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Albrecht Selge

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Beschreibung

Eine Frau auf unendlicher Reise. Sie lebt im Zug, in Großraumabteilen, in ICEs. Früher hatte sie ein normales Leben: Wohnung, Beruf, Mann, beste Freundin. Jetzt hat sie eine Bahncard 100, eine Tasche mit dem Nötigsten und lebt vom Flaschensammeln. Und doch scheint diese Außenseiterin hellsichtig. Für die Komödien und Tragödien um sie herum, für ein Deutschland ohne Orientierung. Albrecht Selges virtuoser Sprachwitz und hintergründige Ironie sorgen dafür, dass dieser Roman bei allem Ernst leicht und überraschend bleibt. Die Geschichte eines Sturzes? Eine Geschichte übers Aufstehen und Weiterfahren, über Obdach und Würde. Und ein Bild unserer Gegenwart aus außergewöhnlichem Blickwinkel.

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Albrecht Selge

Fliegen

Roman

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Über dieses Buch

Eine Frau auf unendlicher Reise. Sie kommt niemals an, denn sie lebt im Zug. Verlässt ihn nur zum Umsteigen. Ihr Leben, das sind Großraumabteile, Bordbistros, Warte-Lounges auf Bahnhöfen. Sie ist mittendrin und außen vor: sieht die Welt, den Gang der Tage und Nächte und Jahreszeiten, all die Reisenden, aber sie gehört nicht dazu. Früher hatte sie ein Leben wie die anderen, eine Wohnung, einen Beruf, ein paar Männer. Den lieben Lockenkopf, der sich für nichts entscheiden konnte. Ihre Herzensfreundin Lilo. Jetzt hat sie eine Bahncard 100, eine schwarze Tasche mit dem Nötigsten und eine große Tüte zum Flaschensammeln. Eine Existenz nach striktem Fahrplan, in der alle Anschlüsse in Gefahr sind. Und doch scheint diese Außenseiterin ungemein hellsichtig. Für die Komödien und Tragödien des Daseins und das unendliche Dazwischen. Für ein Deutschland, das die Orientierung zu verlieren scheint. Albrecht Selges virtuoser Sprachwitz und hintergründige Ironie sorgen dafür, dass dieser Roman bei allem Ernst immer leicht und überraschend bleibt. Die Geschichte eines Sturzes? Eine Geschichte übers Aufstehen und Weiterfahren, über Obdach und Würde. Und ein Bild unserer Gegenwart aus außergewöhnlichem Blickwinkel.

Über Albrecht Selge

Albrecht Selge, geboren 1975 in Heidelberg, aufgewachsen in Westberlin, studierte Germanistik und Philosophie in Berlin und Wien. Er erhielt u. a. Arbeitsstipendien des Berliner Senats, des Landes Baden-Württemberg und der Stiftung Preußische Seehandlung. Sein erster, von der Presse hochgelobter Roman «Wach» (2011) wurde für den Alfred-Döblin-Preis nominiert und mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis des Harbour Front Literaturfestivals Hamburg ausgezeichnet; zuletzt erschien «Die trunkene Fahrt» (2016). Albrecht Selge lebt als freier Autor mit seiner Familie in Berlin.

Eilt, ihr angefochtnen Seelen

Nullkommanull, um genau zu sein. Das ewige Einerlei der Bahnhöfe weckte null Interesse in ihr, anders als das ewige Einerlei der Züge. Und war ihr ja auch dieser feste Boden des Bahnhofs unter den Füßen schwer: als hinge eine Last an den Füßen. Vielleicht wollte der Bahnhofsboden sie sogar in sich hineinziehen. Vor Unruhe fing es in ihren Beinen zu kribbeln an. Ging sie also auf diesem schweren, unfreundlichen, ziehenden Bahnsteig schneller hin und her, nur ein bisschen schneller, aber angespannt, ungeduldig, Sporttasche untern Arm geklemmt, zusammengeknüllte Tüte in der Hand. Drei Euro fünfzehn eben kassiert. Schwupps, eine einsame Flasche im Sack. Schwupps, den freundlichen Blick einer Dame im Herzen. Ein Fröschlein, das Mücklein fängt. Aber der harte Blick einer anderen Dame löschte das Freundliche gleich wieder aus. Hau ab, du. Vorbei an einer Raucherinsel, zwei Menschen im gelben Quadrat, selbstvergessen aus sich herausblickend, jeder Mensch eine Kapsel. Mannkapsel und Fraukapsel. Als sähen sie aufs Meer. In den Sternenhimmel. Meer und Sternenhimmel. Sehnsucht nach dem All wieder mal. Auweia.

