltern um ein Treffen bitten könnten. Lass es dir durch den Kopf gehen, bevor du absagst. Wie alle anderen Vry vor dir darfst du am Ende der Prüfung dein Ikati frei wählen.«

Vor Erleichterung ließ ich meinen Kopf zurück ins Gras sinken und spürte die kühlen Grashalme auf meinem Fell. Doch diese entspannte Geste hielt nicht lange, denn der Luchs mit den eisblauen Augen zog mich unsanft auf die Beine. Er schleuderte meinen Körper auf seinen Rücken, als wäre ich ein Stück Fleisch und trug mich durch den Wald in eine scheinbar wahllose Richtung. Auf dem Weg bohrten sich seine spitzen Schulterknochen in meine Brust und seine Muskeln traten aus dem dichten Fell hervor.

Immer weiter rutschte ich von seinem Rücken, bis ich drohte herunterzufallen. Ohne darüber nachzudenken schlug ich meinen Krallen in das Fell des Luchses. Er zuckte erschrocken zusammen und machte einen Buckel. Ich kam unsanft auf einer Baumwurzel auf. Der Luchs wirbelte herum und funkelte mich wütend an.

»Kannst du nicht aufpassen?«, blaffte er mich an und stolzierte an mir vorbei zu einem großen, dicken Baum. Ich rappelte mich mühsam auf und lief ihm hinterher. Langsam trabte ich um den Baum herum. Weit und breit war niemand mehr zu sehen. Als wären alle vom Erdboden verschluckt worden.

Ich warf einen Blick auf die im Wind wehenden Farne an den Wurzeln des Baumes. Nichts passierte.

Plötzlich bewegte sich der Boden unter mir und ehe ich mich versah, gaben meine Beine unter mir nach, sodass ich bäuchlings hinfiel. Ich wurde an meinen Vorderpfoten über die staubige Erde, in die Richtung eines Lochs inmitten der Wurzeln gezogen. Strampelnd versuchte ich mich aus seinen Fängen zu befreien, erfolglos. Irgendwann plumpsten meine Hinterbeine auf den harten Boden.

»Lauf selbst!«, dröhnte eine Stimme aus der Dunkelheit heraus. Ich rappelte mich mit steifen Pfoten auf und folgte den hallenden Schritten vor mir. Blind tastete ich mich vorwärts, ohne die leiseste Ahnung zu haben, wo ich war.

Vor Erleichterung schnaubend, erkannte ich einen kleinen Lichtpunkt am Ende des dunklen Tunnels, der mit jedem meiner Schritte größer wurde.

Endlich berührte ich mit meinen erschöpften Pfoten das kühle Gras, welches sich hinter dem Ausgang erstreckte. Blinzelnd kam ich vor einer Schülergruppe zum Stehen. Die aufgehende Sonne schien mir unangenehm ins Gesicht, bis es plötzlich in meinem Körper kribbelte und ich kurz darauf in meinen Kleidern, jedoch ohne Schuhe auf der Wiese stand. Doch auch wenn ich wieder auf zwei Beinen stand brannten sich die Blicke der anderen Schüler in mich hinein.

Voller Scham lief ich rot an und schaute weg, bis mir eine kreischende Stimme zuruft.

»Faith!«, rief jemand aus der Menge heraus. Ivys Lockenkopf und ihr strahlendes Gesicht kamen zum Vorschein. Sie umarmte mich und die ganze Luft strömte aus meiner Lunge. Ich versuchte, mich aus ihrem Griff zu befreien, ohne ihr wehzutun. Schließlich ließ sie mich los und ich atmete erleichtert die frische Morgenluft ein.

»Freust du dich?«, fragte sie mich mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

»Ich weiß nicht. Warum sollte ich mich darüber freuen, ein Vry zu sein?«, antwortete ich ihr betrübt. Prompt verschwand ihr Lächeln und sie schaute mich fragend an.

»Wir können im gleichen Ikati leben. Ist das nichts Schönes?«

»Doch schon, aber ich werde trotzdem als anders abgestempelt und keiner wird mich so akzeptieren, wie ich bin. Außerdem war Skye noch nicht dran. Es ist kann alles passieren.«

Auf Ivys Stirn erschienen Falten, doch sie sagte nichts. Wir gingen hinüber zu einer großen Wiese, die uns einen schattigen Platz bot, in dem wir uns niederließen. Nach einiger Zeit verwandelte sich das Orange des Sonnenaufgangs, in ein leichtes Blau. Kleine Wolken zogen am Himmel vorbei wie Pferde auf der Flucht.

