Wadi al-Nasian - Daniela Jodorf - E-Book

Wadi al-Nasian E-Book

Daniela Jodorf

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Beschreibung

Ausgerechnet in dem Moment, als Celia voller Dankbarkeit auf ihr Berliner Leben blickt und sich am Ziel ihrer Wünsche und Träume wähnt, katapultiert sie ein plötzlicher Herzstillstand in andere Bewusstseinsdimensionen und heraus aus der ihr bekannten Welt. Vergeblich sucht sie nach dieser zunächst unbegreiflichen Nahtoderfahrung, diesem zugleich erschreckenden und beseelenden Ereignis, den Weg zurück in ihr altes Leben und ihre alte Identität. Doch stattdessen findet sie sich auf einem oft sehr einsamen Initiationsweg wieder, der sie bis nach Marokko führt und auf dem es für sie vor allem darauf ankommt, die Widersprüchlichkeiten des weltlichen und des transzendenten Bewusstseins täglich neu zu überwinden und in ihr Leben zu integrieren. Erst nachdem sie Berlin verlässt, gelingt es ihr im fernen Marokko ihren eigenen Wahrnehmungen und Erlebnissen mehr zu vertrauen als allem, was sie seit frühester Kindheit über sich, die Welt, das Leben und die Liebe gelernt hat und in ein Bewusstsein der Einheit und Selbsterkenntnis hineinzuwachsen, das ihrem Leben Sinn und Tiefe und ihr selbst Frieden und Freiheit schenkt.

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Seitenzahl: 553

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Daniela Jodorf

Wadi Al-Nasian

Wadi al-Nasian

Das Tal des Vergessens

Daniela Jodorf

Impressum

Text:

© Copyright by Daniela Jodorf 2023

Cover:

© Copyright by Daniela Jodorf 2023

Lizenzfreies Coverfoto und Design mit Dank an Canva.com

Verlag:

Daniela Jodorf

Leonhard-Kraus-Str. 2353604 Bad [email protected]

Druck:

epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Danksagung

Mit besonderem Dank an alle, die bei der Entstehung dieses Buches mitgewirkt haben:

Monika Winterstein und Monika Jodorf

Disclaimer

Im folgenden Roman geht es um schwere Krankheit, Todesnähe und intensive Verlusterfahrungen. Wer bereits ähnliche Erfahrungen gemacht hat oder sich stark vor diesen fürchtet, könnte von der Erzählung getriggert werden.

Die Autorin hat diese Themen mit der Absicht aufgegriffen, ihren spirituellen Aspekt herauszustellen. Ihr liegt insbesondere daran, die Möglichkeit des persönlichen Wachstums und der Erfahrung anderer Bewusstseinszustände durch die besondere Charakteristik von Nahtoderfahrungen in den Fokus zu stellen und sichtbar zu machen.

Die Geschichte der Protagonistin stellt eine fiktive,subjektive Erfahrung dar. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit.

Alles, was wir erleben,

geschieht im Spannungsverhältnis zwischen Leben und Tod,

zwischen Tod und Leben.

Aus dem Jenseits

erscheint das Diesseits

als Jenseits.

1

Die tägliche, sanft gedämpfte Abendruhe hatte sich bereits über die Stadt und alle Büros gelegt. Hier und dort arbeiteten nur noch einige wenige. Celia sah das Licht in den gegenüberliegenden Fenstern des Atrium-Gebäudes, wenn sie von ihrem Notebook aufsah und den Blick achtsam umherschweifen ließ. Sie liebte diese Tageszeit. Abends, zwischen sieben und neun, schaffte sie immer am meisten. Nie war sie konzentrierter, nie hatte sie bessere Einfälle, nie fühlte sie sich entspannter und wohler. Länger arbeitete sie nur selten. Spätestens um neun drängte sie die Sehnsucht nach ihrer Tochter nach Hause. Rica lag immer so lange wach, bis Celia endlich an ihrem Bett saß, ihr einen Gute-Nacht-Kuss gegeben und eine klitzekleine Geschichte erzählt hatte.

In einem liebgewonnenen, über einige Jahre einstudierten Ritual schaltete Celia ihr Notebook aus, verstaute es in ihrer Ledertasche, ging noch einmal ans Fenster in der vierten Etage, blickte in den immergrünen Innenhof und ließ das vertraute Gefühl der Dankbarkeit bewusst in sich aufsteigen. Wie viel Glück sie hatte. Wie sehr sie ihren Job liebte. Wie viel sie bewirken durfte. Das Leben hatte es gut mit ihr gemeint. Sie hatte alles, was sie sich jemals gewünscht hatte. Nein, sie hatte viel mehr, als sie jemals zu wünschen gewagt hätte. Celias Herz dehnte sich weit aus, während sich das Gefühl der Dankbarkeit wohlig und warm in ihrem ganzen Körper ausbreitete – hinauf bis in die Haarwurzeln und hinunter bis in die Zehenspitzen. Ihr Körper füllte sich ganz und gar mit diesem Dankesgefühl, das Celia augenblicklich auszudehnen schien, weit über die Grenzen der normalen Körperlichkeit hinaus.

Kurz darauf hatte sie das Gefühl, neben sich zu stehen und sich selbst von außen zu betrachten. Erstaunt hielt sie im glänzenden Fensterglas nach einem zweiten Spiegelbild von sich Ausschau. Natürlich vergebens, doch die eigenartige doppelte Wahrnehmung blieb. Hier war sie, die Celia, die aus dem Fenster sah, die erlebte, die dachte und fühlte, und dort war eine weitere Celia, die die erste still, stumm und wissend betrachtete. Sie strahlte eine fast überirdische Ruhe aus und ein beinahe bodenloses, tiefes Wissen sowie eine magische Zeitlosigkeit, die alles zu transzendieren schien. Celia traute sich, diese Art der Wahrnehmung ihres Alter Egos für eine Nanosekunde zuzulassen und schreckte doch sofort wieder zurück. Ihr war, als würde sie in das grenzenlose Wissen förmlich hinabstürzen und sich in der magischen Zeitlosigkeit vollständig verlieren, ja geradezu auflösen. Ängstlich trat sie einen Schritt zurück und wischte unwillkürlich mit der rechten Hand durch die Luft. Da löste sich die zweite Celia auf und mit ihr die Stille, die sie in den Raum getragen hatte, als hätte es beide nie gegeben. Nichts erinnerte mehr an sie. Celia schüttelte energisch den Kopf.

„Du bist müde und überarbeitet“, erklärte sie sich das Erlebnis. „Es wird Zeit, dass du nach Hause kommst und Urlaub machst.“

Sie drehte sich entschieden um, nahm ihren Mantel von der Garderobe, hängte sich die Tasche um, löschte das Licht und lief über die Treppe hinab ins Erdgeschoss. Der Sicherheitsdienst grüßte mit einem Nicken. Heute lächelte er sogar und winkte zum Abschied. Sie erwiderte seinen freundlichen Gruß.

Mit dem Fahrrad glitt sie wenig später lautlos durch den Straßenverkehr Richtung Kreuzberg. Es hatte den ganzen Tag leicht genieselt. Die Luft roch nach Herbstlaub und Abgasen. Für Celia hatte jede Jahreszeit in Berlin ihren ganz speziellen Duft. Sie hätte jede einzelne mit verbundenen Augen erkannt. Die Süße des blühenden Frühlings, das grasig Strohige der trockenen Sommerhitze, das sich manchmal mit dem Geruch von heißem Teer mischte. Das Nasse, Faulige des Herbstlaubes, das ihr immer ein bisschen den Atem raubte. Und nicht zuletzt die frostige Kälte der winterlichen Ostwinde, die in wenigen Wochen die Stadt in tristes Grau tauchen und sich mit dem vertrauten Geruch von Kaminfeuer mischen würde.

Celia brauchte nur zehn Minuten bis zum Landwehrkanal. Auf dem Radweg im Park nahm sie beide Hände vom Lenkrad und fuhr freihändig am Kanal entlang bis zur Uferstraße. Schon von Weitem sah sie das Licht in ihrer Wohnung auf der anderen Seite. Wie gemütlich sie im leicht gedimmten Leselicht aussah. Marlen saß bestimmt am Esstisch und arbeitete. Rica hatte wahrscheinlich schon drei Mal gefragt, wann Celia endlich heimkam, und Marlen hatte geschimpft, weil es schon so spät war und Rica nicht alleine einschlief.

Celia schloss ihr Fahrrad am Gartenzaun an und lief auf die Eingangstür zu. Sofort erfasste sie ein drängendes Gefühl der Vorfreude und eine wohlig warme Empfindung der Liebe. Mit wenigen großen Schritten nahm sie die Treppen in die erste Etage und schloss die Tür auf. Noch bevor Celia Marlen begrüßte, sah sie nach ihrer Tochter. Die Nachttischlampe brannte noch, doch Rica schlief schon tief; fest in ihr Federbett gekuschelt. War es heute wirklich so spät geworden? Celia sah auf die Uhr. Es war tatsächlich schon zehn. Sie hatte doch um zehn vor neun den Laptop ausgemacht und sich so beeilt. Rica hatte bestimmt versucht, mit aller Macht auf sie zu warten. Es tat ihr so leid, dass sie zu spät kam. Das Bedauern versetzte ihr einen unerwartet tiefen Stich ins Herz. Liebevoll beugte sie sich über ihr Kind und küsste es sanft auf die Stirn. Bevor sie das Licht löschte, zog sie Ricas Bettdecke glatt.

„Schlaf gut, kleine Rica. Ich hab´dich lieb“, flüsterte sie ins Dunkel.

Marlen sah gar nicht von ihrer Arbeit auf, als Celia ins Wohnzimmer trat.

