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Die in weiter Ferne versinkende Jugend winkt einen Gruß zu und schenkt ein frisches Sträußlein Erinnerungen aus der Waldheimat. Ein Strauß heiterer und ernster Gestalten, Geschichten und Abenteuer, die entweder in mein eigenes Leben hereingespielt haben oder von Jugend- und Zeitgenossen erlebt worden sind. Im Geiste vagabundiere ich noch immer meinem Waldbauernbuben nach durch die taufeuchten Wälder, über die sonnigen Almen, in die dunklen Hütten.
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LESEPROBE ZU
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2003
© 2017 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
www.rosenheimer.com
Titelbild: Franz v. Defregger: »Porträt eines Buben« (Ausschnitt)
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
eISBN 978-3-475-54675-4 (epub)
Peter Rosegger
Waldheimat – Neue Geschichten
„Die in weiter Ferne versinkende Jugend winkt einen Gruß zu und schenkt ein frisches Sträußlein Erinnerungen aus der Waldheimat. Ein Strauß heiterer und ernster Gestalten, Geschichten und Abenteuer, die entweder in mein eigenes Leben hereingespielt haben oder von Jugend- und Zeitgenossen erlebt worden sind. Im Geiste vagabundiere ich noch immer meinem Waldbauernbuben nach durch die taufeuchten Wälder, über die sonnigen Almen, in die dunklen Hütten.“
Als vor einem Jahre der fünfzigste Geburtstag mich einlud zur Rast und Rückschau, da sah ich an meiner zurückgelegten Straße mancherlei Dinge stehen, die bisher nicht beachtet worden sind, so wunderlich etliche davon auch sein mögen. Und war es gleichsam, als ob die in weiter Ferne versinkende Jugend mir noch ein letztes Grüßen zuwinkte und ein frisches Sträußlein Erinnerungen aus der Waldheimat. – Da ist es nun.
Ein Strauß heiterer und ernster Gestalten, Geschichten und Abenteuer, die entweder in mein eigenes Leben hereingespielt haben oder von Jugendund Zeitgenossen erlebt worden sind. Und während ich noch in süßer Wehmut der ersten Jugend gedenke, umblüht mich schon die zweite – in meinen Kindern. Und so endet der Tag und das Buch mit einem Morgenrot.
Mein Blick fällt auf eine Zeichnung, die mich zeigt als Waldbauernbuben. Sie erinnert mich an die Jugend und daran, wie sie entstand:
In meinem Werke »Waldheimat« ist erzählt worden, wie der Waldbauernbub einst von seinen steierischen Bergen herab und zu Fuß nach Wien gegangen ist, um Josef den Zweiten zu sehen. Der Volkskaiser lag freilich schon längst in der Kapuzinergruft, hingegen waren dem kleinen Wanderer auf dieser Wienerreise andere Abenteuer passiert, darunter jenes, dass ihn auf der Gasse ein Maler zusammenpackte, mit in seine Stube nahm und ihn auf ein Blatt Papier zeichnete. Dann bekam er fünf Gulden für das Sitzen, und hernach konnte er wieder gehen. – Seit jener flüchtigen Stunde waren an die vierzig Jahre verflossen, der Waldbauernbub hat von dem ihm gänzlich unbekannten Maler nichts mehr gehört. Nun geschah es, dass im vorigen Jahre ein Wiener Patrizier, Herr Karl Adolf Bachofen von Echt, den Hofmedailleur Meister Anton Scharff nach Graz in mein Haus schickte, um mich zu modellieren. Bei dieser Gelegenheit gab es allerlei Geplauder, und ich erzählte dem Meister von meiner ersten Sitzung als Waldbauernbub bei jenem Maler in Wien, ohne jedoch weitere Angaben machen zu können, als dass es in einem Hause der Josefstadt gewesen sein dürfte und der Maler einen dunklen Bart gehabt habe. »Obschon alle Maler dunkle Bärte haben«, rief Meister Scharff, »so müsste der Mann doch aufzufinden sein, um ihm das Bild abzunehmen. Josefstadt? Am Ende war es mein alter Freund Professor Alois Schön, der seit unvordenklichen Zeiten dort wohnt und immer gerne Naturskizzen aus dem Volke aufgenommen hat. Den muss man doch einmal fragen, ob er vor vierzig Jahren keinen Waldbauernbuben laufen gesehen!« – Wenige Monate später konnte mir von Bachofen mitteilen: »Das Bild vom Waldbauernbuben ist entdeckt! Meister Scharff hat den Maler gefunden und der Maler die Skizze. Es ist Professor Alois Schön, der in seiner Mappe noch das Blatt verwahrt hielt, alles stimmt. Das Bild habe ich sofort erworben und soll deiner lieben Frau verehrt werden.«
So ist es geschehen, und so bin ich zum Bildchen gekommen, das an die vergangene Jugend gemahnt. Inwiefern es getroffen, kann ich nicht entscheiden, die Gesichtszüge sollen denen meiner Knaben ähnlich sein. Die nackten Füße sind eine Freiheit des Künstlers, der ja kein Porträt, sondern eine Studie machen wollte. Barfuß bin ich nicht herumgelaufen in der Kaiserstadt, erst auf der Heimreise habe ich meine Schuhe zu Schanden getreten und weggeworfen. – Zeit, Ort, Handlung und Art der Entstehung dieses Bildchens stimmen überein mit der Erzählung in der »Waldheimat«. Wenn auch die buchstäbliche Wahrheit der Erzählung vorausgesetzt wird, so steht der Annahme, dass die Zeichnung echt ist, nichts im Wege. – Jedenfalls danke ich den drei genannten Herren wärmstens für das Zustandekommen und die Entdeckung des Konterfeis, das leider keinen Zweifel mehr offen lässt darüber, was der jetzt so gesetzte Verfasser dieses Buches einst für ein Vagabund gewesen ist. Aber im Geiste vagabundiert der Jetzige immer noch jenem Waldbauernbub nach durch die taufeuchten Wälder, über die sonnigen Almen, in die dunklen Hütten und glühenden Herzen seiner Landsleute.
Fein flink mit ihm, freundlicher Leser, du kannst es nun erfahren, was er erlebte, erschaute, ersann und wie er’s trieb, als er jung noch war.
Krieglach, im Sommer 1894.
R.
Einleitender Blick in die Vorzeiten der Waldheimat
Bauerngeschlechter werden nur in Kirchenbüchern verbucht.
Das Kirchenbuch zu Krieglach, wie es heute vorliegt, beginnt im siebzehnten Jahrhunderte mit dem Jahre 1672. Die früheren Urkunden sind wahrscheinlich bei den Einfällen der Ungarn und Türken zu Grunde gegangen. Zu Beginn des Pfarrbuches gab es in der Pfarre schon Leute, die sich Roßegger schreiben ließen. Sie waren Bauern, aber ob sie in der Gegend damals schon altgesessen waren oder eingewandert und woher, das ist nicht bekannt. In Kärnten steht noch heute eine Schlossruine, Roßegg, oder Rosegg genannt; man könnte also, wenn man hoffärtig sein wollte, sagen, die Roßegger wären ein altes Rittergeschlecht, und obiges Schloss sei ihr Stammsitz. – Bei Bruck an der Mur in Steiermark steht ein schöner Berg, der auf seiner Höhe grüne Almen hat und einst viele Sennhütten gehabt haben soll. Dieser Berg heißt das Roßegg. Man könnte also, wenn man bescheiden sein wollte, auch sagen, die Roßegger stammten von diesen Almen, wo sie einst Hirten gewesen, Kühe gemolken und Jodler gesungen hätten. – Zu der nächsten Nachbarschaft der Krieglacher Berggemeinde Alpel, in der Pfarre Sankt Kathrein aus Hauenstein, der Gegend, die einst von Einwanderern aus dem Schwabenlande bevölkert worden sein soll, steht seit unvordenklichen Zeiten ein großer Bauernhof, von jeher insgeheim »beim Roßegger« genannt, trotzdem die Besitzer des Hofes nun schon lange anders heißen. Das Wahrscheinlichste wird sein, dass genannter alter Bauernhof das Stammhaus der Roßegger ist. Diese sind ein sehr weit verzweigtes Geschlecht geworden; in Sankt Kathrein, in Alpel, in Krieglach, in Fischbach, in Stanz, in Rindberg, in Langenwang usw. gibt es heute viele Familien Roßegger, deren Verwandtschaft miteinander gar nicht mehr nachweisbar ist. Zumeist sind es strebsame Bauersleute. Ein Rupert Roßegger ist Priester gewesen, hat große Reisen gemacht, darüber geschrieben und auch schöne Gedichte verfasst.
Der Bauernhof in Alpel, zum untern Kluppenegger, in meinen Schriften auch der »Waldbauernhof« genannt, gehörte zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts einem Manne, genannt der Anderl (Andreas) im Kluppenegg. Das soll ein wohlhabender Mann gewesen sein, und in der Erinnerung der Familie wird er noch heute der »reiche Kluppenegger« geheißen. Er hat ein Pferd besessen, mit welchem er für die Gemeinde Alpel den Saumverkehr mit dem Mürztale (Fahrweg hat es damals noch keinen gegeben) versorgt haben dürfte.
