Wach - Albrecht Selge - E-Book

Wach E-Book

Albrecht Selge

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Beschreibung

Er kann nicht mehr schlafen, muss immerzu gehen: abends, nachts, immer länger, immer weiter. August Kreutzer sucht Erleb­nisse, sammelt Bilder und die dahinter verborgenen Geschichten – in heruntergekommenen Laden­zeilen, in Eckkneipen, auf Fried­höfen und auf dem Weg zur riesigen Mall, wo er arbeitet. Dort, in einer künst­lichen Welt ohne schlechtes Wetter, kreiert er Einkaufserlebnisse. Ruhe findet er nur bei Manja, der Crêpe-Ver­käuferin, die ihm Süßes serviert und Geschichten aus ihrem Leben. So vergeht der Sommer zwischen immer längeren Streunereien und der zehrenden Routine des Tags, in bleierner Müdigkeit, die zugleich die Sinne schärft: August sieht sich verfolgt von einem Doppelgänger, der unter seinem Namen obszöne Einträge im Internet verbreitet; und er wird sich selbst verdächtig. Zwischen Tag und Traum, Stadtrand und Hochglanzvierteln entspinnt sich ein heutiges Leben, das vibriert vor vergangenen und verborgenen Möglichkeiten. «Wach» zeichnet ein Bild unserer Zeit, vielfarbig, klar und fein durchzogen von den Fäden viel älterer Geschichten.

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Seitenzahl: 272

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Albrecht Selge

Wach

Roman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

für Ositha ...Ach, erinnert sich ...Pit pumpt, Salome ...
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für Ositha

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Ach, erinnert sich August, hört die beiden Mädchen das Wörtchen flüstern, wieder und wieder, als wollten sie es wiegen. Es verträgt sich nicht mit der schweren Luft im Schandfleck, mit Zigarettenqualm und Stimmengewirr, die August in sich eindringen spürt. An seinem Tisch quetscht sich der Stammgast vorbei, ein ausgemergelter Alter mit Schlapphut und hängendem Auge, im Gefolge sein auf drei Beinen hinkender Hund. August sieht ihnen nach, der Hund schlängelt sich geschickt um die Bierpfützen, die sein Herr in schweren Stiefeln achtlos durchwatet hat. Hier Nix Latte macchiato, steht an die Wand geschrieben, auf den Tischen liegen Flugzettel, die Stimmen der Gäste gehen durcheinander, sie haben den Raum für sich, an sechs Tagen läuft hier krachende Musik, bis Mittwochmitternacht, am siebten Tag, dem Stillen Donnerstag, bleibt die Anlage aus. August tastet in der Innentasche seines Jacketts nach der Krawatte, die er versteckt hat, zwei Hemdknöpfe sind geöffnet, so fällt er weniger auf; seine Schuhe sind staubig, er ist nach der Arbeit stundenlang herumgelaufen, bevor der Regenguss kam und er, fast zu Hause, hier gelandet ist. Der Schandfleck hat sich im verfallenen Haus eingenistet, hinter Bröckelputz und dichtem Efeu: die letzte Bruchbude in der frisch herausgeputzten Straße, eine rissige Elefantenhaut in einer langen Reihe von pastellfarbenen Fassaden. Susanne hasst den Schandfleck, selbst der Efeu ist hier schäbig und halb tot, hat sie einmal gesagt, achte auf seine kranke Farbe, vielleicht ist er vergiftet vom Ost- oder Vorkriegsputz, in dem er noch wurzelt, oder vom Qualm, der rausdringt, und drin erst mal, das Pack, die Köter, wie kannst du nur. Susanne hat eine Abneigung gegen alles, was übrig geblieben und nicht erneuert ist; du denn etwa nicht, hat sie ihn einmal gefragt, hast du lieber Parkett in der Wohnung oder Ratten? Parkett. August hat gehofft, er würde sich wohlfühlen im Schandfleck, wo Zeit und Luft stillstehen. Aber jetzt findet er, hier zu sein ist nur verlockend, solang man nicht hier ist, der Stillstand ist bloß stickig, er fühlt sich bedrängt von Gerede und Rauch. Er würde gern was mit sich machen, sich schwerelos vielleicht, oder wenigstens den Kopf leer; da plötzlich eine Erinnerung

 