Trotz Skyes bevorstehenden Prüfung war ich unendliche erschöpft. Ich döste vor mich hin und schreckte auf, als Ivy mir einen unangenehmen Stich mit dem Ellbogen verpasste.

»Was ist los?«, murmelte ich schläfrig.

»Guck doch! Die Anzeigetafel!« Sie zeigte mit ihrem Finger in Richtung Prüfungshalle.

Jetzt erst konnte ich den Namen darauf erkennen, der auf gelben Grund auf dem Bildschirm leuchtete. Skye war mitten in ihrer Prüfung.

Mein Herz pochte hart und schnell gegen meinen Brustkorb. Wie gebannt starrte ich auf die Zeichen der Ikatis, die sich ständig änderten, da Skye sich noch nicht verwandelt hatte. Ivy neben mir wirkte angespannt.

Auf einmal griff sie meinen Arm und krallte sich mit ihren Fingern in meine Haut hinein. Ich wendete meinen Blick wieder dem gelben Bildschirm zu, der das Symbol des Tigers zeigte.

Ich kam auf die Beine und lief immer wieder auf und ab. Nichts half gegen diese Nervosität, die in meinem Baum spuckte. Mein Blick flog zwischen dem blauen Himmel und der gelben Tafel hin und her, bis ich irgendwann ein aufgeregtes Quieken von mir gab.

»Wie? Was ist passiert?« Ivy zog sich ebenfalls auf die Beine und ihr Blick suchte direkt den Bildschirm.

Hüpfend jubelte ich und fiel Ivy um den Hals. Das Resultat der Prüfung Skyes war dasselbe wie Ivys. Hand in Hand rannten wir herüber zum Ausgang der Prüfungshalle. Gespannt warteten wir auf Skyes Gesicht. Zusammen mit einem kleinen Serval verließ ein anmutiger Gepard den Tunnel. Im nächsten Moment stand Skye wieder vor mir und zerquetschte mich mit einer herzlichen Umarmung.

»Wir haben es geschafft. Uns kann niemand mehr trennen«, rief sie freudig in die Welt hinaus.

Zu dritt setzten wir uns zurück unter den Baum. Träumerisch beobachtete ich, wie sämtliche Wolken am Himmel vorüberzogen, bis ich langsam in einen leichten Schlaf glitt.

Als eine kühle Hand über meinen nackten Arm strich, fuhr ich hoch. Skye schaute mich belustigt an und schenkte mir ein strahlendes Lächeln.

»Du bist glatt eingeschlafen, nach der anstrengenden Nacht, die du hattest«, säuselte sie vor sich hin.

»Schön, dass du dich darüber amüsierst«, gab ich verschlafen zurück.

»Der letzte Schüler ist grad in der Prüfung«, berichtete Ivy mit einem aufgeregten Zittern in der Stimme. Die Sonne hatte mittlerweile ihren höchsten Stand erreicht und die letzten warmen Strahlen des Oktobers strahlten, hinab auf die Wiese.

»Ich bin gespannt, was sie mit dir machen, sobald die Prüfung zu Ende ist«, überlegte Skye laut.

»Ich werde wählen«, erklärte ich ihnen, »Außerdem kann es sein, dass ich heute meine leiblichen Eltern kennen lernen werde. Davor habe ich ehrlich gesagt mehr Angst, als mich für ein Ikati zu entscheiden.«

Ivy und Skye warteten gespannt ab, ob ich ihnen verkündete, wohin mich meine Reise führte, doch ich würde es ihnen nicht verraten, bis ich es laut aussprach und es kein Zurück mehr gab.

Wie ein wirbelnder Wind kam plötzlich eine weitere Gestalt aus dem Tunnel gesprungen. Ein ausgewachsener, besorgt dreinblickender Tiger kam mit schlitternden Pfoten zum Stehen. Panisch suchte er die Menge an Schülern ab, bevor er wieder auf zwei Menschenbeinen stand. Unser Lehrer und Betreuer, Herr Morgan stand vor uns und kam schnell auf meine Freunde und mich zu.

»Ich muss mit dir reden. Jetzt«, fuhr er mich an.

Mit besorgter Miene starrten Skye und Ivy mir hinterher. Ein fieser Gedanke streifte durch meinen Kopf. Hatte ich etwas falsch gemacht?

Kurz hinter dem schattigen Baum blieb er endlich stehen.