„Hallo, Schatz!“ rief Celia und beugte sich über ihre Frau, um sie zu küssen.

„Wo bist du denn gewesen?“, fragte Marlen mürrisch. „Rica hat fast eine Stunde gewartet. Sie war so traurig. Ich konnte sie kaum trösten.“

„Ich weiß auch nicht... Mir ist die Zeit irgendwie davongelaufen. Ich habe um kurz vor neun aufgehört zu arbeiten. Hast du ihr eine Geschichte erzählt?“

„Ich habe ihr etwas vorgelesen. Aber du weißt ja, wie sie ist. Wenn du abends nicht da bist, ist ihr nichts und niemand gut genug.“

Celia wunderte sich über ihre gemischten Gefühle. Einerseits fühlte sie immer noch ihre starke Liebe zu Marlen und Rica, andererseits fühlte sie sich plötzlich schuldig. Wie jemand, der zu wenig Liebe gab, zu wenig Aufmerksamkeit.

„Gibt es noch etwas zu essen?“ fragte sie, um das Thema zu wechseln und weiteren, unterschwelligen Vorwürfen zu entgehen.

„Lasagne. Im Ofen. Ich mache gerade die Bestellungen für die nächsten zwei Wochen.“

Celia setzte sich mit dem lauwarmen Essen auf das Sofa. Während sie aß, betrachtete sie nachdenklich ihre Frau, die weiter konzentriert an den Bestellungen für ihr Café arbeitete. Sie würden die nächsten beiden Wochen an der Ostsee Urlaub machen. Deshalb musste Marlen noch einiges erledigen. Eine flüchtige Erinnerung an ihre erste Begegnung huschte durch Celias Bewusstsein und mit ihr das herrliche Kribbeln der Verliebtheit, das nicht selten nach vielen gemeinsamen Jahren verloren geht. Celia lächelte, und Marlen sah auf.

„Lachst du über mich?“, fragte sie, diesmal gespielt ärgerlich.

„Nein! Ich habe gerade an den Moment gedacht, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe.“

Marlen lachte endlich und ihre blonden Locken wippten fröhlich. „Du meinst auf Michas Party? Das ist ja ewig her.“

„Du hast getanzt und geraucht, und alle schienen dich anzuhimmeln. Ich war nicht sicher, ob du Frauen magst oder Männer...“

Marlen klappte den Laptop zu und kam zu Celia herüber. Sie setzte sich neben sie und nahm ihre Hand.

„Du weißt, dass das damals für mich keine Rolle gespielt hat. Und dass es heute auch noch keine Rolle spielt. Ich liebe dich, und ich würde dich auch dann lieben, wenn du ein Mann wärst. Man liebt kein Geschlecht, Celia. Man liebt immer einen Menschen.“

Sie küssten sich, und Celias emotionales Herz dehnte sich so weit aus, bis es sie beide einzuhüllen schien wie eine warme Decke oder eine beeindruckende Kraft, die sie miteinander verband, auch wenn sie voneinander getrennt waren.

„So fühlt es sich an, wenn man wunschlos glücklich ist,“ wusste Celia in diesem innigen Moment der Verbundenheit und Liebe; wenn man das gefunden hat, was zu einem gehört; wenn man angekommen ist.

2

Die nächsten beiden Tage war Celia mit zwei Kollegen aus ihrem Ministerium in Stralsund auf einer weichenstellenden Ostseekonferenz, die für die Land- und Wasserwirtschaft der kommenden Jahrzehnte von fundamentaler Bedeutung sein könnte. Lange hatte Celia in ihrem Ministerium für diese Ideen und Pläne geworben, ja sogar gekämpft. Erst zwei unerwartet trockene und heiße Sommer mit gravierenden Ernteausfällen hatten ihrer Expertise Gehör verschafft und die zuständigen Minister des Bundes und der Länder zu einer gemeinsamen Bewertung der aktuellen Lage und künftiger Gefahren und Notwendigkeiten bewogen. Celia hielt zwei Vorträge über wachsende Wasserknappheit in den östlichen Bundesländern und einen visionären Vorstoß des Bundeslandwirtschaftsministerums zur Gewinnung von Brauchwasser mittels Meerwasserentsalzungsanlagen vor der Ostseeküste.

Niemand hier bezweifelte die Notwendigkeit, den wachsenden Problemen der Zukunft mit neuen Methoden und Technologien begegnen zu müssen. Der innovative Vorschlag stieß deshalb nicht nur auf Gehör, sondern auf allgemeine Zustimmung. Celias Team hatte hervorragende Arbeit geleistet. Kompetent und gut vorbereitet, konnten die drei die wichtigsten Fragen beantworten und bereits verschiedene Ansätze und mögliche Hersteller der Anlagen sowie aufkommende Kosten benennen. Deutschland musste jetzt in seine Zukunft investieren, um seine Produktivität und seinen Wohlstand zu sichern.

Am frühen Freitagabend setzte Celia sich mit dem guten Gefühl, etwas Wichtiges, das der Zukunft und der Gemeinschaft diente, bewirkt und erreicht zu haben, hinter das Steuer eines Leihwagens, den sie im Tagungshotel gemietet hatte. Jetzt begann endlich der Urlaub, den sie sich redlich verdient hatte, dachte sie erleichtert, während sie im Navi „Ahrenshoop, Fischland“ eingab. In einer Stunde würde sie dort sein und endlich einmal wieder vollständig abschalten können. Sie sah sich bereits mit Rica im Sand toben, vor dem offenen Kamin im Wohnzimmer Kakao schlürfen und Marshmallows rösten, mit Marlen kochen und endlos Karten und andere Spiele spielen.

الوعي هو الحب

Kurz hinter Stralsund, sobald sie die Landstraße erreicht hatte, rief Celia Marlen an, die erst am nächsten Tag mit Rica von Berlin herauffahren würde.

„Wie war deine Konferenz?“, fragte Marlen direkt. Sie wusste, wie viel Arbeit und Herzblut Celia in ihr Projekt gesteckt hatte.

„Ein voller Erfolg. Ich glaube, wir haben alle überzeugt und gehen jetzt in die Planungsphase. Das bedeutet leider noch mehr Arbeit.“

„Aber nicht in den nächsten zwei Wochen!“

„Nein. Jetzt habe ich frei und Zeit für euch. Ich freue mich so auf morgen.“

„Wir auch. Willst du mit Rica sprechen?“

„Gib ihr einen Kuss von mir. Ich bin noch unterwegs und rufe später nochmal an, wenn sie schlafen geht.“

„Bis später, Celia. Ich liebe dich.“

„Ich dich auch.“

Der Supermarkt war voll. Die Herbstferien zogen viele Touristen nach Fischland auf den Darß. Celia kaufte nur schnell das Nötigste für den Abend und das erste Frühstück. Morgen Nachmittag würde sie gemeinsam mit Marlen und Rica einen größeren Einkauf machen. Das war ihr Ritual für den ersten gemeinsamen Ferientag, das eine wertvolle Zeit der Ruhe und Dreisamkeit einläutete. Rica war jedes Mal total aufgeregt, weil sie sich drei Sachen aussuchen durfte, die sie am liebsten aß. Marshmallows waren immer dabei.

Eine halbe Stunde später schloss Celia die schwere, grüne Holztür des weißen, reetgedeckten Hauses in Ahrenshoop auf, das ihren Eltern gehörte. Es roch noch nach Sonnencreme und Kaminfeuer von den Sommerferien, die sie gemeinsam mit Celias Eltern hier verbracht hatten. Celia dachte ein wenig wehmütig an die drei Wochen im letzten Juli, die für sie ein einziger Balanceakt gewesen waren. Einerseits hatte sie Zeit mit ihrer Familie verbringen wollen, andererseits hatte sie jeden Tag an ihrem Notebook gesessen, um die Konferenz vorzubereiten, die jetzt endlich hinter ihr lag. Obwohl die Konferenz nur ein erster, fundamentaler Meilenstein gewesen war, empfand Celia ihren Erfolg als gebührenden Lohn und genoss ihn sehr. Es war nicht leicht, in einer ministerialen Behörde mit Zukunftsvisionen gehört zu werden.

Celia stellte ihren Einkauf in der Küche ab und brachte ihren kleinen Rollkoffer nach oben ins Schlafzimmer. Sie öffnete das Fenster und sah hinaus auf das Meer, das in der goldgelben Abenddämmerung wie ein gebrochener Spiegel in kleinen, gleichmäßigen Wellen an den weißen Sandstrand brandete. Am liebsten wäre sie direkt hinunter ans Wasser gelaufen, wie früher in ihrer Kindheit. Doch heute war sie zu müde und zu hungrig.

Sie sprang kurz unter die Dusche und kochte sich dann in einem weichen hellgrauen Bademantel eine einfache asiatische Nudelsuppe mit Pakchoi, Reisnudeln, Zitronengras und Kokosmilch. Bevor sie aß, zündete sie das Kaminfeuer an. Ihr Vater hatte im Sommer Holz gehackt, das jetzt trocken genug war und sofort zu brennen begann. Als die Flammen gleichmäßig und wärmend züngelten, setzte Celia sich mit ihrem Abendessen in den alten Ohrensessel, der direkt am Feuer stand. In diesem Moment spürte sie, wie eine gewaltige Anspannung von ihr abfiel; die Last der beruflichen Verantwortung und die Last, stets Bestleistung vollbringen zu müssen. Celia seufzte tief.

„Ach, wenn ich mich doch immer so frei und unbelastet fühlen könnte“, dachte sie mit einer nie gekannten Wehmut, als hätte sie etwas Wichtiges verloren.

