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Freiwillig ins Mölltal zurückzukehren wäre Polizist Martin Schober nie in den Sinn gekommen: Zu viele schwierige Gestalten warten dort auf ihn. Als jedoch zur Jagdsaison nicht nur Vierbeiner ihr Leben lassen, muss er gemeinsam mit dem kauzigen Aufsichtsjäger Sepp Flattacher ermitteln. Schnell wird das ungleiche Duo in ein mörderisches Wettrennen verwickelt - doch wer ist hier Jäger und wer Gejagter?
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Seitenzahl: 321
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Alexandra Bleyer, geboren 1974 in Klagenfurt, ist (natürlich mit einem Jäger) verheiratet und lebt mit ihrer Familie in Seeboden am Millstätter See. Die promovierte Historikerin ist Autorin mehrerer populärer Sachbücher. Die besten Geschichten schreibt zwar das Leben– aber genauso spannend findet es Alexandra Bleyer, Fäden weiterzuspinnen und selbst Geschichten zu erfinden. In ihren in Oberkärnten angesiedelten Regionalkrimis kann sie ganz ungestraft mörderische Energien freisetzen, auf dass Blut und (Lach-)Tränen fließen.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang findet sich ein Glossar.
©2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: ©mauritius images/imageBROKER/Jürgen Wiesler Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Christine Derrer eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-969-1 Originalausgabe
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Wenn der Hund nicht geschissen hätte, hätte er den Hasen erwischt.
Prolog
»Der Flattacher hat schon wieder einen erschossen!«, kreischte Kerstin Moser, den Telefonhörer noch am Ohr.
Keine fünfzig Kilo auf die Waage bringen, aber eine Stimme wie eine Motorsäge, wunderte sich Revierinspektor Martin Schober nicht zum ersten Mal über seine Kollegin– bis die Bedeutung ihrer Worte in sein Hirn sickerte.
»Was? Erschossen? Ein Mord?« Er sprang auf. Sein Kugelschreiber landete auf der Schreibtischplatte und kullerte schließlich unbeachtet auf den Boden. Er rannte aus seiner Kanzlei– die Türen standen wie immer offen– über den Gang in den Journaldienstraum.
Während Kerstin noch mit einem etwas verdattert wirkenden Ausdruck auf ihrem Gesicht dasaß und langsam den Hörer auflegte, war er schon zu seinem Spind gehastet und hatte die Tür aufgerissen. Er griff nach seinem Einsatzgürtel. Martin konnte an seinen Fingern abzählen, wie oft er seine Dienstwaffe in Wien hatte abfeuern müssen. Die meisten Schüsse waren im Trockentraining gefallen. Und jetzt war er keine zwei Wochen in Obervellach, wo er am ersten Mai seinen Dienst angetreten hatte, und würde vielleicht seine Pistole brauchen? Das hatte ihm gerade noch gefehlt.
»Was ist denn los?« Offensichtlich hatte Kerstins Schrei den Postenkommandanten Georg Treichel bei seinem frühmorgendlichen Informationsbeschaffungsdienst, sprich beim Zeitunglesen, gestört, denn er kam mit seiner Kaffeetasse in der Hand aus seiner Kanzlei geschlendert.
»Der Flattacher hat schon wieder einen erschossen«, wiederholte Kerstin.
»Geh, das wird langsam ungut«, brummte Treichel.
Martin war gerade dabei, sich seinen Gürtel umzuschnallen, hielt aber inne, als er bemerkte, dass sich Kerstin nach ihrer anfänglichen Aufregung schon wieder beruhigte und Treichel weiterhin seinen Kaffee umrührte, um die mindestens drei Löffel Zucker aufzulösen. Martin schaltete einen Gang runter und atmete tief durch. Mal ehrlich: Was konnte in einem gottverlassenen kleinen Ort im tiefsten Mölltal in einem der hintersten Winkel Kärntens schon viel passieren? Ein Bandenkrieg zwischen den Bauernschädeln? Ein psychopathischer Serienkiller? Wohl kaum.
»Ja, Martin, das ist was für dich. Jetzt kannst zeigen, was du bei diesem Des… Deeskalarationsseminar«– Treichel stolperte häufiger über Fremdworte, aber das hielt ihn nicht davon ab, mit ihnen um sich zu werfen– »gelernt hast. Bei uns gibt’s halt auch Äktschn, nicht nur in Wien oder in Klagenfurt.«
Da war er wieder, dieser Seitenhieb. Eigentlich war Treichel nicht zwider, sondern ein netter, umgänglicher Typ; ein Chef, mit dem man gut auskommen konnte. Oder könnte. Er nahm es anscheinend persönlich, dass Martin so schnell wie möglich wieder aus Obervellach wegkommen wollte und schon an seinem ersten Diensttag um Versetzung nach Klagenfurt oder Villach angesucht hatte. Wo Martin doch in Obervellach aufgewachsen war, hatte sein neuer Chef gemeint; er müsste doch froh sein, nach fast zehn Jahren bei den Großkopferten in Wien endlich ins vertraute Kärnten heimzukehren. Back to the roots, wie Treichel gesagt hatte. Angehört hatte es sich allerdings wie Peck-tuse-Rotz.
Kärnten, ja. Aber dabei hatte sich Martin eine der Städte vorgestellt, die nach Wien besonders klein und gemütlich wirkten; Klagenfurt oder Villach, seinetwegen auch Feldkirchen oder Spittal an der Drau. Bevorzugt mit einem der schönen Seen mit Trinkwasserqualität in der Nähe, denn von chlorierten Freibädern, Alter Donau und Baggerseen hatte er die Nase voll.
Stattdessen war es Obervellach geworden, wobei der für seine Versetzung zuständige Beamte der Personalabteilung der Landespolizeidirektion Kärnten noch süffisant gemeint hatte, wie gut es passen würde für ihn als gebürtigen Obervellacher. Als ob er ihm damit einen Gefallen tun würde. Ein enges Tal, eingeschlossen zwischen den Bergen, wo einem ständig der Wind um die Ohren pfiff. Darauf hatte Martin schon vor rund fünfzehn Jahren gepfiffen, und er hatte niemals nie nicht das Bedürfnis verspürt, zurückzukehren. Als wenig später auch noch seine Mutter zu ihrem neuen Freund in die Bezirkshauptstadt Spittal an der Drau gezogen war, war Obervellach für Martin gestorben. Aber anscheinend gefiel sich die kleine Marktgemeinde in der Rolle eines Zombies. Mist.