»Ich hoffe für dich, du weißt, was du jetzt machst«, fing er an, »Denn, wenn du darauf wartest, dass die Anführer dich ignorieren und warten, bis du eine Entscheidung getroffen hasst, hast du leider falsch gedacht. Sie werden versuchen, dich für ihr Ikati zu gewinnen, zumindest die meisten. Denn auch wenn sie es nicht zugeben, würden alle von denen, die sich bereit erklärt haben dich aufzunehmen, nur zu gern eine Vry in ihrem Ikati haben. Was sie vor der Prüfung keinem erzählen ist, dass die Ikatimitglieder untereinander stumm und in ihrer zweiten Gestalt einzig und allein über ihre Gedanken kommunizieren. Natürlich nur, wenn deine innere Barriere diese Gedanken frei gibt. Nur ein Vry kann die Gedanken aller Ikatis hören. Und genau das macht dich zu ihrer stärksten Waffe.«

Ungläubig ließ ich seine Worte auf mich wirken. »Und warum genau sagen Sie mir das jetzt?«, fragte ich mit gerunzelter Stirn, »Das wird nichts an meiner Entscheidung ändern.« Ungeduldig wartete ich auf seine Antwort.

»Ich möchte nicht, dass du dich ausnutzen lässt. Bilde dir immer eine eigene Meinung von den Dingen und traue keinem außer dir selbst. Du bist nicht so abhängig von den Ikatis, wie du glaubst.«

»Erstmal bin ich ziemlich abhängig von ihnen, denn sie heißen für mich Leben oder Flucht. Nirgendwo werde ich einen Platz finden, wenn ich mich keinem Ikati zuordne. Ich werde ausgestoßen, stehe allein da, dass würde ich nicht überstehen. Ich bin nicht bereit, mein Leben allein zu leben«, erwiderte ich.

Er widersprach mir nicht, doch ich bemerkte, wie Argwohn in seiner Stimme mitschwang. »Erstmal musst du zu einem Ikati gehören, doch trotzdem sollst du deinen eigenen Verstand benutzen und dich nicht ziellos von anderen an der Nase herumführen lassen. Die Ikatimitglieder sind wichtig für ein Ikati. Sie bedeuten Stärke. Und da sich die Situation unter den Ikatis mittlerweile zuspitzt, ist jeder neue Schüler für sie umso wichtiger.

Ich habe deinen Eltern mein Wort gegeben, dass ich dich über alle Gefahren informiere und beschütze, wenn es nötig ist.«

Erschrocken von seinen Worten sah an und fragte: »Sie kennen meine Eltern?«

»Ja ich kenne deine Eltern sogar sehr gut. Wir waren lange Zeit befreundet, bis sie mich baten, bei dir zu bleiben, als du geboren wurdest und sie dich weggeben mussten. So wurde ich euer Betreuer und konnte dich genau im Auge behalten, während du zu einer starken Persönlichkeit herangewachsen bist. Ich werde in mein Ikati zurückkehren, denn meine Aufgabe ist erfüllt. Ich kann mein Leben weiterleben und hoffe, dass deine Eltern immer noch so treue Freunde sind, wie vor sechzehn Jahren.«

»Sie werden dir sicher dankbar dafür sein, auf mich aufgepasst zu haben. Und ich hoffe sie stehen auch in Zukunft hinter mir.«, erwiderte ich mit einem zurückhaltenden Lächeln.

»Ich wünsche dir viel Glück auf dem Weg, den du für dich wählst. Höre immer auf dein Inneres«, fügte er hinzu und erwiderte mein Lächeln.

Als wir uns wieder auf den Weg zu Ivy und Skye machten, legte er mir schützend eine Hand auf die Schulter. Zum Abschied klopfte er mir zwei Mal auf den Arm und verschwand.

»Was wollte er?«, fragte Ivy, als sie mich bemerkten.

»Er wollte mir eine Weisheit mit auf den Weg geben. Für mein zukünftiges Leben im Ikati. Also nichts Schlimmes.«

Ivy und Skye warfen sich ungläubige Blicke zu, widersprachen mir aber nicht.

Kapitel 5

Faith

Eine laute Stimme riss mich aus meinen Gedanken. »Die folgende Nacht werdet ihr in der Stadt bleiben. Morgen werdet ihr dann in die Ikatis eingeführt und beginnt euer neues Leben. Folgt bitte euern Betreuern zu den Schlafplätzen.«

Die Menge setzte sich langsam in Bewegung. Wir verließen die im Wind wiegende Wiese und wurden in eine große Halle gebracht. Überall waren dicke Metallstangen angebracht, an denen Hängematten hingen. In der Mitte der Halle stand ein gewaltiger Holztisch, so groß, dass er von der einen Wand zur anderen reichte.