„Selbstverwirklichung kostet ihren Preis“, entgegnete ihre rationale innere Stimme. „Du hast das Privileg, etwas für dein Land und deine Mitmenschen zu bewegen. Und das macht dich glücklich.“

„Wieso kann man nie alles haben?“, fragte sie sich innerlich lächelnd, während sie begann, mit großem Appetit ihre heiße scharfe Suppe zu löffeln.

Um halb neun rief sie Rica an, um ihr ihre Gute-Nacht-Geschichte zu erzählen.

„Mama. Bist du schon im Haus?“, rief die Kleine aufgeregt.

„An meinem Lieblingsplatz.“ Celia drehte ihr Handy und zeigte Rica den Kamin.

„Und du. Bist du schon im Bett?“

„Bereit für deine Geschichte.“

„Was soll darin vorkommen?“

„Ein Haus am Meer. Ein Kind. Ein alter Mann. Ein Boot und ein Hund.“

„Gute Wahl. Du hast aber nicht an Martens gedacht, oder?“ Martens war der alte Leuchtturmwächter von Ahrenshoop, den jeder kannte. Täglich wanderte er mit seinem Hund am Meer entlang zum Leuchtturm, obwohl er dort längst nicht mehr arbeitete. Niemand konnte so gute Seemannsgeschichten erzählen wie er.

Rica lachte. „Nö. Aber du könntest von ihm erzählen, wenn du wolltest.“

Und Celia begann, von einem unheimlichen, leerstehenden Haus zu erzählen, das von einem Hund bewacht wurde, und von einem einsamen Mann, der ein Geheimnis hütete.

Schon nach wenigen Minuten hörte sie Ricas gleichmäßig tiefe Atemzüge.

„Gute Nacht, meine Kleine“, flüsterte Celia liebevoll und legte dann auf.

Plötzlich spürte sie viel deutlicher als zuvor die Stille im Haus. Draußen hörte sie die Brandung, das Kreischen der Möwen, eine sanfte Brise. Doch im Haus war es fast vollkommen still. Die tiefe Ruhe erinnerte sie an ihr eigenartiges Erlebnis im Büro, als sie sich plötzlich selbst betrachtet hatte. Und wieder, wie an dem Abend vor drei Tagen, schien die Stille sie magisch anzuziehen wie ein unsichtbarer Magnet. Celia wagte sich innerlich einen Schritt heran, überwand die natürliche Scheu und Vorsicht und ließ sich von der Stille berühren. Fast gleichzeitig schien das Rad der Zeit stillzustehen, schien jegliche Bewegung innezuhalten, jede Handlung einzufrieren. Die Stille wirkte machtvoll und stark. So stark, dass Celia fürchtete, zu tief in sie hineingezogen zu werden, in Bereiche, die vollkommen außerhalb ihrer Kontrolle lagen.

Tränen stiegen unvermittelt in ihr auf. Sie würde doch jetzt nicht weinen, dachte sie und sprang auf, um das Geschirr zu spülen und sich noch eine heiße Schokolade mit Cognac zu kochen. Um die Stille zum Schweigen zu bringen, stellte sie leise Klaviermusik an und versuchte, sich jeden Ton auf dem Klavier bildlich vorzustellen. Sie hatte das Gefühl, die Leere, die die Stille hinterlassen hatte, unbedingt mit Inhalt, mit Leben, mit Sinneswahrnehmungen und Gedanken, füllen zu müssen.

Mit jedem Schluck des warmen alkoholischen Getränkes wurde Celia müder und kraftloser. Es wurde Zeit schlafen zu gehen, wenn sie die Nacht nicht in dem Sessel am Kamin verbringen wollte.

الوعي هو الحب

Celia wachte im Morgengrauen schweißgebadet auf. Sie hatte furchtbar geträumt. Ihr Bewässerungsprojekt war krachend gescheitert. Die Felder versalzen, das Trinkwasser ebenfalls, die Nahrungsmittel ungenießbar. Die Ministerin stand vor ihr und machte ihr schreckliche Vorwürfe. Sie würde die Verantwortung für das Desaster übernehmen und kündigen müssen. Das war das Ende ihrer Karriere, das Aus für ihre Vision. Das Schlimmste, was ihr passieren konnte, dachte sie.

Sobald sie wach genug war, um die schrecklichen Erlebnisse als Albtraum zu erkennen, lachte Celia laut. Solche irrationalen Ängste kannte sie gar nicht von sich. Fest entschlossen, sich den Tag von absurden Traumszenarien nicht verderben zu lassen, sprang sie beherzt aus dem Bett.

Nach einer starken Tasse schwarzen Kaffees zog sie ihre Joggingsachen über und trabte leichtfüßig hinunter zum Strand. In den Dünen gab der helle Ostseesand unter ihren Füßen mit jedem Schritt ein wenig nach. Sie musste sich mehr anstrengen als im Park, wo sie sonst regelmäßig lief. Doch, sobald sie das Meer erreicht hatte, wurde der Sand fest, und Celia fand schnell in ihren Laufrhythmus, einen lockeren, gleichmäßigen Trab. Zu dieser Stunde wanderten nur wenige Leute am Strand. Hier, am Ende des Ortes, Richtung Nationalpark, war Celia oft ganz allein. Tief atmete sie die salzige Luft ein und streckte sich. Der wolkenlose Himmel schien zum Greifen nah. Obwohl es kühl war, spürte Celia schon die Wärme der Sonne. Es würde ein fantastischer Tag werden.

Mit einem Mal wurde es Celia schwindelig. Sie musste zu lange nach oben geschaut haben und hielt an, um zu verschnaufen. Jetzt spürte sie auch leichte Übelkeit. Sie setzte sich kurz in den Sand und fühlte sich schon wieder besser. Nach wenigen Minuten trabte sie wieder los, begann aber gleich darauf, ungewöhnlich heftig zu schwitzen. Im Nu war ihr T-Shirt durchnässt. Was war nur los mit ihr? Sollte sie umkehren? Doch der Morgen war einfach zu schön, um ihn nicht an der frischen Luft am Meer zu verbringen.

Celia wollte sich nicht rücksichtslos über ihre Grenzen pushen und fiel in ein langsames, gleichmäßiges Gehen.

„Ich sollte mich in Berlin einmal durchchecken lassen“, dachte sie noch, da spürte sie, wie ihr Herz erst stolperte und dann, nach wenigen holpernden Schlägen, ganz aussetzte. Es hielt einfach an. Stand still, wie ein Motor, der abgestellt worden war. Celia nahm das so deutlich wahr, wie sie nie zuvor in ihrem Leben etwas wahrgenommen hatte. Sie wartete darauf, dass ihr Herz wieder zu schlagen begann, dass es von selbst wieder zu arbeiten begann. Doch nichts geschah… Es war so still in ihrem Körper, ohne den gleichmäßigen Takt des Herzens, ohne das rhythmische Pochen des Lebens, das einem präzisen Uhrwerk glich.

Da sackten Celia auch schon die Beine weg, und sie fiel bewusstlos zu Boden. Zunächst war alles schwarz um sie. Kein Bewusstsein, keine Wahrnehmung, kein Gedanke, kein Gefühl. Doch dann sah Celia ihren bewusstlosen Körper wie von oben im Sand liegen. Sie fühlte sich leicht und lebendig. Da war es wieder, ihr zweites Selbst, durch dessen Augen sie jetzt alles klar und deutlich sehen konnte. Und in diesem Moment wusste sie: „Wenn dir jetzt niemand hilft, dann stirbst du.“ Es war ein klarer, kühler, nüchterner Gedanke. Viel zu nüchtern für den Ernst ihrer Lage. Völlig unemotional und unberührt. Als ginge es nicht um sie, nicht um ihr Leben. Als hinge sie nicht am Leben. Als wäre ihr alles egal.

Celia schwebte über sich und entfernte sich mehr und mehr von ihrem Körper. In einiger Entfernung kam ein Paar eine Strandtreppe hinunter. Sobald Celia es wahrnahm, war sie auch schon bei ihm, versuchte, den Mann und die Frau auf ihren eigenen, leblosen Körper aufmerksam zu machen. Doch niemand sah sie, niemand hörte sie. Dann lief die Frau doch plötzlich los, der Mann sprintete hinterher. Sie hatten ihren reglosen Körper am Strand entdeckt. Noch bevor die beiden ihn erreichten, war Celia wieder über sich und beobachtete das Geschehen. Der Mann telefonierte aufgeregt. Die Frau fiel vor ihr auf die Knie und begann sofort mit einer Herzdruckmassage. Celia hörte, wie die Frau bis dreißig zählte und ihr dann Luft in den Mund blies. Es war ein grausames Schauspiel, dessen widerwillige Zeugin sie wurde.

„War das wieder nur ein schrecklicher Traum?“, fragte sie sich, obwohl sie genau wusste, dass dies die grausame Wirklichkeit war.