Was Martin blieb, war die Hoffnung, eher früher als später wieder von hier wegzukommen. Bis dahin hieß es, die Zähne zusammenzubeißen und seinen Job zu machen. Was immer das sein sollte.
»Um was genau geht es denn?«, wollte er wissen.
»Josef Flattacher, Aufsichtsjäger. Ein Franz Pichler hat angerufen, weil Flattacher seinen Hund erschossen hat. Er ist frei gelaufen–«
»Am besten, ihr fahrt hin und regelt das vor Ort«, unterbrach Treichel Kerstin.
»Das geht uns bei der Polizei doch nichts an, wenn ein Jäger einen wildernden Hund erschießt, oder? Das ist Jagdrecht«, entgegnete Martin. Er war zwar selbst kein Waidmann, aber in seiner Schulzeit an der Büchsenmacher-HTL in Ferlach hatte er mit genügend Jungjägern und Jägersöhnen zu tun gehabt, um mehr über Jagdgebräuche zu wissen, als ihm lieb war.
»Kann schon sein«, grummelte Treichel. »Aber wenn der Jäger dem Hundebesitzer eine Schrotladung nachpfeffert, dann geht es uns schon was an. Wir sind hier nicht in einer Großstadt, in der alles anonym ist und keiner was vom anderen weiß. Wir kennen unsere Pappenheimer! Also fahr mit der Kerstin raus und schau, dass du das deeskalierst.«
»Ich bin heute aber zum Innendienst eingeteilt«, protestierte Kerstin.
»Egal. Der Martin war so lang weg von zu Hause, dass er nie und nimmer hinfindet. Und du kennst den Flattacher ja.«
»Eben«, maulte sie zurück. »Es wäre gscheiter, wenn du mitfährst.«
»Wer ist hier der Chef? Ich! Du fährst. Das ist sozusagen a Befehl«, gab sich Treichel autoritär.
Der Blick, den Kerstin ihm zuwarf, ermunterte zu Spekulationen, wer auf dem Posten das Sagen hatte: der knapp fünfzigjährige, nahezu zwei Meter große Treichel mit seiner eindrucksvollen Wåmpm unter dem gespannten Hemd oder Kerstin, die im Vergleich zu ihm von Statur und Alter her nur eine halbe Portion war. Ein richtiges Pupperl war sie, wie man so schön sagte, Mitte zwanzig und mit schulterlangen Haaren. Aber wer wie sie aus Stall stammte und mit drei älteren Brüdern aufgewachsen war, ließ sich nicht so schnell die Schneid abkaufen.
»Ich spendier dir dafür an Kaffee und ein Zuckerreinkale, passt?«, lockte Treichel, aber erst als er ihr noch versprach, ihr über die Weihnachtsfeiertage und Silvester freizugeben, griff Kerstin nach den Autoschlüsseln.
Na bumm, dachte Martin. Der Flattacher musste ein besonderes Kaliber sein.
Kaum hatte er sich auf den Beifahrersitz niedergelassen und angegurtet, wandte er sich an Kerstin, die mit zusammengekniffenen Lippen den Motor anließ.
»Was ist der Flattacher für ein Typ?«
»A Riesenarschloch«, kam die lapidare Antwort.
Eine passende Einschätzung, wie Martin keine fünfzehn Minuten später feststellen musste. Während sich Kerstin um den trauernden Hundebesitzer Franz Pichler kümmerte und dabei alles an weiblicher Empathie zusammenkratzte, was sie in sich hatte– was nicht wirklich viel war–, musste sich Martin mit Josef »Sepp« Flattacher abmühen.
»Ich hab schon oft Ärger mit wildernden Hunden gehabt«, polterte Flattacher, den Martin auf Ende sechzig schätzte und der mit seinem struppigen grauen Bart, der dunkelgrünen Jägertracht und dem geschulterten Gewehr selbst ein bisserl wie ein Wilderer aussah.
»Aber mein Rambo wildert doch nicht!«, klagte Pichler und wischte sich mit dem Ärmel seiner abgetragenen Cordjacke über das Gesicht.
»Stimmt, jetzt nimma«, erwiderte Flattacher ohne jeden Anflug von Reue.
Man könnte in ihm einen eingefleischten Hundehasser vermuten, wenn nicht ein dunkelbrauner langhaariger Jagdhund neben ihm auf dem Boden gelegen hätte. Nur das leise Hecheln verriet, dass er nicht ebenso tot war wie der andere Hund.
Deeskalation war eindeutig angesagt. Martin rief sich die Atemtechniken ins Gedächtnis, die er bei diesem stinklangweiligen Seminar noch in Wien hatte üben müssen. Damals war er sich völlig bescheuert vorgekommen, aber jetzt halfen sie dabei, den Ärger aus seiner Stimme zu verbannen und verständnisvoll zu klingen.
»Herr Pichler war nur wenige Meter hinter seinem Hund, wie er gesagt hat. Sie müssen ihn vom Hochsitz aus doch auch gesehen haben. Warum haben Sie ihn nicht einfach darauf aufmerksam gemacht, dass er ihn anleinen muss?«
»In der Brut- und Setzzeit des Wildes gilt für Hunde außerhalb des bebauten Gebietes Leinenpflicht. Für alle Hunde! Das ist auch groß in der Amtlichen Mitteilung der Marktgemeinde gestanden. Lesen wirst ja wohl können, Pichler, oder bist in die Baumschule gegangen?«, knurrte Flattacher.
»Du hast meinen Hund ermordet!«
»Hättest du Todl ihn halt angeleint.«
Pichlers Gesicht lief rot an, und er ballte die Hände zu Fäusten. »Flattacher, du Arsch, dafür bring i di um!«
Vorsichtshalber machte Martin einen Schritt nach vorne, um sich zwischen den beiden Konfliktparteien zu positionieren. Kerstin hielt Pichler zwar am Arm gepackt, aber mit ihrem Fliegengewicht würde sie den molligen Hundebesitzer kaum zurückhalten können. Noch ein falsches Wort mehr, und sie könnten den Pfefferspray zücken.