an eine Reise im vergangenen Winter: statt Rauch Schwaden von nächtlichem Nebel, dunkelweiße Wiesen, ins Schwarze abfallend, Landschaft unter Schnee, gegen alle Geräusche gepolstert, erleuchtete Fenster wie im Raum schwebende Vierecke. Im Gasthaus angekommen, zogen die Eltern sich auf ihre Zimmer zurück. August und seine Schwester gingen in die Stube, wo nur noch wenige Leute saßen, ein Fenster stand schon offen, Winternebel und Tabakrauch hingen in der Luft, ohne sich zu vermischen, der Rauch auf dem Nebel wie Öl auf Wasser. Der Wirt, Schnurrbart und Fransen im Nacken, brachte ihnen zwei Gläser Bier und ein drittes für sich und setzte sich zu ihnen. Er sei gern, hatte seine Frau morgens beim Frühstück erzählt, etwas zu gern, hatte mitgeklungen, sein eigener Gast. Natürlich, legte er gleich los, kenne er die Tante, die heute neunzig werde, oder gestern neunzig geworden sei, müsse man ja jetzt schon sagen, wie er alle hier kenne, das Dorf sei nicht groß, der Odenwald sei insgesamt nicht groß, nicht so groß wie die Stadt jedenfalls, zumindest was die Zahl der Menschen angehe, denn in der Stadt seien die Menschen zwar dichter beieinander als auf dem Land, aber gleichzeitig weiter voneinander weg. Sie sprachen über Familienfeiern, über Festlichkeiten und Trauerfälle; Feiern und Trauern sind wie Yin und Yang oder das Plus und Minus einer Batterie, sagte der Wirt und fuhr mit der Handfläche übers Bierglas, und alles hängt mit der Zeit zusammen. Ich hatte einen Schulfreund, der war auch so ein Fall, der mit der Zeit zusammenhing. Hier im Odenwald sind die Straßen nachts kohlrabenschwarz, und mein Schulfreund ist gegen einen Baum gefahren. Das Auto war eine einzige Sauerei, man konnte ihn mit letzter Mühe rausschälen, aber niemand gab ihm den Hauch einer Chance, ins Krankenhaus brachten sie ihn nur, weil man das eben so macht. Und was keiner erwartete: Die Ärzte haben ihm das Leben gerettet. Er hat sich erholt und alles wieder neu gelernt, laufen, sprechen, schließlich hat er sogar wieder angefangen zu schreinern, was, das stellt ihr aus der Stadt euch nicht vor, keine einfache Arbeit ist. Das heißt, so ganz der Alte ist er eben doch nicht wieder geworden, er hat sich immer bewegt, als ob er bloß wen nachmachen würde, und alles, was er gemacht hat, hat er gemacht wie unter Vorbehalt. Aber er war wieder zurück in seinem alten Leben, bei der Frau, den Kindern, den Freunden, saß am Abend auch oft hier im Gasthaus. Bis er eines Tages vom Dach gefallen ist. Er wollte eine schadhafte Stelle ausbessern und ist dabei gestolpert, ein kleiner Fehltritt, aber leider kopfüber, er hat sich den Hals gebrochen. Man sollte nun meinen, und das ist ja auch das Wahrscheinlichste, dass er nach seinem Unfall eben doch nicht ganz wiederhergestellt war, an seiner Langsamkeit hatte man es ja sehen können, irgendwo im Gehirn war ein klitzekleiner Schaden geblieben oder zwei Synapsen schlecht verlötet oder was, und da hat es eben nicht schnell genug geschaltet, und er ist vom Dach gefallen. Aber genauso muss einem doch der Verdacht kommen, auch wenn er sicher nicht zutrifft, aber doch der Verdacht, dass der Fehler nicht darin bestanden hat, dass er vom Dach gestürzt ist, sondern dass der eigentliche Fehler schon vorher passiert war, als er aus dem Autowrack noch einmal lebendig rausgekommen ist, denn seine Zeit war abgelaufen, nur durch ein Versehen bekam er eine Zusatzfrist, bis der Fehler nach einer Weile behoben worden ist und er doch seinen Weg hat gehen müssen.

 

Über diese Geschichte ist August immer noch unsicher. Was für eine fadenscheinige Story, hat, als sie auf ihre Zimmer hochgingen, seine Schwester geflüstert, erinnert er sich, und leise nachgeschoben: Und die Fäden hat der Wirt in der Hand, nicht die Parzen, mein Junge, wenn du diese Geschichte schluckst, dann schluckst du eine Parze mit Rotzbremse und Nackenspoiler. Der Stammgast hängt am Tresen, er ist jünger, als man denkt, nur ist er vertrocknet, braun wie der Efeu vor der Tür; der Dreibeinige liegt schlafend auf dem Boden. Zur Tür herein kommt ein Mann im nassen Sommermantel, er steht unschlüssig da, guckt sich im Raum um, dann geht er wieder hinaus. August blickt ihm durchs schlierige Fenster nach, der Mann (wirkt verwirrt) geht nach rechts, taucht gleich wieder auf, umkurvt eine kleine Pfütze (wie eckig er sich bewegt, anders als der amputierte Hund), geht ab nach links. Der Regen hat aufgehört, es ist wieder warm, drüben vorm Weinladen wird degustiert, im milden Licht von Gründerzeitlaternen liegt der vergitterte Eingang der historischen Markthalle, jetzt Qualitätssupermarkt.