»Faith, du wirst von mir begleitet, in ein Apartment gebracht«, rief mich eine tiefe Stimme zurück.

Von einigen Seiten kamen empörte Rufe. »Bekommt sie etwa eine Sonderbehandlung? Wie unfair! Nur weil sie eine Vry ist!« Vor Scham zog ich den Kopf ein und senkte den Blick.

Mein neuer Begleiter, ein Mann mit schwarzen Locken, ging nicht auf die Einwendungen ein und lotste mich wieder aus der Halle hinaus. »Deine Eltern haben den Wunsch geäußert, mit dir zu sprechen. Nachdem das Gespräch beendet wurde, geleite ich dich zu deinem Apartment für die Nacht«, erklärte er mir.

Ich nickte abwesend. Also wurde es mir doch nicht gewährt, die Entscheidung zu treffen. Ich musste mit meinen Eltern sprechen, ob ich wollte oder nicht. Und dann diese Extras. Nur, weil ich die Fähigkeit hatte, mich in alle sechs Raubkatzen verwandeln konnte. Doch ich ließ mir meinen Ärger nicht anmerken.

Überall in der Hauptstadt standen riesige Gebäude. Zwischen ihnen fühlte ich mich winzig und so unbedeutend. Eingeschüchtert betrachtete ich das größte Haus im Zentrum der Stadt, auf das wir zusteuerten. Aus jeder Seite des sechseckigen Gebäudes ragte ein großer Raubkatzenkopf.

»Dieses Bauwerk repräsentiert das Ikatisystem. Wir nennen es Merck. Jeder der Köpfe steht für ein Ikati. Alle Anführer und deren Boten treffen sich regelmäßig in diesem Gebäude, um den Frieden zu wahren«, erzählte mir mein Begleiter gedankenversunken, »Ich heiße übrigens Evil, aber alle nennen mich Eve.«

Ich nickte ihm lächelnd zu. Wir gingen nicht in den Merck hinein, sondern machten einen kleinen Schlenker und steuerten ein Gebäude an, welches aus dunkelgrauen Mauern bestand und heruntergekommen war.

Eve hielt mir die Tür zu einer dunklen Eingangshalle auf. Die Halle war leer, doch im hinteren Teil standen drei Stühle.

»Deine Eltern werden jeden Moment eintreffen«, flüsterte mein Begleiter mir zu.

Schweißgebadet vor Aufregung ließ ich mich auf einen der Stühle nieder.

Es dauerte eine Unendlichkeit, in der ich das unangenehme Ticken des Sekundenzeigers, der Uhr hinter mir hörte. Mein Bein wippte ungeduldig auf und ab. Es schien mir eine Stunde vergangen, als sich die Tür öffnete und gleißendes Licht in den dunklen Raum fiel. Zwei Personen kamen begleitet von zwei Muskelpaketen herein.

Die beiden, wovon ich annahm, dass sie meine Eltern waren, sahen verängstigt aus. Der Schweiß stand ihnen, auf der Stirn. Doch auch wenn die beiden entmutigt wirkten, leuchteten ihre grünen Augen hell und schienen den Raum zu erleuchten.

Sie wurden zu den Stühlen geleitet, neben denen ich saß. Langsam setzten sie sich. Die Stille wurde von Eve unterbrochen. »Lassen wir sie allein reden. Sie haben ein wenig Privatsphäre verdient, nach all den Jahren, in welchen sie getrennt waren.«

Er nickte mir fast unmerklich zu und deutete mit einem Zwinkern auf eine Ecke des Raumes. Ich drehte mich langsam in die Richtung, in die er gedeutet hatte und erschrak, denn dort hing unauffällig eine Überwachungskamera in der schattigen Ecke.

Eine unerträgliche Stille breitete sich zwischen uns aus. Niemand wagte es, etwas zu sagen oder ein Gespräch anzufangen. Unauffällig musterte ich meine Eltern. Das Haar meines Vaters wirkte unordentlich und glänzte im Tageslicht braun. Die Erscheinung meiner Mutter erinnerte mich an mich selbst.

Nach einer Weile, war das Schweigen immer noch nicht gebrochen, aber ich musste mich den Anführer, wie meinen Eltern gegenüber selbstbewusst zeigen. Wer wusste schon, welchen Einfluss dieses Gespräch brachte.

»Wir sind so froh, dass es dir gut geht«, hörte ich eine tiefe Stimme, die meinem Vater gehörte. »Du bist so unglaublich groß geworden. Deine Mutter war aufgelöst von Tränen, als wir dich vor 16 Jahren abgaben. Hat dich Morgan schon über die wichtigsten Dinge informiert? «

»Ja, hat er«, erwiderte ich knapp.