Dann schien etwas an ihr zu ziehen, zog sie wieder hinab, zuerst in die Dunkelheit der Bewusstlosigkeit und dann hinein in den Körper. Sie röchelte und keuchte. Aber ihr Herz schlug wieder. Holprig und unregelmäßig zwar, aber es schlug. Ihr Körper fühlte sich schwer und geschunden an - wie eine erdrückende Last. Und sie war so müde. Sie wollte einfach nur schlafen und konnte sich nicht bewegen. Dumpf drangen die aufgeregten Stimmen des Ehepaares an ihr Ohr. Sie verstand keine Worte, so erschöpft war sie. Ihr war übel. In ihrer Brust schien ein Dolch zu stecken, so sehr schmerzte sie. Celia wollte schlafen, nur noch schlafen. Dann verlor sie wieder das Bewusstsein.Erst ein eiskalter Wind und ein unheimliches, donnerndes Dröhnen rissen sie erneut aus der Bewusstlosigkeit. Was geschah mit ihr? Wo war sie? Sie wusste es nicht. Sie spürte nur, dass lähmende Angst von ihr Besitz ergriffen hatte. Todesangst. Wenn sie jetzt starb, hätte sie sich nicht von Rica verabschieden können. Die Trauer schnürte ihr die Kehle zu, und sie fühlte, dass ihr Herz ein weiteres Mal aufhörte zu schlagen. Da war wieder diese Stille, das Schweigen der Lebensuhr. Eine eisige Kälte kroch in Celias Körper, schien alles einzufrieren, was an Leben in ihm gewesen war. Dann verlor sie erneut jegliches Bewusstsein, tauchte ein in die Schwärze der Bewusstlosigkeit, in den Nebel des Nichtwissens, des Nichtsehens, des Nichterkennens; des Nichtseins. Erst im Helikopter löste sich ihr zweites Selbst wieder vom Körper. Sie sah alles mit absoluter Klarheit. Den Notarzt, der sie ruhig und gekonnt zu reanimieren versuchte; den Piloten, der über das Meer Richtung Rostock abdrehte. Sie hörte die Funksprüche, sie roch die Desinfektionsmittel. Celia war so bewusst wie noch nie, während ihr Körper dabei war zu sterben.

„Sollte das wirklich alles gewesen sein?“, fragte sie sich. Sollte ihr Leben so früh enden? Gab es nicht noch irgendetwas, das sie erleben sollte, erleben musste? Hatte sie die Fülle des Lebens ausgekostet?

Wieder tauchte sie in die Dunkelheit der Bewusstlosigkeit ein und wusste im selben Moment, dass es diesmal zwei Ausgänge gab. Einen Ausgang in das Leben und einen in den Tod. Und sie hatte nicht die Wahl. Sie musste sich fügen. Sie wollte gar nicht für das Leben kämpfen. Alles war gut, wie es kommen würde.

Neben ihr piepste es, zuerst in einem holpernden, dann in einem regelmäßigen Rhythmus, der eine beruhigende Wirkung auf sie hatte, dem Rhythmus ihres schlagenden Herzens.

الوعي هو الحب

Im Krankenhaus ging alles rasend schnell. Celia wurde mit einer rollenden Trage aus dem Hubschrauber geschoben und in einem engen Raum mit gekachelten Wänden mit Hochdruck untersucht. Sie hatte noch immer furchtbare Angst, konnte aber weder sprechen noch sich bewegen. Sie war wie eingefroren, wie erstarrt. Niemand sprach mit ihr, niemand versuchte, sie zu beruhigen oder ihr zu erklären, was geschehen war. Niemand sagte ihr, was man mit ihr machte, oder wie es um sie stand. Sie selbst wartete voller Schrecken auf den Moment, wenn ihr Herz wieder einfach aussetzen würde und versuchte, sich auf das Piepen des EKG-Gerätes zu konzentrieren, das ihr beruhigend versicherte, dass ihr Herz noch schlug, wenn auch viel zu schnell und unregelmäßig.

Irgendwann wurde Celia im Laufschritt in einen Operationssaal geschoben. Man hob sie auf eine andere Liege. Gleich darauf setzte ihr jemand eine Beatmungsmaske auf und drückte eine Spritze in den Port, der jetzt in ihrem Handrücken steckte. Celia wusste nicht, wie er dorthin gekommen war. Endlich entspannte sie. Kurz öffnete sie sogar die Augen, ohne etwas Spezifisches zu erkennen. Alles wirkte diffus und verschwommen. Dann umfing sie wieder dunkle Bewusstlosigkeit, die in diesem Moment ein Segen war, denn mit ihr löste sich die Todesangst auf.

Plötzlich schlug das EKG panikartigen Alarm. Die Anästhesistin reagierte sofort. Hektisch versuchte sie, ihre Patientin zu stabilisieren; zog eine Spritze auf, drückte deren Inhalt in den Port auf Celias Handrücken und sah immer wieder den Operateur besorgt an. Schweiß stand auf ihrer Stirn, weil sie sich ihrer Verantwortung in diesem Moment überdeutlich bewusst war. Jeder kleinste Fehler könnte bedeuten, dass Celias Herz wieder aufhörte zu schlagen.

Celia sah jetzt wieder alles ganz deutlich, die gesamte Szene. Ihr Bewusstsein schien sich über ihren Körper hinaus ausgedehnt zu haben, statt weiter in Narkose zu schlafen. Es umfasste jetzt den ganzen Raum wie eine Einheit. Celia sah alles und jeden. Sie hörte und fühlte alles, was in diesem Raum vor sich ging, mit einer erschreckenden Deutlichkeit. Die beiden Operateure blieben ruhig, während die Anästhesistin immer nervöser wurde, je länger sie vergeblich versuchte, Celia zu stabilisieren. Eine OP-Schwester dachte bewusst positive Gedanken. Celia hörte sie ganz deutlich.

„Du bist geheilt, gesund und lebendig. Du bist geheilt, gesund und lebendig…“

Nichts schien von der Wirklichkeit weiter entfernt.

„Wenn das Herz jetzt wieder aussetzt, werden wir sie vielleicht nicht zurückholen können“, sagte einer der Ärzte tonlos, und alle anderen schienen sich auf das Schlimmste vorzubereiten.

Celia sah das EKG blinken, sie hörte seinen schrillen Alarm. Aber sie blieb ruhig und unerschüttert, als ginge es nicht um sie. Wie einen Film betrachtete sie die Szene aus ihrer Vogelperspektive und wusste in diesem Moment mit absoluter Sicherheit:

„Niemand kann hier etwas tun. Wenn es meine Zeit zu gehen ist, ist es meine Zeit zu gehen. Was auch immer geschieht, geschieht.“

Plötzlich erfasste sie ein starker Sog, zog sie zuerst an die Decke und dann hinaus aus dem Raum in eine dunkle Welt, in der es keinen Gegenstand und keinen Anhaltspunkt zur Orientierung gab. Celia hatte das Gefühl, mit Überschallgeschwindigkeit durch den endlosen Raum zu rasen, bewegt von einer Kraft, die sie gleichzeitig einschüchterte und zutiefst beruhigte. Celias Körper fühlte sich leicht und schwerelos an. Er schien vollkommen unversehrt und gesund. Auch ihr Ich-Gefühl war gänzlich intakt, deutlicher als in ihren Träumen, ja sogar klarer als im alltäglichen Leben.

„Bin ich jetzt tot?“, fragte sie sich und fand ihre Frage völlig absurd, weil sie sich lebendiger fühlte als jemals zuvor.

Ihr „Flug“ schien sich unvermittelt zu verlangsamen. Celia fand sich in einem eigenartigen Raum wieder, dessen Wände nebelig durchscheinend wirkten wie feine Vorhänge. Sie spürte eine fremde Präsenz, konnte aber niemanden erkennen, obwohl der Raum von einem diffusen Licht erhellt schien. Celia drehte sich einmal um die eigene Achse. Plötzlich stand eine große, sehr schlanke Frauengestalt in einem langen, rosa-grauen Gewand vor ihr.

„Was willst du hier?“, fragte diese unfreundlich und abweisend.

Celia versuchte, das Gesicht der Frau zu erkennen, doch es schien genauso nebelig wie die eigenartigen Wände des Raumes.

„Ich? Nichts. Wo bin ich überhaupt?“

„Ich stelle hier die Fragen! Du bist zu früh.“

„Ich habe doch gar nichts gemacht.“

„Du hast dich aufgegeben.“

„Ich habe mich nicht aufgegeben.“

„Doch! Du hast keine Ahnung vom Leben und vom Sterben!“

Die Worte der Frau klangen wie das schlimmste Urteil, das jemand über Celia hätte fällen können. Sie musste sich unbedingt verteidigen.

„Natürlich nicht. Woher denn?“

Die Frau lachte und äffte Celia nach. „Woher denn? Woher denn? Bist du so dumm oder tust du nur so? Hast du dir jemals über etwas anderes Gedanken gemacht, als über dein Wohlergehen, deine Familie und deine Karriere?“

„Du meinst Philosophie?“

Die Frau lachte wieder. „Nein, Philosophie ganz sicher nicht. Hast du jemals wirklich begriffen, dass das Leben dich etwas lehrt?“

„Lehrt?“

„Glaubst du, du bist zum Spaß inkarniert?“

„Zum Spaß? Inkarniert? Ich verstehe dich nicht.“

„Du musst zurück, um zu lernen. Du musst lernen, dich selbst zu verstehen. Du musst die Gesetze des Lebens erkennen, verstehen und anwenden lernen.“

Die Stimme der Frau wurde immer leiser. Gleichzeitig schienen sich die nebeligen Wände aufzulösen. Der ganze Raum verschwand, löste sich mit der gnadenlosen Richterin in Dunkelheit auf, und Celia wurde erneut fortgezogen. Das vernichtende Urteil der eigenartigen Frau steckte wie ein giftiger Pfeil in ihr. Hatte sie wirklich achtunddreißig Jahre lang „falsch“ gelebt, fragte sie sich immer wieder. Wenn sie falsch gelebt hatte, dann hatten es alle anderen um sie herum auch getan. War das eine ausreichende Entschuldigung? Eine genügende Rechtfertigung?

