Die trunkene Fahrt - Albrecht Selge - E-Book

Die trunkene Fahrt E-Book

Albrecht Selge

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Vier Männer in einem Fiat Panda – ein aberwitziger Roadtrip durch die Südtiroler Berge Es beginnt als harmloser Ferienausflug im Sommer 1989: Ein übergewichtiger Musikkritiker aus Westberlin, ein weltberühmter Pianist aus Hannover und ein einfältiger Jurastudent aus Bologna wollen Südtirol abseits der touristischen Hauptrouten erkunden, geführt von einem dubiosen einheimischen Gymnasiallehrer und Auskenner. Zu viert in einen engen Fiat Panda gequetscht, kutschieren sie kreuz und quer durchs Land. Bald stellen die Reisenden fest, dass ihr Chauffeur nur ein Bein und keinen Plan hat – dafür eine Schwäche für geistige Stärkungen. So führt ihre Tour sie nicht nur zu verschlossenen Kirchen und in einsame Bergdörfer, sondern von Gasthaus zu Gasthaus. Mal heiter, mal tiefsinnig diskutieren sie über Bach, Beethoven, Literatur, Weltpolitik, Frauen und die Erschaffung der Welt aus alkalischem Salz. Je betrunkener sie werden, desto aberwitziger kreist ihr Disput zwischen Weisheit, Schalk und Wahn, hoher Kunst und derbem Leben, Tod und Vergessen. Als noch ein weiterer Passagier einsteigt, spitzen die Dinge sich zu. Ob sie jemals heil zurückkommen? Eine bizarre Tour d'Horizon zu geologischen und menschlichen Abgründen, grotesk und komisch, minutiös und universell: vier Männer in einem Fiat Panda, in dem sich eine ganze Welt entfaltet.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 313

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ALBRECHT SELGE

DIE TRUNKENE FAHRT

ROMAN

Rowohlt · Berlin

Über dieses Buch

Vier Männer in einem Fiat Panda – ein aberwitziger Roadtrip durch die Südtiroler Berge

Es beginnt als harmloser Ferienausflug im Sommer 1989: Ein übergewichtiger Musikkritiker aus Westberlin, ein weltberühmter Pianist aus Hannover und ein einfältiger Jurastudent aus Bologna wollen Südtirol abseits der touristischen Hauptrouten erkunden, geführt von einem dubiosen einheimischen Gymnasiallehrer und Auskenner. Zu viert in einen engen Fiat Panda gequetscht, kutschieren sie kreuz und quer durchs Land. Bald stellen die Reisenden fest, dass ihr Chauffeur nur ein Bein und keinen Plan hat – dafür eine Schwäche für geistige Stärkungen. So führt ihre Tour sie nicht nur zu verschlossenen Kirchen und in einsame Bergdörfer, sondern von Gasthaus zu Gasthaus. Mal heiter, mal tiefsinnig diskutieren sie über Bach, Beethoven, Literatur, Weltpolitik, Frauen und die Erschaffung der Welt aus alkalischem Salz. Je betrunkener sie werden, desto aberwitziger kreist ihr Disput zwischen Weisheit, Schalk und Wahn, hoher Kunst und derbem Leben, Tod und Vergessen. Als noch ein weiterer Passagier einsteigt, spitzen die Dinge sich zu. Ob sie jemals heil zurückkommen?

Eine bizarre Tour d’Horizon zu geologischen und menschlichen Abgründen, grotesk und komisch, minutiös und universell: vier Männer in einem Fiat Panda, in dem sich eine ganze Welt entfaltet.

Über Albrecht Selge

Albrecht Selge, geboren 1975 in Heidelberg, aufgewachsen in Westberlin, studierte Germanistik und Philosophie in Berlin und Wien. Sein erster, von der Presse hochgelobter Roman «Wach» (2011) wurde für den Alfred-Döblin-Preis nominiert und mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis des Harbour Front Literaturfestivals Hamburg ausgezeichnet. Albrecht Selge lebt als freier Autor mit seiner Familie in Berlin.

Für meine Mutter,

die niemals trank und fuhr

und trotzdem

zu den Sternen gelangt ist

Empfangen Sie Mozarts Geist

aus Haydns Händen.

Graf Waldstein an Beethoven

Das konnte ja nicht gutgehen:

Vier Männer in einem Auto.

Bibi Blocksberg

ach 

Auf-ste-hen Herr Dok-tor Er wurde am Arm in eine andere Welt gerissen.

Es war Kumm: Aufstehen, Herr Doktor Zwantulla!

Mein Gott, auf-ste-hen!

Dort waren seine Beine tot, er spürt seine Beine nicht mehr was ist mit meinen Stehen Sie doch bitte auf, Doktor Gasser ist ja bereits da, er wartet auf Sie.

Nein. Die Beine sind nicht tot, im Gegenteil, Muskelkater, jede Faser der Beine zu spüren, wie hat er sich bloß einbilden können, sie nicht zu spüren? Dass man so fest schlafen kann. Als wäre die Welt weg gewesen. Nein, vielmehr: als hätte es dich nicht gegeben. Oder du wärst ein Stein gewesen. Stein erwacht zu Leben. Das steinerne Nichts ist fort, aber etwas hat es hier gelassen: kalte Füße. Aber man hat keine toten Beine, wenn man kalte Füße u. Muskelkater hat. Alles von der verdammten Bergwanderung gestern mit Kumm, diesem Ungemüt, der nun schon wieder drängt. – Vorsichtig schob er die verkaterten Beine aus dem Klappbett. Die Beine wurden wieder seine Beine. Zu seiner Verwunderung war alles noch da, wo es gestern gewesen war: Klappbett in der Mitte der Stube, Kruzifix mit Maiskolben (wie Ohrringe) an der Wand, Kumms Klarinette auf dem Büchertisch; selbst der Tisch, an dem sie gestern mit Perger gesessen u. einige Gläser getrunken u. übers Wohltemperierte Klavier diskutiert hatten (was hatten sie da bloß für schändlichen Unsinn geredet). Vor dem Fenster Dunkelheit u. im Dunkeln die Berge, die sind noch dunkler. Kaum konnte er sich anziehen, das Hemd von gestern, die guten Schuhe mit den glatten Sohlen, schon schob bzw schubste Kumm, der Ungemüt, ihn vor die Tür, wo ein Klein(st)wagen stand, nicht das Taxi, mit dem er vorgestern auf die Alm gekommen war, sondern ein Fiat Panda mit laufendem Motor. Undefinierbar grauer Wagen mit dunkelgrauem Querstreifen vom Vorder- zum Hinterrad. Das Gras nass, die Scheinwerfer schienen in den Nieselregen, im Panda saß ein magerer Mann im Lämpchenschein u. rauchte bei geschlossenem Fenster, mit blaugetönter Brille, sah aus wie ein einsames Herz an einer nächtlichen Theke auf einem Bild von Edward Hopper bzw eines schlechten Epigonen (Bild einer trostlosen Absteige, das in einer trostlosen Absteige hängt,das in einer trostlosenusw). Wie lange wartet der schon da? Die ganze Nacht. Seit Ewigkeit. Aber dann würde ja Kumm nicht so drängen, u. der Motor lief. Kein Benzin hält ewig. Die Beine trugen ihn widerwillig hinüber. Der Blaubrillige kurbelte das Fenster runter u. streckte ihm die hagere Hand entgegen:

Gasser. Ihr Cicerone. Schon viel von Ihnen gehört. Er blickte Zwantulla durch die blauen Gläser an.

Ach so? Was denn?

Der Cicerone kicherte, aber nicht unfreundlich. Sie stehen ja im Regen, Herr Doktor Zwantler.

(Nicht doch, nicht Doktor … egal …)

Er öffnete ihm die Beifahrertür, damit er sich am vorgeklappten Sitz vorbei auf die Rückbank quetschen konnte, sehr eng, der Panda wackelte beim Einsteigen, die Rückbank mit einem cordartigen Stoff bezogen. Rau. Seine Knie drückten in die Vorderlehne.

Ich sehe nach, wo Hibiscus steckt!, rief Kumm, immer das Gleiche!, u. stakste ungemütlich in die Hütte.

Der Cicerone, der es nicht eilig zu haben schien, drehte sich zu Zwantulla um u. zog gutgelaunt die Augenbrauen hoch, was sich nicht auf Hibiscus’ Trödeln zu beziehen schien, sondern auf Kumms Ärger.

Professor Kumm ist wohl mit dem falschen Fuß aufgestanden, sagte Zwantulla.

Der Cicerone schaute ihn fragend an, fast beleidigt (hatte er was Falsches gesagt?). Er trug ein Polohemd u. hatte Glupschaugen bzw einen melancholischen Blick, es mochte an der blaugetönten Brille liegen.

Zwantulla lächelte verunsichert-blöd u. langte über die Schulter, um sich anzuschnallen, fand jedoch den Gurt nicht u. sah, als er sich hinwandte, dass der Gurt abgeschnitten war, nanu?

Ich habe die Gurte rausgenommen.

?

Ungute Sache, die uns der Legislativ aufgenötigt hat. Von seinem Vater zur Eile getrieben, kam Hibiscus aus der erleuchteten Hütte, Palästinensertuch um den Hals u. Rucksack über der Schulter, eine Art Armeerucksack, olivgrün u. mit Lederschnallen, sehr groß, aber schlabbrig, schien also nicht viel drin zu sein; er stolperte über die Schwelle, wäre fast hingefallen, Kumm stöhnte vernehmlich. Hibiscus schaute erschrocken, berappelte sich, legte den Rucksack vorsichtig, als wärs ein Säugling, in den Kofferraum u. wollte sich nach vorn setzen, aber der Cicerone wies ihn auf die Rückbank: Wir holen doch noch euern Pianistenfreund ab. Also zwängte Hibiscus sich zu Zwantulla. Der Panda wackelte. Zum Glück ein dürrer Kerl, der Hibiscus. Oh, Ihre Hüfte, hihi.

Tut mir leid, dünner kann ich mich nicht machen.

Nicht zu eng im Fond, hoffe ich, sagte der Cicerone. Am Rückspiegel baumelte ein Rosenkranz. Schön, dich mal kennenzulernen, Hibiscus. Ich bin heut euer Cicerone.

Cice … was?

Paul Gasser. Kannst mich Paul nennen. Dein Vater und ich sind alte Freunde, wie du weißt. Hab schon viel von dir gehört.

Ja? Was’n?

Der Cicerone kicherte freundlich. Sag mal, hat dich heut Nacht der Blitz getroffen, Hibiscus?

Blitz, wieso’n?

Deine Haare stehen ja zu Berge! Haarsträubend! Siehst aus wie der Papa vom Eraserhead, kennst du den Film? Oder wie ein zersplitterter Pfahl.

Ach so. Hihi. Keine Zeit zum Kämmen. Eraserhead, keine Ahnung … ich mag lieber diese amerikanischen Filme, wo sie mit solchen riesigen Autos rumfahren.

French Connection, oder? …

Nein, amerikanische Filme, französische sind nicht so meins, da wird zu viel geredet.

Hast Recht. Die Franzosen, die reden und reden. Richtige Schwatzköpfe sind das, ein einziges Mäandern. Sie haben nicht das Temperament für das, was der Brite a silent conversation nennt. Ist wahrscheinlich in der Musik genauso, oder, Herr Doktor Zwantler? Sie als Musikkritiker. Viel Dampfplauderei, oder? Debussy, Ravel, da ist doch gewiss jede Menge heiße Luft dabei …

Nun ja …

Ist nur mein Eindruck. Sie sind der Experte. Mein Faible ist die schöne Literatur. Die Philosophie. Übrigens auch die bildende Kunst. Und der anspruchsvolle Film, wann immer es geht, fahr ich nach Innsbruck in den Cinematograph, oder nach Mailand ins Anteo … Und wenn ich in Wien bin, geh ich ins Filmmuseum … in die Albertina und ins Kunsthistorische Museum auch … im Grunde alles außer klassischer Musik … aber über allem die Literatur! Ah! Sie öffnet und weitet den Blick. Musik macht hingegen hektisch, wenn ihr mich fragt, dein Vater, Hibiscus, der berühmte Kompositionsprofessor, ist doch das beste Beispiel, der ist ein unverbesserlicher Hektiker. Das sag ich, obwohl er mein alter Freund ist. Er brauchte dich nicht so rauszuschubsen, wir haben doch den ganzen Tag Zeit.

Eben, seh ich genauso. Ungemütlich, nicht mal gefrühstückt … gut gesagt, schon immer ein Hektiker. Muss in den Genen liegen.

Ach so? Ist doch dein Vater.

Ja, schon …

Übrigens steht er vor der Hütte und schaut ganz ungeduldig, wann wir losfahren.