Halb gibt August seiner Schwester recht, halb nicht; nur hat er, falls er die Geschichte nicht abtun will, keine Ahnung, was er mit ihr anfangen soll. Hier im Schandfleck fühlt er sich von irgendeiner Ahnung weiter entfernt denn je. Wenn man den Kopf einmal ganz frei von allem machen könnte, für einen Moment nur, alle Schubladen der Erinnerung fest zugeschoben, nichts denken und nichts wahrnehmen, abgeschottet von allen Eindrücken: ein leeres Gefäß sein. Er schließt die Augen und versucht, sich herauszuheben aus dem Raum, der ihn umgibt, aus Gerüchen und Geräuschen. Aber das Gegenteil passiert: Indem er über das Gemurmel hinweghören will, hört er erst hinein, oder es fließt in ihn wie in einen offenen Behälter, im zuvor formlosen Lärm bilden sich Wörter, Satzfetzen, es zieht ihn in die Gespräche der Tischnachbarn: am Samstag meine ganze Wohnung geputzt einen halben Tag lang eigentlich mal wieder was von Theresa gehört scheitert alle Diskurstheorie halb zwei angefangen und bis elf weitergeputzt so nötig war’s was vermag Podiumsdiskussionsphilosophie gegen Private Equity et alii früher war Theresa öfter hier aber seit sie rübergezogen und immer wieder die Machtfrage Märtyrerposen und nichts als die Machtfrage Morrisseys abgenutzte Märtyrerposen saurer Wein Hedgefonds Investmentfonds der Wein im Schandfleck war immer schon sauer seine Zölibatposen ausschwärmende Heuschrecken war so eine Besonderheit von Theresa ein totes Pferd oder ausgekauter Kaugummi dagegen Barthes! denn ein Pasolini ist und wird Morrissey nicht sein nichts Befreienderes als einen halben Tag zu putzen bis zum Umkippen das Scheißbezirksamt Theresa, und schließlich bimmelt hinter Augusts Rücken ein Handy, Präludium C-Dur, und August bemerkt, dass er schon die ganze Zeit den Aschenbecher auf der Tischplatte hin und her schiebt, voll kalter Asche, nicht von ihm, und er wünscht sich wüstes Getöse oder vollkommene Stille, steht auf und geht hinaus in die – wenn man aus dem Schandfleck kommt –

 

stille Mainacht. Nur August trägt seinen Staub in die saubere Luft, aber er geht schon leichter. Auf einer Seite das Haus, in dem er wohnt, etwas weiter mündet die Straße in die große Verkehrsader, wo die Trams abfahren; auf der anderen Seite führt sie zum Fluss mit dem neuen Uferweg, Spazierstrecke der Anwohner, von denen vor zwanzig Jahren noch keiner hier gewohnt hat; ihre Wagen parken vor Weinladen, Kaffee-Rösterei, Pasticceria, Schokoladengeschäft. August geht weder rechts noch links, sondern auf ungefähr, in kleine Seitenstraßen und auf Umwege; obwohl es schon spät ist, will er noch etwas gehen, seit einiger Zeit hat er ein immer stärkeres Bedürfnis rumzugehen. In den Mittagspausen begleitet er nur noch selten die Kollegen zu den Lokalen im Untergeschoss, oft verlässt er das Center und streift durch die umliegenden Straßen. Und in den letzten Tagen und Wochen geht er auch abends, nach der Arbeit, immer öfter und immer länger rum, spaziert durch zufällige Straßen, auf unerwarteten Wegen, über absichtslose Grundstücke. Am liebsten geht er in die Richtungen, wo die Pastellfarben verschwinden und die Häuser grau und die Gehwege uneben und löchrig werden. Er geht jetzt so viel rum, spekuliert er, weil Susanne nicht mehr in der Stadt ist und er deshalb abends nicht mehr zu ihr oder mit ihr ausgeht, oder er geht, weil der Sommer beginnt und er sich im LustschlösschenCenter unwohl fühlt, oder aber er fühlt sich dort unwohl, weil er geht; rumgehen ist für ihn kein Mittel zur Ablenkung, sondern ein ablenkender Zweck, ein Zweck für sich, der mit jedem Schritt klarer und einleuchtender wird. Und was hat es mit seiner Schlaflosigkeit auf sich? Wer weiß, wenn er nachts rumgeht, statt zu schlafen, geht er vielleicht nicht bloß deshalb, weil er nicht schlafen kann, sondern weil er gar nicht schlafen will: Sein Gehen wäre dann keine Flucht vor der Schlaflosigkeit, sondern vor dem Schlaf, den er zunehmend fürchtet, diesen Zwillingsbruder, er will sein Bewusstsein an keiner Pforte abgeben und in niemands, den er nicht kennt, Stirnflügel oder Mohnstängelhände geraten, in keinem Füllhorn der Stille versinken; er will wach sein, schauen, nachdenken: rumgehen.

Das Wasser aus dem Wolkenbruch ist überall verdunstet, als hätte es gar nicht geregnet, aber die Luft ist noch spürbar frei von Pollen, August atmet tief ein. Hunger spürt er kaum mehr. In den nächsten Tagen soll es heiß und trocken werden. Er will zu einem nahen Park gehen, dort wird es noch Feuchtigkeit geben. Eine Zeit lang trifft er keinen Menschen, nur ein großer Leiterwagen mit Tageszeitungen steht vor einer offenen Haustür, aus der Licht fällt. Dann belebt es sich, August kommt auf eine Kneipenstraße, Touristen und Nachtschwärmer füllen die Leere, sie erhellen die dunkle Stadt, Fußgänger in lachenden Gruppen, untergehakte Mädchen, ein Nachtbus steht an der Ampel, zwischen jungen Leuten sitzt eine ältere Frau, den Blick auf die Lehne vor sich gerichtet, traurig oder bloß müde: Während die anderen nach Hause oder auf die nächste Party fahren, ist sie vielleicht auf dem Weg zu einer Arbeit vor der Morgendämmerung, wird ein noch schlafendes Büro putzen oder eine eben leer gewordene Diskothek.