Jetzt kamen plötzlich aus dem Nichts unzählige Kugeln auf Celia zu wie schwebende Planeten in einem dunklen All. In jedem dieser Bälle sah Celia Szenen ihres Lebens, aus der Kindheit, der Jugend und aus späteren Lebensabschnitten. Celia sah sich selbst und fühlte alles so deutlich wie beim ersten Erleben. Es schien, als würde sie ihr ganzes Leben erneut durchleben, und endlich begann sie zu begreifen, was die Gestalt zuvor gemeint haben könnte. Noch war es nur eine diffuse, kaum greifbare Ahnung, weit entfernt von echtem Verstehen oder gar Einsicht. Es hatte tatsächlich etwas in ihrem Leben gefehlt. Etwas Unbeschreibliches, etwas Größeres und Tieferes, als das, was sie gekannt und gelebt hatte.

Die Stimmung veränderte sich. Die Dunkelheit wurde langsam, aber stetig heller, das Licht immer wärmer und weicher, die Umgebung wirkte freundlicher und liebevoller. Celia hatte das Gefühl, in goldenem, honigfarbenem Licht, das sie wärmte und nährte, zu baden. Sie fühlte sich geschützt und geborgen, getragen und eins mit allem; aber vor allem mit sich selbst. Hier gab es kein Urteil über sie, kein Richtig und kein Falsch. Hier gab es nur Akzeptanz und Geborgenheit. Alles schien gut so wie es war und wie es einst gewesen war. Die Gefühle der Akzeptanz und Geborgenheit lösten etwas in Celia aus, das sie nie gekannt hatte. Sie konnte sich fallen lassen, loslassen. Je mehr sie losließ, desto deutlicher hatte sie das Gefühl, sich aufzulösen. Ihr Körper wurde durchsichtiger und noch leichter und ihr Ich-Gefühl wurde schwammiger und immer diffuser. Gleichzeitig begann ein helles weißes Licht in der Mitte ihrer Brust zu leuchten, das nun auch ihre Umgebung erfasste und das goldene Licht fast völlig überstrahlte. Dasselbe Licht strahlte nun auch von ihrer Stirn aus. Alles war so hell und enorm klar. Da war nichts als Licht und Liebe, unbeschreibliches Licht, nie gekannte Liebe und ein ewiges Wissen, das alles umfasste, was je gewusst werden konnte. Gleichzeitig nahm Celia eine überirdische, von tiefem Frieden erfüllte Stille wahr. Jegliche Form löste sich darin auf; Gedanken, Empfindungen, Erinnerungen an ein ganzes Leben.

الوعي هو الحب

„Frau Berlinger! Frau Berlinger. Da sind Sie ja wieder.“ Eine junge Frau lächelte Celia an und streichelte ihr liebevoll über den Arm. „Verstehen Sie mich?“

Celia hörte sie, konnte aber nicht reagieren. Ihr Nacken schmerzte, und ihr Kopf war schwer wie Blei. Sie schaffte es bloß, mühsam mit den Augen zu blinzeln und die Umrisse der fröhlichen Frau auszumachen, die sich über sie beugte und so sehr darüber freute, dass sie sie ansah. „Wie schön, dass Sie zurück sind. Sie haben uns große Sorgen gemacht.“

Die Frau richtete sich auf, drehte sich zur Seite und kontrollierte die Anzeige eines großen Monitors.

„Ihr Puls ist hervorragend und Ihr Herz schlägt wieder in perfektem Takt.“

Celia hatte das Gefühl, sie müsste stolz darauf sein, doch sie wunderte sich nur. War sie nicht tot? Was war das nun wieder für eine Welt, für ein eigenartiger Erfahrungsraum, in dem sie sich so erschlagen und schwer fühlte und sich zugleich solch einer warmherzigen Freude und Fröhlichkeit gegenübersah?

„Ich hole schnell den Professor. Laufen Sie mir nicht weg.“

Celia begriff, dass das ein Witz sein sollte, auf den ihr Körper tatsächlich reagierte. Sie spürte ein Kribbeln und Kitzeln im Bauch. Überrascht drehte sie den Kopf zur Seite und blinzelte wieder, um ihre Umgebung zu inspizieren. Ein Sonnenstrahl fiel durch den Vorhang auf ihr Kissen, direkt in die Mitte ihrer Stirn. Sofort erinnerte sich Celia an das honigfarbene und das weiße Licht und an die immense Liebe, die sie erfahren hatte, in die sie sich aufgelöst hatte. Die überirdische Stille war hier mit ihr. Der tiefe Frieden umhüllte und durchdrang sie noch immer. Das unbeschreibliche Wissen war noch mit ihr.

Die Tür öffnete sich, ohne dass jemand angeklopft hätte. Celia spürte einen angenehmen Luftzug auf ihrer Haut, während ein dynamischer Arzt geschäftig in ihr Zimmer gerauscht kam. Sie erkannte ihn sofort als den Mann, der sie operiert hatte. Wann war das nur gewesen? Gerade eben? Vor Tagen oder Wochen?

„Da sind Sie ja wieder, Frau Berlinger“, sagte auch er. „Welcome back. Sie sind dem Tod gerade nochmal so von der Schippe gesprungen.“

Niemand schien hier besonders eingeschüchtert vom Tod und vom Sterben.

„Wissen Sie, welcher Tag heute ist?“ fragte der Professor, und Celia wusste sofort, dass sie diesen Test nicht bestehen konnte. Sie versuchte, ihren Kopf langsam hin- und herzudrehen, um ein Kopfschütteln anzudeuten. Sie schaffte es noch immer nicht, den Arzt anzusehen. Ihre Augenlider waren so schwer.

„Heute ist Samstag, der sechzehnte Oktober.“

Celia überlegte angestrengt, was das bedeutete. Sie war am achten Oktober nach Ahrenshoop gefahren... Plötzlich war alles wieder da. Alle Erinnerungen. Celia sah sich abends im Haus ihrer Eltern mit der heißen Schokolade am Kamin. Sie sah sich am Morgen beim Joggen am Strand; sah, wie sie zusammengebrochen und am Strand von Fremden reanimiert worden war. Sie erwartete, dass ihr Herz bei der Erinnerung rasen und pochen, vielleicht sogar wieder aus dem Takt geraten würde. Doch der Rhythmus des Elektrokardiogramms, dessen Töne sie überdeutlich hörte, blieb ruhig und gleichmäßig.

„Sie hatten drei Herzstillstände innerhalb sehr kurzer Zeit. In der OP hatten wir große Mühe Sie zurückzuholen. Zum Glück haben wir es geschafft und konnten Ihnen einen Defibrillator einsetzen. Wir mussten Sie anschließend in ein künstliches Koma legen, damit Ihr Körper sich von den Strapazen erholen konnte. Sie haben unser Können ganz schön herausgefordert, Frau Berlinger.“

Dass irgendjemand zu einer solchen Operation in der Lage war, erschien Celia unfassbar. Ihre Kehle und ihr Herzraum verengten sich, als ihr klar wurde, wie viel Glück sie gehabt hatte.

„Wissen Sie, was ein Defibrillator oder ein implantierbarer Kardioverter ist?“

Celia drehte wieder den Kopf von rechts nach links. Diesmal bewegte er sich schon schneller und leichter. Er fühlte sich langsam wieder an wie ihr Kopf.

„Der Kardioverter wird den Rest Ihres Lebens Ihr Nothelfer sein. Sobald Ihr Herz stolpert oder aussetzt, gibt er einen elektrischen Impuls ab, der den Herzmuskel stimuliert und wieder in den normalen Takt bringt.“

Celia fasste sich an die Brust. Sie konnte das Gerät nicht fühlen. Sie konnte nicht einmal glauben, dass ein elektronisches Gerät in ihre Brust implantiert worden war. Würde sie jemals wieder normal leben können, fragte sie sich ängstlich und verstört. Der Arzt mutete ihr ganz schön viel zu, nachdem sie gerade erst wieder bei Bewusstsein war. Sie hätte gerne eine Pause gehabt, um sich mit den Tatsachen anfreunden und abfinden zu können. Doch sie brachte immer noch kein Wort heraus, und der Arzt hatte ihr noch viel mitzuteilen.

„Hier bei uns werden Sie jetzt erst mal wieder zu Kräften kommen. Wir zeigen Ihnen, wie der Kardioverter funktioniert und bringen Ihnen alles bei, was Sie wissen müssen. Anschließend werden Sie eine Reha machen müssen. Und sehr wahrscheinlich werden Sie psychologische Hilfe brauchen, um Ihre Erlebnisse zu verarbeiten.“

Celia konnte nicht in die Zukunft denken. Für sie gab es nur diesen Moment und die Erinnerung. Kurz stieg die Angst in ihr auf, dass sie gar keine Zukunft haben könnte. Doch auch dieser Gedanke schien undenkbar.

„Wir haben bereits Ihre Eltern und Ihre Partnerin darüber informiert, dass Sie wach und wohlauf sind. Sie werden gleich hier sein.“

الوعي هو الحب

Sobald der dynamische Professor Celias Zimmer verlassen hatte, döste sie leicht ein. Es fiel ihr schwer, in dieser Welt zu bleiben, in der alles so laut, so hektisch, harsch und beschwerlich schien.

Ein verhaltenes Klopfen weckte Celia wieder. Gleich darauf drängten sich ihre Mutter und Marlen hastig herein. Sie schienen gleichzeitig zu lachen und zu weinen, und Celia spürte sehr deutlich ihre Erleichterung, aber auch die Sorge, die sie in den vergangenen acht Tagen gehabt hatten. Sie hatte beide noch nie so aufgeregt erlebt.

„Was machst du denn für Sachen, Celia?“ fragte ihre Mutter, als wäre Celia noch ein Kind.

Marlen stand schon an Celias Bett und nahm zitternd ihre Hand. „Wir haben solche Angst um dich gehabt.“ Marlens Augen waren gerötet, als hätte sie tagelang nur geweint.