Wo is’n der Gurt?

Hab ich rausgetan.

Huch, warum’n das?

Ungute Sache, die uns der Legislativ aufgenötigt hat. Das stimmt! Richtig so, hihi … sage ich als Jurist!

(Als Jurist. Dieser Bummelstudent!)

Endlich fuhren sie los, erstmal vorwärts auf die Almhütte zu, wo Professor Kumm im Lichtkegel im Nieselregen stand. Trotz Regen kein Scheibenwischer, war ja auch kein starker Regen. Kumm winkte ihnen mit beiden Armen, ausladend, als legten sie zu einer Weltumseglung ab u. er stände auf einem weit entfernten Kai, nicht ein paar Schritte vor ihnen. Sie wendeten, wohin fuhren sie eigentlich?

Erstmal nach Sterzing, Professor Berger holen.

Nein, das hatte er nicht gemeint. Wohin fuhren sie. Hinab in den dunklen Wald. Hauptsache weg von der Almhütte, Spruchbude hatte Bolleit, Zwantullas W-Berliner Freund u. (Ex-)Kollege, sie einst genannt (weil Hilde Kumm dort ihre furchtbaren Aphorismen verzapfte), jetzt war Bolleit tot u. begraben, begraben im strömenden Regen, dazu die strömenden Tränen seiner belgischen Witwe, fast eine Seebestattung, die Grube war Zwantulla vorgekommen wie ein bodenloses Fass, was da hineinging, überhaupt, war das ein entsetzliches Frühjahr gewesen, lauter Beerdigungen: sein väterlicher Freund Havestock, sein heruntergekommener Exkommilitone Piltz, sein Altkollege Stiller, der Plattenkritiker Schapp, der Generalbassexperte Stuck, der Vater des jugoslawischen Hausmeisters Prpić, der im Bett gequalmt hatte … alle beerdigt, Namen wie Schall u. Rauch bzw Nacht u. Nebel, was für ein Frühjahr, meine Seele von einem feuchten, nieselnden November erfüllt, hatte er, der sonst wenig las, am Brenner auf der 1. Seite des Buchs, das er noch von Bolleit bekommen hatte, gelesen; in diesem Frühjahr hatte er sich ertappt, wie ich unfreiwillig vor Sarggeschäften stehenbleibe und hinter jedem mir begegnenden Leichenzug einhertrotte, bei seiner schönen lebenslustigen Jülide hingegen hatte er sich schon ewig nicht mehr gemeldet, vielleicht deshalb (mal auf andere Gedanken kommen, auch tut die Bergluft gut gegen Überarbeitung u. Übergewicht, u. in ein paar Tagen gab es ja diese Zaubitzer-Uraufführung in Toblach, über die er für die Tagespost schreiben würde) die Einladung der Kumms angenommen, die ihm schon in W-Berlin unsäglich auf die Nerven gingen; u. die nun so freundlich waren, diese 1tägige touristische Rundfahrt organisiert zu haben. Außerdem waren Kumms nur ein Zwischenhalt, morgen würde er zu Praetorius weiterfahren.

Weg all die Namen! Stattdessen reine Bergluft! Er atmete tief ein, die Fenster des Panda waren geschlossen. Die Zigarette des Fahrers glühte im Dunkeln. Der Wald war schon bei Zwantullas Ankunft vorgestern dunkel gewesen, anscheinend fuhr man nur im Dunkeln durch diesen Wald. Feuchter, nieselnder Juni. Die Scheinwerfer des Panda schienen auf die Schotterstraße, es schien jetzt sogar stärker zu regnen, ja schüttete aus Kübeln, nun hätte man doch den Scheibenwischer (der Panda hatte nur einen!) anmachen sollen, aber der Cicerone (Paul Gasser, hatte er richtig verstanden?) tat es nicht u. fuhr schnell, sehr schnell, noch schneller als vorgestern der Taxifahrer, der ebenfalls Paul Gasser geheißen hatte (TAXIUNTERNEHMEN d. Gasser Paul, Sterzing/​Vipiteno), bzw ließ den Panda einfach bergab rollen, nahm auch die Kehren ungebremst, nur 1 Hand am Steuer, in der anderen Gauloise. Der Rosenkranz schaukelte. Auch Zwantulla (Roth-Händle) u. Hibiscus (Camel) begannen zu rauchen, der Panda war im Nu verqualmt. Sie aschten in Hibiscus’ linke Hand, Hibiscus hatte sie ihm hingehalten, als Zwantulla sich gefragt hatte, wo er hinaschen sollte, da sich die Fenster hinten nicht öffnen ließen. Was, in Ihre Hand?

Ja, kein Problem, hihi.

Und die Kippen?

Her damit! Gasser streckte die Hand nach hinten. Er kurbelte das Fenster einen Spalt auf u. warf sie raus. Dann nahm er ein Feuerzeug u. zündete sich eine neue Gauloise an. (Gab es im Fiat Panda keinen Zigarettenanzünder?) Wenn Zwantulla sich zur Seite drehte, sah er Tropfen u. Schlieren auf der Scheibe u. dahinter nur Schwarz, aber Hibiscus erspähte auf seiner Seite den bevorstehenden Sonnenaufgang: Sehen Sie, der Lichtstreif über der Pfitschspitz, wunderschön!

Gasser beugte sich, ohne zu verlangsamen, über den leeren Beifahrersitz zum Fenster u. murmelte: Dem.

Was?

Dem Pfitschspitz. Spitz ist Maskulinum. Hast Recht, der neue Tag am Horizont, metaphysisch.

Herrlich, sagte Hibiscus.

Mystisch, sagte Gasser.

Großartig.

Sibyllinisch. Fiat lux. Überhaupt großartig, dieses alte Feuerrad, jeden Tag aufs Neue, das Rad der Maya. Maja? Die Biene?

Nein, Schopenhauer. Schaut euch aber auch die Spitze des Berges an.

Der … des Pfitschspitzs?

Ja. Schaut wie der Gipfel leuchtet … fast verschwindet er im Licht.

Superschön.

Delphisch. Außerdem gut, dass es aufgehört hat zu regnen, bei Regen kann ich schlecht sehen.

Aber da, sehen Sie mal, was da ist! Immer noch! Ein Stern … mitten im Sonnenaufgang! Der Abendstern!