Etwas abseits erreicht August den Park. Ein Bauzaun versperrt den Zugang zur Hauptallee, jetzt wird auch dieser Park erneuert. August bleibt draußen auf dem ungepflasterten Weg zwischen Park und Straße. Hier und da sind noch Pfützen, und unter Augusts Füßen liegt eine klebrige weiße Decke, festgeklatschte Pollen, wie eine matschige Schneedecke, Schnee im Vorsommer, und wie im Winter riecht August in den Schnee hinein, aber er riecht nicht nach Schnee, er hört hinein, aber er klingt nicht nach Schnee, kein Wunder, er taut ja schon und dämpft kein Geräusch mehr. Auf der Pollendecke bilden die Pfützen ihre Formen, zwischen Kuhlen sind Wasserketten entstanden, dann eine Miniatur von Binnenmeer, zum Gebüsch hin ein abschüssiger Landstrich, der schon wieder ganz trocken ist. Beim Hinabschauen bemerkt August an seiner Hosennaht einen heraushängenden Faden, er wickelt ihn um den Zeigefinger und reißt ihn ab. Als er ihn wegwerfen will, sieht er, dass der im Abfallkorb hängende Müllsack halbhoch mit Regenwasser gefüllt ist. Er legt den Faden auf die Wasseroberfläche und fragt sich, wie schnell er wohl untergehen wird. So ins Wasser vertieft, hört er hinter sich leise Schritte, gleichmäßiges Atmen, das reißt ihn raus, wie einer, der Abfälle durchstöbert, will er nicht wirken. Er schlendert weiter und lässt den Läufer an sich herankommen; er kennt den älteren Mann im weißen Trainingsanzug schon, das Wort Jogger scheint unpassend für ihn, besser wäre Dauerläufer; dieser Dauerläufer läuft nachts am Parkrand entlang, eine vertraute Begegnung für alle, die manchmal zur selben Zeit unterwegs sind. Warum läuft er in der Nacht? Läuft er nach spätem Feierabend (ein Kellner, ein Busfahrer)? Vor frühem Arbeitsbeginn (Bäcker, Arbeiter)? Oder ist er ein nachtsüchtiger Rentner? Als August überholt wird, beschließt er, sich Ort und Zeit einzuprägen. Am Wegrand steht ein Briefkasten, auf den jemand geschrieben hat:

Augusts Armbanduhr zeigt zwei Uhr achtunddreißig; demnächst will er noch einmal kommen und überprüfen, ob der Dauerläufer wieder um zwei Uhr achtunddreißig an diesem Briefkasten vorbeiläuft. August sieht ihm nach, die Bewegung des Läufers wirkt so gleichmäßig, als liefe er nicht nur nachts, sondern in einem fort, rund um die Uhr in einer einzigen gleichförmigen Bewegung. So, denkt August, würde auch er gern gehen; aber nur vielleicht; vielleicht möchte er auch anders gehen, rum: stehen bleiben und schauen zwischendurch – aber dabei doch in vollkommenem, nie unterbrochenem Gehen: wenn das ginge.

Der Dauerläufer biegt ab, sodass er weiter am Rand des Parks entlanglaufen kann. Als August zur Ecke kommt, sieht er etwas entfernt einige Autos stehen, mit stumm kreisenden Blaulichtern; ein Polizist spannt rot-weißes Absperrband zwischen Bäumen, ein anderer hält eine Handvoll Schaulustiger zurück. August wundert sich, wie unverhohlen diese Leute glotzen, keiner verbirgt seine Neugier, sie kommen August wie Tiere vor, ihr Glotzen ein Fressen; er schaut ja auch gern, aber doch nicht so, er will kein Schaulustiger sein, deshalb betrachtet er lieber Pollen auf dem Boden, Fahrgäste in Bussen, Gekritzel auf Briefkästen. Der Dauerläufer hat die ganze Szenerie nicht beachtet, aber anders als August, makellos: Er ist auf die Fahrbahn ausgewichen und vorbeigelaufen, als kenne er keine Versuchung, schaulustig stehen zu bleiben.

Je näher August der Absperrung kommt, desto stärker wird der Geruch von feuchter Erde. Am Wegrand stehen reglose Bagger und Bauwagen, daneben sind Männer an einem Erdhügel zugange, im Licht eines Scheinwerfers räumen sie mit Schaufeln und Händen abgebrochene Äste und entwurzeltes Gebüsch beiseite. Da fällt August auf, was er gerade macht: Er hat die Glotzer angeglotzt, um sich über sie zu erheben, und tut es ihnen jetzt gleich. Er zieht sich weg von der Schaulust und geht nach Hause.

 

Die Stille der nächtlichen Wohnung: auf dem terrakottagefliesten Südbalkon Oliven- und Zitronenbäumchen in der Dunkelheit, Einbauküche mit Induktionsherd und Kaffeevollautomat, Bad mit Fußbodenheizung, ruhiges Schlafzimmer, großes Wohnzimmer. August inspiziert seine Räume: hochwertig saniert (wer mag hier vor der Erneuerung gelebt haben?), neues Klötzchenparkett, weiße Wände, etwas spärlich eingerichtet, wie dünnbesiedeltes Land: kratzerloses Ledersofa, Regal mit alphabetisch geordneten Büchern, kleiner Fernseher, große Musikanlage, sehr viele CDs, das Blüthner-Klavier mit eingestaubten Noten darauf (Chopin, Schubert, Debussy) und der angebrochenen Packung Baldriandragees, muffiger Geschmack, und nutzlos, wie all die guten Ratschläge: kein Alkohol mehr, stattdessen dunkle Schokolade, vor dem Zubettgehen Rooibos-Tee, warme Socken, onanieren; oder ein paar Schritte an der frischen Luft. Dieses Mittel ist ihm ausgeufert. Er ist schon immer spät zu Bett gegangen, zu Studentenzeiten hat er nachts stundenlang Musik gehört, Sonaten und Streichquartette von Beethoven und Schubert, Lieder von Strauss, Mahler, Berg, auch Bachkantaten, Ligeti, Zahlenstücke und Vogelgesänge von Messiaen; doch dann hat er, um seine Arbeitsfähigkeit besorgt, Susannes Rat aus London befolgt und ist am Abend um den Block gegangen, um besser einzuschlafen; bald hat er angefangen, morgens früher aufzustehen, um vor der Arbeit einen Spaziergang zu machen; die Gänge sind länger geworden und länger, erst abends, dann morgens, und die Zeit dazwischen immer kürzer.