WEGENPERSONENIMGLEIS, leierte es über den Bahnsteig.

Als der ICE 2156 endlich einfuhr, löste die Unruhe sich auf, und das Schwere rutschte von ihren Füßen, versank in der Tiefe des Bahnsteigs, ohne sie mitzuziehen. Sie wusste, dass der Kopf des Zugs am leersten ist, aber stieg an seinem Ende ein, denn drin ist drin, selbst wenn er noch nicht fährt. Ging durch den ganzen langen Zug.

Züge sind innen hohl, wie der Mensch.

Endlich wieder in den Lüften. Ein oder zwei Meter über der Erde, unverbunden.

Sie kam an einem ihr vom Sehen bekannten Fahrgast vorbei, so einem rührend dicklichen Polizisten, der immer Kreuzworträtsel löst. Wenn etwas geschähe im Zug, Unfall, Amokläufer, da wär auf so einen rührend dicklichen Polizisten kaum zu zählen. Der erwischt ja nicht mal die goldmünzensammelnden Schlakse, die er über die Gleise jagt. Was am schlimmsten wäre, wenn jemand schwupps ihre Tasche klaute. Aber freute sich, dass der Polizist immer dasitzt.

Setzte sich im Großraumabteil ans Fenster im Zugkopf, schob die Tasche unter den Sitz, Riemen um ihr rechtes Bein. Wie immer der Fahrtrichtung entgegen. In Fahrtrichtung zu sitzen ist für Gelegenheitsfahrer, und rauscht der Zug in ein Unglück, dann soll das Unglück mal ruhig von hinten kommen. Ob man mit Arsch oder Nase voran untergeht, ist dann auch egal, aber von hinten kommend sieht mans nicht. Vielleicht freilich wird einem dann einfallen, dass man den Untergang doch gern sähe, wenns schon sein muss. Aber auch das wird egal sein. Der Platz neben ihr blieb frei, das Großraumabteil ziemlich leer, wie der ganze Zug. Der ICE 2156 war selten voll.

Ihre Füße jetzt wieder ganz leicht, trotz der geschwollenen Beine.

Herausfahren aus einer dieser mittleren Städte, Hinausfahren aufs Land, wie man sagt. Alle Tage. Auf gewohnten Gleise.

Sie fuhr jetzt ins zweite Jahr. Draußen war Sommer.

Zwischen Stadt und Land stockte die Fahrt, blieb der Zug eine lange Weile stehen. Blickte sie aus dem Fenster auf einen dieser funkelnagelneuen Kreisverkehre. Brauchte sie keine Brille, die Augen adlerscharf trotz Rentenalter. Wie aus dem Ei gepellter Kreisverkehr und war aus irgendeinem Grund stolz auf ihn, denn war doch fabelhaft gelungen. Wer hat dich, du schöner Kreisverkehr. Kaum ein Auto fuhr darin, so war das meist dort. In anderen Kreisverkehren freilich wälzt und stauts sich. Solche sah sie oft aus überfüllten Zügen. Dann kam Nervosität auf hier drin und Ärger, Hektik, wenn die Fahrt stockt und der Zug bleibt stehn: Anrufe! Der Zug steht schon wieder! Keine Ahnung, warum! Auf eins kannst du dich verlassen! Nämlich dass du dich auf die Bahn nicht verlassen kannst! Scheißdeutschebahn!

Diese böse Unruhe war gestiegen in letzter Zeit. Wurden sie alle plem.

So kams ihr zumindest vor und tat ihr leid, wenn sie das Gemecker hören musste, denn sie verließ sich auf die Deutschebahn.

Hier im halbleeren Zug juckte das Stocken und Stehenbleiben niemand, null Unmutsbekundungen, keiner, der die Deutschebahn verwünscht. Das tat gut, dass keiner verwünschte. In aller Seelenruhe (nur das Ziepen in den Knochen und das Stechen im Nacken) betrachtete sie den funkelnagelneuen Kreisverkehr, seine Leere, das Steinbeet in der Mitte, seine stolzmachende Gelungenheit.