Haha, Hibiscus, das ist doch der Morgenstern! – Zwantulla sah überhaupt nichts, er hätte sich den Hals verrenken u. seinen Kopf Hibiscus quasi auf den Schoß legen müssen, um rechts rauszuschauen, der Panda war zu eng, das Dach zu niedrig, das Fenster zu klein. Auch nach der nächsten Kehre, als sie in die andere Richtung fuhren, sah er den neuen Tag nicht, jetzt waren die Bäume zu hoch u. zu dicht. Dann aber plötzlich: ein gewaltiger Schwall Helle, sehr laut. Wie die Alpensinfonie … Moment mal, wieso laut?

Bergrettung, sagte Gasser. Die ganze Nacht schon. Jede Menge Deppen da draußen.

Hibiscus stimmte ihm zu, er u. seine Brüder hätten gestern, unterwegs auf die … den Pfitschspitz, so einige Esel getroffen, z.B. einen älteren Herrn aus Frankreich in T-Shirt u. kurzer Hose, der nur einen kleinen Rucksack dabeihatte. Dabei habe bis unter 2000 Meter noch Schnee gelegen. Und einen Gletscher gibts da oben auch. Und der Franzose, der redete und redete! (Die Franzosen, ich sags doch, die mäandern!) Dick außerdem, hat eine richtige Wampe vor sich hergetragen. Was er darin habe? In der Wampe? Nein, im Rucksack: De l’eau, du glucose, de la crème solaire. Haarsträubend, oder? Gut, immerhin Sonnencreme, aber sonst … sie hingegen, Hibiscus u. seine Brüder, hätten biwakiert (zugegeben: riskanterweise im Gewitter), natürlich nicht aus Sicherheits- u. Organisationsgründen, die Zillertaler Alpen sind ja nicht der Himalaya, sondern um das Gebirgserlebnis zu intensivieren.

Und wie wars, euer Gebirgserlebnis?

Toll, usw. – Überhaupt waren Hibiscus u. Gasser trotz Morgenstund entsetzlich gesprächig, Hibiscus redete von seinem Studium in Bologna, jedoch weniger von Jura als von Frauen, Restaurants u. seinen liebsten Freizeitbeschäftigungen, z.B. Rafting.

Was?

Eine Art Wildwasserpaddeln, aber im Schlauchboot.

Wildwasserpaddeln im Schlauchboot, rief Gasser, bist du lebensmüde?

Nein, es gibt doch im Raft mehrere Luftkammern, und das Gummigewebe ist megadick, viel sicherer als ein Einbaum aus Polyethylen oder Schilf. Schilf, das ist bescheuert.

Wieso, ist doch ein Naturmaterial, muss der Mensch erstmal nachmachen.

(Wildwasserpaddeln, woher kannte er das? Woran erinnerte ihn das?)

Und San Petronio, fragte Gasser weiter, was ist mit San Petronio?

Da gehen doch nur die Amis hin. Die Spaghetti alle vongole sollen gut sein, aber viel zu teuer, Touristenpreise. Touristen sind ja so dumm, nicht nur die Franzosen … viele Amis etwa machen einen Sprachkurs in Bologna … hübsche Frauen, die wollen was erleben in Europa, hihi … überhaupt, Frauen …

Nein, ich meine die Basilika, die unfertige Basilika von Bologna.

Die Kirche?

Ja.

Stimmt, die sieht schäbig aus, ich versteh nicht, warum sie die nicht fertig bauen. Es kommen ja viele Touristen, da könnte man schon … naja, Italiener eben. Was ist das eigentlich für eine Holzkette da am Rückspiegel? Die baumelt so lustig. Hab ich auch in Bologna schon ein paarmal gesehen.

Der blaue Himmel, sagte Hibiscus, der schöne Baum.

In geistiger Hinsicht eine Tranfunzel mit abstehenden Haaren, ich als Jurist, an wen erinnerte ihn der? An einen blanken Icherzähler, der in der 3. Person anwesend ist, d.h. nutz- u. eigenschaftslos. Nennt mich Hibiscus. Es war ja ein Spitzname, von seinen Brüdern verpasst, wie sie gestern erzählt hatten, als Zwantulla sie kennenlernte, nachdem sie von ihrer Bergwanderung zur Hütte gekommen waren, nach einem Buch von Hesse, eigentlich hieß er Heinrich … Hibiscus, nicht Hesse, der hieß ja Hermann wie der Cherusker, aber wieso überhaupt Hesse? Hieß das Buch nicht Hyazinth? Hyazinth und Rosenkohl … oder war das was anderes? Er las nicht viel … in den letzten Wochen, ja Monaten nur den Anfang des Buchs, das er noch von Bolleit bekommen hatte … und würde er lesen, dann nicht Hesse, österreichische Schriftsteller waren ihm ein Graus, wie die Alpensinfonie, gut, die war von einem Bayern, trotzdem ein Graus … Ich hab einmal so komponieren wollen, wie die Kuh Milch gibt … müde, er war so müde, nicht gefrühstückt, da kullern die Assoziationen. Ständig berührten sich ihre Knie. Jetzt redeten sie auch noch über Fußball, Kabale zwischen Daum u. Hoeneß (Kabbelei, hihi, kann man wohl sagen), Wohlfahrt der  Beständige, usw, das interessierte ihn überhaupt nicht. Hibiscus fuhrwerkte dabei mit der rechten Hand in seiner Hosentasche, verrenkte sich fast, holt der sich etwa einen runter? Nein, er kramte nur Streichhölzer aus der Tasche, um sich eine neue Camel anzuzünden. Das abgebrannte Streichholz legte er umgedreht in die Schachtel u. steckte sie wieder in die Hosentasche, fuhrwerkte weiter, schließlich zog er auch noch Bonbons heraus u. hielt Zwantulla ein gelbes hin, in durchsichtiger Folie: Wollen Sie?

Nein danke.

Lieber ein rotes?

Nein danke, ich mag keine Bonbons.

Sie, Herr Gasser?

Sag ruhig Paul. Ja bitte, könntest du es auswickeln und mir in den Mund stecken? Ich brauch die Hände zum Fahren.

Klar, Herr Gasser … verdammt, die Folie geht nicht ab.

Immer das gleiche mit Bonbonfolien! Egal, gibs mir, wenn noch ein Stück dranklebt, spuck ichs aus. Hibiscus beugte sich nach vorn u. schob ihm das Bonbon in den Mund. Ah, gut!

Ananas, die gelben sind Ananas. Wollen Sie nicht doch eins?

Nein danke, ich rauche lieber.