Celia sah die beiden schweigend an und hatte Mühe, die gewaltigen Gefühle auszuhalten, die ihr entgegenschlugen. Sie selbst war noch immer ungewöhnlich ruhig. Wenn sie überhaupt etwas spürte, dann war das Müdigkeit. Müdigkeit gepaart mit einer wachsenden Sehnsucht. Sie begann, sich mehr und mehr nach dem Zustand der Liebe und des Friedens zurückzusehnen, den sie in den vergangenen Tagen irgendwann, irgendwo erfahren hatte. Eigenartigerweise schien die Gegenwart anderer Menschen diesen Zustand in immer weitere Ferne zu treiben. Fast schien er Celia in diesem Moment unerreichbar, obwohl sie sich noch genau an ihn erinnerte und ihn eben noch sehr deutlich erlebt hatte.

Celias Mutter starrte mit großen, angstgeweiteten Augen auf das Überwachungsgerät, das neben Celias Bett piepste und geduldig alle wichtigen Parameter aufzeichnete.

„Dein Herz schlägt jetzt so ruhig. Ich kann gar nicht glauben, dass es einfach stehengeblieben ist.“

Marlen standen Tränen in den Augen. Sie hielt sich fast verzweifelt an Celias Hand fest. Ihre Familie war durch die Hölle gegangen, während sie die wundersamsten, die berührendsten Dinge ihres Lebens erlebt hatte. Es tat ihr so leid, was sie ihren Liebsten angetan hatte. Würde sie ihnen jemals unbekümmert von ihren Erlebnissen nach den Herzstillständen berichten können? Würden sie ihr zuhören wollen? Würden sie sie verstehen?

Marlen küsste Celia auf die Stirn. Celia verstand nicht, warum dieser Kuss sie grausam schmerzte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie weinte leise und tonlos. Sie konnte einfach nichts sagen. Kein Wort kam ihr über die Lippen.

Die herzliche Krankenschwester verschaffte Celia wenig später Erleichterung. Sie brachte ein Tablett mit dem Abendessen herein und flötete fröhlich: „So, meine Damen. Ende der Besuchszeit. Es geht ihr gut, aber jetzt braucht sie Zeit für sich. Sie muss wieder zu Kräften kommen.“

Marlen zog ein Blatt Papier aus der Tasche. „Das hat Rica für dich gemalt. Sie schickt dir einen dicken Kuss.“

Celia nahm das Buntstiftbild in beide Hände. Das war ihr Haus in Ahrenshoop. Celias Sessel am Kamin, ein Tisch mit einer Tasse Kakao. Ein eiskalter Schauer lief Celia über den Rücken. Das Bild schien ihr wie die eingefrorene Erinnerung an einen Moment, in dem ihr Leben noch im Lot gewesen war. Als Marlen und ihre Mutter längst gegangen waren, hielt Celia Ricas Bild noch immer in den Händen. Fast roch sie den Duft der heißen Schokolade mit Cognac. Fast fühlte sie die Wärme des Kaminfeuers. Überdeutlich erinnerte sie sich an die Stille, die sie an dem Abend vor ihrem Zusammenbruch wahrgenommen hatte. An ihre Macht und magnetische Kraft. Und wieder fühlte Celia die natürliche Furcht vor ihr; die Angst, in der Stille und im Stillstand die Kontrolle über sich und ihr Leben zu verlieren.

Hatte sie an dem Abend geahnt, dass etwas Dramatisches passieren würde? Hatte sie gewusst, dass ihr Leben aus den Fugen geraten, dass sie dem Tod begegnen würde, fragte Celia sich. Die ehrliche Antwort lautete: sie wusste es nicht. Sicher wusste sie nur, dass sie an diesem Abend, genauso wie Tage zuvor in ihrem Büro, etwas Besonderes, Fremdartiges wahrgenommen hatte. Etwas, das ihr nie zuvor begegnet war. Plötzlich hatte das Leben, plötzlich hatte ihr Leben eine nie gekannte Tiefe, einen völlig neuen Aspekt hinzugewonnen, als hätte sich eine unsichtbare Tür geöffnet, die bis dahin vor ihr verborgen gewesen war.

3

Ein widerlicher Elektroschock schoss durch Celias Körper. Er tat ihr weh und erschreckte sie für einen kurzen, ersten Moment, obwohl sie darauf vorbereitet war, dass das passieren konnte. Ihr Kardioverter hatte einen fehlerhaften Stromstoß abgegeben. Er hatte fälschlicherweise angenommen, dass ihr Herzrhythmus in den lebensgefährlichen Bereich gerutscht war, wo ihr Herz erst stotterte und stolperte und dann möglicherweise ganz aussetzte. Das konnte vorkommen, hatte Celia in den letzten Tagen gelernt. Doch trotz dieser Ankündigung war es furchtbar unangenehm. Celia brauchte einige Minuten, um sich von dem Stromstoß zu erholen, der bis in die Haarwurzeln, die Finger- und Zehenspitzen zu spüren gewesen war. Trotzdem beunruhigte er sie nicht. Kaum etwas brachte sie derzeit aus der Ruhe. Nichts schien sie besonders aufzuregen oder gar ihr Angst zu machen. Sie fühlte sich wie ein Fels in der Brandung, fest verankert und beinahe unerschütterlich im ungewöhnlichen, dramatischen Geschehen. Immer wieder hörte sie die Worte der eigenartigen, scharf urteilenden Frau, die ihr während des Herzstillstandes begegnet war. Sie war absolut überzeugt davon gewesen, dass Celia leben und nicht sterben würde. Diese Gewissheit hatte sich in jede Zelle ihres Körpers und in die tiefsten Tiefen ihres Gedächtnisses gebrannt. Sie wusste mit dieser unerschütterlichen Sicherheit, dass sie nicht mehr in Gefahr war, dass sie leben würde. Lange, intensiv, bewusst und auf eine ganz andere Art als bisher.

Heute kam Rica das erste Mal zu Besuch. Celia hatte sich mit Marlen und ihrer Tochter im Krankenhauspark verabredet. Die frische Luft tat ihr gut. Sie fühlte sich gesund und kraftvoll. Besser als vor der Einlieferung, stellte sie fest, während sie langsam zum verabredeten Treffpunkt ging. Es erschien ihr wie ein Wunder, dass sie bereits eigenständig laufen konnte, ohne nennenswert aus der Puste zu geraten. Obwohl man den Bäumen und Sträuchern den Herbst bereits ansah, spürte Celia die ungeheure Lebenskraft der Vegetation in jeder Nervenzelle. Sie wartete unter einer Trauerweide auf Rica und Marlen und lauschte dem Rauschen des sanften Windes in den Blättern und Zweigen. Ein leises Staunen erfasste sie, als würde sie die Natur zum ersten Mal wirklich wahrnehmen, sie spüren und erleben.

„Mama!“, hörte sie Rica in der Ferne rufen. Da rannte die Kleine auch schon los und sprang kurz darauf in ihren Arm. Marlen wurde blass. Celia spürte ihre Unruhe deutlich, während sie Rica hochhob und küsste; auch, um Marlen zu beruhigen und ihr zu zeigen, wie fit sie war.

„Ich hab´ dich so vermisst“, rief Rica, und Celia traf die Liebe ihres Kindes mit voller Wucht.

„Und ich dich erst.“

„Ferien ohne dich sind doof.“

Celia lachte. „Vielleicht kann ich morgen schon nach Hause.“

„Hurra! Dann können wir noch alles machen, was wir uns vorgenommen hatten.“

„Na, alles wahrscheinlich nicht. Es sind ja nur noch drei Tage, dann müssen wir schon zurück nach Berlin.“

„Können wir nicht länger bleiben, damit du dich noch erholen kannst?“

„Ich werde für ein paar Wochen in eine Art Hotel fahren, um wieder ganz gesund zu werden.“

„War es sehr schlimm? Marlen hat gesagt, du warst sehr, sehr krank.“

„Ja, ich war sehr krank, Rica. Aber es war nicht schlimm. Mir haben fremde Leute geholfen, und die Ärzte waren auch sehr gut. Jetzt geht es mir jeden Tag besser. Du wirst sehen.“ Mit jeder Faser ihres Körpers vermittelte Celia ihrer Tochter aufrichtige Zuversicht. Dann erst setzte sie die Kleine wieder auf dem Boden ab und hielt ihre Hand, während sie fasziniert, wie zum ersten Mal, die tiefe, echte und ungebremste Liebe fühlte, die sie mit ihrer Tochter verband.

Marlen hatte die beiden über die Wiese erreicht und küsste Celia kühl auf die Wange. Celia spürte Marlens innere Zurückhaltung und ihre Skepsis. Sie schien Celias bemerkenswerter Vitalität nicht zu trauen. „Du kannst wirklich schon nach Hause?“

„Wenn ich mich schone und ausruhe. Das musste ich den Ärzten versprechen.“

„Ich weiß nicht, ob ich das kann!“ Marlens Stimme klang messerscharf und zugleich kalt und leer.

Beinahe wie aus einem Munde fragten Rica und Celia: „Was kannst du nicht?“

Marlen wirkte blass und suchte nach Worten. „Dich nach Hause holen. In deinem Zustand.“

„Guck mal, Rica. Da vorne gibt es Goldfische. Lauf doch mal vor. Wir kommen gleich zu dir.“ Celia wollte Rica keine unnötige Angst machen. Erst, als die Kleine munter losrannte, wandte Celia sich an Marlen. Sie nahm ihre kalten Hände und drückte sie fest.