Seelenruhe. Dann flog der Zug.

 

Anderer Bahnsteig, anderes Warten. Ewiges Einerlei. WEGENSTÖRUNGENIMBETRIEBSABLAUF.

Schon wieder! Ihr seid doch selbst gestört! Anrufe!

Aber nicht von ihr. Ihre einzigen Anrufe führte sie aus der Telefonzelle vor dem Freitagsbahnhof, aber ohne Schimpfen und Verwünschungen. Ihr war die Verspätung nicht schlimm, war ja auch keine große. Und ihre Route hatte vor jedem Anschluss einen ordentlichen Puffer. Oder eine Alternative, und wenn sie doch einen Anschluss verpasste, musste sie ein Stück quer fahren oder schnitt das Ende einer Ellipse ab, um wieder einzusteigen auf der gewohnten Route. Schaffner gaben ihr Auskunft oder freundliche Sitznachbarn mit Smartphone.

Aber das ist ja im Grunde vor und zurück? Da fahren Sie ja im Kreis. Warum fahren Sie nicht direkt nach X oder Y?

Unwillkommen dagegen die Minutengeschenke von Zugführern an ihre Fahrgäste. Freude in der Ansagestimme, dass der ICE 1207 fünf Minuten vor Fahrplan am Zielbahnhof sei. Sie war ja nicht am Ziel, was soll sie mit der Zeit. Nicht sparen. Aber auch nicht vertreiben, Zeit sparen und Zeit vertreiben, eins so furchtbar wie das andere. Verschenken vielleicht, das wär was, wenn man etwas von der Zeit einem Bedürftigen schenken könnte. Einem der Nervösen, Hechelnden, Flattrigen.

Und manche Stunde auf Bahnsteigen verbringen. Die Kehrseite aller Puffer ist das Warten und gut, wenn man da weiß, wie fest man ist trotz aller Schwernis. Denn tagein tagaus sich auf Bahnhöfen aufhalten wär nichts für eine, die sich glatt öfter mal vor Züge schmeißen würde. Sie nicht. Ab und zu tat es eine und öfter noch einer, so brutal sind eher Männer, auch gegen sich. Frauen anders. Ohne sich oder wen zu zerschmettern. Einmal im Süden sollte es ein Afrikaner gewesen sein, der sich vor den Zug geschmissen hatte, später verbreitete sich, die Polizei habe ihn festsetzen wollen, um ihn außer Landes zu bringen. Muss es in der Hauptverkehrszeit sein, ärgerte sich ein Mann, die Frau an seiner Seite sagte, sprich doch nicht so, und der Mann, ihm kanns doch jetzt egal sein.

Vertrottete sie also zwecks Warten die Zeit. War kurz vor den Bahnhof gegangen, einmal über den hässlichen Vorplatz, wo es einen günstigen Asiaten gab. Hatte von da den Bahnhof angeschaut: auch nicht mehr, was Bahnhöfe vielleicht mal waren, aber naja. Die neueren Bahnhöfe waren Einkaufscenter, in manchen gabs sogar Austernbars, das war wieder ganz schön, das Meer im Bahnhof, wenn die Austernbars nur nicht so hässlich wären, und für sie sowieso zu teuer. Nun also wieder im Bahnhof, unterm linken Arm die Sporttasche, in der rechten Hand eine Plastiktüte voller Luft, ein Dutzend PET-Flaschen, und in der Sporttasche ihre Siebensachen. Nur die schweren Füße waren leidig, nicht aber die Zeit, die weder verloren noch zu vertreiben ist, wenn man weder Eile noch Langeweile hat. Nullkommanull von allem.

Manchmal war ihr, als wäre auch die Zeit innen hohl und sie könnte sich verkehrt rum in sie setzen.

Aber nicht auf Bänke im Bahnhof. Da würde man sie am Ende, oder sogar sie sich selbst, für eine von denjenigen halten, die man sofort erkennt: die auf dem Bahnhof zuhause sind und nicht zuhause sind. Zuhause, weil kein anderes Zuhause haben, aber nicht zuhause, weil unerwünscht, bestenfalls geduldet. Wie so ein Subsidiärer, wovon in der Zeitung stand, oder nicht mal das. Geduldet von den Behausten, aber doch lieber weg damit. Also hielt sie sich fern von den Unerwünschten, Unbehausten. Nicht, weil sie eine Abneigung gegen die hätte (sollten ihr bloß nicht zu nahkommen), sondern weil sie hier sein durfte, und ein Dürfen setzt man nicht aufs Spiel. Dürfen heißt nicht erwünscht, schon gar nicht behaust, aber mehr als geduldet: berechtigt.