Roth-Händle, heftig, hihi. – Zwantulla wunderte sich, Gasser hätte doch die Zigarette zwischen die Lippen stecken u. das Bonbon mit der Hand nehmen können. Eine Menge Hebel u. Knöpfe hatte er da vorn, komisches Auto.

Sagen Sie mal, Herr Doktor Zwantler, was ist eigentlich mit Ihnen los? Fühlen Sie sich nicht recht wohl?

Wie bitte?

Genau das meine ich, sagen Sie doch einfach: Was. Ist doch ein wunderbares deutsches Wort, wir sind unter uns, wozu die Umstände …

Was?

Ob Sie sich nicht recht wohlfühlen.

Nein, es ist nichts, ich habe nur … sehr fest geschlafen heute Nacht.

Das verstehe ich! Tiefer Schlaf … unfassbar, dass die Welt existiert, die Sterne funkeln, während man schläft. Wie es so schön heißt: dass die Welt fortexistiert. Eine menschliche Grunderfahrung, stets aufs Neue erschütternd, beschreib-, aber nicht begreifbar. Dazu diese existenziell verstörende Demütigung, dass unser unendliches Ich sich ausknipsen lässt wie eine Glühbirne. Oder? Ich schlafe übrigens kaum je länger als drei Stunden, höchstens vier. Schon als Kind, usw usw, schließlich, alles mit Bonbon im Mund: Ich sehe, wir verstehen uns, Herr Doktor Zwantler. – Kurz vor Sterzing spuckte er ein Stück Folie aus dem Fenster u. deutete hinaus: Dort, das Sterzinger Moos.

Zwantulla sah eine Wiese voller Kühe. In der Ferne ein Dorf mit gotischem Kirchturm.

Die schönen Kühe, sagte Hibiscus.

Was waren das für große Tiere, mit Landkarten gefleckt. Überzüchtete Steinways, sagte Bolleit, der neben ihm saß, fleischerne Monstren. Moment mal, wieso saß Bolleit da? Der lag doch auf dem Friedhof Stubenrauchstraße.Es war doch schon eng genug hier. Aber für einen Geist ist immer Platz. Doch was verschlug Bolleit in die Berge? Er hatte die Natur gehasst. (Im Gegensatz zu Jülide, die hätte er vielleicht mitnehmen sollen.) Hoffentlich war er nicht wegen der heiklen Geschichte mit seiner belgischen Witwe hier … nein, verstehe, bloß wegen der Kühe: Bolleit hatte auch Steinways gehasst u. mit überzüchteten Milchkühen verglichen. Zwantulla kam es jetzt umgekehrt vor: Weiden voller Steinways. Wie war er darauf gekommen? Klar, er hatte an den Steinway gedacht, der aus dem Helikopter in den Ozean geworfen worden war, in den 70ern, als Zaubitzer Amerika erobert hatte. Würde der jetzt auch einsteigen? Nein, Zaubitzer lebte wohl noch, auch wenn es still um ihn geworden war; bei ihrer letzten Begegnung war er Zwantulla wie ein Junkie vorgekommen. Damals hatten seine Kompositionen Furore gemacht, nicht nur der Steinway-Abwurf. In 3 Tagen sollte im Grand Hotel Toblach ein von irgendwem ausgegrabenes Frühwerk Zaubitzers uraufgeführt werden, da würde Zwantulla hinfahren, das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Bzw das Unangenehme mit dem Unnützen, um ehrlich zu sein. Als er neben sich sah, war Bolleits Geist verschwunden. Wie hätte der hier auch hineinpassen sollen. Nur Hibiscus saß da u. unterhielt sich nach vorn mit Gasser über Land u. Leute, anscheinend lästerten sie auch über Hibiscus’ Vater, Gasser äffte ihn nach: Überall Penner, nicht wahr? Hibiscus lachte herzlich. Du kennst ihn ja am besten, Hibiscus!

Hihi, kann man wohl sagen! Noch ein Bonbon? Gelb oder rot?

Danke, ich rauch lieber. – Es war jetzt Tag, die Sonne durchgebrochen bzw sah aus, als ob es hier unten noch nie geregnet hätte, alles trocken. Ewig her, 1000 Jahre, dass das Pfitschtal in einer Alpensintflut abgesoffen war (wenn es überhaupt stimmte, was Kumm erzählt hatte). Hat es nur auf der Alm gewittert? Auf dem Berg?

Ja, ich hab das Gewitter bloß aus der Ferne gesehen. Als ich losgefahren bin, wars sternenklar, ich bin zu euch in den Regen hochgefahren. Das ist ganz normal hier. Wollen wir hoffen, dass es heute schön bleibt, damit ihr etwas zu sehen bekommt von unserem schönen Land.

Kann man wohl sagen, dass es schön ist, sagte Hibiscus.

Ja, sehr schön, sagte Gasser, unser Nutztierarkadien.

Aha, so ein Heimatkritiker war er also, einer dieser Beanstander, die aber die Heimat nicht verachten, sondern lieben (deshalb Rosenkranz), jedoch nur das Unverdorbene, nicht die Bigotterie: die Kappl oa, Kreizl schlogn-Frömmigkeit bei Tisch, huren u. saufen, von der Raffgier zu schweigen, der Profit ist ihr Prophet, aber sich am Aschermittwoch das Aschekreuz auf die Stirn schmieren, usw. – Sie bretterten in die noch menschenleere Altstadt von Sterzing, über mehrere Zebrastreifen, bis zum prächtigen Hotel Kaiser Maximilian neben einem gotischen Kirchturm, wo Perger, hager u. mit Pferdeschwanz, auffällig kleine Augen, karierter Strickpulli, unter dem Arm ein schwarzes Täschchen, eine Art Aktenmappe, bereits auf sie wartete.

Der Panda stand.

Zwantulla beneidete Perger um das Hotelbett; nie hätte Perger im Klappbett auf der Almhütte geschlafen (nie  hätte Kumm Perger das angeboten, dem bedeutenden, nicht an Pedal sparenden Pianisten, von Bolleit pianistischer Glanzschwanz genannt, gerühmter Lisztspezialist (Spezialiszt, so einst in einem unseligen Anfall von Witz Zwantullas seliger, nun auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof ruhender Altkollege Stiller), der quasi jedes Konzert mit der berühmten h-Moll-Sonate beschloss, dieser überschätzten, gähnend langweiligen, einschläfernden h-Moll-Sonate). – Zwantulla schüttelte den Kopf, um den Assoziationsspuk loszuwerden.