Und jetzt? Musik hören, vier letzte Lieder? Freundlich die gestirnte Nacht wie ein müdes Kind empfangen … er sitzt auf der Ledercouch, die nackten Füße auf dem Parkett, auf dem Tischchen der Bildband Warenhäuser, die monatliche Rechnung der Putzfrau: den gesamten Betrag bis zum 31.05. auf unser Konto. Vielen Dank für Ihren Auftrag, wir sind weiterhin interessiert, Ihnen optimale Qualität in unserer Arbeit zu bieten, die jährliche Post vom Kinderdorf in Bangladesch (die Patenschaft hat er schon während des Studiums übernommen, später den Betrag erhöht, was sind drei achtundzwanzig am Tag). Er ist zu müde, um ins Bett zu gehen, er kann sich nicht vom Sofa erheben. Diese Trägheit befällt ihn hier immer wieder, kaum ist er durch die Tür getreten, werden seine Schritte schwer, will er die Beine heben, hängen sie am Boden fest, will er vom Sofa aufstehen, hängt er in bodenloser Tiefe. Er fühlt sich in seinen eigenen Wänden wie gelähmt, er glaubt, dass in seiner Wohnung die Schwerkraft stärker ist als draußen, vielleicht lebt er in einer Schwerkraftverstärkungswohnung. An der Wand flattert ein Insekt auf und ab, auch das Tier, kommt August vor, wird immer und immer wieder hinuntergezogen. Vor dem Fenster wird der Morgen sichtbar. Er könnte noch ein bisschen Musik hören; eigentlich sollte er sich unbedingt hinlegen, zwei Stunden schlafen, ehe er ins Büro geht (er wird heute die Bauleiterin vom Trevibrunnen treffen), wenigstens dösen, denkt er, etwas dösen, aber er bleibt im Sofa sitzen und betrachtet die Buchrücken im Regal:

Ein weißes Buch.

Ein blaues Buch.

Ein schwarzes Buch.

Ein blaues Buch. (Wieder ein blaues, tatsächlich.)

Ein weißes Buch.

Ein gelbes Buch.

Ein schwarzes Buch.

Ein rotes Buch.

Ein grünes Buch.

Ein grünes Buch.

Ein weißes Buch.

Ein gelbes Buch.

Ein hellblaues Buch.

Ein dunkelrotes Buch.

Ein weißliches Buch, leicht vergilbt.

Ein glänzend blaues Buch, strahlend gelbe Schrift.

Ein breitschultriges blaues Buch.

Eine Reihe gleicher Buchrücken in einer Kassette, sanft gewölbt, eine dunkelblaue Wellenreihe, je länger man sie ansieht, desto mehr ähnelt sie dem Meer am Abend, mit weißen Buchstaben wie mit Schaumkronen betupft, unmerkliche Abweichungen nur in der Strichlänge, sonst in ihrer Bewegung vollkommen gleichförmig; ein graues Buch, das über alle hinausragt, wie eine Laterne, auch sie kaum sichtbar in Bewegung, eine lange schwarze Reihe, einige mattweiße und graue Körper, ein purpurrot leuchtender ein Buch scheint zu schwitzen eins zu atmen eins vor Anspannung zu zittern

 

zu zittern

 

wie August gern einmal zittern würde. Er blinzelt und fühlt sich eingespannt in sein Leben, aber falsch, es zieht ihn nicht in alle Richtungen, er ist eher in die Erschlaffung vertäut wie auf ein Streckbett. Er möchte einmal zittern von Streckung, aber er ist mutlos vor den unsinnigen Ausdrücken und verkehrten Bildern, die ihm einfallen, wenn er an sein Leben denkt. Nun hat er eben die Bücher angestarrt, und jetzt ist das vorbei, und er wünscht sich, es ginge einmal anders; aber bliebe jeder Augenblick des Lebens stehen, müsste man wahnsinnig werden, der Kopf zerspränge in tausend Scherben, oder er würde vom Fortschrittsunterdruck implodieren wie eine Backpflaume oder kosmische Schildkröte, denn ein Moment könnte ja nur ewig bleiben, wenn man selbst ewig unverändert bliebe: Das wäre das Ende. Und doch kommt es August wie eine Art Grundwunder oder Grundübel vor und zutiefst unglaubwürdig, dass das Leben überhaupt anders sein kann als gleichzeitig.