Das Flaschensammeln natürlich auch so diskret wie möglich, schon wegen des Hausrechts, und niemals aus Mülleimern. Als sie am Anfang einmal in einen Mülleimer gegriffen hatte, war ihr eine Ratte entgegengesprungen, na danke schön.

Trotzdem waren in jüngster Zeit die Blicke der Behausten scheeler geworden, oder lag das nur an ihrer eigenen Nervosität?

Hau ab, dachte sie.

Die beiden Sätze, die sie am häufigsten gedacht hatte in ihrem Leben:

Ich möchte lieber nicht.

Hau ab.

Einmal hatte sie auch einer der Unbehausten bedrängt, ein wunderschöner junger Afghane, der Geld von ihr wollte, um in eine andere Stadt zu fahren. Siebzehn Jahr, schwarzes Haar, zart und aufbrausend. Jemand anders war ihr zu Hilfe gekommen. Gab ja verschiedene Gruppen von Unbehausten, die konnten einander nicht ausstehen.

Da hatte sie wieder begriffen, dass es für Frauen schwerer ist als für Männer. Weil eine Frau doppelt und dreifach unbehaust ist.

Eher noch fühlte sie sich den Tauben verbunden. Die waren wohl auch Unerwünschte. Ratten der Lüfte, nannte die Tauben einmal der Mann, mit dem sie freitags Backgammon spielte. Aber ganz natürlich bevölkern sie die Bahnhöfe, trotz Taubennetzen und Taubenstacheln und Taubensperren. Sieht man den Tauben beim Fressen zu, beim unentwegten Picken und Schnabulieren, da erkennt man in den Bahnhöfen das Schlaraffenland.

Besonders schön waren sie ja nicht gerade, aber naja. Hässlich fand sie sie auch nicht, weder die fetten noch die zerrupften, nicht die grauen, nicht die hellgrauen, nicht die rostroten. Sie sind, wie sie sind, und das ist doch das Paradies. Grünliche, ölige Hälse, rötliche Augen. Auch nichts gegen ihr dickliches Gurren. Die Tauben waren die natürlichen Bahnhofsbewohner. Möglicherweise sogar von Ferne verwandt mit den Unbekannten, den natürlichen Bewohnern der Züge. Freilich nicht so mysteriös und auch nicht so lautlos und schwer sichtbar, sie verbargen sich ja nicht, im Gegenteil. Die Tauben waren ganz schamlos. Höchstens unsichtbar mit der Zeit, weil immer und ewig da. Das Ewige bemerkt man nicht.

Vielleicht war sie selbst eine Taube. Zu den Unbekannten gehörte sie gewiss nicht, die waren viel größer, und nicht nur das, aber vielleicht zu den Tauben; wäre also, möglicherweise, von Ferne verwandt mit den Unbekannten. Die nachts durch den Zug gehen. An den Dämmernden vorbei.

Noch nie hat sie die Unbekannten gesehen.

Doch ihre Behausung war größer als die der Unerwünschten und das Zuhause der Tauben. Alle Bahnhöfe, alle Züge. Alle Tage, ewiges Einerlei.

Besonders gemütlich war es nicht gerade, aber naja.

Als der ICE 2311 endlich einfuhr, war sie doch wieder ungeduldig geworden, angespannt, nervös. DIESERZUGVERKEHRTHEUTEINUMGEKEHRTERWAGENREIHUNG. Wann tut er das nicht. Dennoch Hektik der Einsteigenden, immer das Gleiche! Ärger! Unmut! Nicht so bei ihr, immer das Gleiche ist schön, ihre Unruhe schwand, die Füße wurden wieder leicht.

Sie ging durch den hohlen Zug, bis sie einen freien Fensterplatz fand. Entgegen der Fahrtrichtung. Schob ihre Tasche unter den Sitz, Riemen ums rechte Bein.