»War das denn echt nötig, den Hund zu erschießen?«, stellte Martin Flattacher zur Rede.
»Er hätte ein Jungwild reißen können.«
Martin ließ seinen Blick zwischen dem Jäger und seinem am Forstweg hingestreckten Opfer hin- und hergleiten und zog die Brauen hoch. Keine noch so wissenschaftlich fundierte Atemtechnik konnte helfen, seine Ungläubigkeit zu verbergen.
»Ein Chihuahua?«
1
Die Pistole lag gut in seiner Hand. Schweißnasse Hände musste er nicht fürchten, denn er trug dunkle Lederhandschuhe. Er war ein Profi.
Ein guter Jäger ist geduldig.
Motorengeräusche. Er neigte leicht den Kopf zur Seite. Nein, zu hoch und vor allem zu hochtourig. Er trat einen Schritt zurück. Ein gelber Fiat Panda ratterte an ihm vorbei. Vermutlich eine Hausfrau, die von ihrem vormittäglichen Einkaufstrip heimkehrte. Sie sah ihn nicht.
Ein guter Jäger lauert dort, wo ihn seine Beute nicht erwartet.
Das satte, tiefe Brummen verriet sein Opfer. Er umfasste mit beiden Händen die Pistole, atmete noch einmal tief durch, wartete auf den besten Moment, trat vor und: Volltreffer!
Viel zu spät bemerkte das Opfer, dass es ins Visier genommen worden war. Der Fahrer des silbernen AudiA63.0TDI quattro versuchte noch, abzubremsen, zu entkommen. Zu spät! Die vor Schreck aufgerissenen Augen musste sich der Jäger denken, durch die Windschutzscheibe erkennen konnte er sie leider nicht. Aber die Vorstellung genügte, um ein angedeutetes Grinsen auf seine Lippen zu zaubern. Er hob die Radarpistole und blies den imaginären Rauch weg. Dann packte Martin seine Sachen zusammen und ging die paar Meter die B106, die Mölltalbundesstraße, entlang, die an dieser Stelle eine leichte Linkskurve machte. Kurve, Böschung, Gestrüpp. Der Lenker des Audis hatte keine Chance gehabt, das am Anfang eines Feldweges geparkte Polizeiauto rechtzeitig zu erspähen. Das würde ihn teuer zu stehen kommen.
Tja, es war noch nicht so lange her, seit die Kollegen in Stall an einer ihrer bevorzugten Stellen einem Sprengstoffanschlag zum Opfer gefallen waren. Gut, es war weniger Sprengladung als Jauche gewesen, wie Martin erfahren hatte; ein ganzer Eimer voll davon. Wenn nur die Hälfte von dem wahr war, was man sich so erzählte, war das eine beschissene Angelegenheit gewesen. Welcher Polizist rechnete auch schon mit einem tatkräftigen Gegenangriff potenzieller Raser?
Etwas Gutes hatte der Anschlag jedoch gehabt: Nicht nur, dass sich die Kollegen entlang der Mölltalbundesstraße als vorsichtiger erwiesen, wo sie ihren Fuß hinsetzten; sie entwickelten auch eine unglaubliche Kreativität, was neue Lauerplätze betraf– und erwischten die Raser dort, wo sie es nicht erwarteten. Der Audi-Lenker vor ihm war der lebende Beweis dafür.
»So, dann machen wir auch noch einen Alko-Vortest«, hörte Martin schon die tiefe Stimme von Georg Treichel, bevor er ihn sah. Es war erst elf Uhr Vormittag, aber im Mölltal tickten die Uhren anders, und es war gar nicht so abwegig, bereits um diese Zeit einen Führerschein zu kassieren.
Raser waren Treichels Spezialität, wenn man so sagen konnte. Wie Martin gehört hatte, hatte sich sein Chef mit einem anderen Kommandanten, der mittlerweile schon pensioniert und dessen Posten den ministeriellen Schließungen zum Opfer gefallen war, geradezu einen Wettkampf geliefert, in dem es darum ging, brütender Sommerhitze, strömendem Regen und winterlichen Minustemperaturen zum Trotz stundenlang Radarmessungen durchzuführen.
Geradezu ungeduldig wartete Treichel immer auf die aktuellen Statistiken zu den Todesfällen, und es gab keinen auf dem Posten, der seine Vorträge nicht auswendig kannte. Was waren schon Mord und Totschlag, mit denen sich die Kollegen vom Landeskriminalamt so gern und vor allem medial wichtigmachten, gegen den alltäglichen Wahnsinn im Straßenverkehr? Hier konnte die Polizei tatsächlich Leben retten. Und obwohl Treichel einem mit seinen Monologen auf die Nerven gehen konnte: Er hatte nicht unrecht.
Martin erkannte den gestoppten Raser, schließlich waren sie zusammen in die Volks- und Hauptschule gegangen. Es war der junge Hannes Guggenberger; sein Vater war der größte und reichste Bauer in Obervellach– und das ließ der Junior ordentlich heraushängen.
»Ja servus! So trifft man sich wieder«, benahm sich Hannes auffällig jovial, als er seinen ehemaligen Klassenkameraden erkannte. »Ich habe gehört, dass du zur Kieberei gegangen bist. Aber dass du zurück in der alten Heimat bist, habe ich nicht gewusst.«
Der Alko-Vortest war laut Treichel negativ, aber für die Geschwindigkeitsüberschreitung von achtundzwanzig Stundenkilometern waren sechsunddreißig Euro fällig, wie der Chef mit zufriedener Miene erklärte.
»Kannst nix machen? Mich abmahnen oder so?«, raunte Hannes Martin zu, während Treichel das Organmandat ausstellte.
»Nein«, gab er knapp zurück.
»Was bist denn du für ein Kumpel?«, murrte Hannes, als er widerwillig nach seiner Brieftasche griff.
»Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps«, stellte Martin klar.
Und Freunde waren sie nie gewesen.
»Kommst dir wohl stark vor in der Uniform, du De–«
»Pass auf, Beamtenbeleidigung ist teuer«, fiel er ihm ins Wort.
Sichtlich verärgert zahlte Hannes seine Strafe und stapfte zu seinem Audi.
»Achte auf deine Geschwindigkeit«, rief Martin ihm nach.