Vielleicht aus diesem Grund sucht August in letzter Zeit nach möglichen Erlebnissen. Bei der Arbeit hält er manchmal heimlich den Atem an. Einmal hat er es geschafft, im Büro, umgeben von Kollegen und Topfpflanzen, aus seinem Innersten einen Anflug von Erstickungsangst aufsteigen zu spüren, das war schön. Jetzt legt er sich bäuchlings aufs Sofa und dreht den Kopf zur Seite, presst das Gesicht in die Lehne und das Ohr in die Sitzfläche, die Haut klebt am Leder, und wie er da liegt, spürt er sein Herz pochen. Die Unregelmäßigkeit erschreckt ihn, kann das vom Schlafmangel kommen? Aber noch mehr staunt er darüber, dass sein Herz all die Jahre weiter und immer weiter geschlagen hat, unbeachtet, und ohne dass man es je hätte anstoßen müssen. Er rappelt sich auf, stellt sich ans Fenster, geht dann, statt es zu öffnen, zum Thermostat und dreht am Knöpfchen, erst auf Innentemperatur, dann auf Außentemperatur, und was für ein Zufall, zweimal steht 23.3 °C da, seltene Harmonie von innen und außen, worauf weist das hin?

Er isst eine halbe Banane, duscht, zieht frische Wäsche an und ein sauberes Hemd, bürstet sorgfältig seinen Anzug. Obwohl es noch früh ist, macht er sich auf den Weg zur Arbeit. Als er die Wohnungstür hinter sich zuzieht, erinnert er sich an zwei Erlebnisse aus den vergangenen Wochen; immer an der Wohnungstür fallen ihm diese beiden Vorfälle ein, immer gemeinsam oder wenigstens dicht beieinander, sodass auch der erste, der sich nicht in der Wohnung zutrug, sondern unter freiem Himmel, mit der Tür verbunden ist: August spaziert gern auf Friedhöfen, zwischen den Bäumen horcht er Vogelstimmen nach, oder er geht zwischen alten Grabsteinen und frischen Erdhügeln umher und liest Namen und Daten. Am meisten interessieren ihn die Gräber, an denen etwas nicht stimmt. Nichts ist natürlich so falsch wie das Grab eines Kindes; August rechnet manchmal nach, wie alt das Kind heute wäre, vielleicht am Grab eines Jungen, der jetzt, wie er, Mitte dreißig wäre, wäre nicht mit fünf schon alles abgebrochen. Aber es gibt auch die rätselhaften Unstimmigkeiten, Spuren veränderter oder fehlgeschlagener Lebenspläne: etwa wenn auf einem Grabstein neben dem Namen des Toten noch ein zweiter steht, ein Frauenname, nur mit Geburtsdatum, ein Tag 1870 oder 80, und darunter ein Kreuz, wo das Sterbedatum hätte stehen sollen – aber da steht nichts, nur der Tag der Geburt, ein Anfang ohne Ende, dabei kann die Frau nicht mehr leben, sie muss also irgendwo anders liegen, was mag da passiert sein? Liegt sie bei einem anderen, späte Liebe, oder ist sie in einem Keller verschüttet worden, hat sie sich irgendwo in die Welt oder Luft aufgelöst? Das Grab, an das er sich an der Tür erinnert, war nicht so auffällig, im Gegenteil, diese Frau hatte ein ordentliches Alter, als sie in den zwanziger Jahren starb. Auf der schmiedeeisernen Tafel, umrahmt von verrosteten Blätterranken, stand:

Wer treu gewirkt,

Bis ihm die Kraft gebricht,

Und liebend stirbt,

Ach, den vergißt man nicht.

Vor dem Grab standen zwei Mädchen, mit Zahnspangen und schwarzblätterndem Nagellack, in ihrem Flüstern und noch in ihrem halb unterdrückten Lachen lag Respekt vor dem Ort. Aber der Drang zu lachen war stärker: Besonders das gewirkt hatte es den beiden Mädchen angetan, die eine wisperte es vor, treu gewirkt, und die andere hauchte: Ach, und wieder mussten sie lachen.

Das zweite Erlebnis hängt dagegen direkt mit der Wohnungstür zusammen. Sie schließt nicht leicht, man muss sie kräftig zudrücken, damit das Schloss einschnappt. Als August an einem Morgen die Tür öffnete, um zur Arbeit zu gehen, merkte er, dass sie nicht eingerastet war. Offenbar war sie die ganze Nacht, während er geschlafen hatte, unverschlossen gewesen. Vom Treppenhaus aus war das wohl nicht zu sehen, aber wenn jemand leicht gedrückt hätte, wäre die Tür aufgegangen. Eine schöne, sanfte Bewegung müsste das sein, dieses vorsichtige Aufdrücken; August zieht die Tür langsam zu, sodass sie nicht einschnappt, und drückt sie wieder auf, aber er drückt immer zu zaghaft oder zu fest, es gelingt ihm nie wie in der Vorstellung, wenn er in der Wirklichkeit die Wohnung verlässt und sich auf den Weg zur Arbeit macht.