Der Anderl im Kluppenegg war einmal beim »Grassschnatten« vom Baum herabgefallen und hatte einen hinkenden Fuß davongetragen. So soll er des Sonntags auf seinem Rösslein in die Kirche geritten sein, auch beim Wirtshause sich den Krug Wein aufs Rösslein haben reichen lassen und bei den Leuten ein großes Ansehen gehabt haben.
Dieser Anderl hat wahrscheinlich auch das stattliche Haus gebaut, welches auf seinem Trambaume die Jahreszahl 1744 führt und dessen Zimmerholz an vielen Stellen heute noch hart wie Stein ist, weil man zu jener Zeit das Bauholz aus reifen Waldungen genommen hat. Der Anderl hatte einen Bruder bei sich in der Einwohne, der Zimmermann war. Zu dieser Zeit gehörten zum Hofe zwei »Gasthäuseln«; in dem einen, das gleich oberhalb des Gehöftes stand, wohnte ein Schneider, in dem andern, das tief unten an der steilen Berglehne war, wohnte ein Schuster; der Anderl selbst verstand die Weberei, die Lodenwalcherei und die Hautgerberei, also hatte er die wichtigsten Gewerbe beisammen und konnte den Nachbarn damit aushelfen. Auch hatte er unten im Graben eine zweiläufige Getreidemühle gebaut und gleich in demselben Gebäude eine Leinölpresse. Der Anderl soll fast Tag und Nacht gearbeitet haben, sich ausgeruht nur auf dem Pferde. Von einem Kluppenegger geht die Sage, dass er eines Tages auf dem Pferde sitzend tot nach Hause gekommen sei; ob das von dem Anderl gilt oder von einem noch älteren, das kann ich nicht berichten.
Der Anderl hat nur ein einziges Kind gehabt, eine Tochter. Die soll eine gar stolze Jungfrau gewesen sein und viele Freier abgewiesen haben. Unter anderen warb ein Schichtenmeister aus Kindberg um sie, den nahm sie an und wie man sagt vorwiegend deshalb, weil er Soldat gewesen und vor der Kaiserburg zu Wien bei der Maria Theresia Wache gestanden wäre. Als es aber nach dem Tode des Anderl zur Heirat kommen sollte und das Bargeld nicht vorhanden war, das er als Nachlass von ihrem Vater erwartet, tat der Schichtenmeister unentschlossen; da gab sie ihm den Laufpass. Diesen Umstand nahm ein Sohn aus dem Riegelbauernhofe in Alpel wahr.
Das Riegelbauernhaus ist das zuhöchst gelegene in Alpel, und von ihm aus sieht man über die Engtäler des Alpels hinweg in der Ferne viele hohe Berge. Man pflegte in alten Zeiten die Höfe hoch hinauf zu bauen, so hoch, dass man oft nicht einmal einen Brunnen hatte, eben wie auch bei diesem Riegelbauernhause, wo man jeden Tropfen Wasser unten an der steilen Berglehne holen musste. Das Gebäude der Riegelbauern ist erst vor kurzem niedergerissen worden. In diesem Hause tauchten die Roßegger auf. Ihrer sollen zu jener Zeit viele Buben gewesen sein, und einer davon, der Josef, ging zur Kluppenegger-Tochter herüber und sagte: Sei sie auch ohne Geld, obschon es beim reichen Kluppenegger heiße, so nehme er sie doch, wenn es ihr recht wäre. Also hat die Kluppenegger-Tochter vom Riegelbauernhofe her den Josef Roßegger geheiratet, welcher geboren worden war am 16. März 1743.
Der Josef soll ein kleines, rühriges Männlein gewesen sein, an seinen kurzen, rundlichen Beinen niedrige Bundschuhe, grüne Strümpfe und eine Knielederhose getragen haben, auf dem Haupte einen breitkrempigen Filzhut, unter welchem lange graue Locken bis zu den Achseln herabreichten. Ein kleines, hageres Gesicht, stets wohl rasiert, graue, lebhafte Äuglein und im Munde allzeit ein harmloses Späßlein, sodass es immer zu lachen gab, wo der »Seppel« dabei war.
Der Seppel hat auch die Kunst zu schreiben verstanden. In einem alten Hausarzneibuche steht mit nun freilich verblasster Tinte schlicht und schlecht geschrieben: »Groß Frauentag, 1790. Ich, Joseph Roßegger, habe am Heutigen den Erstgepornen Suhn Ignatzius bekemen. Empfelche das klein Kind unser Lieben Frau.«
Vom Seppel erzählt man auch, dass er schon in seiner Jugend graue Haare bekommen hätte. Er sei nämlich während eines schweren Nachtgewitters auf einer hohen Tanne von wütenden Wölfen belagert worden und habe unbeschreibliche Todesangst ausgestanden.
Der Seppel soll eine Alm gepachtet und sich nebst Ackerbau und Holzwirtschaft viel mit Viehzucht befasst haben. Er hatte zeitweilig acht Knechte und ebenso viele Mägde gehabt, zu denen nachher noch die eigenen Kinder kamen.
Die Söhne hießen Ignatz, Michel, Martin, Simon, Baldhauser, Jakob. Von diesen Brüdern ist die große Verträglichkeit und Einigkeit in der ganzen Gegend sprichwörtlich geworden. In jeder Arbeit halfen sie einander, und wo an Sonntagen einer der »Kluppenegger-Buben« war, da sah man die anderen auch. Keiner ließ über die anderen ein böses Wort aufkommen, jeder stand für alle ein. Wenn es um einen Bruder ging, so hob selbst der Friedfertigste, der Ignatz, seinen Arm. Wer einen dieser Burschen überwinden wollte, der musste alle sechs überwinden, und der, für den einer derselben eintrat, hatte sechs gute Kameraden.
Mehrere dieser Brüder kauften sich später Bauerngüter im untern Mürztale oder erheirateten sich solche. Dadurch entkamen sie der Militärpflicht. Soldat ist nur einer gewesen, derselbe starb zu Preßburg an Heimweh. Der Baldhauser, welcher die Soldatenlänge nicht hatte, brauchte sich um einen Besitz nicht zu bemühen, er blieb im heimatlichen Hofe als Knecht.
Der Josef erreichte ein hohes Alter. Auf einem Besuche bei einem seiner verheirateten Söhne im Mürztale ist er fast plötzlich, über Nacht, gestorben. Bevor er zu jenem Besuche fortging, soll er, gebeugt und auf seinen Stock gestützt, fast dreimal um den Kluppeneggerhof herumgegangen sein und dabei mehrmals gesagt haben: »Nicht geboren, nicht gestorben, und doch gelebt!« Als er hierauf nicht mehr heimgekommen war, hat man das so gedeutet, als hätte er sagen wollen: In diesem Hause bin ich nicht geboren und werde darin nicht sterben, und habe doch darin gelebt.
Zur selben Zeit war schon sein Sohn Ignatz (geboren 1790) Besitzer des Kluppeneggerhofes.
Er heiratete eine Tochter aus dem Peterbauernhofe namens Magdalena Bruggraber.*) Diese Magdalena hatte auch mehrere Brüder, wovon einer sich das nachbarliche Grabenbauernhaus erwarb; sein Bruder Martin war bei ihm Knecht. Seit jeher waren diese beiden ein paar gute Genossen gewesen zu den Kluppenegger-Söhnen; jetzt in Verwandtschaft getreten, standen sie noch fester zu ihnen. Und doch ist es einmal anders geworden, wir werden das später erfahren.
Der Ignatz Roßegger soll ein schöner, stattlicher Mann gewesen sein, sonntags in schmucker Steirertracht, wie sie damals der Erzherzog Johann wieder zu Ehren gebracht hatte, ins Pfarrdorf gekommen sein und gerne gesungen haben. Dem »Natzl in Kluppenegg« seine helle Stimme war in der ganzen Gegend bekannt, und keinen Tag gab Gott vom Himmel, ohne dass man den »Natzl« jauchzen hörte auf der Weiden oder in den Wäldern von Alpel. Im Gegensatz zu seinem Vater trug er kurz geschnittenes Haupthaar, ließ aber seinen blonden Schnurrbart stehen. Die Herrschaft (das Grafenamt Stubenberg) sah es damals nicht gerne, wenn die Leute ihren Bart stehen ließen, das war »neuerisch«, aber den harmlosen, lustigen Natzl hat sie deshalb nie zur Verantwortung gezogen.