»Ja, ja. Aber ich habe es eilig.« Hannes grinste breit. »Ich habe ein Date. Falls du es noch nicht weißt: Die Bettina, die ist auch wieder daheim. Und sie ist wieder zu haben.«
Martin beschloss, noch heute ein weiteres Ansuchen um Versetzung abzuschicken. Er hatte keine Ahnung, das wie vielte es mittlerweile war.
Kurz vor vier Uhr morgens am ersten August startete Sepp Flattacher seinen jagdgrünen Suzuki Jimny und machte sich auf ins Revier. Auf seinem Weg begegnete er drei weiteren Autos. Der Mühlbacher Fritz war wohl auf dem Heimweg von seiner quartalsmäßigen Sauftour, so wie der sein Auto in Schlangenlinien und hörbar im ersten Gang die B105 nach Mallnitz hinauftrieb. Sepp überholte ihn ungeduldig, er hatte es eilig. Denn die anderen beiden Fahrzeuge, denen er begegnete– ein weiterer Suzuki sowie ein protziger Range Rover–, gehörten Mitgliedern des Jagdvereins Hubertusrunde. Es waren Waidkameraden, besser gesagt Rivalen, die sich wie er pünktlich zum ersten August auf die Jagd nach dem Einserhirsch machten.
Ha! Er wusste, wo ein Kronenvierzehnender ging. Schließlich war er in den letzten Wochen oft genug durch das Revier gepirscht, um genau das herauszufinden. Vor knapp drei Wochen hatte er dann einen neuen Hochsitz errichtet. Das war ein ganzes Stück Arbeit gewesen, denn er hatte nicht wie sonst üblich andere Jagdvereinsmitglieder zur Mithilfe verdonnern können, sondern nur den Reini Hader als Hilfsarbeiter gehabt, der öfters seinen Daumen als den Nagel getroffen hatte, der Vollkoffer. Aber sonst hätten die anderen Jäger gewusst, wo Sepp den Sitz aufstellte. Und selbst diese Volldeppen konnten sich an ihren zehn Fingern abzählen, dass er so kurz vor Eröffnung der Saison auf die kapitalen Hirsche nur dort eine Kanzel baute, wo sich der Ansitz lohnte.
Misstrauisch sah er in den Rückspiegel, bevor er auf den Forstweg einbog. Knapp vor einer markanten Buche bog er ab. Hier öffnete sich der Wald hin zu einer schmalen, leicht ansteigenden Fratn, einer bei der Holzschlägerung im vorletzten Sommer geschaffenen Lichtung. Obwohl es keinen richtigen Weg gab, war es für seinen hochgebauten, wendigen Allradwagen kein Problem, die letzten fünfzig Meter zu bewältigen. Wenn einem Jäger auf dem Hochsitz der Schlüsselbund aus der Hand fiel, musste das Autodach schon eine Delle haben. Nach diesem bewährten Motto hatte Sepp auch diesen Stand aufgestellt.
Nur: Wo er seinen Suzuki einparken wollte, stand bereits ein weißer Mitsubishi Outlander.
»Das gibt’s doch nicht! A so a Drecksau!«
Sepp stellte den Motor ab und stieg aus. Allerdings war er trotz seiner Mordswut Jäger genug, um die Fahrertür nicht laut hinter sich zuzuknallen. Nicht dass ein eventuell in der Fratn gebettetesWild erschrocken absprang. Ebenso leise öffnete er die Hecktür, bedeutete dem treuen Akko mit der erhobenen Handfläche, liegen zu bleiben, und holte nur seine Ferlacher Bockbüchsflinte heraus.
»Huber! Runter von meinem Sitz!«, knurrte er, als er durch die Brennnesseln stapfte.
Antwort bekam er keine von der feigen Sau. Gut, es stand in den Vereinsstatuten, dass jedes Mitglied jede Jagdeinrichtung im Revier benutzen durfte, und es war üblich, dass sich ein Jäger, der seinen Sitz »besetzt« sah, leise zurückzog, um das Waidmannsheil seines Kameraden nicht zu gefährden. Aber es war der erste August. Und das war sein Sitz, von dem der Huber Ernst gar nichts wissen dürfte. Als er sich zwischen einem Brombeerbusch und dem Mitsubishi zum Hochsitz hindurchzwängte, streifte sein Schlüsselanhänger– eine mit der Aufschrift des Obervellacher Schützenvereines verzierte Patronenhülse– rein zufällig über den weißen Lack, vom rückwärtigen Bremslicht über die rechten Türen und den Kotflügel.
»Huber! Hörst mich? Das ist mein Sitz!«, zischte Sepp.
Der konnte was erleben! Niemand stieg ungestraft auf seinen nagelneuen, geheimen Hochsitz. Schon gar nicht der Huber. Zugegeben, er hatte noch immer einen Grant auf den Jagdkollegen, weil der vor acht Jahren ausgerechnet jenen Gamsbock erlegt hatte, auf den Sepp selbst gespitzt hatte. Niemand schoss ihm ein zweites Mal eine Trophäe vor der Nase weg, ohne es zu bereuen. Das war sein Einserhirsch!
Nur war er tot.
Nicht der Hirsch.
Der Huber.
Ein paar Minuten stand Sepp unschlüssig da. Dann setzte er sich keine zwei Meter von der Leiche entfernt auf einen Baumstumpf und wartete geduldig, bis die Sonne aufging, bevor er nach seinem Handy griff und die Polizei verständigte.
Was denn? Es war der erste August. Sollte er sich nur wegen einem toten Huber die Chance entgehen lassen, dass der Einserhirsch doch noch auf der Lichtung auftauchte?
Obwohl, ein wenig gedämpft wurde sein Jagdfieber schon durch das Wissen, dass außer dem Reini Hader und dem Ernst Huber mindestens noch ein Mensch über den neuen Hochsitz informiert war. Nämlich jener, der die obersten Sprossen der Leiter sowie die Haltestange am Einstieg gelockert und Huber so zu Fall gebracht hatte.
2
Als Martin in der Polizeiinspektion eintraf, exakt vierundzwanzig Minuten vor sieben Uhr, läutete das Telefon. Der Chef selbst, noch etwas verschlafen und mit dem Polsterabdruck im Gesicht, hob ab. Von dem Gespräch bekam Martin nicht viel mit, denn er ging gleich weiter in den Aufenthaltsraum, wo seine Kollegin Vanessa Liebetegger bereits den Tisch gedeckt hatte und auf ihn– oder besser gesagt auf die von ihm gekauften Semmeln– wartete.