»Schön. Man kann sich zu 100 Prozent auf ihn verlassen. Wenn du es nicht bemerkt hast, gehören wir alle zu dem Ikati der Tiger. Wir wissen, dass du nicht in dieses Ikati aufgenommen werden kannst. Unser Anführer hat sich dagegen entschieden, was dich auf keinen Fall beeinflussen sollte«, fügte er hinzu.

Ich zuckte teilnahmslos mit den Schultern. »Ich werde mich nicht an eurem Ikati orientieren. Euer Ikati zu kennen hat keinen Einfluss auf meine Entscheidung.«

Beide zogen die Stirn kraus und sahen sich vielsagend an. »Wir hätten dich aber vor möglichen Gefahren schützen können. Wenn du in ein anderes Ikati wechselt, ist dies nicht möglich.«

»Ich kann wunderbar auf mich selbst aufpassen. Das habe ich die letzten Jahre auch getan«, gab ich gleichgültig zurück. Selbst nach dieser Erwiderung verschwanden die Sorgenfalten auf ihren Stirnen nicht. »Hört zu. Ich habe nicht die Absicht mich hier länger, als nötig aufzuhalten. Ich habe letzte Nacht die Prüfung gemacht und bin deshalb tierisch müde. Außerdem lasse ich mir nichts von euch sagen, auch wenn ihr meint, mich beschützen zu müssen«, erklärte ich ihnen in einem leicht bissigen Tonfall.

Das Treffen war für mich eine echte Enttäuschung. Auch wenn ich wusste, dass ich mich zurückhalten sollte, war es für mich an der Zeit, endlich den Mund aufzumachen.

»In welches Ikati hast du vor zu wechseln?«, fragte mich meine Mutter.

»Ich werde nach meinem Bauchgefühl entscheiden!«, antwortete ich.

Sie nickte mir leicht zu, auch wenn ihre Frage damit nicht beantwortet wurde.

Ja, es war gut, meine Eltern kennen gelernt zu haben, auch wenn diese Begegnung enttäuschte. Es war gut, zu wissen, wie sie zu mir standen.

Die Tür zu dem dunklen Saal öffnete sich wieder und helles Sonnenlicht fiel hinein. »Das muss reichen. Vry du kommst mit mir. Ihr anderen könnt euch wieder zu eurem Ikati gesellen«, rief Evil uns zu.

Ich stand schnell von meinem Stuhl auf, den ich mit einem Knarzen hinter mir ließ. Meine Eltern starrten mir wortlos nach, bevor sie sich erhoben und den Saal hinter uns verließen.

Eve und ich durchquerten die Straßen, bis ich völlig die Orientierung verloren hatte. An einem Häuserblock blieb er stehen und drückte mir einen Schlüsselbund in die Hand.

»Vierter Stock, zweite Tür rechts«, beschrieb er den Weg zu meinem Apartment. Ohne ein weiteres Wort lief er die Straße hinunter, bis er nicht mehr zu sehen war.

Ich drehte mich zu der Eingangstür. Die blaue Farbe blätterte schon ein wenig von der Tür. Sie hatte ein kleines Fenster und eine kunstvolle Blume in der Mitte. Nervös schloss ich langsam die Tür auf. Im Flur war es kühl und angenehm. Eine Wendeltreppe führte zu den Apartments hinauf.

Vor Aufregung rannte ich hektisch die Treppe hoch, bis ich schnaufend den vierten Stock erreichte. Zögernd schlug ich in den Gang nach rechts ein. Hohe Bögen erstreckten sich über mir. Alles war in weiß gestrichen.

Fast wäre ich an meiner Zimmertür vorbeigelaufen. Abrupt blieb ich stehen und betrachtete die Zimmertüre. Genau wie viele der anderen Türen, um mich herum, war sie kunstvoll mit Bäumen verziert.

Ich schloss die Tür mit einem Klicken auf und trat in den großen Raum. Mein Mund klappte unkontrolliert auf. Das Zimmer wirkte riesig. An der Wand waren viele Fenster, sodass ich fast die ganze Stadt überblicken konnte. Hinten im Raum befand sich ein großes Himmelbett und direkt neben der Eingangstür war ein Eingang zu einem großen Badezimmer.

Ich zuckte zusammen, als die Tür hinter mir zuschlug. Zögernd wandte ich mich wieder den großen Fenstern zu. Ich konnte die Prüfungshalle und sogar unsere alte Schule sehen. Selbst die Ikatigebiete waren zu erahnen.