Der Zug flog. Zwei Meter über der Erde.

 

Verpasste Anschlüsse. Der Kopf wurde ihr auf tagaus tagein langen Fahrten manchmal schummrig, schwindlig und gerieten ihr öfter im Denken die ordentlichen Anschlüsse durcheinander, wie wenn sich was verpasste und war ihr egal. Ein Stück quer oder schnitt ein Ende ab und stieg auf gewohnter Route wieder ein. Wie auf so einer Abkürzung, auf der man sich schneller ins Ziel verläuft als auf dem richtigen Weg. Vielleicht ja auch bloß Hast und hat auch ihren Wert für unruhige Geister.

Aber vielleicht auch bloß rammdösig vom zerstückelten Schlaf.

 

Sah, wenns in eine Kurve ging, von ihrem Fensterplatz gegen die Fahrtrichtung aus das hintere Ende des Zugs, wie eine Schlange ihren Schwanz. Oder wie sie selbst ihren Bauch entlang hinab, aus dieser Höhle, die ihre Augen waren, und hatte sich immer gewundert, sich selbst anzuschauen, aber nie ganz, sondern nur, was abwärts von oben kommt. Und vorn.

 

Auf der anderen Seite des Ganges ein junges Paar, sie mit großen silbernen Ohrringen, das die ganze Fahrt über knutschte und sich ineinander verschlang, als hätten sie die Welt um sich vergessen. Oder hatten es. Obwohl sie daran nicht recht glauben konnte, ans Weltvergessen in der Liebe. Aber trug sie leicht über einen halben Tag, so was Schönes.

 

Oder dass die Landschaft vorüberflog. Dieser Satz. Schon als Kind hatte sie den schön gefunden, schön und unheimlich, unheimlich schön. Und fast so zauberhaft wie das Verschwinden. Jetzt fand sie ihn lächerlich, aber naja. Immer noch äußerst unheimlich und wunderschön.

Die Landschaft flog vorüber.

Blickte viel aus dem Fenster. Ist doch, wenn nicht der, dann ein Sinn des Zugfahrens. Nur manchmal beim Hinausblicken der flüchtige Eindruck, die Welt ist längst zu Ende.

Später las sie. Man kann nicht pausenlos aus dem Fenster blicken. Schon gar nicht auf endlose Schallschutzwände, Schallschutzwälle, Schallschutzdämme. Am Fenster ich einsam stand, als der das geschrieben hatte, hatte er nicht die Wälle und Dämme im Sinn. Im Zug sitzen auch nicht, aber naja. Vor Abfahrt des ICE 79 hatte sie einen Stapel Heftchenromane aus einer Bücherzelle mitgenommen, so einer blau angestrichnen früheren Telefonzelle vor dem Bahnhof, auf dem sie montags umstieg. Sie las viel. Ein, wenn nicht der Sinn des Zugfahrens. Querbeet, was ihr gerade in die Finger geriet, oft Bücher, die keiner mehr haben wollte, Hölderlin und Hera Lind, Heimische Tiere und Pflanzen. Zwei rote Fäden allerdings: erstens das kleine dicke gelbe Buch, zweitens gab es in der blauen Zelle oft Bücher über und mit Zügen. Grundfarben ihrer Leserei. Wer auch immer die Zelle pflegte (denn irgendwer außer gelegentlichen Passanten tat das), legte offenbar Ehrgeiz darein, sie mit Büchern zu füttern, in denen Eisenbahnen vorkamen und Bahnhöfe. Die las sie am liebsten und legte sie am nächsten Montag zurück in dieselbe Zelle, um sich neue Bücher mitzunehmen.

Kam ihr entgegen, dieses wahllose Lesen, denn sie hatte immer rasend gern gelesen, aber nie mit System. Am schönsten immer, wenn ihr dabei zauberhafte Wörter über die Füße stolperten, wie Handelsbeflissener. Und wünschte sich bei anderen Wörtern, dass es sich seelig schriebe oder beseeligen. So eine Leserin.

Ein einziges Buch behielt sie immer bei sich, das war ihr Eigentum, ihre Habseeligkeit. Es steckte im Außenfach der Sporttasche, ein kleines dickes gelbes Buch, das sie auf den letzten Drücker eingesteckt hatte, nach allem Lebensnotwendigen, weil sie dachte, Verse.