Es hatte sich so eingebürgert, dass die Beamten des Tag- und Nachtdienstes am Wochenende die morgendliche Dienstübergabe zu einem gemeinsamen Frühstück ausdehnten. Auf die freundschaftliche Atmosphäre in seinem Team war Georg Treichel ganz besonders stolz. Martin war schon von zwei Seiten vor den berüchtigten Weihnachtsfeiern gewarnt worden, bei denen der Kommandant zu vorgerückter Stunde einerseits die Kärntner Landeshymne anzustimmen pflegte– wobei er nach den ersten Versen nur mehr brummte– und andererseits geradezu verzweifelt auszudrücken versuchte, wie gern er seine Mitarbeiter hatte. Bis diese zum Schluss kamen, dass er sie gernhaben konnte, und das Weite suchten.
Martin befüllte das Brotkörberl, Vanessa stellte Milch und Zucker auf den Tisch und schnappte sich die »Kleine Zeitung«.
»Das nenne ich frühstücken! Kaffee, Zeitung, Kornspitz und vor allem eines: RUHE. Glaub mir, Martin, das verstehst du erst, wenn du selbst kleine Kinder daheim hast.«
»Na, so klein sind deine Buben ja nicht mehr. Sie gehen schon in den Kindergarten, oder?«
»Momentan sind Sommerferien. Aber am Wochenende ist mein Mann daheim. Heute ist Papa-Tag, habe ich beschlossen. Laurentius ist gerade so schön in der Trotzphase, die will ich dem Karli nicht vorenthalten. Der soll ruhig mal erleben, wie das so ist. Und ich werde jetzt zwei Stunden lang frühstücken.« Sie lachte schadenfroh und machte es sich auf der Sitzbank gemütlich.
Gleich darauf stieß Gerhard Koller mit einem grummeligen »Morgen« zu ihnen.
Na ja. Kollegen konnte man sich ebenso wenig aussuchen wie Verwandte, dachte Martin. Da die anderen okay waren, war ein Ausreißer wie dieser– hinter seinem Rücken treffend der kollerische Gerhard genannt– zu verschmerzen.
»Was ist denn das?«, fragte Gerhard und griff nach einem der Marmeladegläser. »Tomate-Ingwer«, las er laut vor, was auf dem Etikett stand. »Wer soll denn so was essen? Und das? Zucchini-Banane-Schwarzbeere?«
»Probier’s zuerst, bevor’s stänkerst! Oder kauf dir deine Marmelade beim Billa, wenn dir was nicht passt«, fuhr Vanessa Gerhard an. »Die hat meine Mama gemacht. Aber für dich gilt wohl das Sprichwort: Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht!«
Gerhard gab sich wagemutig; Martin griff nach einem anderen Glas. Mit Marille-Marzipan fühlte er sich auf der sicheren Seite.
»So, es ist zum Ausrücken«, verkündete Treichel, der mit ungewohnt ernster Miene in den Aufenthaltsraum kam.
»Kann das nicht bis nach dem Frühstück warten?«, protestierte Gerhard.
»Nein, wir haben eine Leiche.«
Gerhard stopfte sich den Rest seiner Semmel in den Mund, so schlecht war die Tomatenmarmelade anscheinend doch nicht, während Martin in drei hastigen Zügen seinen Kaffee leerte. Leiche ohne Koffein ging einfach nicht.
»Der Flattacher–«, setzte Treichel an.
»Was? Hat den endlich einer hamgedraht?«, prustete Gerhard mit vollem Mund los, dass die Krümel nur so flogen.
»Um den ist es nicht schade«, pflichtete Vanessa unchristlich bei.
»Nein, der Flattacher hat die Leiche gefunden und angerufen. Also, fahrt hin und–«
»Ich bin offiziell noch gar nicht da!«, fing sich Gerhard als Erster. »Mein Dienst beginnt erst um sieben, jetzt ist es noch nicht einmal drei Viertel!«
»Du bist aber schon da! Und ich muss pünktlich heim zu meinen Buben! Der arme Karli schafft das nicht allein«, zog Vanessa die Mutterkarte aus dem Ärmel.
Tja, wenn Flattachers Name fiel– und noch mehr in Kombination mit einem Toten–, verpuffte die freundschaftliche Kollegialität wie ein… Kerstin hätte wohl Murmaleschas gesagt. Aber ein furzendes Murmeltier konnte und wollte sich Martin beim besten Willen nicht vorstellen.
»Ich hab erst letzte Woche zum Flattacher rauffahren müssen, weil der seinem Nachbarn eine Fichte und einen Apfelbaum massakriert hat! In der größten Julihitze habe ich die blöden Bäume und die Grundstücksgrenze vermessen müssen!«, beschwerte sich Gerhard.
»Na und? Mich habt ihr doch auch angerufen, und ich hab auf meinen freien Tag kommen müssen, um die Anzeige von dem hysterischen Ehepaar aus Udine aufzunehmen, weil’s keiner von euch mit Fremdsprachen hat!«, konterte Vanessa nicht weniger laut.
Auch wenn sie mit ihren kurzen schwarzen Haaren und dem Babyspeck an den Hüften ein wenig an eine italienische Mamma erinnerte, konnte sie mit dem in der Schulzeit gelernten Gastro-Italienisch höchstens eine Pizza bestellen. Vokabeln wie omicida und pericolo pubblico waren ihr bis vor Kurzem noch fremd geblieben, und sie hatte alle Mühe gehabt zu verstehen, was genau die Urlauber so aufgeregt hatte. Pantomimisch und mit ein paar Brocken Englisch versuchte der Italiener, einen bewaffneten Angreifer darzustellen, der ihnen– im Wald?– aufgelauert und sie bedroht hätte. Als die Italienerin wild gestikulierend »psicopatico!« schrie, kapierten die Polizisten, dass sie nur den Flattacher meinen konnte.