Die untergehende Sonne, die mir im Rücken lag, tauchte die Stadt und ihre Gebäude in ein orangefarbenes Licht. Mit einem Seufzer warf ich mich auf das Bett und atmete die Luft frisch gewaschener Bettwäsche ein. Mir kroch mein eigener Gestank in die Nase.

Widerwillig setzte ich mich auf und stieg aus dem Bett. Ich schlurfte ins Bad, wo ich mir die schmutzigen Sachen von meinem Körper streifte. Das warme Wasser der Dusche entspannte meine Muskeln und machte mich müde.

Schläfrig stolperte ich aus dem Badezimmer, warf mir das karierte Nachthemd über und legte mich in das Himmelbett.

Eine Weile starrte ich vor mich hin an die Decke. Das Treffen mit meinen Eltern spielte sich erneut in meinem Kopf ab. Warum hatten sie mich nicht herzlich in meine Arme geschlossen? Hätte ich das überhaupt gewollt? Das Gespräch hatte nichts von der elterlichen Liebe, die ich mir gewünscht hatte. Alles war irgendwie kalt gewesen. Kurz bevor meine Augen zufielen, kuschelte ich mich in die weichen Laken und schlief nach so viel Aufregung direkt ein.

Kapitel 6

Ty

Nachfahre einer Familie. Einer großen mächtigen Familie.

Das war es, was ich war. Nur dazu auserkoren irgendwann mal das Ikati meiner Familie zu führen. Gedrillt über neunzehn Jahre, betrachtete ich mich im Spiegel meines Zimmers.

Mein gesamter Körper ein einziges Mittel zum Zweck. Ich musste trainiert sein, für das, was kam. Trotz meiner Stellung nahm mich meine Mutter zu dem äußerst wichtigen Treffen, welches an diesem Tag stattfinden sollte, nicht mit.

Eine Vry, wie sie es seit Jahren nicht gegeben hatte. Eine echte Bereicherung, wenn sie zu uns käme. Meine Mutter hatte ich schon davon überzeugen können, um sie zu werben. Es war objektiv einzig und allein an ihren Nutzen für unser Ikati zu denken, doch das musste ich lernen. Nicht nach dem Wohl einer Person zu handeln, sondern, nach dem eines Ikatis.

Die nassen, schwarzen Haare hingen mir in Strähnen ins Gesicht und ich schüttelte meinen Kopf, um die Wassertropfen abzuschütteln.

Um meine Mutter zu beeindrucken, streifte ich eine Jeans und ein Hemd über. Vielleicht würde dieses Auftreten meine Mutter umstimmen.

Ich schickte mein Gehör auf die Reise, bis nach unten in die Küche. Ja, meine Eltern waren wach und hatten sich an den Tisch gesetzt, um zu arbeiten, um zu tun, was sie immer taten: Arbeiten. So geschmeidig, wie es mir in meiner menschlichen Gestalt gelang, stieg ich die Treppe hinab.

»Ty, wie schön dich so früh schon zu sehen«, begrüßte meine Mutter mich. Mit schnellen Schritten und einem strahlenden Lächeln kam ich zum Küchentisch getänzelt.

»Ich wollte mal sehen, ob man euch helfen kann.« Meine Eltern schauten mich mit einer Mischung aus Erstaunen und Misstrauen an.

»Wenn du auf den Besuch in der Stadt anspielst. Du bleibst zuhause, egal was du uns anbietest. Es ist eine große Chance und ich möchte nicht, dass…«. Weiter kam meine Mutter nicht.

»Dass ich eure Chance versaue, ein außergewöhnliches Mitglied zu gewinnen? Benehme ich mich wirklich so unmöglich?« Verletzt sah ich sie an. »Dann werde ich vor Langeweile sterben.«, nörgelte ich.

»Nein, du wirst dich auf deine Aufgabe als Ausbilder vorbereiten«, widersprach meine Mutter mir. Ich horchte auf.

»Wen werde ich ausbilden und zu was?« Ich wollte alles erfahren.

Da ich erst neunzehn Jahre alt war und erst im Winter zwanzig wurde, hatte ich nicht viel Erfahrung in meiner Aufgabe sammeln können.

»Du wirst die Vry ausbilden, wenn sie zu uns kommt. Ebenfalls als Botin. Du wirst das weitergeben, was James dich gelehrt hat.«

»Ich werde mein Bestes geben«, versprach ich beiden und sprang die Treppe hinauf. Wenigstens würden meine Eltern mir ein wenig Verantwortung übertragen.