Den Ignatz soll nie jemand trotzig oder zornig gesehen haben, mit jedermann war er gemütlich und verträglich, die Alpelbauern sagten viel später noch, einen besseren Nachbarn kann sich kein Mensch wünschen, als es der Natzl gewesen ist. Weit berufen war er als Kinderfreund, und wo ihm auf Wegen und Stegen ein Kind begegnete, da tat er sein rotes Lederbeutelchen auf und schenkte ihm einen Kreuzer. Auch selbst war er mit Kindern reich gesegnet, sieben Söhne, Lorenz, Franziscus, Sebastian, Thomas, Anton, Jakob, noch einmal Franziscus, zwei Töchter, Margaretha und Katharina, wurden ihm rasch nacheinander geboren; mehrere starben in früher Kindheit, die Übrigen wuchsen auf unter den strengeren Züchten der Mutter Magdalena. Der Ignatz hatte sich aber, wahrscheinlich aus Ursache seiner Leutseligkeit, einen großen Fehler angelebt. Er saß gerne in den Wirtshäusern. Wenn er auch nicht viel trank, so trank er doch wenig, wenn er auch nicht um Hohes Karten spielte, so spielte er doch um Geringes, wenn er auch nicht schweren Tabak rauchte, so rauchte er doch leichten, und wenn er auch nicht Schulden machte, so ward sein kirschroter Geldbeutel zum Mindesten immer um einiges ärmer. Die Woche über arbeitete er fleißig, des Sonntags aber, wenn er in die Kirche ging, da kam er nie zum Mittagessen nach Hause, wie es sonst der Brauch, da setzte er sich in ein Wirtshaus, ließ sich’s wohl geschehen, jodelte ein wenig, spielte ein wenig, war stets heiter, und erst wenn es finster wurde, ging er den weiten Weg ruhig nach Hause.
Seine Magdalena muss ein scharfes Weib gewesen sein. So spät er auch kommen mochte, immer hat sie ihn wachend und gerüstet erwartet. Das soll dann stets ein Wetter gewesen sein, dass das ganze Haus erbebt hat, erbebt mitsamt den Kindern, die es nicht begreifen konnten, wie die Mutter wegen seines Nachtheimkommens so herb sein konnte, da er ja doch heimgekommen war. Er soll die heftigsten Vorwürfe ruhig und schweigend über sich ergehen lassen und nur immer die Kinder beschwichtigt haben, die sie durch ihr Lärmen aus dem Schlafe geschreckt.
Manchmal nahm er auch einen oder den anderen seiner Knaben mit in die Kirche, was den Kleinen alle Mal ein Festtag war. Nur der Knabe Lorenz, so lieb er sonst seinen Vater hatte, wollte bald nicht mitgehen, denn der bekam Heimweh, wenn er den ganzen Sonntagnachmittag neben ihm im Wirtshause sitzen musste. Er durfte bei diesem Sitzen zwar sein grünes Filzhütlein mit der Hahnenfeder aufbehalten, er bekam von der Wirtin sogar Zucker in den gewässerten Wein geworfen, aber trotzdem war es unter den rauchenden, lärmenden Bauern unsäglich öde, und wenn er seinen Vater bat, nach Hause zu gehen, antwortete dieser immer: »Gleich, gleich, Bübel, ich geh schon, nur mein Lackerl Wein trink ich früher aus.« Der Knabe durfte ja auch mittrinken, und so richtete er es mehrmals ein, dass er während des Trinkens scheinbar ungeschickterweise den Wein heimlich vergoss, aus Sorge, dass der Vater zu viel trinke. Aber als der Krug leer war, ließ ihn der Ignatz wieder füllen. Da hielt es der kleine Lorenz einmal nicht länger aus, stahl sich heimlich davon, ging durch die finsteren Wälder und engen, wasserdurchrauschten Berggräben nach Hause. Zu Hause getraute er sich nicht aufzuzeigen, weil er fürchtete, die Mutter könne den Vater, wenn er nachkäme, noch ärger hernehmen, dass er das Kind so allein hätte fortgehen lassen durch die großen Waldungen, wo man noch dazu von Wölfen hörte.
Der Knabe blieb also im Schachen hinter dem Hause stehen, bis der Vater nachkommen würde. Die Schatten der Schachenbäume wurden länger und vergingen endlich, ein Gewitter stieg auf und ging nieder, vom Riegelbauernwalde war es manchmal wie das Geheul eines wilden Hundes, der Knabe stand im Schachen und wartete auf den Vater. Der Vater begleitete aber an diesem Tage seinen Nachbar und Gevatter Grabler bis zu seinem Hause, kam daher auf einem andern Wege heim und konnte der Magdalena Frage nach dem Knaben Lorenz nicht beantworten. Der Lorenz war im Wirtshause ja längst vor ihm heimgegangen und war jetzt nicht da. Der Schreck des Ignatz war so groß, dass er zur Stunde ein heiliges Fürnehmen tat, wenn der Knabe glücklich wieder gefunden werde, so betrete er sein Lebtag kein Wirtshaus mehr, außer es sei auf einer Wallfahrt oder sonst auf einer Reise, oder es sei bei seiner goldenen Hochzeit mit der Eheliebsten Magdalena.
Bei der Eheliebsten Magdalena würde zu solcher Stunde diese Wendung nicht viel gefruchtet haben, wenn der Knabe nicht jetzt zur Tür hereingegangen wäre.
Das Gelöbnis soll der Ignatz leidlich gehalten haben, obwohl durch einen seltsamen Zufall eine neue Versuchung herantrat, mit einem guten Kruge sich manchmal gütlich zu tun.
Eines Tages, als sein Kind Jakob gestorben war, und als er, um beim fernen Pfarramte die Leiche anzeigen zu gehen, aus seinem Gewandkasten ein frisches Linnenhemde herauszunehmen wollte, wie solche von seiner Mutter noch eigenhändig gesponnen und genäht im Vorrate waren, fiel es ihm auf, dass der Kasten einen so dicken Sohlboden hatte. Durch Klopfen kam er darauf, dass dieser Boden hohl war, durch Umhertasten bemerkte er an der innern Ecke ein Schnürchen. Er zog an, und da hob sich ganz leicht ein Deckel und ließ ihn hineinsehen auf sieben voll gepfropfte Säcklein, die zwischen dem Doppelboden verborgen gewesen waren. Aus alten Hosen getrennte Säcke waren es, mit Schuhriemen zugebunden, und ihr Inhalt Silbergeld, lauteres Silbergeld.
Der Ignatz erzählte von diesem Funde seinem Weibe und seinen Brüdern. Während in der Stube noch das Leichlein lag, setzten sie sich auf dem Küchenherde zusammen und untersuchten das Geld; es war keine landläufige Münze darunter, lauter alte »Taler«, manche gar unregelmäßig, fast eckig in der Form, mit fremdartiger Prägung, teils abgegriffen und schwarz, aber von solch hellem Klange, dass die Ohren gellten.
Nun rieten sie hin und her, von wem wohl der Schatz stammten konnte, und da fiel es dem Ignatz ein, dass er von ihrem Großvater, dem Anderl in Kluppenegg, herrühren dürfte, der als reich bekannt gewesen, von dem aber nach seinem Tode kein Bargeld gefunden worden war. Die acht Brüder beschlossen also, das Silbergeld unter sich zu teilen. Jeder soll an siebzig Gulden bekommen haben, der Ignatz um einen Teil mehr, und das war zum Finderlohn. Weiter hatten sie keinem Menschen von dem Funde gesagt, sollen aber ihr liebe Not gehabt haben mit einzelnen der alten, unbekannten Münzen, um sie an den Mann zu bringen. Der Betrag war für die damalige Zeit ein bedeutender, doch keinem der »Kluppenegger-Buben« hatte man es angemerkt, dass sie einen Reichtum besaßen. Der Ignatz mag zu Ehren der alten Schimmeln wohl einmal einen Krug getrunken haben, ohne dass die Magdalena erheblichen Einspruch tat, im Ganzen mied er die Wirtshäuser. Vorübergehen konnte er zwar an keinem, und so blieb er ihnen fern, indem er an Sonn- und Feiertagen nur ganz selten in die Kirche ging, sondern seinen Rosenkranz zu Hause betete und dann vor dem Hause seine Jodler sang hin über die grünen Höhen, sodass die Magdalena erst jetzt eine Freude hatte an ihrem braven und lustigen Mann.
Da kam jene Kirchweih zu Fischbach. Dieser Ort ist von Alpel durch den Gebirgszug der Fischbacheralpen getrennt. Aber man ging an Festtagen gern über dieses waldige Gebirge, weil es in Fischbach sehr lustige und kecke Leute gab, weil in den dortigen Wirtshäusern damals noch keine ständige Polizei war, wie etwa im Mürztale, und weil es daher dort sehr ungezwungen herging. Besonders die Fischbacher Herbst-Kirchweih war weitum berüchtigt, und wenn irgendwo Bauernburschen miteinander einen unausgetragenen Handel hatten, so stellten sie sich bei der Kirchweih ein, wo es dann fast alle Mal zu einem blutigen Raufen kam. Ignatz’ Bruder Baldhauser war dem Raufen nicht abgeneigt. Manchmal, wenn er des Morgens die damals übliche, schön geformte und mit weißen Nähten gezierte Lederscheide mit Pfeifenstierer, Gabel und dem großen Messer in den Hosensack schob, soll er gesagt haben: Man weiß nicht, wozu mans brauchen kann. Bei den Weibsbildern scheint der Baldhauser auch nicht blöde gewesen zu sein, denn er wählte sich alle Mal eine solche aus, die auch anderen Burschen gefiel, und so kam es vor, dass das Recht des Stärkeren entschied. Der Baldhauser war ein mehr kleiner, untersetzter Mann, sonst sehr bedächtig und langsam in seinen Bewegungen, beim Ringen aber der Flinkeste und Abgefeimteste, der seinen Gegner fast alle Mal so bettete, wie er nicht gebettet sein wollte. Wer es also mit dem »Hausel« zu tun hatte, der trachtete erstens ihm in Abwesenheit seiner Brüder beizukommen, was schon leicht war, da die meisten derselben in eine fremde Gegend fortgeheiratet hatten. Trotzdem pflegte ein Gegner des Baldhauser sich um Genossen zu schauen, und wenn ihrer drei oder vier gegen ihn waren, da geschah es wohl manchmal, aber durchaus nicht immer, dass er wesentliche Merkmale heimbrachte, worauf seine Schwägerin Magdalena freilich alle Mal die Bemerkung tat: »All zwei Füß’ hätten sie dir abschlagen sollen, das wär’ dir gesund, du Raufbär!« Solcher Meinung war der Baldhauser zwar nicht.