Trotz Hotelbett wirkte Perger nicht recht erholt, nicht nur wegen der kleinen Augen.

Als er einsteigen wollte, bat Hibiscus ihn, kurz zu warten, u. streckte die Hände raus, um sie abzuklopfen, dabei wirbelte die Asche auf u. teils zurück in den Panda, Perger kniff die Augen zu u. schien ein wenig zu schwanken.

Dann setzte er ein Lächeln auf u. stieg in den wackelnden Panda.

Puh, das stob!, nuschelte er, als er auf dem Beifahrerplatz saß, klemmte sich das Täschchen zwischen die Knie u. schüttelte reihum die Hände.

Paul Gasser, ich bin heute Ihr Cicerone, Herr Professor Berger.

Freut mich … schöner Wagen übrigens, ist das ein Fiat? Erinnert ein wenig an ein Klavier. Respekt, meine Herren, Sie räucherten ja bereits kräftig ein! Und mehr an Zwantulla als Hibiscus gerichtet: Schliefen Sie gut auf der Alm, Herr Doktor Zwantulla? (Nicht Doktor … egal …) Ich beneide Sie, es muss durchaus wunderbar sein, in dieser Ruhe zu schlafen, in dieser vollkommen reinen Höhenluft, selbst in Zeiten des Waldsterbens. Nicht zu eng dahinten? Hier vorn ist es schon etwas … durchaus … die Knie, wie an einem Hammerklavier oder derlei Murks, so ein Instrument mit Kniehebeln … weiß gar nicht, wie ich meine Füße stellen … immerhin gut zu sitzen … puh, Herr Doktor Zwantulla, was für eine garstige Nacht, nicht wahr, durchaus haarsträubend … spürte es schon, als ich mit dem Taxi zu Tal fuhr … mir brummt der Schädel von Professor Kumms Schnäpsen. Natürlich spukte mir die ganze Nacht unsere höchst instruktive Diskussion über das Wohltemperierte Klavier durch den Kopf …

Er starrte aufs Armaturenbrett. Sein Pferdeschwanz lag schlaff zwischen den Schulterblättern, reglos auch der Rosenkranz am Rückspiegel. Gasser fuhr noch nicht los, sondern blickte Perger erwartungsvoll an: Wollte er noch weitersprechen? Alle spürten, einen Musiker, der über Bach spricht, unterbricht man nicht. Zwantulla überlegte, ob er etwas sagen sollte; auf das Wohltemperierte Klavier waren sie gestern gekommen, weil Perger über sein neues Rezital nachgedacht hatte, das erst in Umrissen feststand, er erwog 6 Präludien u. Fugen zu spielen, welche war noch offen, dazu die 6 Moments musicaux von Schubert, Schönbergs 6 kleine Klavierstücke, den Nucleus des Rezitals lt. Perger, u. zum Abschluss natürlich die h-Moll-Sonate von Liszt.

Ich gedachte all des Klugen, das Sie über die Achtel äußerten, Herr Doktor Zwantulla, Ihre überaus hellsichtigen Bemerkungen über die Erlaubtheit, Achtel und sogar Viertel zu binden (Kumm hatte da durch die Zähne gepfiffen) … weniger klug freilich das über den Pedalgebrauch, durchaus eine müßige Frage … indiskutabel, Bach wie ein pickendes Huhn zu spielen, hackend, richtig in Rage bringt mich diese modische Pedalkeuschheit, Gould hat ja wenigstens versucht, Bach wie Schönberg klingen zu lassen, zumindest ein Standpunkt … dafür gingen mir Ihre luziden Ausführungen über das letzte Präludium nicht aus dem Sinn, das Achtelband in der Linken, das Mysterium der Tempobezeichnungen und der Wiederholung, beides durchaus singulär im Wohltemperierten Klavier …

Hibiscus begann auf seinem Platz herumzurutschen, aber Gasser machte keine Anstalten loszufahren.

… und dies alles nun bedeutsamerweise in h-Moll, jener herrlichsten letzten Tonart, der Leittonart ins Unendliche, Anfang und Ende, Alpha und Omega, denken Sie an die Unvollendete, die Pathétique, die große catholischeh-Moll-Messe … (Was redet der da, die heißt doch nur so, ist doch in Wahrheit eine D-Dur-Messe.) Und Liszt natürlich, jene durchaus singuläre Sonate … aber es war mir unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen, die Nacht war zu garstig, die Schnäpse … ich brachte keine gerade Tonleiter zustande, nicht mal eine H-Dur-Tonleiter, als ich mich heute Morgen ans Klavier setzte, sicut meus est mos.

Wir haben auch das Moos gesehen, sagte Hibiscus.

Horaz, sagte Gasser.

Was?

Sicut meus est mos, das ist aus einer Satire von Horaz.

Hast du es etwa nicht in der Schule gelesen? Und an Perger gerichtet: Wunderbar, Herr Professor Berger, Ihnen steht also im Hotel Kaiser Maximilian ein Klavier zur Verfügung?

Ja, selbstverständlich. Perger wirkte plötzlich wieder gefasst. Ich beginne jeden Tag am Klavier, nicht nur aus beruflichen Gründen, es hat dies mit geistiger Gesundheit zu tun. Ich würde nie ein Hotel beziehen, in dem mir kein Klavier zur Verfügung steht, und sei es noch so ein klappriger Kasten. Im Kaiser Maximilian kann ich übrigens durchaus nicht klagen.

Steinway?, fragte Zwantulla.

Bösendorfer. Ein alter Imperial mit 97 Tasten, dolles Ding, geht runter bis zum Subkontra-C. Wenn man da ein wenig zu pedalisieren versteht … ah!

Bach?

Was?

Beginnen Sie den Tag mit Bach?

Wie Casals, meinen Sie, nicht wahr?

Nein, der war doch ein Cellist.

Das weiß ich durchaus, dass Casals ein Cellist war. Sie scherzten, nicht wahr? Im Übrigen natürlich nicht Bach, das wäre ja durchaus abgeschmackt. Sondern Liszt.

Puh.

Was wollen Sie damit sagen, Herr Doktor Zwantulla?

Na, Liszt zum Aufwachen, Brahms ist ja bei der h-Moll-Sonate eingeschlafen.