Faith

Am nächsten Morgen wurde ich von Sonnenstrahlen geweckt, die durch mein Fenster drangen. Gemächlich setzte ich mich auf. Im Morgenlicht erstrahlte das große Zimmer in einem neuen Glanz. Die Sonne wurde von sämtlichen Gegenständen reflektiert, sodass das Zimmer voller bunter Farben strahlte.

Ich stellte mich vor das Fenster und nahm mir ein Moment Zeit um die Sonne in mein Gesicht scheinen zulassen. Die angenehme Wärme breitete sich auf meiner Haut aus und zeichnete mir ein Lächeln ins Gesicht. Für einige Zeit bewegte ich mich nicht vom Fleck. Das Sonnenlicht spülte alle Sorgen weg und hinterließ eine strahlende Freude in meinem Herzen.

Langsam wandte ich mich ab, doch mit einem Blick auf die Wanduhr schoss das besorgte Gefühl wieder zurück in meinen Bauch.

Um zehn Uhr fanden sich alle Neulinge auf dem Lier, ein großer Versammlungsplatz, ein und betraten mit ihrem Ikati einen neuen Teil ihres Lebens. Zuerst kam ich, würde meine Entscheidung verkünden und von ihnen aufgenommen werden. Ich war bereit für diese Entscheidung, war bereit, mich dem zu stellen, was mich in dieser Gesellschaft erwartete, war bereit für einen neuen Abschnitt meines Lebens. Von nun an hatte ich mein Leben selbst in der Hand, war fähig, meine eigenen Entscheidungen zutreffen.

Somit hatte ich genau eine Stunde Zeit, um mich darauf vorzubereiten. Mein Blick wanderte zu einem mit Speisen gedeckten Tisch. Schon nach einem Brötchen fühlte es sich an, als wenn mir ein schwerer Stein im Magen lag.

Um halb zehn machte ich mich langsam auf den Weg nach unten. Vor der Tür erwartete mich eine gähnende Leere. Doch als ich um die Ecke lugte, sah ich Eve an der Hauswand lehnen.

»Wartest du schon lange?«, fragte ich ihn.

»Nein, ich bin gerade erst gekommen«, erklärte er mir.

Die Straßen, durch die wir liefen, waren verlassen und still, doch je näher wir uns dem Lier kamen, desto mehr Geräusche ertönten.

Endlich erreichten wir den riesigen Platz, der sich über ein breites Gelände erstreckte. An einem Ende der Fläche war ein großes, Podest aus Holz aufgebaut, auf welchem ein Mikrofon stand. Rund um dieses Podium waren kleinere Podeste mit Stühlen bestückt. Für jedes der Ikatis gab es eins. Sie waren mit steinernen Skulpturen der Raubkatzen gekennzeichnet, die in der Mitte der Podeste standen.

Ich wurde von der Menge der Leute, die sich auf dem Lier versammelt haben, erschlagen. So viele Menschen an einem Ort hatte ich noch nie gesehen. Alle redeten ausgelassen miteinander, doch man bemerkte trotzdem, dass die einzelnen Ikatis unter sich blieben. Zusammen mit Eve schlängelte ich mich durch die Menge nach vorne, wobei ich immer wieder anderen Leuten auf die Füße trat und ich mich verlegen entschuldigte.

Vorn angekommen überfielen mich zwei Gestalten von hinten. Erst zuckte ich erschrocken zusammen, realisierte dann, dass es Ivy und Skye waren. Ich drehte mich um und schaute in zwei glückliche Gesichter. »Und? Wie war es in deinem Apartment?« Skye deutete eine Verbeugung an.

Ich verpasste ihr einen tätschelnden Schlag auf die Schulter. »Ich habe mir das sicher nicht ausgesucht, dorthin bugsiert zu werden.«, erwiderte ich empört.

Eve unterbrach unser Wiedersehen. »Du wirst erwartet.« Ich verabschiedete mich schnell von meinen besten Freunden und folgte ihm dann nach vorn, zum Anfang der langen Reihe von Neulingen. Ich schaute an mir herab und stellte fest, dass ich schon keine festliche Kleidung trug.

Aus allen Ecken erklungen Fanfaren. Tiefe Trommeln und helle Flöten stimmten in die beruhigende Musik ein. Nach und nach schritten die Anführer in prächtigen Gewändern auf ihr jeweiliges Podest. Es brach ein johlender Applaus aus. Ich fiel in das Jubeln ein.

Als die Jubelschreie langsam verebbten, trat der blond haarige Anführer der Löwen nach vorn und blieb vor dem Mikrofon stehen.