 

Den einen Tag nimmt er die Straßenbahn. Menschen auf dem Arbeitsweg: das Gegenteil von rumgehen, der möglichst kurze und notwendig üble Weg von A nach O. August versucht, ihn zu verdrehen, indem er Fahrgäste beobachtet oder zum Fenster hinausschaut. Unterwegs kommt die Tram an einem Altersheim vorbei, einem großen Haus mit Garten, von Fahrt zu Fahrt hat August sich ein Bild zusammengesetzt: im Glasvorbau ein Gummibaum mit hängenden breiten Blättern, eingestaubt wahrscheinlich, und neben der Pflanze, den Raum bis auf einen schmalen Durchgang ausfüllend, ein Korbstuhl mit einer bewegungslosen alten Frau; auch im Sommer eine Wolldecke auf den Beinen, sitzt sie immer schon da und schaut auf die Straße, mit keiner Regung verratend, ob sie etwas wahrnimmt. Sie ist in ihrem Rumsitzen von morgens an der Welt abhandengekommen. Wird sie außer August noch jemandem fehlen, wenn sie ganz verschwunden sein wird? Nur aus Versehen noch in der Zeit, für die sie und die für sie keine Verwendung mehr hat, ist sie reine Vergangenheit; oder schon ganz aufgegangen im Wird-gewesen-sein, vollendete Zukunft. Im Deutschen muss man sich die Wörter zusammenkleben, das Lateinische hatte eine echte Form dafür, das muss einen Grund haben. Er war nicht gut in Latein, ihm haben Begabung und tieferes Interesse gefehlt, im Gegensatz zu seiner Schwester, die schon als Teenager mit Gespenstern gesprochen und sich in alte Überlieferungen hineingewühlt, später alte Sprachen studiert hat und heute befristet angestellt ist in der Vergangenheit, in einer Universitätsstadt, bedrängt von Papierkram, Sprechstunden, Betriebsrauschen. August dagegen: Betriebswirtschaft abgespult, nur gelegentlich eine Vorlesung der Kunstgeschichte oder Musikwissenschaft, alles in allem vielleicht ein Semester Verzögerung, sechs Monate Musik sind vertretbare null Komma sieben Prozent eines durchschnittlich langen Lebens, außerdem hat er in einer Mahlervorlesung Susanne kennengelernt (in einer Mahlervorlesung eine BWL-Kommilitonin kennenzulernen); dann war er noch ein halbes Jahr in Aix, daran denkt er gern, auch wenn er für sein Französisch kaum Verwendung hat, und in Aix hat er, Susanne hat das unterstützt, nach krisenresistenten Branchen Ausschau gehalten, dann entsprechende Praktika, später Center-Manager-Akademie, zwei Jahre bei einem kleinen Center, und schließlich, schon in der Bauphase, zum LustschlösschenCenter.

Während die Straßenbahn an einer Ampel wartet, guckt er sich im Wagen um. Ein Schuljunge steht eingeklemmt zwischen den Hüften der Fahrgäste. Ein weitsichtiger Linkshänder macht Unterstreichungen in einem Manuskript. Der Mann vor August liest die Angebote in einer Zeitungsbeilage, unten das Logo: LustschlösschenCenter – Bequemheit erleben. August schaut zum Fenster hinaus. Aus einer Haustür treten ein Kleinkind im rosa Kleid und eine Frau. Die Frau guckt prüfend zum Himmel, holt ein Hütchen hervor und setzt es dem Kind auf den Kopf. Sofort reißt das Kind das Hütchen vom Kopf und wirft es auf den Boden. Die Mutter bückt sich und setzt es dem Kind wieder auf. Diesmal nimmt das Kind es hin; dafür breitet es die Arme aus, wirft sich der Mutter mit Wucht in die Beine und hält sie umklammert. Die Mutter nimmt das Kind auf den Arm und trägt es fort.

Als die Bahn wieder losfährt, schaut August auf die Armbanduhr, die ihm sein Vater vor Jahren geschenkt hat; aber er ist ja ohnehin viel zu früh dran. Auch die junge Frau neben ihm sieht nach der Zeit, auf dem Display ihres Handys steht ein römisches Zifferblatt. An der Tür lehnt ein Südländer mit Dreitagebart und Künstlerhut, unter dem Jackett aus braunem Cord eine Weste, an der das goldene Kettchen einer Taschenuhr baumelt. Das gefällt August: die Zeit, wenn schon, statt ans Handgelenk zu binden, in die Tasche zu stecken. Während nur wenige Gedanken durch seinen Kopf gehuscht sind, ist er durch zahllose Straßenzüge gefahren, entlang an Mietskasernen, Plattenbauten, Gründerzeithäusern, an ewig sich wiederholenden Baulücken, Brachen, Erschließungsgeländen, schließlich, mit fernem Blick in die Fußgängerzone der Schlösschenfreiheit, vorbei an Müllhof und Multiplex – da hat sich das riesige silbrig graue Oval der Mall aller Aussichten bemächtigt, die Tramtüren öffnen sich, und August steigt aus.

 