Da kam nun wieder einmal die Fischbacher Herbstkirchweih, und er hatte wieder einmal eine Liebste, die Heidenbauerndirn, auf welche das Eigentumsrecht aber der Grabenbauer gelegt haben wollte. Dem Grabenbauern hatte er schon früher einmal Post geschickt: »Du!, wenn du noch länger gesunde Knochen haben willst, so lass die Dirn!«, und trotzdem hörte er nun, der Grabenbauer führe dieselbe zur Kirchweih, habe aber gleichzeitig auch etliche Kameraden bestellt. Da wusste er freilich, der Baldhauser, dass zwischen ihm und den Grabenbauernleuten der Friede gebrochen war und was er zu tun hatte bei dieser Kirchweih zu Fischbach. Sein Bruder, der Ignatz, wusste nichts davon, der Baldhauser sagte ihm auch nichts, lud ihn nur ein, mit ihm über das Gebirge zu gehen nach Fischbach zu dem lustigen Feste, wo getanzt und gesungen würde über die Maßen. Der Ignatz fand sich gern bereit und wollte auch seinen Knaben Lorenz mitnehmen. Dieser war von Natur aus zart und beschaulich angelegt; wo es lärmende Leute gab, da war er nicht gern; die Wirtshäuser waren ihm ja ein Graus und da hatte er gehört, auf Kirchweihen gäbe es noch mehr Wirtshäuser als sonst wo; also bliebe er lieber daheim. Seine Mutter rief: »Der Junge ist gescheiter wie der Alte und weiß, dass Kinder nicht auf Kirchweihen taugen. Bliebest auch du daheim, Natzl, morgen tät’s dir gewiss nicht leid sein.«
Der Ignatz zog aber sein schönes Gewand an und ging mit seinem Bruder Baldhauser nach Fischbach. Als sie hinkamen, war der Marktplatz schon voller Buben, Leute und Gesurre; Leutedunst, Tabakrauch, Metgeruch, alles durcheinander, aus den Wirtshäusern fröhlicher Lärm, und der Baldhauser wollte gleich zum Bauernhoferwirt hinein. Der Ignatz sagte, sie täten zuerst doch lieber ein bissel in die Kirche schauen, weil man gerade zum Hochamt läute; und nachher standen sie eine Stunde lang eingekeilt in der Menge, und der Baldhauser war sehr ungeduldig und dachte nach, wie er mit dem Grabenbauer zusammenkommen würde.
Nach dem Gottesdienste kauften sie auf dem Markte Schuhnägel, Pfeifenzubehör mit Tabak und der Ignatz weiß gestriemte Lebzeltherzen für die Kinder daheim und ein großes Lebkuchenstück mit Mandeln gefüllt für seine Magdalena. Das band er in ein blaues Sacktuch zusammen, und dann gingen sie gleich zum Neuwirt. Dort waren lauter lustige Leute, und der Ignatz hub bald an zu singen. Dem Baldhauser ließ es aber keine Ruhe, er meinte, auch den übrigen Wirten müsse man ein Seitel abkaufen, sonst könnte es sie verdrießen, und sie gingen nachher zum Tafernwirt und zum Krammerwirt und zu anderen. Aber nirgends traf er den Grabenbauer und die Heidenbauerndirn. Beim Krammerwirt war es ihm vorgekommen, als huschten sie zur hintern Tür hinaus, während er mit seinem Bruder zur vordern hereinging.
Am Nachmittage wurde es in einzelnen Wirtshäusern schon unheimlich laut, und aus dem wirren Geschrei gellte manchmal ein rohes Fluchwort auf. Vor dem Bauernhofer Wirtshause balgten sich ihrer ein halb Dutzend betrunkener Bursche auf der Gasse, mit Fensterrahmen hieben sie aufeinander los, die sie drinnen ausgebrochen hatten. Beim Krammerwirt soll zwischen Holzknechten und Schustergesellen ein solches Schlagen losgegangen sein, dass das Blut zu den Türstufen herabtröpfelte. Solange noch gesungen worden, hatte der Ignatz frisch und klingend mitgetan, hatte zu zweien oder dreien den Arm um den Nacken des andern gelegt und den Kameraden froh in die Augen schauend sinnige oder kecke Lieder angestimmt. Als es nun überall ins Stänkern und Schimpfen und Schreien und Raufen ausartete, wollte er heimgehen. Da es gegen Abend war und der Baldhauser seinen Grabenbauer immer noch nicht gefunden hatte, sagte er zum Bruder: »Das ist eine lausige Kirchweih!«, und machte sich missmutig auf den Heimweg. Der Ignatz ging fröhlich mit ihm.
Nach einer Stunde kamen sie hinauf zu den Almhöhen, wo die Halterhütte stand. Der Weg ging hier oben glatt und eben durch jungen, dichten Lärchenwald, es ward schon dunkel.
»Da gibts auch noch Leute«, sagte der Ignatz plötzlich, denn auf einem Rasenplatze saßen ihrer etliche Männer und ein Weibsbild. Es waren ja seine zwei Schwäger, der Grabenbauer und dessen Bruder, der Mirtel, und es war ein Riegelbauernknecht und der Holzknecht Caspar; das Weibsbild war die Heidenbauerndirn.
Der Baldhauser stand einen Augenblick still und stutzte. Dann trat er vor die Dirn und sagte: »Was machst denn du da? Du gehörst da nicht her!«
»Hausel, wenns dir nicht recht ist!«, versetzte der Grabenbauer fast leise, ballte die Fäuste und erhob sich.
»Mit so Wegelagerer-Lumpen nehm ichs auf«, sagte der Baldhauser trotzig.
»Lass sie gehen, Hausel«, mahnte der Ignatz und suchte den Bruder mit fortzuzerren. Das war schon zu spät, sie gerieten zusammen; zuerst ihrer zwei, der Grabenbauer und der Mirtel waren über den Baldhauser hergefallen; als dieser aber den einen arg nach rückwärts bog, dem andern ein Bein schlug, sprangen auch die beiden anderen bei. Als der Ignatz sah, dass vier starke Männer über seinen Bruder her waren, da griff er auch zu. Die Dirn kreischte und rief alle Heiligen an. Wortlos rangen die Männer in einem Knäuel, sie schoben, unter ihren Füßen dröhnte der Boden. Der Grabenbauer hatte die Finger der einen Hand an Baldhausers Kehle gesetzt, mit der andern wollte er sein Messer ziehen; in dem Augenblicke flog er von Ignatz geschleudert auf den Rasen hin. Fast gleichzeitig auch der Ignatz, und jetzt sprang ihm der Mirtel mit beiden Füßen auf die Brust. Da der Ignatz unbeweglich liegen blieb, so stieß der Mirtel einen grausigen Fluch aus und versetzte ihm mit schwerem Stiefel noch einen heftigen Fußtritt auf das krachende Brustblatt. – Der Baldhauser riss los, fasste die Dirn und raste mit ihr davon.
Weit unten in der Köhlerhütte verbarg er sie und verbot ihr einen Laut zu tun; er lugte zum Fensterlein hinaus, wie der Holzknecht Caspar und der Riegelbauernknecht und endlich auch der Mirtel mit dem Grabenbauer vorbeigingen. Sein Bruder Ignatz aber kam nicht. Als er auf diesen vergebens gewartet hatte, ließ er das Weibsbild im Stich und ging den Weg zurück hinauf bis zur Höhe. Es war schon beinahe finster. Der Ignatz saß auf einem Baumstock.
»Was hast denn, dass du nicht nachkommst?«, fragte ihn der Baldhauser.
»Der Mirtel hat mich so getreten!«, antwortete der Ignatz, sonst sagte er nichts.
»Kannst nicht gehen, Bruder? Komm, ich werde dich führen.«
Der Ignatz deutete mit der Hand, der Baldhauser sollte nur seines Weges gehen, er werde schon nachkommen.
Das tat der Baldhauser freilich nicht, er blieb bei dem Bruder, er suchte eine Quelle und brachte im Hute Wasser, den Verletzten zu laben. Dann stand der Ignatz auf, stützte sich an den Baldhauser und sie huben an zu gehen.
Oft, wie oft musste er rasten unterwegs, und da sprach er einmal zum Baldhauser: »Bruder, daheim wollen wir nichts sagen davon, dass wir’s mit den Schwägern haben gehabt. Es ist eine Schande.«
Um Mitternacht erst sollen sie nach Hause gekommen sein, und der Baldhauser erschrak fast zu Tode, als er nun beim Kienspanlicht sah, wie blass der Ignatz war, wie matt und stier sein Auge und wie an den Mundwinkeln Blutkrusten klebten. Er gab ihm wieder Wasser zu trinken und suchte in dem Küchenkastel nach einem Balsam. – Der Magdalena fiel es schon auf, was sie denn in der Küche herumzutun hatten, sie eilte hinaus und erfuhr es nun, gerauft wäre worden, und den Natzl hätt’s ein bissel getroffen, aber die anderen hätten auch ihr Teil bekommen!