„Du musst keine Angst haben. Das wird nicht mehr passieren. Der Defibrillator arbeitet einwandfrei. Ich nehme Medikamente. Ich weiß, wie ich mich verhalten muss.“

Celia hätte gerne noch hinzugefügt, dass sie wusste, dass sie leben würde, dass sie lernen würde, dass sie zum ersten Mal seit ihrer Kindheit wieder neugierig war, weil sie das Leben mit ganz anderen Augen betrachtete. Doch dafür war kein Raum. Marlen wirkte eigenartig abweisend und defensiv. Celia spürte überhaupt keine Wärme in ihrer Gegenwart.

„Niemand von uns kann dich wiederbeleben. Deine Eltern nicht, und ich auch nicht.“

Celia legte Marlens rechte Hand auf ihre Brust.

„Das wird nicht nötig sein. Spürst du das? Mein Herz schlägt ruhig und regelmäßig. Hier schau.“ Celia zeigte Marlen den Pulsmesser an ihrer Uhr. „Mein Puls ist bei siebzig. Das ist ideal.“

„Du warst doch auch gesund, als es passiert ist.“

„Nein. Das war ich nicht. Ich muss schon länger unter Herzrhythmusstörungen gelitten haben, ohne es zu wissen.“

„Ich fühle mich einfach nicht gut dabei. Ich werde nachts neben dir liegen und nach jedem Atemzug lauschen.“

„Du hast Angst. Das ist doch vollkommen normal, Marlen. Wir werden uns daran gewöhnen müssen. Wir alle.“

„Mama. Die Fische sind riesig. Kommt doch her“, rief Rica fröhlich und winkte.

Während sie schweigend nebeneinander zum Teich gingen, fragte Celia sich, warum Marlen so pessimistisch und abweisend war .

الوعي هو الحب

Bevor Celia die Klinik verlassen durfte, hatte sie noch eine Abschlussbesprechung bei Professor Neuburg. Ihre Tasche war schon gepackt. Celia hielt es keine Sekunde länger als nötig im Krankenhaus. Ihr Vater hatte versprochen, sie in einer Stunde abzuholen. Schwester Lisa brachte Celia in das Untersuchungszimmer und bat sie, sich erneut auf die Behandlungsliege zu legen, bevor sie ihre Patientin alleine wartend zurückließ. Celia starrte an die Decke und spürte den Rhythmus ihres Herzens.

„Eigenartig“, dachte sie. „Früher habe ich meinen Herzschlag nie so deutlich wahrgenommen.“

Sie hörte Stimmen im Flur. Die Tür ging auf, und der Professor kam gewohnt geschäftig hereingerauscht. Wie immer sprach er schon von Weitem mit ihr.

„Frau Berlinger, Sie wollen uns also heute verlassen?“

Celia antwortete nicht auf diese rhetorische Frage.

„Ihre Werte sind hervorragend. Sie sind richtig eingestellt. Nichts spricht aus meiner Sicht dagegen.“

Er hörte noch einmal ihr Herz ab und fühlte ihren Puls.

„Die Unterlagen für die Reha können Sie gleich mitnehmen. Sie brauchen diese Zeit, um das Geschehene zu verarbeiten. Versprechen Sie mir, dass Sie sich nicht zu viel zumuten, auch wenn Sie sich gut fühlen!“

Celia sah den Professor zum ersten Mal heute direkt an. Irgendetwas an seiner Stimme hatte sich plötzlich verändert und ließ sie aufhorchen. Er wirkte überraschend weich, fast ein wenig sentimental. Sie nickte nur und wartete. Professor Neuburg schien noch etwas sagen zu wollen.

„Für mich ist es ein Wunder, dass Sie noch leben. In der OP waren Sie über sieben Minuten ohne Herzschlag. Keine unserer Wiederbelebungsmaßnahmen konnte Sie zurückholen. Wir waren kurz davor aufzugeben, da wurde es plötzlich sehr still und ganz kühl im OP-Saal.“

Der Professor wirkte sichtlich berührt. Seine Erinnerung schien glasklar. So klar, dass Celia seine inneren Bilder fast zu sehen glaubte. Sie hatte den Eindruck, er kämpfte mit den Tränen.

„Gleichzeitig kam es mir vor, als würde es gleißend hell. Das Licht kam aber nicht von irgendeiner Lampe. Es schien von innen zu kommen. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll… Ich habe mit einem Mal die unerschütterliche Gewissheit gespürt, dass alles gut ist. Dass ich aufhören kann, um Sie zu kämpfen, dass ich loslassen darf. So etwas erlebt man in meinem Job nicht oft. Normalerweise kämpfen wir um jeden Patienten, um jedes Leben, um Gesundheit und Heilung. Wir stehen sehr unter Druck, weil wir täglich an dieser existentiellen Klippe arbeiten. Doch an diesem Tag war alles anders. Als ich das verstanden hatte, hörten wir Ihre Herztöne wieder und konnten die OP wie geplant fortsetzen. Da habe ich zum ersten Mal wirklich begriffen, dass unsere Fähigkeiten und unser Verständnis des Lebens sehr begrenzt sind. Wir denken immer, wenn wir alles tun, was in unserer Macht steht, dann müssen wir heilen und Leben retten können. Heute scheint mir unser Glaube an die Kausalität total naiv und verblendet zu sein. Es gibt keinen logischen, keinen kausalen Grund dafür, dass Sie jetzt mit mir sprechen; dafür, dass Sie leben. Normalerweise kann ein menschlicher Organismus einen siebenminütigen Herzstillstand nicht unbeschadet überleben. Der Sauerstoffmangel schädigt das Gehirn und alle lebenswichtigen Organe. Es muss also noch etwas geben, das nicht linear, nicht kausal ist und wirkt und sich ganz und gar unserer Macht, unserer Kontrolle und unserem Verständnis entzieht. Aber das erleben wir nur sehr, sehr selten. Wenn wir es erleben, dann erscheint es uns wie ein Wunder.“ Der Professor sah sie lange schweigend an, bevor er fortfuhr. „Sie müssen mir versprechen, dass Sie etwas aus diesem, aus Ihrem Wunder machen. Machen Sie etwas aus Ihrem Leben. Ich habe keine Ahnung, ob es einen Gott gibt, oder eine höhere Kraft… Aber an diesem Tag habe ich etwas Heiliges gespürt. Etwas, dem ich noch nie begegnet bin, und das wird mich noch lange beschäftigen. Ich weiß nicht, was Sie erlebt und gesehen haben. Aber ich habe das Gefühl, dass Sie ein kostbares Geschenk erhalten haben. Machen Sie nicht einfach so weiter wie bisher. Nehmen Sie dieses Geschenk an, und lassen Sie zu, dass es Sie verändert. Unsere Welt braucht Menschen, die Wunder kennen, die Wunder für möglich halten. Menschen, die das Heilige in sich tragen wie einen kostbaren Schatz.“

Mit einem Mal wirkte der Professor ganz verlegen. Er schien sich beinahe für seine emotionalen, begeisterten Worte zu schämen, und Celia spürte eine nie dagewesene Vertrautheit und Zuneigung zu diesem so rationalen Mann, der in diesem Moment besser beschreiben konnte als sie, was wirklich geschehen war.

„Verzeihen Sie mir, dass ich so mit Ihnen rede. Ich möchte auf keinen Fall übergriffig sein. Es ist nur so… Wenn ich es fühlen konnte, dann müssen Sie es auch erlebt haben. Und es muss für Sie viel wichtiger und bedeutsamer sein als für mich. Leben Sie wohl, Frau Berlinger.“

Noch bevor Celia etwas entgegnen oder sich bedanken konnte, floh Professor Neuburg aus dem Behandlungszimmer und sah sich nicht noch einmal nach ihr um.

الوعي هو الحب

Das Erste, was Celia zurück in Ahrenshoop tun wollte, war, allein an den Strand zu gehen. Marlen und ihre Mutter hatten alles versucht, ihr diesen für sie unverständlichen Wunsch auszureden.

„Lasst sie doch. Sie wird schon wissen, warum sie dorthin zurück muss“, hatte ihr Vater für sie gesprochen. Er schien überhaupt der Einzige zu sein, der sie in diesen Tagen normal behandelte; der Einzige auch, der wahrnahm, dass es ihr gut ging.

Marlen räumte wütend die Geschirrspülmaschine aus, und Celias Mutter kümmerte sich um die Wäsche.

„Das tun sie immer, wenn etwas geschieht, das sie nicht wollen oder falsch finden“, dachte Celia.

Innerlich über diese Eigenarten grinsend, machte sie sich allein auf den Weg an den Strand. Die Straße entlang bis zur Düne, dann über den Holzweg, die Treppe hinab ans Meer. Starker Wind peitschte die Ostsee auf. Die Stimmung war ganz anders als vor elf Tagen, als Celia dieselbe Strecke im strahlenden Morgenlicht gejoggt war. Sie zog ihre Kapuze über und kniff die Augen zusammen. Gierig sog sie den salzigen Duft des Meeres tief in ihre Lungen und stemmte sich gegen den Wind. Die Stelle, wo sie zusammengebrochen war, lag etwa einen Kilometer weiter nördlich. Der Wind kam von vorn, und Celia kämpfte gegen die Böen. Obwohl sie sicher war, dass es ihr gut ging, warf sie einen prüfenden Blick auf ihre Uhr. Ihr Herz schlug regelmäßig und im grünen Bereich.