Wieder ein Glück erlebt. Die gefährliche Dürre geneset, und die Schärfe des Lichts senget die Blüte nicht mehr.

Verse sind immer gut. Bisschen plem, aber plem im guten Sinn: kann man stundenlang draufrumkauen, denn sie sind innen hohl. Satt gehn heim. Und zog das kleine dicke gelbe Buch vor allem nachts heraus, wenn sie die mitgenommenen Bücher oder herumliegende Zeitungen oder Magazine ausgelesen hatte.

Im Schummerlicht zu lesen.

Nachts.

In der heiligen, fürchterlichen Nacht.

Tagsüber, auf der schnellen Fahrt nach Süden, las sie den ersten Heftchenroman aus der blauen Zelle, Buffalo Bill – Die Eisenbahnpiraten. Aber fesselte sie nicht so. Zwischendurch hob sie den Kopf und sah sich um. Oder vertrat sich die Füße, auch um Nacken und Rücken mal zu entspannen und die geschwollenen Beine durchzuschütteln. Turnen war später, andrer Zug.

Ging durch die Reihen. Mal ein harter Blick, mal ein freundlicher, manchmal ein bekanntes Gesicht darunter. Als sie nach einigen Wochen, oder waren es Monate, begonnen hatte, Gesichter wiederzuerkennen, war ihr schwindlig geworden, aber nun schon längst nicht mehr. Einige Fahrgäste lasen oder blickten aus dem Fenster, viele beschäftigten sich mit ihren Smartphones. Sie hatte keins, nie gehabt. Nicht nur aus Kostengründen, sie konnte das Digitale nicht leiden. Das Internet. Einmal falsch geklickt, hat man Schulden oder Schlimmeres, und alles bleibt für immer da, wie man liest, nichts verschwindet.

Ach, verschwinden.

Und wer weiß, was da sonst noch haust. Las man ja allerhand in der Zeitung, was sich da so verdoppelt und vervierfacht und verachtfacht und verabertausendfacht, abertausendköpfige Hass-und-Hetz-Bots, solche Homunkulüsse. Blieb sie lieber in ihrer analogen Welt. Wenns nur nicht herauskriecht, in die Welt.

Aber kroch ja anscheinend. Hatte sie schon in den letzten Jahren in der Wohnung das Gefühl gehabt, so etwas Feindseliges. Aber noch nicht so wie jetzt.

Dann las sie wieder, dann blickte sie wieder aus dem Fenster: wie die Landschaft vorüberflog. Schallschutzwände, knallgelber Raps. Keine Büffel. Die gab es immerhin in anderen Gegenden, im Norden und Osten, wo das Land leerer ist. Keine Bisons zwar, aber immerhin. Zu Buffalo Bills Zeiten (aber das hatte sie nicht in den Eisenbahnpiraten gelesen, sondern irgendwann in einem Magazin in der DB Lounge) wurde aus den Zugfenstern geballert, bis die Büffel ausgerottet waren. Das käme vielleicht auch heute gut an, die Fahrgäste aus den Fenstern ballern zu lassen. Sieht man so einige Visagen im Zug, die wärn sofort dabei. Aber ICEs fahren zu schnell, als dass sie öffenbare Fenster haben dürften und träfe man bestimmt keinen einzigen Büffel in so happigem Tempo, geschweige denn ausrotten.

Einige schossen wohl auf ihren Smartphones nach Büffeln. Oder dergleichen. Zweifellos ein Fortschritt, nur durchs Smartphonefenster Büffel zu erschießen.

Dann las sie Lassiter stoppt den Höllenzug, gefiel ihr schon besser.

Ein Wetter im Wilden Westen, ein anderes Wetter in der vorüberfliegenden Landschaft, gar kein Wetter im ICE 79. Die Klimaanlage funktionierte. Nicht immer so in den ICEs. Wenn die Klimaanlage nicht funktionierte, gabs Ärger: Zu heiß! Zu kalt!

Im ICE 79 erfüllte die Klimaanlage ihr Versprechen: der Zug ein Ort ohne Jahreszeiten, wie ein Einkaufszentrum. Oder wie das Büro, in einem früheren Leben. Von dem alten Witz hielt sie nichts, den ihre Großmutter schon mit der Reichsbahn erzählt hatte, die Bahn habe nur vier Feinde, nämlich Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Der Zug fuhr sie sicher durch die Jahreszeiten, Woche um Woche. Statt Jahreszeiten Wochentage. Jeder Tag ein Siebtel ihrer wöchentlichen Route. Ihres Kreisverkehrs.