Was mussten die beiden auch ausgerechnet im Jagdgebiet der Hubertusrunde mehr Schwammalanklauben als erlaubt? Zwei Kilo pro Person waren gestattet, vier Kilo und einundzwanzig Gramm brachten sie auf die Waage, die Flattacher immer in seinem Kofferraum mitführte. Dass er das nicht durchgehen lassen würde, hatte er den Italienern unmissverständlich klargemacht. Ohne ein Wort Italienisch zu können.
Martin seufzte. Freilich könnte er jetzt auf den Fall des Joggers Peter Maier hinweisen, den Treichel ihm aufs Aug gedrückt hatte. Nur gut, dass der Sportler ein starkes, trainiertes Herz hatte– bei jedem anderen hätte die Pumpe vor Schreck den Dienst versagt. Natürlich hatte der Flattacher frech behauptet, dass er auf etwas Vierbeiniges gezielt hatte, im Hollerbusch, keine zwei Meter hinter dem Jogger, der sich viel zu früh am Morgen viel zu weit in die Natur vorgewagt und dort das Wild aufgeschreckt hatte, statt einfach der Möll entlangzulaufen.
»Lasst doch die Streiterei. Gerhard, wir haben Tagdienst, fahren wir«, versuchte Martin, der Stimme der Vernunft Gehör zu verschaffen.
»Schau auf die Uhr! Es ist achtzehn Minuten vor sieben!«
»Ja, und im Wald liegt eine Leiche. Na komm. Ich übernehme den Akt.«
Da Martin ihn von den lästigen Schreibarbeiten freisprach– ein Toter verursachte viel Papier–, gab Gerhard schließlich grollend nach.
»Wir lassen euch ein paar Semmeln übrig«, rief Treichel ihnen liebenswürdig hinterher.
»Arsch!«
Der Weg hinauf Richtung Mallnitz ins Jagdgebiet der Hubertusrunde zog sich wie ein Kaugummi. Vielleicht kam Martin die Strecke aber nur deshalb so ewig lang vor, weil er einen tschentschnden Gerhard auf dem Beifahrersitz hatte.
»Das hätte der Nachtdienst übernehmen müssen!«
»Reg dich doch nicht so auf wegen den paar Minuten. Jetzt ist es eh schon nach sieben.«
»Wenn der Treichel in den Tagdienst gekommen wäre und wir Nachtdienst gehabt hätten, hätten garantiert wir ausrücken müssen!«
Der Gerhard konnte einem wirklich auf die Nerven gehen. So ein Grantscherbm! Martin schaltete zurück und bog auf den Forstweg ein. Der Dienstwagen rumpelte über Schlaglöcher, Wurzeln und grobe Steine dahin, was Gerhard Grund für eine weitere Schimpftirade lieferte. Dann stand der Aufsichtsjäger mitten am Weg vor ihnen. Martin drehte den Motor ab und seufzte. Eh klar: Wenn eine Leiche im Wald gefunden wurde, konnte der Flattacher nicht weit sein.
Sepp sah zu, wie die beiden Polizisten aus dem Auto stiegen.
»So, was hamma da?«, fragte Koller, der sein weißes Dienstkapperl und eine wichtige Miene aufsetzte.
Mit dem blonden Schnauzer und dem Kinnbart wollte das Zniachtl wohl erwachsen wirken, dachte Sepp. Er richtete sich auf und nahm eine Haltung an wie seinerzeit beim Militär, sodass er schön auf den Polizisten herabschauen konnte. Schließlich war er gut einen Kopf größer als Koller, dieser Gartenzwerg. Eine treffende Bezeichnung, die dem kleinen Stoppel allerdings gar nicht gefiel, wie Sepp von ihrem letzten Zusammentreffen am Gartenzaun noch gut wusste.
»Einen Toten. Da drüben, unter dem Hochsitz, liegt er.«
Der Neue, dessen Name Sepp beim besten Willen nicht einfallen wollte, war schneller beim Huber als sein Kollege. Na ja, er hatte auch die längeren Haxn und gab in der Uniform nicht ganz so eine Witzfigur ab wie der abgezwickte Koller; obwohl auch er noch weit davon entfernt war, so ein Månspild wie der Treichel zu sein, sinnierte Sepp und folgte den beiden Polizisten gemächlich zur Leiche.
»Was ist denn passiert?«, wollte Koller wissen.
»Nach was schaut’s denn aus? Der Huber ist raufgestiegen, runtergefallen und hin gewesen«, erklärte Sepp flapsig.
»Waren Sie dabei, Herr Flattacher?«
Obwohl Kollers Kollege nicht besonders vorwurfsvoll klang, fühlte Sepp sich angegriffen. Etwas, was ihm gar nicht passte.
»Was soll das heißen?«, fragte er ruppig.
»Ich frage nur, ob Sie Zeuge des Unfalls wurden.«
Sepp stemmte die Hände in seine Hüften. Der Kieberer hatte sich neben die Leiche gehockt, aber nun sah er hoch und schob die Dienstkappe etwas zurück.
»Waren Sie zusammen mit Herrn Huber auf der Jagd?«
Sepp schnaufte. Keinen Schritt hätte er mit dem Huber freiwillig getan! »Nein, ich kam nach ihm hier an und habe ihn bloß gefunden. Da war er schon tot.«
»Aber Sie beide waren Mitglieder in der Hubertusrunde, oder?«
»Ja, Ernst Huber war Schriftführer.« Argwöhnisch beobachtete Sepp, wie der Neue aufstand, sich die Hände an den Hosenbeinen abwischte und den Hochsitz musterte.
»Bist sicher? Weil, du weißt eh, Erste Hilfe und so«, warf Koller gschaftig ein.
»Ich weiß, ob wer tot ist oder nicht. Und der Huber, der war mausetot. Der hat keinen Gnadenschuss mehr gebraucht.«
»Lass die blöden Witze, Flattacher! Ein bisserl mehr Pietät!«
»Du, Gerhard, die obersten Sprossen der Leiter schauen hin aus.«
Der Neue war wohl ganz ein Schlauer, was?
»Wird wohl morsch gewesen sein, das Glumpat«, tat Koller dies schulterzuckend ab.
»In meinem Revier gibt es keine morschen Hochsitze«, brauste Sepp auf. »Und der da ist ganz neu!«
Als Aufsichtsjäger nahm er die Aufsicht sehr, sehr genau, er würde sich nicht am Zeug flicken lassen. Koller machte Anstalten, auf der Leiter hinaufzuklettern, um sich die Sache aus der Nähe zu betrachten. Allerdings war die erste Sprosse recht weit vom Boden entfernt– absichtlich. Schließlich waren Hochsitze kein Kinderspielzeug. Sepp feixte.