Als die Magdalena ihren Mann ansah, wie er halb auf die Bank hingesunken dalehnte, sagte sie scheinbar sehr ruhig: »Nau, der hat genug.«
Mit keinem Worte hatte sie gefragt, wie das gekommen war, sie ahnte es gleich, die Ursache wäre der Schwager, und bevor sie den Verletzten noch zu Bette brachte, hielt sie Gericht über den Baldhauser. Eine solche Wucht der wildesten Vorwürfe soll in dem Hause nicht erhört worden sein, als die Magdalena jetzt dem Schwager Baldhauser machte, der ihren Mann mit auf die Kirchweih gelockt, um ihn dort von Raufgesellen erschlagen zu lassen. Zuerst hatte der Baldhauser sich verteidigen wollen, sich rechtfertigen und wehren, aber ihre Zornes- und Gefühlsausbrüche wurden so gewaltig, dass er schwieg und anhub zu weinen. Die Kinder waren aufgewacht und jammerten, der Kettenhund winselte, die Hühner flatterten von ihren Stangen und gackerten, das Gesinde war herbeigekommen und umstand erschrocken die Gruppe, wie die Bäuerin Magdalena rasend vor Wut und Schmerz ihr Gewand zerriss und die Fetzen hinschleuderte auf den Baldhauser, der wimmernd vor ihr auf den Knien lag.
Als endlich in ihrem Gemüte die Erschöpfung und Dumpfheit eingetreten war, wendete sie sich an den Ignatz, der in völliger Ohnmacht dahinlag, brachte ihn auf seine Liegerstatt, flößte ihm warme Milch ein und saß bei ihm die ganze Nacht, die Hände auf dem Schoß gefaltet. Als die Morgenröte zu dem Fenster hereinkam und die Ofenmauer matt anglühte, schlug der Ignatz einmal die Augen auf und blickte um sich. Die Magdalena legte ihre Hand auf seine feuchte Stirn und sagte mit einem Ton unendlicher Milde: »Ist dir besser, mein Natz?«
Er tastete nach ihrer Hand: »Es wird schon wieder gut, Magdalena, es wird schon wieder gut.«
Der Baldhauser hat noch in derselben Nacht seine Sachen zusammengepackt und ist fortgegangen, höher hinauf ins Gebirge zu den Holzknechten.
Und nun sind die stillen, betrübten Tage gekommen. Allerlei Hausmittel hatten sie angewendet, der Kranke musste Gämswurzeln kauen, Hundsfett essen, sich »ziehende Pflaster« auf die Brust legen lassen und sonst allerlei. Er saß wohl in der Stube auf der Ofenbank, oder er ging draußen im Hofe langsam umher, um sich immer wieder irgendwo niederzusetzen. Bei den Kindern war er gerne, sah ihnen zu bei ihren Spielen mit Steinchen und Fichtenzapfen, redete aber wenig mit ihnen, kam alle Mal bald nur so ins dumpfe Hinschauen und Hinträumen. Einen schweren Atem hatte er und musste viel husten. Manchmal kam Blut aus der Brust, aber nur in wenigen Tropfen.
So währte es mehrere Monate. Eines Sonntags am Nachmittage, als der Ignatz neben dem warmen Ofen saß und doch fröstelte, kam die Magdalena herein und berichtete, dass ihr Bruder, der Grabenbauer-Mirtel, in der Küche draußen sei und die einfältige Frage getan habe, ob er hereingehen dürfe. Sie habe ihm geantwortet, das stehe doch jedem Bekannten frei, geschweige erst einem Schwager. Der Mirtel habe aber gebeten, sie möchte doch anfragen beim Natz, ob er auf ein Wort zu ihm hereinkommen dürfe.
»Ich weiß es wohl, warum er fragt«, entgegnete der Ignatz; die Magdalena konnte es aber nicht wissen, weil es ihr nicht gesagt worden war, dass gerade der Mirtel ihn so schwer verletzt hatte.
»Er kann schon hereinkommen«, antwortete der Ignatz nun heiser und kurzatmig, »und du musst so gut sein und noch ein paar Scheiter in den Ofen stecken.« Denn er wollte sie draußen beschäftigen, während der Mirtel bei ihm in der Stube war.
Dieser trat denn ein, schaute beklommen in der dumpfigen Stube umher und sah ihn nicht gleich. Erst als er aus dem Ofenwinkel ein Husten hörte, trat er dorthin, blieb stehen vor dem Kranken und konnte kein Wort sagen. Der Ignatz sagte auch nichts, sondern hob langsam seine rechte Hand und hielt sie ihm hin. Unsicher reichte der Mirtel die seine und sprach: »Natz! Keine ruhige Stund’ hab’ ich mehr gehabt seit der Kirchweih. Dass mirsolcheshat müssen aufgesetzt sein. Wo du mir alleweil frei der liebste Kamerad bist gewesen …«
Er wendete sich ab und ging einige Schritte gegen ein Fenster, als wolle er hinausschauen. Und mit dem Ärmling fuhr er sich übers Gesicht.
»Mirtel!«, sagte der Ignatz leise, »geh her. Geh her zu mir. – Dir ist’s aufgesetzt gewesen und mir ist’s aufgesetzt gewesen. Wer kann dafür. Braucht’s auch weiter niemand zu wissen, wie es ist hergegangen. Es wird ja schon besser. Und will auch einmal zum Arzte schicken, dass er ein wenig nachhilft. – Wie geht’s denn dir, Mirtel?«
»Und du hast mir nichts für ungut, Natzl? Gewiss nicht?«
Der Ignatz machte mit der flachen Hand eine Bewegung in die Luft hinein, gleichsam als wollte er sagen: Lass es gut sein, Mirtel, es zahlt sich nicht aus. Ein sehr heftiger Hustenanfall verhinderte ein weiteres Gespräch. Als der Mirtel wieder in die Küche hinaustrat, sagte er zu der Magdalena: »’s ist wohl ein herzensguter Mensch!«
»Wie findest ihn denn, Bruder?«
Ein Trostwort wollte er sagen, es verschlug ihm die Rede.
»Mir gefällt er halt wohl gar nicht«, meinte sie, »und morgen will ich doch endlich zum Bader schicken nach Strallegg. Sie sagen, für die auszehrende Krankheit wäre der so viel gut.«
Der Mirtel ist davongegangen – halb verloren. Dass essosollte stehen mit dem Ignatz, hätte er nicht gedacht. Die Magdalena hat ihm von der Tür aus eine Weile nachgeschaut. Das war ihr nicht recht vorgekommen jetzt, mit dem Mirtel!
Am nächsten Frühmorgen ging vom Kluppeneggerhofe ein alter Knecht nach Strallegg. Er hatte Geld mitbekommen für den Arzt, gedachte es aber dem Bauer zu ersparen. Wenn er sagt, dass der reiche Bauer krank ist, da wird sich der Arzt hoch lohnen lassen. Als der alte Knecht daher vor dem Arzte stand, tat er sehr erschöpft und kurzatmig und hüstelte und sagte, ihn hätt’s arg auf der Brust. Ein böser Stier habe ihn gestoßen vor drei Monaten, und seither nehme er an Fleisch und Kräften ab, er glaube, die Auszehrung werde es sein, er sei ein armer Dienstbot’ und täte halt gar schön bitten um einen guten Rat.
Der Arzt sagte: »Musst halt recht viel Milch trinken und immer einmal ein Stückel Fleisch essen, und wenn dich der Husten anpackt, so trink eine Schale Kramperlmoostee, aber so heiß, als du’s derleiden kannst.«
Was der Rat täte kosten?
Der koste nichts. Also eilte der Knecht heim, und sein erstes Wort war, er habe dem Ignatz das Geld erspart und doch einen guten Rat mitgebracht. Fleisch und Milch. Und gegen den Husten Kramperlmoostee trinken, so heiß, als er’s derleiden kunnt.
Eine Nachbarin hatte den Tee vorrätig, er war zwar sehr bitter zu trinken, aber er wärmte Brust und Magen, und der Ignatz schöpfte aus diesem Mittel neue Hoffnung.
Zu Anfang des Adventes war’s, wenige Wochen vor Weihnachten, als der Husten mit erneuter Heftigkeit auftrat. Ließ der Ignatz sich wieder einmal den heißen Tee richten, trank ihn rasch aus und wankte dann ins Freie. Nach einer kleinen Weile kam er wieder in die Stube zurück, ganz verändert und taumelnd. »Ich weiß nicht«, sagte er noch, »ich muss zu heiß getrunken haben …« Und sank auch schon zu Boden.