»Ich begrüße alle, die sich heute zu diesem besonderen Tag hier eingefunden haben. Wie ihr alle wissen solltet, bekommen heute alle Ikatis, Neulinge, die es auszubilden gilt. Doch zuerst dürfen wir eine außerordentliche Person in unserer Mitte begrüßen, die ihr Ikati wählen darf. Komm hoch zu mir, Faith.«

Ich ging ein paar Schritte voran und bemerkte, dass mich alle mit großen Augen anstarrten. Fast wäre ich über die erste Treppenstufe des Podests gestolpert. Mit den Armen in der Luft fuchtelnd fing ich mich ab, bevor ich fiel. So anmutig wie nur möglich ging ich den Rest der Treppe hinauf, auf Leonardo zu.

Er beugte sich zu mir und flüstert mir zu: »Du wirst jetzt wählen, dann stellst du dich zu dem jeweiligen Anführer.«

Ich nickte ihm zu und trat selbstbewusst vor das Mikro.

»Hallo«, brachte ich mit einem Zittern in der Stimme hervor. »Ich bin eine Vry und habe die Ehre mein Ikati selbst zu wählen. Ich habe lange nachgedacht, um eine solch große Entscheidung zu treffen. Ich werde ein Ikati wählen, von dem ich überzeugt bin, dass ich mich dort wohlfühlen werde.« Ich machte eine Pause. »Ich fühle mich geehrt, mich für die Geparden entscheiden zu können.«

Jetzt war es raus. Ich hatte gewählt. Eine Wahl für mein Leben.

Ein warmes und wohliges Gefühl breitete sich in mir aus. Mit einem Lächeln tänzelte ich zu Lore, der Anführerin meines neuen Ikatis. Sie empfing mich mit einer herzlichen Umarmung und von diesem Augenblick an, war ich mir sicher, ich würde mich wohlfühlen und mir würde es gut gehen.

Sie deutete auf einen Stuhl in der ersten Reihe. Ich setzte mich und versuchte tief ein und aus zu atmen.

Nach und nach füllten sich die Stühle neben mir und auf den Podesten der anderen Ikatis. Als alle ihr neues Ikati gefunden hatten, trat Eve vor das Mikro,

»Wir sind am Ende dieser bedeutsamen Veranstaltung angelangt. Wie es bei diesem Ereignis üblich ist, wird nun das Manifest vorgetragen.«

Keiner von den Anwesenden schien in geringster Weise verwundert zu sein. Ein paar Neue machten ein Gesicht, als wüssten sie nicht, was sie machen sollten. Genauso wie ich versuchten sie ihre Überraschung zu verbergen, doch als ein Chor von Stimmen ertönte, die das Manifest aufsagten, stupste mich meine neue Anführerin an und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Passend zu den Lauten der Wörter bewegte ich meinen Mund, damit ich nicht auffiel.

Das Manifest erzählte von einer längst vergangenen Zeit, in der wir alle zusammen an einem wunderschönen Ort lebten. Die Geschichte, in der wir hier gelandet waren, wurde ausgelassen, bis die Werte unserer Gesellschaft aufgezählt wurden. Auf ein friedliches Zusammenleben. Zum Ende dieses Spruchs standen alle auf und verbeugten sich.

Nach und nach verließen alle Ikatis gruppenweise den Lier. Wir fingen an zu traben. Zwischen den vielen, hohen Häusern verlor ich kurz hinter dem Lier die Orientierung.

Ivy und Skye schlossen zu mir auf und klopften mir anerkennend auf die Schulter. »Du hast gar nicht gezittert. Zumindest hat man es dir nicht angemerkt«, keuchte Ivy mit einem Arm in der Hüfte. Ich nickte ihr lächelnd zu, denn das Sprechen fiel mir unter dem Tempo schwer.

Am Rand der Stadt lief die Gruppe auf einen Tunnel zu. Er war gerade einmal so hoch, dass ein Mensch darin aufrecht stehen konnte. Es bildete sich eine lange Schlange, sodass ich endlich etwas Zeit zum Verschnaufen hatte. Ein großes Wappen ragte über dem Tunnel empor, auf dem ein Gepardenkopf abgebildet war.

Im Tunnel war es dämmerig. Abflussrohre hingen an den Wänden, welche einen Geruch von Abfall abgaben. Nach nicht weniger als zehn Minuten erschienen am Horizont meines Blickfeldes kleine Lichtstrahlen. Die Tunnelwände verschwanden und eine weite Graslandschaft breitete sich dahinter aus. Eine leichte Brise streifte über