»Soll ich dir eine Leiter holen, damit auf die Leiter hinaufkommst, du Gartenzwerg?«
Das letzte Wort vernuschelte Sepp, aber Koller verstand es dennoch gut genug. Sein Gesicht lief knallrot an, aber er schaffte es, hinaufzukraxln. Derweil zückte der andere Polizist Block und Kugelschreiber.
»Wer hat denn den Hochsitz gebaut?«
»Ich. Zusammen mit dem Reini Hader.«
»Ist er auch Mitglied im Jagdverein?«
»Nein, aber er will aufgenommen werden. Da muss er schon zeigen, dass er sich nützlich machen kann.«
Das hatte Sepp dem jungen Hupfer schnell klargemacht– und seitdem immer und überall einen willigen Helfer. Praktisch war das schon. Auf den Reini konnte man zählen, wenn man noch einen Treiber für die Ansitzjagd brauchte; oder jemanden, um eine Futterkrippe aufzustellen und die wuchernden Brombeerstauden zu stutzen, die den Blick auf den Leckstein verdeckten.
Und wer ein guter Kamerad sein wollte, der half sogar tatkräftig mit, wenn jemand sein Haus ausmalen wollte, vor allem dann, wenn dieser Jemand der Aufsichtsjäger des Vereins war und ein gewichtiges Wörtchen bei der Aufnahme potenzieller Mitglieder mitzureden hatte. Der Reini war gar nicht so ungeschickt, hatte Sepp damals gedacht, als er mit dem Kaffeehäferl in der Hand zugesehen hatte, wie sein Hilfsarbeiter die Wohnzimmerdecke strich; zumindest simple Aufgaben wie Brennholzschlichten, Auffahrtkehren und Dachbodenentrümpeln konnte man ihm getrost überlassen.
»Der Notruf ging um kurz nach halb sieben ein. Wann genau haben Sie den Toten gefunden? Um halb sieben?«
»A bisserl früher.«
»Wie viel früher?«, bohrte der Neue hartnäckig nach.
A so a i-Tüpfel-Reiter! Sepp kratzte sich am Hinterkopf.
»Kurz vor halb fünf.«
»WAS?«, brüllte Koller.
»Na ja, kurz vor halb fünf war es.«
Der dunkelhaarige Polizist blinzelte. So wie es aussah, atmete er tief durch. Sepp kniff seine Lippen zusammen und erwiderte den Blick des Kappelständers auf eine Art, die er bei einem anderen vielleicht trotzig genannt hätte.
»Warum haben Sie nicht gleich angerufen?«, gelang es dem Polizisten, das zornige Gestotter vom Koller zu übertönen.
»Wozu denn? Es ist ja kein Banküberfall. Ein Toter läuft selbst euch Schnecken nicht davon!«
3
»Halb fünf! Wenn der Scheiß-Flattacher gleich angerufen hätte, müssten nicht wir jetzt blöd im Wald herumstehen, dann wäre das ganz klar ein Fall für den Nachtdienst gewesen!«
Der Hätti-Täti-Wari ist schon gestorben, dachte Martin, verkniff es sich aber um des lieben Friedens willen, dies laut auszusprechen. Gerhard war schon so auf hundertachtzig. Vorhin hatte es einen Moment lang so ausgesehen, als ob er von der Leiter runter dem Flattacher direkt an die Gurgel springen würde.
Wenigstens hatte sich der verschrobene Jäger vertrollt, nachdem Martin seine Aussage aufgenommen hatte. Nun standen sie tatsächlich blöd im Wald herum. Der Sprengelarzt war zwar bald gekommen und hatte die Leichenbeschau vorgenommen, aber jetzt mussten sie noch auf die Bestatter warten.
Genauer gesagt, Gerhard stand herum, die Hände in den Hosentaschen, während Martin Fotos machte und dabei selbst die Leiter zum mindestens fünf Meter hohen Hochsitz hinaufstieg, um sich die defekten oberen Sprossen anzusehen. Nahe dem Einstieg entdeckte er in einem Balken Nägel und ein Stück ausgebrochenes Holz, das vermuten ließ, dass sich auch hier ein Brett oder eine Stange befunden hatte, die einem Jägersmann beim Übersteigen von der Leiter in die Kanzel Halt geboten hätte.
Mit der Höhe hatte es Martin nicht so, und er war froh, wieder hinuntersteigen zu können und sicheren Boden unter den Füßen zu haben. Aber Gerhard hatte sehr wortreich sehr deutlich gemacht, wie angefressen er war und dass er freiwillig keinen Finger mehr krümmen würde.
Martin spürte förmlich, wie sein Kollege ihn mit seinem Grant ansteckte, wie sich der Ärger von seiner Magengrube her bis in die Fingerspitzen ausdehnte. Als ob sich durch Gerhards Tschentscherei etwas ändern würde! Martin machte noch ein paar Fotos von dem Toten. Ernst Huber, stumm, wie er war, erschien Martin in diesem Augenblick sehr viel sympathischer als sein Kollege.
Eigenartig war es schon. Ein Toter im Wald. Ein Unfall. Und ausgerechnet der Flattacher hat ihn gefunden. Konnte es Zufall sein? Dass Martin seine Überlegungen vor sich hin gemurmelt hatte, wurde ihm erst bewusst, als Gerhard ihm antwortete.
»Wird wohl ein Konstruktionsfehler gewesen sein. Du weißt eh, wie die Jäger sind! Wenn die Deppen einen Hochsitz bauen, halten sie in der einen Hand die Motorsäge und in der anderen das Frakale mit dem Schnaps. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für Unfälle wir schon gehabt haben deswegen!«
Gerhard nahm die Dienstkappe ab und rieb sich über das kurz geschorene blonde Haar. Keine schlechte Frisur, wenn man eine zu hoch gewordene Stirn und eine am Hinterkopf wuchernde Glatze kaschieren wollte, überlegte Martin nicht zum ersten Mal, als er unwillkürlich Gerhards Geste nachahmte und sich mit den Fingern durch das dunkle und zum Glück noch dichte Haar fuhr. Wobei die Betonung auf noch lag. Wie die flüchtigen morgendlichen Blicke in den Spiegel bewiesen, begannen sich auch bei Martin die Geheimratsecken ganz still und leise auszudehnen. Na ja, Gerhards Frisur hatte ihre Vorteile, vor allem im Sommer.