Die Weibsleute, die beim Spinnen waren, sprangen herbei und riefen, was denn das wäre! Er antwortete nicht mehr. Sie legten ihn ins Bett und huben an zu beten, und die Magdalena wurde nicht müde, ihn mit allen Mitteln, die ihr einfielen, wieder zum Bewusstsein zu erwecken. Er holte wohl Atem, manchmal stöhnte er, machte die Augen auf, aber man wusste nicht, ob er jemanden erkannte. Der Lorenz, damals vierzehn Jahre alt, ging noch am stöbernden Abende fort nach Sankt Kathrein, um den Geistlichen zu holen. Er soll, wie später erzählt wurde, den fast drei Stunden langen Weg hin und her in nicht ganz zwei Stunden zurückgelegt haben. Er kam ganz unmenschlich schnaufend zurück, aber ohne Priester. Der Pfarrer von Kathrein war selber krank. So müsse eilends jemand nach Krieglach. Wieder erbot sich der Lorenz, und so schnell wie er bringe den Geistlichen keiner.
Krieglach ist weit, erst gegen Morgen kam der Junge zurück, wieder allein und ganz trostlos; der Pfarrer sei nach Graz gereist und der Kaplan auf einem andern Versehgange in die hintere Massing, von welchem er erst mittags zurückkehren könne. Dann komme er nach.
»So kann er auch das nicht haben!«, jammmerten alle. Es hätte sich ja doch nur mehr um die Letzte Ölung gehandelt. Der Lorenz fand seinen Vater bewegungslos daliegen und schlummern. Das sei das Allerbeste, meinte die Mutter, und er, der Knabe, solle sich auch niederlegen, sonst werde er leicht ebenfalls krank. Denn die Aufregung, die in dem Jungen war um den geliebten Vater, konnte ihr nicht verborgen bleiben. Er legte sich in der Küche hin auf die Bank und schlief ein paar Stunden fest. Eine eigentümliche Unruhe, die sich im Hause erhoben hatte, weckte ihn auf. Hastig, aber leise auftretend, einen Augenblick unter Flüstern beieinander stehen bleibend und dann weiterhuschend, waberten die Leute türaus und -ein, und in der Stube war ein Murmeln, als ob jemand bete. Der Lorenz sprang auf und fragte nach dem Vater.
»Er ist ein wenig schlechter geworden«, berichtete eine Magd, setzte aber, da der Junge vor Schreck aufstöhnte, bei: »Wird doch wohl wieder besser werden. Er ist gleichwohl noch so jung.«
Als der Lorenz in die Stube kam, knieten sie betend und schluchzend um das Bett herum; der Vater lag ruhig da, zwischen den aneinandergelegten Händen stand eine rote, brennende Kerze.
Es war schon vorbei.
Ignatz Roßegger ist nur neununddreißig Jahre und zehn Monate alt geworden. Er starb am 4. Dezember 1829. Die Trauer um ihn war eine sehr große und allgemeine. Während er aufgebahrt lag, konnte das Haus die Leute kaum fassen, die zu der nächtlichen Leichwache erschienen waren. Auch alle Freunde und Verwandten waren da, vor allem der Baldhauser, der Grabenbauer und der Mirtel. Sie standen zusammen und gelobten, die Witwe Magdalena, auf der nun so große Sorgen lagen, nicht zu verlassen. Die Kinder lagen verweint, im Schlafe noch schluchzend, in ihren Bettlein oder standen und lehnten unter den Leuten so herum wie arme Waiselein. Der Knabe Lorenz stand fast immer auf einem Flecke neben der Stubentür und sah auf alles, was jetzt war und im Hause vorging, mit großen Augen hin. Er konnte es nicht fassen, was geschehen war, und später in seinem Leben tat er noch oft den Ausspruch: »Dazumal, wie mein Vater gestorben, das ist mein härtester Tag gewesen.«
Die Magdalena trug zur Zeit ein Kind unter dem Herzen. In allem Gewirre stand allein sie aufrecht und ruhig, fast finster da. Sie redete nur mit wenigen wenige Worte; wenn man weinend sie tröstete, so schwieg sie, hatte ein ganz trockenes Auge, und ihr blasses Antlitz zeigte einen herben Ausdruck. Sie versorgte das Haus und tat ihre Verrichtungen wie jeden Tag; manchmal hielt sie inne, als wäre ihr Leib erstarrt, und schaute vor sich hin. Dann arbeitete sie wieder. Als in der letzten Nacht der Leichenwache das Totenmahl aufgetragen wurde und die Leute in der Stube halblaut murmelnd bei den Tischen zusammensaßen unter dem matten Scheine eines Talglichtes; als zur offenen Stubentür vom Vorhause, wo die Bahre stand, das Öllichtlein hereinflimmerte; als drei Männer die Leiche hoben und in den Sarg aus weißem Fichtenholze legten; als die Magdalena hin und her ging, um noch das Letzte für den Kirchgang zum Begräbnisse zu ordnen, blieb sie auf einmal vor dem Sarge stehen, schaute auf den Toten und rief mit heller Stimme: »Einzig das möchte’ ich wissen, wer ihn erschlagen hat auf der Fischbacheralm!«
Den Leuten ging der Ruf durch Mark und Bein. Der Mirtel legte seinen Löffel weg. – Gar bange still war’s in der Stube, allmählich begannen aber einige zu flüstern: »Es werden ihrer heute wohl da sein, die davon wissen.« Weiter sagten sie nichts.
Als der Ignatz begraben war, ging die Magdalena heim auf den einsamen Hof und hub mit ihren Kindern und mit ihrem Gesinde an zu wirtschaften. Ihre Verwandten boten ihr manche Zuhilfe und manchen Rat; wenn aber ihre Brüder kamen, der Grabenbauer, der Mirtel, oder der Schwager Baldhauser, da sagte sie kurz und herb, ich brauche nichts.
Vierzehn Jahre lang hatte sie fest und zielbewusst die Herrschaft geführt auf dem Kluppeneggerhofe, sie war strenge, arbeitsam, sparsam und hob das Waldbauernhaus zu neuer Wohlhabenheit. Endlich war der Lorenz, der Älteste, so weit, dass er sich wagen wollte, der alternden Mutter die Last abzunehmen. Eine junge Dienstmagd war im Hause, ein armes Dirndel, dessen Mutter mit Kohlenbrennen den dürftigen Unterhalt erwarb. Das Dirndel hieß Maria.
Diese Dienstmagd fing der Lorenz sachte an, gern zu haben. Die Leute redeten hin und her, dass sie so arm sei, von so geringem Stamme, dass er vermöge seiner Person, seines Hofes und seines Ansehens wohl eine andere Wahl hätte treffen können. Die Mutter Magdalena sagte nichts als das: Wenn sie voneinander nicht lassen könnten, so müsse geheiratet werden! – Und also hat der Lorenz Roßegger die Maria geheiratet. Das war im Jahre 1842, dreizehn Monate vor meiner Geburt.
Der Lorenz war ein Mensch ohne Anmaßung und Hochmut, doch in wirtschaftlichen Dingen hatte er seinen eigenen Kopf. Von der sanftmütigen Maria steht zu vermuten, dass sie der Schwiegermutter die Herrschaft im Hause nicht streitig gemacht hat. Gegen ihre Enkel, deren zwei sie erlebt hat, war die Magdalena voll von einer Zärtlichkeit, der man sie kaum für fähig gehalten hätte.
Nur einmal habe ich das kleine, schon tief gebückte Weiblein herb und unheimlich gesehen. Das war wenige Monate vor ihrem im Jahre 1847 erfolgten Tode. Ich stand mit ihr vor dem Hause an der alten Torsäule, die an ihrem Scheitel schon rissig und zackig war und an welcher die weißgrauen Flechten wucherten. Da ging am nahen Wege ein Mann mit grauen Bartstoppeln, in Kniehose und mit einer schwarzen Zipfelmütze vorbei. Ich erkannte ihn und rief: »Ahnl, Ahnl, der Vetter Mirtel!« Da gab die Großmutter mir mit der Faust einen Stoß, dass ich hintaumelte, und sprach klingend hart: »Sei still! Der Mensch geht dich nichts an!«
Diese Worte habe ich erst verstanden viele Jahre später, als ich selber schon reich an Jahren und Erfahrungen war und als mein Vater Lorenz mir eines Tages, unter einem wuchtigen Eschbaume sitzend, die Geschichte von meinem Großvater Ignatz erzählt hatte.
*) In meiner »Waldheimat«, wo überhaupt manches mit kleinen Umschreibungen und im poetischen Röcklein dargestellt werden musste, ist die Magdalena »das Heidemädchen« genannt worden. Der Verfasser.