 

Plemplem gabs nicht. Gutes plem, schlechtes plem. Das ging nicht zusammen.

 

Während sie dämmerte, stapft Lassiter durch den Zug. Breitbeinig, wie es seine Art ist.

 

Die Landschaft flog vorüber. In keinem einzelnen Ding versinken, weil jedes zu schnell vorbeizieht. Aber versinken in der Gesamtheit der Dinge.

 

Spazierte, als sie wach war, selbst durch den ICE 945. Blieb im grauen Gummi zwischen den Wagen stehen, in den Akkordeonfalten, und lauschte aufs Knarzen und Knirschen, etwas anderes als Rattern und Quietschen des Fahrens, hörte nur sie das? Die Quetschigkeit des Raums. Der Zug ist innen hohl, wie ein Instrument. Ähnelte auch dem Rauschen im Halbrund Luft, wenn man mit der gewölbten Hand das Ohr zuhält, oder sogar dem Verschwinden aus der Welt als Kind, eins hängt mit dem andern zusammen. Im EC 171 hingegen war das Akkordeon aus Stahl, der sich schreiend über- und untereinander schob, und die Quetschigkeit so ein Verschieben, und gleichzeitig spürt man und hört und sieht die Luft unter dem Zug und die Gefahr. Der ICE 945 war dicht.

 

teilweise zu Studienzwecken, teilweise aus anderen, mir selber nicht recht erfindlichen Gründen, hatte sie in einem anderen Buch gelesen, das sie aus der Bücherzelle mitgenommen hatte, das hatte einen weißen Kindprinzen in einer Graswelt auf dem Umschlag und hieß Austerlitz und sie verstand nichts, machte sie plem, aber schwer beeindruckend, aus ihr selber nicht recht erfindlichen Gründen.

 

Gold einsammeln statt Büffel erschießen, das gefiel ihr. Hatte mal neben einem Kind gesessen, das peste auf dem Tablet mit so einem Schlaks über die Gleise und im Zickzack um Züge und sammelte alle Goldmünzen ein, mal wurde er von einem dicken Polizisten gejagt, mal von einem riesigen Hund.

 

Bewaldete Hänge. Sommerliche Wiesen. Große Pfützen, Schlammtümpel, es regnete viel. Ein Kreisverkehr, in dem der Verkehr sich staute. Sich ringelnde Landstraßen.

 

Pferdekoppeln. Buchenwälder. Windräder: Schafe mit drei Ohren, manche drehen den Kopf, manche schlafen im Stehen. Später ein Tanz von zwei, vier, sechsarmigen Strommasten. T-Kreuze die zweiarmigen.

 

Dicke Maisfelder, gelbe Rapsfelder. Die riesigen Felder im Osten, das Gefrickel im Süden. Solarfelder. Üppig grüner Hopfen an Drähten, Weinberge. Umgestürzte Bäume an Wasserläufen, in der Frankfurter Allgemeinen stand was von Biberplage.

 

Entvölkerte Landstriche, aufquellende Städte.

 

Mehr Land als Stadt.

 

Wände. Wälle. Dämme.

 

Tunnel rein, Tunnel raus. Tunnel rein, als flöge man ins schwarze Maul eines Tiers, hört den Körper des Tiers laut rauschen. Oder das Schwarz des Tunnels, das schlagartig losdröhnt. Tunnel raus. Und anderes lautes Rauschen, wenn ein Zug entgegen vorbeifährt, ein Wirbel von zwei Tieren im Kampf.

 

Folge treu dem alten Gleise,

wähle keine Heimat nicht.

 

Hereinbruch der Jahreszeiten, wenn die Klimaanlage funktionierte, aber der Zug liegenblieb beim ersten Schnee oder Hauch von Unwetter, oder wenn die Klimaanlage ausfiel von zu großer Hitze. Plötzlich Winter, Herbst, Sommer. Der zerbrochne Zug.

 

Im EC 173 hingegen war ein Wetter: dasselbe wie draußen, nur zugiger. Die Seiten der Neuen Zürcher Zeitung