Energisch setzte sich Martin die Kappe wieder auf. »Sauft der Flattacher?«
»Nicht mehr und nicht weniger als andere, würd ich sagen. Führerschein haben wir ihm noch keinen abnehmen können. Schade, dass du letztes Jahr noch nicht hier warst. Die Jäger der Hubertusrunde haben eine Treibjagd veranstaltet und dabei einen Treiber angeschossen. Das kannst du dir nicht vorstellen! Der hat eine knallorange Warnweste getragen und eine orange Kappe, und trotzdem haben die Idioten geglaubt, da trampelt ein Hirsch durch das Gedaks! Der Flattacher hat getobt wie ein Irrer. Hehe, wahrscheinlich deshalb, weil es um ein Haar ihn getroffen hätte und nicht den Treiber.«
Gerhard schnaufte und trat nach einem Fliegenpilz. »Das ist ein Sauhaufen, dieser Jagdverein, das kann ich dir sagen! Der Mörlebauer ist noch der Vernünftigste von allen, der ist okay.«
»Der Mörlebauer? Das ist der Hannes Guggenberger senior, oder?«
Mit dem hatte Martin in seinen jungen Jahren nicht viel zu tun gehabt, aber wenn er genauso großkotzig war wie sein Sohn, konnte er auf ihn verzichten. Mit den Händen klopfte sich Martin die dunkelblaue Uniformhose sauber. Es hatte schon seinen Sinn, dass Jäger grüne Kleidung bevorzugten.
»Genau. Das ist ein Netter. Jedes Jahr vor Weihnachten bringt er eine anständige Brettljause auf den Posten. Und das ist auch der Einzige, den man immer anrufen kann, wenn’s einen Verkehrsunfall mit Wild gab und ein Jäger das Viech aufklauben muss. Von dem bekommst keine tepaten Antworten wie vom Flattacher.«
»Den Sitz sollte sich ein Experte ansehen«, meinte Martin. »Und wir sollten auf jeden Fall ermitteln, wie das ablief, als sie ihn gebaut haben. Vielleicht können wir dem Flattacher grobe Fahrlässigkeit nachweisen.«
»Wenn er beim Bau was verpfuscht hat, wird er es nicht zugeben«, grummelte Gerhard. »Der sagt uns gar nichts, der Flattacher.«
»Da hast recht. Aber er hat den Sitz nicht allein gebaut. Wir können Reinhard Hader befragen. Wenn die Bestatter die Leiche abtransportiert haben, können wir am Rückweg gleich–«
»Nur nicht hudln. Zuerst fahren wir zurück auf den Posten. Wehe, der Treichel hat uns keine Semmeln übrig gelassen!«
Um die Mittagszeit holte sich Sepp Flattacher beim Raiffeisen-Lagerhaus gleich zwei Schnitzelsemmeln, die er während der Heimfahrt aß. Damit sein Nachbar Heinrich Belten auch etwas davon hatte, warf er die zusammengeknüllte Alufolie noch aus dem Auto heraus samt Serviette über den Gartenzaun. Das machte sich optisch gut vor den Hortensien.
Da konnte sich der Piefke wieder aufregen; irgendwann würde er seinen verdienten Herzinfarkt bekommen. Gegen den schrecklichen deutschen Dialekt hatte sich Sepp schon immunisiert. Schlimmer war es, wenn der Nachbar versuchte, seine norddeutschen Wurzeln zu verleugnen und die Kärntner Mundart nachzuahmen. Da war es schon besser, »Armleuchter« genannt zu werden als »Depp«, was ordentlich hart klingen sollte, aus Beltens Mund aber erbärmlich schlapp wie »Debb« klang. Furchtbar. Dabei hatte Sepp ihn in den über vierzig Jahren, die Belten in dem einstöckigen Einfamilienhaus nebenan wohnte, so oft einen Deppen genannt, dass es selbst ein Norddeutscher auf die Reihe kriegen sollte.
Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte: halb eins. Als ehemaliger ÖBB-Beamter wusste Sepp Pünktlichkeit und Verlässlichkeit sehr zu schätzen. Begonnen hatte er seine Berufslaufbahn bei den Österreichischen Bundesbahnen noch beim Bahnhof Kaponig, ein paar hundert Meter über Obervellach gelegen, da die Bahnstrecke hoch über dem Tal an den Berghängen entlang verlief. An seine Anfangsjahre dachte Sepp allerdings nicht gern zurück. Das hatte weniger damit zu tun, dass ihm in den zu kleinen, schwankenden Gondeln der Seilbahn, die Reisende vom Seilbahn Platzl im Ortszentrum hinauf zum Bahnhof transportierten, oft genug schlecht geworden war, sondern mit seinem Rang in der dortigen Hackordnung. Sich in einer Hierarchie unten einzufügen, war ihm schon immer schwergefallen. Zum Glück war Sepp, lange bevor der Bahnhof Kaponig kurz vor dem Millennium aufgelassen worden war, hinein nach Mallnitz versetzt worden. Bei der Tauernschleuse hatte er für Ordnung gesorgt. Wehe dem Autofahrer, der sich an der Rampe nicht in Reih und Glied bewegte und seinen Anordnungen nicht sofort nachgekommen war! Auch seine Kollegen hatten ihn bald ohne Widerrede als Autoritätsperson anerkannt, da war er noch nicht einmal offiziell in eine Führungsposition vorgerückt.
Als Sepp im Alter von zweiundfünfzig Jahren in den wohlverdienten Ruhestand gegangen war, hatte er sich vor dem Pensionsschock gefürchtet. Zum Glück war im Jagdverein die Position als Aufsichtsjäger frei geworden, die er seitdem mit Leib und Seele ausfüllte. Wie zuvor der Bahnhof Mallnitz wurde die Hubertusrunde zu seinem Revier, in dem er ein strenges Regiment zu führen verstand. Wo käme man auch hin, wenn ein jeder sagen oder tun konnte, was er wollte?