Am Ostermontag, wenn der Gottesdienst vorüber ist und im Waldlande die Leute beim Mittagsmahle sitzen, kommt es vor, dass einer sagt: »Heut’ ist Ostermontag, heut’ sollen wir nach Emaus gehen.« Und fast alle Mal entgegnet ein anderer: »Nach Eb’naus (eben aus) gehen, das ist bei uns im Gebirg eine Kunst.« Aber der strenge Hausvater verweist: »Gescheiterweis’ reden! Heilige Sach’ ist kein Spaß!«
Am Vormittag haben sie es bei der Predigt gehört, dass nach dem Tode Jesu die Jünger gar vereinsamt und betrübt umhergegangen seien, immer nur an den Herrn und Meister denkend, der ein paar Tage früher gekreuzigt und begraben worden war. Und als sie die Straße entlanggingen, die nach Emaus führte, da begegnete ihnen der Gekreuzigte leibhaftig und grüßte sie: »Der Friede sei mit euch!«, also dass sie wussten, er ist von den Toten auferstanden. – Dessen gedenkt man im Waldlande frommen Sinnes, und sei es nun auf der Bergstraße oder im Tale draußen, irgendwo steht doch ein Wirtshaus, und das ist das Emaus, nach welchem man an diesem Tage pilgert. – Jenem, der still beschaulich zwischen den grünenden Saaten dahinschreitet, unter dem Gesange der Vögel, die auf den treibenden Zweigen sich schaukeln, und der in den milden Sonnenäther des Himmels aufschaut, Sehnsucht im Herzen, dem begegnet der Auferstandene mit dem Gruße: »Der Friede sei mit dir!« – Jenen, die nach ernsten Berufsarbeiten zur feiertägigen Erholung in heiterer Geselligkeit dem Wirtshause zuwandeln, sei es Freund mit Freund, sei es Bursche mit Mädchen in ehrsamer Neigung, sei es der Geigenspieler und der Pfeifenbläser zur hellen Osterfreudigkeit, denen begegnet der Herr und grüßt sie: »Der Friede sei mit euch!« – Dem aber, der mit frömmelnder Miene, Schlimmes sinnend, nach »Emaus« schleicht, dem begegnet der Heiland nicht – doch möglicherweise etwas anderes.
Zur Zeit, als ich ein Knabe von etwa zehn Jahren war, wollte mein Vater einmal in der Fasten einen eingewanderten vacierenden Tagwerker aufnehmen; es gab zu solcher Zeit eigentlich nicht mehr Arbeit in der Wirtschaft, als wir mit unserem Gesinde selbst verrichten konnten, doch mein Vater meinte: »Arbeitet er schon nicht viel, so soll er uns wenigstens fasten helfen. Wo will er denn sonst hingehen, jetzt? Hat auch schon einen grauen Bart.«
»Ist selber schuld«, antwortete die Mutter, »warum balbiert er sich nicht. Der Tritzel gefallt mir nicht, sie sagen ja, er wäre schon einmal eingesperrt gewesen.«
»Musst nicht alles glauben, was sie sagen. Die Leut’ tun alleweil gern andere noch schlechter machen, als sie selber sind.«
»Und der Tritzel gefällt mir nicht«, wiederholte die Mutter, »er hat einen krummen Blick.«
»Einen krummen Blick hat er, weil er schielt«, sagte der Vater, »und fürs Schielen kann der Mensch nicht.«
»Da hast freilich wieder Recht«, darauf die Mutter, »und wenn er jetzt im Märzen keinen anderen Platz findet und er auf der freien Weid müsst’ liegen, da mögen wir ihn doch lieber nehmen.«
Also war es verabredet worden. Aber bei der Aufnahme konnte mein Vater nicht unterlassen, den Tagwerker zu fragen: »Bist du nicht einmal in der Keichen (im Arrest) gewesen?«
»Ja, das ist gewiss«, antwortete der Tritzel.
»Was hast denn angestellt?«
»Schon etwas der Müh’ wert, das magst dir denken, Waldbauer. Mir ist nicht zu trauen, mir!«
»Darf man ’s wissen?«
»Warum denn nicht! Im Arzbachgraben bin ich ein armer Kleinhäusler gewesen.«
»Deswegen werden sie dich doch nicht gestraft haben!«, rief mein Vater.
»Armut ist halt ein Verbrechen«, versetzte der Tritzel sehr tiefsinnig. »Und weil ich meine Steuer nicht hab’ zahlen können, so sind die Pfändersleut’ gekommen und haben mir meine Kuh wegtreiben wollen. Die lass’ ich nicht! schrei’ ich, und hau’ dem Pfändersmann eine ins Gesicht. Alsdann haben sie anstatt der Kuh mich fortgetrieben und eingesperrt.«
»Dem Pfänder hast eine gegeben!«, lachte mein Vater auf. »Na, bleib’ halt da, Tritzel.«
Der Alte zog – aber so, dass es mein Vater nicht merkte – das runzelige Gesicht schief, blinzelte mit den falben Wimpern und murmelte in seinen Bart: »Ein Gusto, wie sich der anplauschen lasst! – Ja, freilich bleib’ ich.«
Und abgemacht war’s.
Tat dann der alte Tagwerker Tritzel zuerst ein bissel Schnee schaufeln bei uns um den Hof herum, dann ein bissel Streu hacken, hernach ein bissel Dung führen mit der Schiebtruhe in den Garten hinaus. Dabei tat er mit uns fleißig die vierzigtägige Fasten halten und ein sittsames Leben führen. Als die Ostern nahten, gab mein Vater zu verstehen, dass der Tritzel nun im Frühjahr wohl auch anderweitig einen Platz finden würde, und jetzt war es meine Mutter, die sprach: »Weil er uns hat fasten helfen, der Tritzel, so kann er uns auch essen helfen; wer weiß, wo er sonst sein Weihfleisch und die Osterkrapfen finden kunnt.«
Also blieb der alte, graubärtige Bursch’ über das Osterfest in unserem Hause, aß sich gewissenhaft satt und führte gern christliche Gespräche. So sagte er am Ostermontag beim Mittagsmahle: »Heut’ sollen wir nach Emaus gehen. Gehst mit, Bübel?«
Die Frage war an mich gerichtet. »Ja, nach Emaus ginge ich mit!«
»Versteht sich!«, begehrte die Mutter auf, »Kinder ins Wirtshaus!«
»Waldbäuerin«, versetzte der Tritzel ernsthaft, »vom Wirtshaus ist keine Red’. Bei mir schaut das Christentum anders aus. Der Gang nach Emaus ist ein heiliger Gang. Ein heiliger Gang, meine liebe Waldbäuerin! Wir gehen zu der Kreuzkapellen hinauf, dort werden wir den Heiland sicherer finden als im Wirtshaus – will ich meinen.«
»’s selb’ wär eh wahr«, gab mein Vater bei, und ich durfte mit dem Tritzel gehen.
Die Kreuzkapelle stand etwa eine Stunde von uns, weiter oben im Gebirge, auf einem Waldanger. Wenn der Wetterwind ging im Sommer und dort das Glöcklein geläutet wurde, konnte man bei uns im Hof den Klang hören. In der Fastenzeit war die Kapelle ein beliebter Wallfahrtsort, kamen an jedem Freitag aus nah und fern Andächtige herbei, zündeten vor dem lebensgroßen Kreuzbilde, das in der Kapelle über dem Altare stand, Lichter an, beteten, legten bescheidene Opfergaben hin und gingen erleichterten Herzens wieder nach Hause. Da in der Nähe dieses Andachtsortes keine Menschenwohnung war, so ging täglich von den Waldbauernhäusern ein altes Weiblein hinauf, um die Kapelle zu öffnen, zu schließen und das Glöcklein zu läuten.
Das war also unser Emaus, zu welchem der alte Tagwerker Tritzel und ich auszogen – ein heiliger Gang, wie der Alte unterwegs wiederholt versicherte.
Der Weg ging über Wiesen, durch Wäldchen hinan, war stellenweise noch mit schmutzigen Schneekrusten belegt, stellenweise rann die Gieß, und stellenweise ging es über aperen Rasen. Bei jeder Wegbiegung blickte ich scharf aus, ob uns nicht der liebe Heiland entgegenkäme. Endlich sah ich von ferne aus dem Schachen hervortretend die Gestalt; sie schwankte langsam heran, kam immer näher, und als sie ganz nahe, war es nicht der liebe Heiland, sondern das alte Weiblein, welches mit dem Schlüssel von der Kapelle kam.
»Jetzt wird doch einmal schön’ Wetter werden«, redete sie der Tritzel an.
»Ja, Zeit wär’s«, sagte die Alte und trippelte fürbass.
Als wir sie nicht mehr sahen, sagte der Tritzel: »Das ist sauber, jetzt hat uns die gewiss die Kapellen zugesperrt!«
»Ich lauf ’ ihr nach, dass sie wieder zurückgeht«, war mein Vorschlag.
»Ah geh’, hast denn du kein Herz für alte Leut’!«, verwies er mir, »den Weg etliche Mal hin und her machen, wie ein Hundel! Die geht nicht mehr auf ihren ersten Füßen wie du! Wir werden uns schon helfen.«
Bei einer Wegzweigung fragte mich der Tritzel: »Geht’s da links nicht hinauf zum Schützenhof?«
»Ja, da geht’s hinauf zum Schützenhof?«
»Ist’s wahr, dass er so viel’ Sachen haben soll, der alte Schützenhofer?«
»Ja, sie sagen, dass er reich ist«, war die Antwort.
»Nachher kommt der Schützenhofer in die Höll’. Die Reichen müssen alle hinab«, sagte der Tritzel. »Aus Nächstenlieb’ sollte man machen, dass sie in den Himmel kommen.«
»Ist eh wahr«, gab ich bei.
Endlich kamen wir auf den Waldanger. Da lag der Schatten, nur die Baumwipfel standen im Sonnenschein. Auf dem Anger gab es noch Schnee, auch auf dem Dache der Kapelle lag er und ließ am Rande tropfende Eiszäpfchen herabhängen. Als wir dem Eingange nahe kamen, zog der alte Tritzel den Hut vom Haupt und glättete mit der anderen Hand sein graues Haar. Dann drückte er an der Türklinke. Da gab nichts nach, und er blickte mich betroffen an.