Ich spiele doch am Morgen nicht die h-Moll-Sonate, wäre ja durchaus abgeschmackt, sondern Etüden, Technische Studien, auch mal die Bagatelle sans tonalité oder auch eins der Spätwerke, eine dieser Entgleisungen eines Greises, wie sein elender Schwiegersohn sagte … etwa den Unstern …

Der bringt sie in die Gleise?

Durchaus.

Jetzt fahren wir erstmal los, sagte Gasser, Sie werden sehen, die Bergluft wird Ihnen guttun. Wollen Sie die Tasche nicht in den Kofferraum packen?

Auf keinen Fall. Wo ist denn der Anschnallgurt?

Habe ich rausgetan.

Ach so?

Ungute Sache, die uns der Legislativ aufgezwungen hat. Da haben Sie durchaus Recht. Gurte sind gefährlich, eine gefährliche Einbildung ist diese Anschnallerei, wiegt einen in falscher Sicherheit. Verstehe ich durchaus … dieser Alb, festgegurtet zu sein und einen Abhang hinunterzustürzen und nicht rauszukommen … im Gurt zu hängen, stellen Sie sich das vor … puh …

Haarsträubend.

Das ist, als täte einem immer erst die zweite Nuss schmecken, sagte Hibiscus, aber man bekommt immer nur eine … Möchten Sie ein Bonbon?

Ja, gern, aber wieso Nüsse?

Das war doch nur ein Vergleich. Rot oder gelb? Gelb ist Ananas, rot Granatapfel.

Is ja doll. Granatapfel, bitte.

Sehen Sie, schon geht es Ihnen besser. Ich sags doch, die Bergluft. Jetzt rauchen Sie noch eine Zigarette, und schon …

Gute Idee. Perger zog eine Packung HB aus der Jackentasche. Wie bitte, es gibt keinen Zigarettenanzünder? Im Ernst? Ein Auto ohne Zigarettenanzünder?

Es ist ein Fiat.

Perger zündete sich die HB mit Gassers Feuerzeug an: Ein Auto ohne Zigarettenanzünder, das ist wie Bach am Imperial. Plötzlich konnte er wieder schmunzeln, gelöst fragte er, rauchend u. lutschend, nach hinten: Wie geht es denn Ihnen heute Morgen, Herr Doktor Zwantulla, ich sah Sie vorhin den Kopf schütteln, brummt Ihnen auch der Schädel?

Nein, die Beine.

Was?

Muskelkater, wir waren nachmittags spazieren, bevor Sie hochkamen. Für Beine scheint die Bergluft nicht gut zu sein. – Irritiert bemerkte er, dass Gasser wie auf der Alm fragend, fast beleidigt zu ihm schaute, diesmal durch den Rückspiegel.

Davon erzählten Sie gestern ja gar nichts, sagte Perger. Professor Kumm zwang Sie zum Wandern?

Was heißt zwang, es war ein Vorschlag, eine Einladung … und Wandern, naja, für Hibiscus und seine Brüder wär es nur ein läppischer Spaziergang gewesen.

Hihi.

Er schreckt durchaus vor nichts zurück. Perger schien das im Scherz zu sagen. Nehmen Sie doch auch ein Bonbon, Sie werden sehen …

Nein danke, ich rauche lieber.

Wohin aschen wir eigentlich?

Hier rein, wenn Sie wollen. Hibiscus streckte die Hand zu Perger nach vorne.

Ach nein, da ist ja ein Aschenbecher. Kein Zigarettenanzünder, aber ein Aschenbecher, ist ja eine contradictio in adiecto, Sachen gibts … – Sie brausten zur Mautstelle Sterzing, die wie der Grenzübergang Dreilinden aussah. Zwantulla zählte während des Wartens 24 Tore, aber neben dem äußersten stand auf einem grauen Container 22. Als sie vorne waren, fuhr Gasser fast in die orange leuchtende Schranke.

Achtung!, rief Perger. Die Schranke!

Jaja, sagte Gasser u. wartete, bis sie sich gehoben hatte. Dann ging es auf die Autobahn, auf der kaum Verkehr war, nur ein paar LKWs, obwohl es doch die Brennerautobahn war. Irgendwann ein Viehtransport (oder Steinways). Sie fuhren eine Weile, vorbei an Dörfern mit gotischen Kirchtürmen. Perger schwärmte: Schön, mal ein Tag unter Männern. Mal auf andere Gedanken kommen. Und ist doch eine andere Gegend als bei mir in Hannover! Doll, durchaus doll. Etwas ganz anderes als das norddeutsche Tiefland … erst recht anders als das niedersächsische Bergland … wunderschön. Wenn nur das Waldsterben nicht wäre … hätten Sie noch ein Bonbon für mich? Granatapfel, bitte, usw. – Zwantulla hörte die anderen (sogar Perger) wieder über Fußball sprechen, dann döste er weg. Da hatte er den 1. Traum an diesem Tag: Er sah einen weinenden Vogel, der auf einem Baum saß. Der Baum stand in vollem Laub, zugleich war klar u. deutlich, dass der Baum ein Kirchturm war. Aber der Kirchturm war ein Baum. Was für ein Baum, konnte er nicht erkennen. Der Vogel weinte. – Als er wieder zu sich kam, fragte er sich, was für ein Vogel das gewesen war, er kannte sich mit Vögeln nicht aus, u. hörte, dass Gasser von den Pyrenäen sprach.

?

Nach einer Weile kapierte er, dass es sich um eine kurzlebige Südtiroler Kulturzeitschrift handelte bzw gehandelt hatte, für die Gasser gearbeitet bzw die er möglicherweise gegründet hatte. Also nicht nur ein lesender Chauffeur, sondern irgendein Kulturmensch, Cineast, Museumsgänger, Literaturfreund, er nannte Goethe euern größten Landsmann u. hatte, wie sich herausstellte, in Innsbruck u. Wien Altphilologie studiert, daher das klassisch gebildete Vokabular (Cicerone, delphisch, Erkennen von Horazzitaten etc), daher die Heimatkritik, daher auch das sofortige latinisierende Einverständnis mit Perger u. die Freundschaft mit Kumm, über den er sich dennoch vorhin mokiert hatte, sogar ins Angesicht von dessen Sohn. Mokieren u. monieren, einer dieser typischen in Innsbruck u. Wien studierten Kulturmänner, jetzt monierte er: Es gibt hier diese entsetzliche Einheitszeitung, die Dolomiten, eine nationalkatholische Gebirgsprawda, deshalb haben wir unsere Zeitung Pyrenäen genannt. Verstehen Sie? Pyrenäen statt Dolomiten. Kultur als das schlechthin andere, das Jenseitige.