Bald hatte sie die Stelle erreicht, wo sie bewusstlos zusammengebrochen war. Im Sand entdeckte sie zwei halb vergrabene Gumminoppen vom mobilen EKG wie Anker, die die Gegenwart an die Vergangenheit banden. Celia erinnerte sich an alles. An die Gesichter des Ehepaares, das Erste Hilfe geleistet hatte. An den Notarzt und den Hubschrauber. An jede Handlung und jedes Wort, an jeden Geruch und jedes Gefühl. Wie hatte sie nur so viele verschiedene Dinge gleichzeitig wahrnehmen können? Und wie war es möglich, dass sie sich so haargenau erinnerte, obwohl sie bewusstlos gewesen sein musste? Wenn sie jetzt zurückblickte, dann hatte sie das Gefühl, als hätte sie nicht mit ihren körperlichen Sinnen wahrgenommen, sondern mit etwas anderem, das viel detaillierter und differenzierter wahrnehmen konnte als die gewöhnlichen fünf Sinne. Fast kam es Celia vor, als hätte ein anderer Teil des Bewusstseins die Wahrnehmung übernommen, während ihre normalen kognitiven Fähigkeiten ausgeschaltet gewesen waren. Celia fröstelte.

„Du musst zurück, um zu lernen. Du musst lernen, dich selbst zu verstehen“, hörte Celia die Stimme der eigenartigen Frau, die ihr nach dem dritten Herzstillstand begegnet war. Wie wenig wusste Celia über sich selbst, über die menschlichen Fähigkeiten und Eigenarten. Sie hatte nie darüber nachgedacht, wie Wahrnehmung funktionierte. Nie hatte sie sich gefragt, ob es noch andere Formen der Wahrnehmung als die ihr bekannten und vertrauten geben könnte. Wie war es möglich, dass, während sie bewusstlos gewesen war, eine Form von Bewusstsein aktiv gewesen war? Wer war dann bewusstlos gewesen und wer oder was bewusst? Und wieso erschien ihr die Bewusstheit nach dem Herzstillstand bewusster als ihr normales Bewusstsein?

Celia setzte sich in den Sand und ließ die Fragen in sich nachhallen. Sie spürte, dass sie eine wichtige Beobachtung gemacht hatte. Plötzlich wurde es sehr still in ihr und fast im gleichen Moment löste sich ihr Bewusstsein vom Körper. Jetzt betrachtete Celia die Situation wieder aus der erweiterten Vogelperspektive. Sie schien über sich zu schweben, einer Drohne gleich, die Kilometer weit schauen konnte. Hier gab es keine Fragen, kein Verstehenwollen, kein Warum und kein Weshalb. Hier „sah“ Celia einfach alles in einem um ein Vielfaches vergrößerten Wahrnehmungsfeld, ungefärbt von subjektiver Befindlichkeit, frei von Wünschen und Wollen und deshalb auf eigenartige Weise objektiv.

Celia dachte in diesem Zustand an ihre Familie und deren Ängste und Sorgen. Im gleichen Moment sah sie ihr Haus. Ihr Vater las am Küchentisch Zeitung und trank eine Tasse Tee. Er war zufrieden und glücklich. Ihre Mutter bügelte im Schlafzimmer und hatte sich wieder beruhigt. Marlen telefonierte mit einer Freundin in Berlin und weinte, während Rica in ihrem Zimmer mit kindlicher Leidenschaft und Freude ein Bild malte. Der kurze Eindruck schien ein perfektes Abbild ihrer Familie zu sein. Genauso waren die Menschen, die ihr am meisten bedeuteten. Genauso reagierten sie auf ihre Krankheit. Genauso gingen sie mit Problemen und Konflikten um.

Dann löste sich die erweiterte Wahrnehmung auf. Celia nahm sich selbst und ihre Umwelt wieder aus körperlicher Perspektive mit den fünf Sinnen wahr. Der Wind blies stärker und kälter als zuvor, und Celia machte sich auf den Rückweg, um sich nicht zu erkälten.

الوعي هو الحب

Marlen brauchte an diesem Abend ungewöhnlich lange im Bad. Celia war schon mehrere Male kurz eingenickt, als ihre Frau sich endlich neben sie legte und das Licht löschte. Marlen lag auf der Bettkante, verkrampft und unbeweglich wie ein Brett. Celia spürte ihre angespannte Präsenz überdeutlich und unangenehm. Sie drehte sich verständnisvoll zu ihr.

„Du brauchst keine Angst zu haben, Marlen. Es geht mir wirklich gut. Es wird nicht wieder passieren.“

„Das sagst du immer. Aber du kannst es einfach nicht wissen.“

„Doch. Das kann ich. Ich weiß es mit absoluter Sicherheit.“

„Niemand kann das wissen. Du wärst fast gestorben.“

„Ja, das wäre ich. Aber jetzt habe ich ein Gerät in meiner Brust, das verhindert, dass so etwas noch einmal passiert.“

Jetzt wurde Marlen wütend. „Ich nehme dir dein Vertrauen und deine Positivität einfach nicht ab, Celia. Niemand kann nach so einem Erlebnis so gut drauf sein wie du; so fröhlich und so unbekümmert.“

Einen kleinen Augenblick lang war Celia versucht, Marlen von ihren Erlebnissen zu berichten. Doch sie wusste, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war; dass der richtige Moment vielleicht nie kommen würde. Es gab keine Worte, das Unbeschreibliche zu beschreiben. Es gab keine Worte, die Dinge erklären konnten, die man eigentlich nur gefühlt oder einfach gewusst hatte. Sie verstand, dass Marlen ihren fortgesetzten Beteuerungen nicht glauben konnte. Celia hatte keine Argumente, keine Erklärungen und schon gar keine Beweise. Sie hatte nur ihre Intuition, dieses grundlose Wissen, das von irgendwoher kam und jeden Zweifel, jede Angst einfach fortwischte, als hätte es sie nie gegeben. Zaghaft suchte sie Marlens Hand und hielt sie schweigend. Mehr konnte sie im Moment nicht tun.

Zwei Stunden später, Marlen atmete tief und ruhig, wachte Celia auf. So sehr sie auch versuchte, wieder in den Schlaf zu finden, so unmöglich war es. Es ging ihr gut, ihr Puls lag bei ruhigen sechzig, aber es drängte sie aus dem Bett, hinunter ins Wohnzimmer. Also stand sie auf, zog sich warme Socken und eine Strickjacke über und kletterte leise die Treppen hinab. Sie nahm sich ein Glas kalte Milch. Das hatte ihr schon immer geholfen, wenn sie nicht einschlafen konnte. Mit dem Glas in der Hand setzte sie sich in ihren Sessel am noch glimmenden Kamin, deckte sich zu und schloss die Augen. Sie nahm den Raum, der sie umgab, sehr klar wahr, spürte die Atmosphäre des alten Hauses, das sie so liebte. Doch dann richtete sich ihre Aufmerksamkeit ganz automatisch auf sie selbst. Auf ihren Körper, der im Sessel saß. Auf ihr Herz, das leise und gleichmäßig klopfte. Celia nahm all dies einfach wahr, ohne etwas darüber zu denken. Es schien, als würde der denkende Geist ebenso schweigen wie der fühlende, als gäbe es nur Sehen, Wahrnehmen, Erkennen. Celia nahm wieder das Licht in ihrem Herzen und zwischen ihren Augenbrauen wahr. Je mehr sie sich darauf fokussierte, desto stärker wurde es, hüllte sie ein in eine Liebe, die sie sich niemals hätte vorstellen können, in ein Wissen, das ihr kühnstes Vorstellungsvermögen überschritt, in ein Gefühl der Geborgenheit, für das es keine Worte gab.

„Was geschieht nur mit mir?“, fragte sie sich, während sie immer mehr losließ. Ihr Vertrauen schien unerschütterlich in diesem Moment, so unbeirrbar, dass sie sich der Liebe und dem Wissen mehr und mehr überließ. Celia wurde immer leichter, freier, losgelöster. Feinstofflicher und feiner.

Stundenlang verharrte sie in diesem Zustand, der weder Wachen noch Träumen und auch kein Tiefschlaf war. Celia saß einfach da, in tiefer Stille, in befreiender Gedankenlosigkeit, in echtem Frieden, in reinem Wissen und reiner Liebe, die keinen Ursprung und keinen Anlass zu haben schien. Erst im Morgengrauen nahm sie plötzlich Rica hinter sich wahr. Die Kleine schlich die Treppe hinunter und suchte nach ihr. Celia streckte die Hand aus.

„Komm, Rica. Wir kuscheln.“

Und schon sprang Rica kichernd auf Celias Schoß und gab ihr einen dicken Kuss. „Ich hab´ dich lieb, Mama. Hast du etwa hier unten geschlafen?“

„Ich hab´ hier gesessen, weil ich nicht schlafen konnte. Es war so ruhig und der Kamin noch warm. Ich liebe diesen Platz einfach.“

„Ich auch. Machen wir heute Abend Marshmallows?“

„Das müssen wir. Ich habe ewig keine gegessen.“

الوعي هو الحب

Celias Sinne waren extrem geschärft. Sie nahm ihre Umgebung, vor allem aber ihre Familie, wie durch ein gigantisches Vergrößerungsglas wahr; die leisen Dissonanzen, die Egoismen und die rigiden Verhaltensmuster, die Eigenheiten und Schrulligkeiten. Dankbar für den Rat ihrer Ärzte, sich zu schonen und viel zu schlafen, zog sie sich immer wieder in ihr Schlafzimmer zurück und lag einfach da, obwohl sie nicht müde war. Nie zuvor hatte sie in ihrem Leben ein solch dringendes Bedürfnis verspürt, allein zu sein.

Nachmittags sah Marlen nach ihr und brachte ihr eine Tasse Tee mit viel Milch und Kandiszucker. Sie setzte sich zwar zu Celia auf das Bett, sah sie aber nicht direkt an. Celia spürte, dass ihre Frau reden wollte und fürchtete zugleich, dass es für Marlens Sorgen und Bedenken zu diesem Zeitpunkt keine Lösung gab. Dennoch wollte sie zuhören, wollte Marlen verstehen und sich nicht aus Verletztheit oder Groll zurückziehen.