»Ja, weil sie zugesperrt hat«, sagte ich.
»Freilich hat sie zugesperrt, du Narr, sonst wär’ es offen!«, schnarrte er mich an. Das war mir zuwider. Folgerichtig war mein Wort und seines ebenfalls, aber warum denn so anschnarren!
Er ging rings um die Kapelle, als suche er einen zweiten Eingang. »Schau du!«, rief er plötzlich, »da ist ein Fenster. Der Laden geht auf, so! Es ist zwar nicht groß, aber eine Spindel wie du kann hinein!«
»Eine Spindel wie ich«, war mein Aufbegehren; »nein, da schlief’ ich nicht hinein!«
»Ei freilich schliefst hinein, Buberl. Nachher schiebst von innen an der Tür den Riegel weg und lasst mich ein; wir knien uns hin vor das Kreuz und beten eins miteinand’.«
Vor das Kreuz hinknien und beten, das war freilich verlockend, denn ich hatte den gekreuzigten Jesus sehr lieb und wollte ihm mit dem Gebet eine Freude machen. Ich ließ es also geschehen, als der Tritzel mich emporhob, ins Fenster steckte und tapfer nachschob, weil es doch ein bisschen eng herging an diesem Himmelspförtlein. Ein Ruck, und ich kollerte drinnen hinab. Auf einen Schrei, den ich ausgestoßen, fragte er draußen: »Hast du dir wehgetan?«
»Weiß nicht, es ist ganz finster«, war die Antwort, denn ich konnte es nicht sehen, ob das Nasse an den Nüstern Blut war oder etwas anderes. Hernach machte ich mich an die Tür. »Schieb den Riegel zurück!«, rief draußen der Tritzel.
»Es ist kein Riegel«, berichtigte ich nach längerem Umhertasten.
»Lalli! Wird doch ein Riegel sein. Jedes Schloss hat einen Riegel.«
»Aber das ist ein eisernes Schloss, und man kann nicht dazu.«
»Ein eisernes? – Du verdammt!, hätt’ ich bald gesagt, christlich Weih’ ausgenommen.« Also er draußen. Und fuhr fort: »Wart’, Buberl, greif ans Fenster. Da hast eine Zündholzschachtel. Damit zündest die Kerzen an, die auf dem Altar stehen. – Raspel nur, raspel! Aber du raspelst ja auf der verkehrten Seiten, wo das Weibsbild pickt! Auf der rauen musst raspeln! So! Brennt’s schon? Richtig, brennt schon, bist ein Buberl, ein braves. Kannst noch Mesner werden, du, oder gar Pfarrer und Bischof, und noch ein bissel später Papst. Ei, das wohl! – Du Buberl, weil du schon drinnen bist, geh schau, siehst auf dem Altar kein zinnernes Schüsserl nicht stehen?«
»Ja«, antwortete ich, »und sind mächtig viel Kreuzer und Groschen drin.«
»Hat’s die Alte akkurat wieder stehen lassen!«, sagte der Tritzel draußen in grollendem Tone. »Wenn man halt nicht überall nachschaut! Auf die alten Weiber ist hell kein Verlass. Für was geht sie denn Brot sammeln bei den Bauern, wegen Kapellendienst, wenn sie doch aufs Geld nicht schaut! Schandbare Leichtsinnigkeit! Mach’, Bub, gib’s heraus! Das Schüsserl sollst mir herausgeben, das zinnerne Geldschüsserl!«
Jetzt, das kam mir nicht ganz richtig vor.
»Kirchen ausrauben?«, sagte ich endlich.
»So ist’s! Kirchen ausrauben kunnten sie, die Schelm’, wenn man das Geld tät stehen lassen da in der Kapellen!«, sprach der Tritzel. »Kirchengut muss man wahren. Geh, Buberl, gib’s heraus, schau, ich g’lang schon.« Reckte den Arm zum Fensterchen herein und krabbelte mit den langen, hageren Fingern in der Luft herum.
»O nein«, war mein Bescheid, »Kirchen ausrauben tu’ ich nicht.«
»Kindisch, wer redet denn von so was! Bei dem heiligen Gang so dumm reden! Dich wird unser Herrgott noch einmal recht strafen! Dem Herrn Pfarrer tragen wir das Geld hinab. Der Herr Pfarrer hat mich gebeten, dass ich ihm von der Kreuzkapellen das Geld möcht’ holen.«
»So hol’s, Tritzel.«
»Wenn ich aber nicht hinein kann. Und du bist schon drinnen. Willst in den Himmel kommen?«
»Ja freilich.«
»So gib mir das Geld heraus!«
Ein kleines Weilchen überlegte ich, da wär’s, als flüsterte irgendwo jemand: »Tu’s nicht! Tu’s nicht!« Und laut war mein Schrei: »Nein, ich tu’s nicht!«
»Waldbauern-Büberl, mach keine Geschichten!«, schmeichelte er draußen. »Dem Herrn Pfarrer muss man das Wort halten. Kannst ihn auch einmal zu brauchen haben. Steig’ nur auf die Betbank und gib’s heraus. Verstreu’ nichts, jeder blutige Kreuzer ist heilig! Na, mach’, Bürschel, mach’! Kriegst nachher was von mir!«
Es half ihm aber nichts. Und als er das endlich einsah, ging er fluchend von dannen. Der Boden knarrte, da er über den Schnee hinschritt gegen den Wald.
Ich war in eine trotzige Stimmung gekommen, ohne eigentlich recht zu wissen, warum. Als es jetzt aber ganz stille war in der dämmerigen Kapelle und die zwei von mir angezündeten Kerzen wie Totenlichter brannten vor dem Kreuzbilde, da begann mir unheimlich zu werden. Das Blut sah ich an den Händen und Füßen des Gekreuzigten, und als ich so hinaufstarrte zum blassen, dornengekrönten Antlitze mit dem gebrochenen Aug’, da war’s, als bewege sich ein wenig das Haupt. Nur ein einzig Mal – und dann war’s wieder wie früher.
Mein Versuch, vermittels eines Betpultes zum Fenster wieder hinauszukriechen, misslang; so fasste ich den vom Türmchen niederhängenden Glockenstrick und hub an zu ziehen, aber nicht gleichmäßig, sondern mit heftigen Zügen und in Absätzen, wie man die Feuerglocke läutet. Als die Erschöpfung kam, setzte ich mich an die Altarstufen und wartete auf einen Retter.
Es erschien weder der Tritzel, noch jemand anderer. Schreien und Schluchzen, neues Zerren am Stricke. Vor Weinen und Läuten endlich ganz matt geworden, musste mich der Schlaf übermannt haben. Als ich wieder zu mir kam, flackerte vor dem starren Kreuze nur noch eine Kerze in den letzten Zügen, die andere war niedergebrannt und ausgeloschen. Zum Fenster schaute die Nacht herein. Neu erwachende Angst gab mir zugleich neuen Mut; ich kletterte wieder auf die Betbank, zwängte mich durch das Fenster, diesmal zuerst den Kopf und den rechten Arm hinaus, und jetzt ging es. Ich fiel in den Schnee, blieb aber nicht lange in demselben liegen, sondern lief wegshin. Der Boden war gefroren, der Himmel sternenbesäet. Was ich bei all diesen Unternehmungen gedacht habe, weiß ich nicht – sehr viel kaum; wenn der Mensch so viel tut, hat er nicht Zeit zum Denken. Nun aber, als ich über die Felder hinablief und von weitem ein zuckendes Lichtlein saß, das immer näher kam, dachte ich: Am Ende kommt mir jetzt der liebe Heiland entgegen. – Und er war’s Voran schritt ein Knecht vom Schützenhof mit Laterne und Glöcklein, hinter ihm drein der Pfarrer in Chorrock und Stola, an seinem Busen das Sakrament bergend. Allsogleich kniete ich am Wegrande nieder, wie es Sitte ist, und bat um den Segen.
Der Pfarrer blieb stehen und sagte: »Das ist ja der Waldbauernbub. Warum bist du noch auf so spät in der Nacht?«
Hab’ ich denn erzählt, dass der Tagwerker Tritzel mich in die Kreuzkapelle gesteckt, um ihm das Opfergeld herauszulangen, und weil ich es nicht tun wollen, er mich im Stiche gelassen hätte.
»O, dieser Spitzbub!«, rief der Knecht vom Schützenhofe aus. »Aber heut’ ist kein Krügel ’brochen. Hat den Ostermontag, wo die Leut’ im Wirtshaus sitzen, nicht unbenützt lassen wollen. Von der Kreuzkapellen in den Schützenhof, dort beim Bodenfenster einsteigen, Kästen ausrauben, vom Bauer derwischt und niedergeschlagen werden. – Ja, mein lieber Waldbauernbub, das sind Geschichten! Und jetzt ist der Tritzel just beim Sterben. Um den Geistlichen geht’s ihm, ich glaub’, diesmal ist’s sein Ernst. Und so bin ich halt gelaufen bei der Nacht. Jetzt rucken wir wieder an, er wird hart warten.«