Ah! Kultur!

Gut gesagt.

Aber warum nicht Tatra?

Nein, Pyrenäen ist viel besser.

Aber jetzt gibt es die Pyrenäen nicht mehr?

Nein, nicht mehr. Es war uns darum zu tun, unsere in der Notzeit der beiden Faschismen, der italienischen Skylla und der großdeutschen Charybdis, fatal zusammengerückte Einheitskultur aufzumischen. Stattdessen Einheizkultur, mit z! Advocati diabolorum, geistiges Pogo, Zitate, die zittern machen. Literatur ist die höchste der Künste. Das ist uns in aller Bescheidenheit gelungen, aber dann war das Geld alle.

Wie lange gab es die Pyrenäen?

Einige Wochen.

Einige Wochen? Sagten Sie nicht, es war eine Vierteljahresschrift?

Mm.

Und wovon leben Sie heute?

Gymnasiallehrer für Deutsch, Geschichte, Philosophie.

Puh.

Lehrer, das wär nicht so meins.

Aber warum denn, es ist eine Freude, auf junge Leute einzuwirken, ihre Liebe zur Bildung zu wecken, heißen Hunger auf Literatur, brennenden Durst nach Philosophie … vor allem aber in ihnen den Mut zu entzünden, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, wie es euer größter Landsmann Kant formuliert hat.

Das wär wohl etwas für Sie gewesen, Hibiscus, nicht wahr?

Mm?

Nichts für ungut. Aber sagen Sie, müssen Sie denn vormittags nicht arbeiten?

Wieso sollte er arbeiten, ist doch Sonntag.

Und Ferienzeit.

Verrinnzeit?

Aber nein, Ferienzeit, es sind Sommerferien. Bei uns in Italien dauern die Sommerferien drei Monate, zwar ein Schmarrn, ist aber so. Und sowieso, ewiger Sonntag im Gemüte, wie es im Taugenichts heißt …

Stimmt, die Italiener sind faul. Dass sie nichts taugen, tät ich nicht sagen, nicht alle, aber … die Semesterferien sind noch länger, fünf Monate, hihi, nur ab und zu eine Prüfung.

Sag mal, Hibiscus, was studierst du eigentlich?

Jura.

Puuuhh …

Stimmt, Hibiscus, du hast es ja vorhin erwähnt, als wir nach Sterzing unterwegs waren. Auf einmal bekam Gasser ein philosophisches Gesicht: Recht zu sprechen … in gewisser Hinsicht der unmenschlichste Beruf der Welt, meint ihr nicht? Neben dem des Pfarrers.

Ja, Pfarrer wär noch langweiliger, so was Trockenes.

Na, lassen wir das … aber kennt ihr diese Erzählung von Kafka? Mit dem Advokaten, der früher ein Schlachtross Alexanders des Großen war, usw. – Perger sagte schon seit einer Weile nichts mehr, er schaute betreten, nicht nur wegen seiner kleinen Augen (v. a. als Gasser die Literatur höchste der Künste nannte), u. klammerte sich an das schwarze Täschchen zwischen seinen Knien, lutschte Bonbon, rauchte HB, vielleicht war ihm vom Qualm mulmig, aber als Zwantulla vorschlug, ein Fenster zu öffnen, rief er: Nein, nein, keinen Zug! – Dann verstummte er wieder. Vielleicht schubberte ihn auch nur der raue Sitz am Rücken. Zwantulla schaute aus dem Fenster, wohin fuhren sie. Die Kirchtürme waren bloß Kirchtürme, so lang er auch hinsah. Noch immer wenig Verkehr. Auf dem Seitenstreifen stand ein LKW, den offenbar die Carabinieri angehalten hatten. Hibiscus winkte den Carabinieri im Vorbeifahren, was sollte denn das? – Dann bemerkte er, dass die Leitplanke neben der Autobahn durchgehend rostig war. Zuerst dachte er, es sei Blut, aber es war Rost. Auf seine Frage antwortete Gasser, während er den Panda an einem verschlafenen LKW vorbeiflitzen ließ, dass die Leitplanke bereits rostig gebaut worden sei. Damit man Blut darauf nicht sieht? Natürlich nicht, vielmehr sei Rost bekanntlich der beste Korrosionsschutz, es gibt nichts Besseres, man sollte es auch bei den Pandas so machen.

Was?

Von vornherein rostig bauen. Der Fiat Panda, in dem wir fahren, der rostet nämlich schon an allen Ecken und Enden … Türkanten, Radhäuser, Ölwanne, alles verrostet, im Grunde eine Frechheit, sowas zu verkaufen. Erst ein Jahr alt und zerfällt einem schon unterm Arsch!

Ein Jahr?

Naja, vielleicht zwei. Er lachte, Hibiscus mit ihm, Perger nicht. – Sie nahmen die nächste Abfahrt u. bezahlten, nachdem Gasser erneut fast gegen die Schranke gefahren wäre, die Maut bei einem müden Italiener, dem die Haare aus der Nase wuchsen. Etwas später hielten sie an einer Agip-Tankstelle, hinter einem Dorf mit gotischem Kirchturm. Perger kurbelte die Fensterscheibe auf der Beifahrerseite runter.

Am Sonntag so früh unterwegs?, sagte der Tankwart, während er die Zapfpistole in den Tank steckte.

Er u. Gasser schienen sich gut zu kennen. Gasser erzählte über Perger hinweg, dass er auf Wunsch von Professor Kumm 3 Gäste aus Deutschland durchs Land navigiere, an einige Orte jenseits der abgegrasten touristischen Fischgründe: Dies ist der berühmte Klavierspieler Professor Günter Berger.

Der Tankwart, dem eine Art Grinsen festgewachsen war, schüttelte Perger die Hand.

Dies der bekannte Journalist Doktor Zwantler aus West-Berlin.

Der Tankwart streckte sich u. schüttelte Zwantulla über Perger u. Hibiscus hinweg die Hand.

Und dies der Sohn von Professor Kumm.

Der Tankwart schüttelte Hibiscus die Hand: Keinen Kamm zur Hand gehabt, was? Nichts für ungut … und, wie gefällts euch bei uns? Schön, mal ein Tag unter Männern, was? Mal auf andere Gedanken kommen. Und wohin gehts jetzt?

Tja, hm, wohin?, überlegte Gasser u. schien sich erst jetzt zu entscheiden: nach Klamm!