Den andern Tag, in letzter Zeit immer häufiger, geht er zu Fuß. Die Morgen sind noch leicht, erst später wird es drückend. So kann August auf seinem langen Weg unbeschwert die Strecke umfärben, immer wieder, er macht sich ein Spiel daraus. Er gliedert den Weg nicht nach markanten Gebäuden und vielbefahrenen Kreuzungen, sondern orientiert sich an kleinen Knöpfen im Asphalt: in den Boden eingelassenen Plättchen, die wie ein dichtes Netz auf der Stadt liegen. Er geht, ohne aufzuschauen, von Punkt zu Punkt, die Plättchen liegen nah beieinander, es muss Abertausende geben, winzige oder etwas größere Kreise, selten auch Quadrate, aus Kupfer, Messing, Aluminium, in Fugen, Beton, zwischen Pflastersteinen, in versteckten Ecken und – noch verborgener – mitten auf der Fahrbahn, mal steht VERM.PUNKT darauf, mal MESSPUNKT, öfter sind sie von rosa Farbkreisen umgeben, aufgesprüht von Landvermessern, die gelegentlich von weitem zu sehen sind. Täuschungen kommen auch vor, zwischen Pflastersteinen festgetretene Kronkorken etwa oder Centmünzen. August hangelt sich von Messpunkt zu Messpunkt. Er stellt sich vor, eines Nachts gingen alle Lichter der Stadt aus, es gäbe keine Laternen mehr und keine hellen Fenster, keine Autoscheinwerfer und keine bunten Reklamen, und nun fingen all die Punkte im Boden zu leuchten an, ganz matt: Eine neue Stadt wäre geboren. Oder er überlegt, ob sich, durch Kälte, Hitze, Trockenheit, Nässe, der Asphalt der Fahrbahnen vielleicht ständig ein wenig verzieht und die Gehwegplatten immerzu leicht verschieben, um Bruchteile von Millimetern nur, und doch, die Vermessungspunkte würden mitwandern. Wenn nun die scheinbar starren Punkte tatsächlich wanderten, statt unbeweglich zu sein, was würde daraus für sein eigenes Leben folgen?

 

Der Wind, vorher kaum zu spüren, ist stärker geworden. Breit sitzt es auf Häuserblöcken, vom Morgen glänzt sein roter Bauch, zu seinen Füßen kniet die große Stadt. Niemand kommt zu Fuß zur Mall. Die Menschen werden in Trams und U-Bahnen gebracht und gelangen von der Haltestelle oder dem Bahnsteig ohne Umweg in die gläsernen Drehtüren; oder sie fahren auf breiten Rampen in die Unterwelt hinab, sieben Parkebenen in verschiedenen Farben, und von dort mit Aufzügen nach oben; denn statistisch, weiß August (obwohl er nie mit dem Auto kommt), ist die Tiefgaragenzufahrt der Haupteingang zur Mall.

Vor den verschlossenen Drehtüren wartet eine große Gruppe junger Männer, einige trinken Kaffee aus Pappbechern. Sie wollen zum Ankermieter Elektronik, heute kommt eine neue Spielkonsole auf den Markt. Beim letzten Verkaufsstart hat der Elektronikmarkt Punkt null Uhr eins geöffnet, da ist die Sache außer Kontrolle geraten, es gab Tumulte, einen Polizeieinsatz, Verletzte, einem Polizisten wurde ein Ohrläppchen abgebissen: ein Albtraum fürs Management, ähnlich dem Pestilenziösen Donnerstag (nein, ganz so schlimm nicht); deshalb geht man heute auf Nummer sicher, es wird erst um acht geöffnet, damit diejenigen woanders hingehen, die so lange nicht warten können. Die Männer sind, wenn nicht Zuhörer, so doch Gesellschaft für den Prediger, eine verworrene Gestalt: kein Penner, sondern eine der alterslosen Figuren, die, jedem bekannt, die Stadt bevölkern, in Bibliotheken, Mensas, Gratiskonzerten. Der Prediger ist morgens immer schon da, er folgt einem anderen Rhythmus als den Geschäftszeiten, erscheint nicht zur Öffnung, sondern zum Sonnenaufgang: spät im Winter, im Sommer in aller Frühe. Er stellt sich auf die Rasenfläche neben dem Eingang; dabei lebt er mit der Sonne und gegen sie, ist es kalt, stellt er sich in den Schatten, ist es heiß, ins pralle Licht. Am Anfang hat das Center-Management ihn verscheuchen lassen, doch er ist immer wiedergekommen, und irgendwann hat man ihn zu dulden begonnen, wie ein unansehnliches, aber auch nicht mehr störendes Möbelstück. Betreten allerdings darf der Prediger das Center nicht, darin kann sich das Management keine Nachgiebigkeit erlauben. Die Besucher gehen an der murmelnden Gestalt vorbei, manchmal flüstert einer dem anderen zu: Der Zausel ist immer hier. Der Prediger spricht die ganze Zeit von Gott, nicht wie ein Wasserfall, eher wie ein Bächlein, das im Tageslauf austrocknet, munter sprudelnd am Morgen, gegen Abend dann stockender, mit heiser werdender Stimme; zwischendurch stößt er leise lateinische Rufe aus, in der Art von Kehrversen: Laudate dominus, murmelt er, laudate dominus, alpha et est o, und schwingt sich bisweilen aus seiner ranzigen Trance zu Höhen auf: Vae tacentibis te de, quoniam loquacis mutis sunt!

August geht an den Wartenden und dem Prediger vorbei zu einer kleinen Seitentür, die er mit einer Chipkarte öffnet. Durch ein schmales, trotz weißen Anstrichs düsteres Treppenhaus (die eckige Wendeltreppe nennen es die Angestellten) gelangt August zum Büro im zweiten Stock, oberhalb der Ladenpassagen. Alle Schreibtische sind noch leer, still stehen Fotos darauf, kleine Stofftiere und Glücksbringer, die auf die Angestellten warten; die unberührten Ablagen und der einsame Wasserspender tragen eine Art Zauber in sich. August legt seine Tasche ab. Er hat noch Zeit und will hinuntergehen, um in den Gängen zwischen den verschlossenen Geschäften herumzuspazieren.